Genuss & Verzicht: Frankfurt in Takt 19-2

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Frankfurt in Takt

Schwerpunkt:  Genuss & Verzicht

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→→ Askese oder Sinnlichkeit?

Warum die Kunst beides braucht

→→ Ausnahmesituationen.

Ministerin Angela Dorn im Gespräch



Im Verzicht liegt  ein besonderer  Genuss? Das klingt nach Ratgeberliteratur und ultimativer Diätstrategie. Oder nach Elterntaktik, um die Quengelzone an der Supermarktkasse mit den lieben Kleinen ohne größere Kollateralschäden passieren zu können. Nach Entziehungstherapie für Hipster, um der Lifestyleverführung durch das neue dreiäugige, in seinen ­Proportionen zyklopische Smartphone zu widerstehen, das auch nicht glücklicher macht als seine Vorgänger­modelle, dies aber zu einem deutlich höheren Preis. In einer Welt, in der Drogeriemärkte ein ausdifferenziertes Angebot Dutzend verschiedener Klopapiersorten bereithalten, ist es bemerkenswert, dass Menschen wieder Läden schätzen, in denen es für ein Anliegen nur eine einzige Sache gibt. Gaststätten mit Speisekarten im Lexikonumfang und entsprechender Randnummerierung sind uns suspekt. Wir schätzen die mit Hand beschriebene Tafel mit dem einen Menü. Wie in dem kleinen Restaurant in Avignon, das ich vor einigen Jahren an einem schönen Osterabend mit meiner eigenen und einer befreundeten Familie komplett ausfüllte, und in dem es nur eine einzige weitere Person gab, die Köchin, Sommelière, Kellnerin und Küchenpersonal gleichzeitig war. Das Essen war gut, aber nicht außergewöhnlich, der Reiz lag im Persönlichen, in der bewussten ­Reduktion der schier unbegrenzten Möglichkeiten auf den einen Genuss, den die wunderbar lebensfrohe Chefin für uns kochte und servierte. Dies ist kein Eskapismus, sondern Überlebensstrategie, wenn alles immer und im Überfluss verfügbar ist und darum jeden Wert verliert. Es ist der Versuch, den Blick für das Besondere zurückzugewinnen. Es ist der alte spirituelle Weg, durch Fasten die Sinne für den Genuss zu schärfen. Vielleicht ein Luxusproblem, vielleicht aber auch eine politische Haltung. Nicht nur die Jungen bei ­Fridays for Future fragen, was der Preis ist für das Wachstumsgebot unserer Gesellschaft, das die Glücksverheißung, die sich früher damit verband, schon lange nicht mehr für alle erfüllen kann. Rettung des ­Klimas und Erhöhung der Pendlerpauschale, wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass – das geht nicht recht zusammen. Die unbedingt erforderlichen Veränderungen unseres Lebensstils bedeuten Verzicht, Abschied von der starken Individualisierung und Rückkopplung unseres Lebens an den konkreten Raum und seine Zeitabläufe. Frische Erdbeeren zu jeder Jahreszeit sind oft fad und haben einen hohen ökologischen Preis. Dabei schmecken sie am besten, wenn reif vor Ort gepflückt und gegessen. Genuss durch Verzicht. Das hat eine immense politische Dimension. Ein halbes Heft zum Thema, dazu Nachrichten aus Ihrer HfMDK! Viel Spaß beim Stöbern! Ihr Elmar Fulda

Sieht anders aus?

Ja – wir haben eine eigene Schrift und unser Magazin auch inhaltlich weiterent­wickelt. Mehr Einblicke in die Hochschule, weiterhin ein Schwerpunktthema. Impulse gab der erweiterte Redaktionsbeirat aus Lehrenden und Studierenden, unterstützt von einer externen Redakteurin, der Journalistin Tamara Weise, die Expertise im Online-Journalismus mitbringt und die FiT zukünftig crossmedial mit unseren Online-Medien vernetzt. Die Gestaltung stammt von der Berliner Agentur STATE, mit der wir alle unsere Medien überarbeiten. Geben Sie uns gerne ein Feedback: fit@orga.hfmdk-frankfurt.de

Editorial

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Inhalt Schwerpunkt: Genuss & Verzicht 10

„ Genuss ist, wenn ich meine Augen schließe und es trotzdem schön ist“

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Die Kunst der Kontrolle Ein Plädoyer für einen entspannten Umgang mit den Anforderungen des Lebens Von: Tim Vogler

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„ Musik fesselt uns, wir fühlen uns hineingezogen, absorbiert“ Melanie Wald-Fuhrmann über Musikgenuss aus Sicht der Forschung Interview: Tamara Weise

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Mehr vom Weniger Verzicht ist das Gegenteil von Genuss? Im Gegenteil. Von: Orm Finnendahl

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Zeit der Fülle Zwischen Alter Musik und überholten Klischees Von: Eva Maria Pollerus

Ergebnisse einer Instagram-Blitzumfrage Von: Aylin Günel, Lorna Lüers, Aurelia Toriser

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Was will man mehr Über Genuss und Verzicht in der Kunst Von: Katja Schneider

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Bloß so ein Gefühl?

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„ Wo der Verzicht auf mein eigenes Wohlbefinden anfängt, hört der Genuss auf“ Junge Schauspielerinnen und Schauspieler im Rampenlicht Von: Laura Teiwes

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D ie Welt mit anderen Augen

Warum kontemplative Muße ein Muss ist Von: Christopher Brandt

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Fotografie: Ramon Haindl

Protokolle von Willy Egli, Sabine Fischmann, Sandro Hirsch, Malin Lamparter, Rainer Michel und Ulrike Münnich


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Einer geht, der fehlen wird Zum Abschied von Winfried Toll Von: Stefan Viegelahn

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Hallo! Die neuen Professorinnen und Professoren der HfMDK

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Was Kunst gegen den Klimawandel bewirken kann Von: Tania Rubio, Composer in Residence 2019

Aus der Hochschule 40

„ Ich wollte wissen, was Menschen bewegt und warum“

Die Hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst Angela Dorn im Gespräch mit Hochschulpräsident Elmar Fulda über Ausnahmesituationen in Kunst und Gesellschaft

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rbeiten im A Ausnahmezustand Wenn es anders kommt als gedacht: Protokolle von Studierenden und Mitarbeitern der HfMDK

Fotografie: Björn Hade

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achrichten aus N den Fachbereichen Young Academy : Primacanta : Leitbild fürs Lehramt : Exzellenzworkshop: Studiojahr Schauspiel : Martin Nachbar wird Professor für Szenische Körperarbeit: Jahresproduktion der Gesangsabteilung 2020 : Cum-Ex auf der Bühne : Projektwoche der Tanzabteilung : Neue Studienund Prüfungsordnungen im Fachbereich 3

„ Wenn wir jetzt nicht handeln“

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Atmosphären Lebensläufe unserer Alumni, Folge 11: Musikpädagogin Julia Jung

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Höchst engagiert Zuwachs bei der Gesellschaft der Freunde und Förderer (GFF) : HfMDK-Stiftung im Goldenen Buch der Frankfurter Stiftungen

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Highlights Das war 2019 – Studierende und Lehrende der HfMDK schauen für „Frankfurt in Takt“ zurück


„So etwas brauchen wir auch in der Kunst: Hörer und Seher, die ihre Ängste und Erwartungen hinter sich lassen und sich vorbehaltlos der Schönheit hingeben, die größer ist als das, was wir von ihr zu wissen glauben“ CHRISTOPHER BRANDT

→ S. 34

„Man opfert viel für seine Leidenschaft, in erster Linie Sicherheit “ LAURA TEIWES

6

→ S. 24

Fotografie: Ramon Haindl (links);  plainpicture/neuebildanstalt/Wirth (rechts)

&


Genuss

Verzicht 7


Ergebnisse einer Instagram-Blitzumfrage via @hfmdk.frankfurt – durchgeführt im September 2019 von den Studentinnen Aylin Günel und Aurelia Toriser sowie Lorna Lüers, die an der HfMDK die digitale Kommunikation verantwortet.

„Genuss ist, wenn ich meine Augen schließe und es trotzdem schön ist“ Genuss ist für mich …

→→„Ein ruhiger Kaffee zwischen den Terminen.“ →→„Chopin.“ →→ „Wenn ich meine Augen schließe und es trotzdem schön ist.“

→→„Böhmische Blasmusik.“ →→„Musik, Essen, Schlaf, Familie und Freunde treffen. →→ „Den Blick auch bewusst für die kleinen Dinge in meinem Leben zu haben.“

Ich genieße mein Studium. 92% JA, 8% NEIN

→→„Einfach mal Zeit zu haben.“ →→„Musik natürlich!“ →→„Ballett.“ →→„Zeit zu haben, anzukommen.“ →→„Freie Zeit.“ Verzicht ist für mich …

→→ „Ein Weg von vielen, das wertzuschätzen, was mir wichtig ist.“

(71 STIMMEN FÜR JA, 6 STIMMEN FÜR NEIN.)

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Genuss & Verzicht

Grafik: State

→→„Wenig Schlaf.“ →→„Gleichermaßen unangenehm wie entlastend.“ →→„Eine Prüfung.“ →→„Schmerzhaft.“ →→„Auch mal nicht mitzumachen.“


Üben, trainieren, proben. Das ist für mich immer ein Genuss. 55% JA, 45% NEIN

Genussmomente muss man sich durch Verzicht an anderer Stelle verdienen. 74% JA, 26% NEIN

(51 STIMMEN FÜR JA, 42 STIMMEN FÜR NEIN.)

(80 STIMMEN FÜR JA, 28 STIMMEN FÜR NEIN.)

Das Leben in Frankfurt ist teuer. Kann man das Studium auch ohne finanzielle Unterstützung (BAföG, Eltern, Stipendium) genießen?

Künstlerische Beiträge aus meinem Fach kann ich selten genießen. Ich bin einfach zu kritisch. 35% JA, 65% NEIN

27% JA, 73% NEIN

(31 STIMMEN FÜR JA, 84 STIMMEN FÜR NEIN.)

Umfrage

(41 STIMMEN FÜR JA, 75 STIMMEN FÜR NEIN.)

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Was will man

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Genuss & Verzicht


Die Lust am Genuss ist unerschöpflich, dabei gehört sie zu den größten Risiken der Gegenwart – auch für die Kunst. Katja Schneider, Professorin für Tanztheorie, findet: Es geht hier nicht nur um Nebensächlichkeiten, es geht ums Ganze. Ein Rundgang durch Theorie und Praxis.

mehr

Fotografie: Anne Schönharting/OSTKREUZ

TEXT: KATJA SCHNEIDER

Ein Mann stellt ein Bügelbrett auf und beginnt, ein überlanges Hemd zu glätten, das er aus einem Haufen abgelegter Kleidung zieht. Später wird er rohe Eier an Klebeband anbringen, um schließlich in einer vom Bühnenhimmel heruntergelassenen Holzbox, wie man sie zum Transport von Kunstwerken benutzt, beinahe zu verschwinden. Nur seine Füße sind noch zu sehen. Währenddessen kreuzen Tänzerinnen und Tänzer die Bühne, greifen in den Raum aus, hüpfeln, drehen. Das Bein kickt, der Oberkörper knickt zur Seite. Mal zu zweit, mal alleine, mal alle sechs zusammen. Zwei Uhren messen die Zeit. Nach knapp 35 Minuten senkt sich über der Szene der Vorhang. „Sie wusste zu wenig, um es genießen zu können“, sagte danach eine Besucherin über ihre Begleitung, die dieser Vorstellung von „Berlin Story“ beim diesjährigen Festival Tanz in der Volksbühne Berlin nicht allzu viel abgewinnen konnte. Das DANCE ON ENSEMBLE hatte für den Merce Cunningham gewidmeten Abend eine Neuschöpfung seiner 1963 uraufgeführten „Story“ beigesteuert, für die der dem Zufall und der Autonomie der einzelnen Künste vertrauende Choreograph so viel Kontrolle abgab über das, was auf der Bühne passierte, wie sonst nie. Seine Position als Autor dieser „Story“ teilte er mit dem Künstler Robert Rauschenberg, der das Bühnenbild aus Materialien aufbaute, die er am Tag der Premiere im und um das Theater vorgefunden hatte, und selbst mit verschiedenen Aktionen als Live-Dekor präsent war. Cunningham teilte auf diese Weise seine Kontrolle mit allen, die auf der Bühne waren und improvisatorisch auf fixierte Sequenzen, auftretende ­Hindernisse und ihren eigenen Genuss am Gestalten reagierten. Die Lust am spontanen Einfall, an der Sinnfälligkeit inkommensurabler Begegnungen, an der Poesie des Instabilen und der Kraft des Zufalls mit allen Herausforderungen und Beschwernissen, die dieser mit sich bringt, macht „Story“ aus. Wenn die erwähnte Begleitperson das gewusst hätte, ­hätte sie das Stück genießen können? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber die Chance für ein genussvolles Erleben wäre größer gewesen, denn Genuss braucht Kognition. (Cunningham freilich konnte, je mehr er über „Story“ reflektierte, desto weniger den Verzicht auf seinen Kontrollverlust genießen, heißt es, und das Stück verschwand sehr schnell aus dem Repertoire; außerdem hatte Rauschenberg die Kompanie verlassen und die Tänzer sollen es eigentlich auch nicht recht gemocht haben.)

Essay

Diesseits der Sucht Genuss ist nicht mit Lust gleichzusetzen. Dass Genuss mit Reflexion gekoppelt ist, darauf vertraute schon der Kunsthistoriker Jacob Burckhardt, der 1855 seinen Kulturreiseführer „Der Cicerone“ mit dem Untertitel „Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens“ versah. Genuss, so lässt sich festhalten, ist Lust plus Bewusstheit und Aufmerksamkeit. Genuss erscheint demnach wenig triebgesteuert und liegt diesseits der Sucht. „Damit setzt Genuss die Fähigkeit voraus, Gefühle, Sinnes­ eindrücke, Empfindungen bewusst wahrzunehmen und zu erleben“, schreiben Reinhold Bergler und Tanja Hoff vom Psycho­ logischen Institut der Universität Bonn und vom Institut für Genussforschung Nürnberg in ihrer 2002 erschienenen Publikation „Genuss und Gesundheit“. Genuss habe emotionale, sinnliche und erlebnisorientierte Anteile, diene dem Wohlbefinden und rufe Freude sowie Kreativität hervor. Vier große Genussfelder untersuchen die Autoren ­näher, wobei Musik und Künste – gleich nach dem Essen („genießen“ war ja früher auch gleichbedeutend mit „nutznießen“ und ­„essen“) – an zweiter Stelle stehen, gefolgt von materiellem Konsum und sozialen Kontakten. Der traditionelle T ­ heater- oder Konzertbesuch, könnte man folgern, stellt demnach ­einen alle Genusserlebnisbereiche integrierenden Genuss dar: mit zugewandten Menschen ins Theater oder Konzert zu gehen, davor vielleicht ein feines Abendessen zu genießen, in der ­Pause ­einen Prosecco oder ein paar Canapés zu sich zu nehmen, ­alles nicht zu oft und nicht zu selten. „Wir haben ein kulinarisches Publikum“, kommentierte vor Jahren Ivan Liška s­ eine Spielplangestaltung. Liška, bis zum Ende der Spielzeit 2015/16 Direktor des Bayerischen Staatsballetts, hat die emotionale Affizierung, sinnliche Einwirkungen und Anstiftung zur Reflexion immer fein austariert – um ein Publikum zu bedienen, das ­erlesene, schwelgerische Genüsse, wie das Wort „kulinarisch“ ja meint, gewohnt ist.

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Adorno und die Auslöschung des Subjekts Kunstwerke genießen zu wollen – für Theodor W. Adorno war das eine abwegige Vorstellung, und er konstatiert in seinen in den späten 1950er Jahren gehaltenen Vorlesungen zur Ästhetik, „daß der Genießende – der Mensch also, der in der kulinarischen Einstellung […] – nicht nur das Ganze verfehlt, sondern eigentlich immer das Falsche am Kunstwerk überhaupt wahrnimmt, eben deswegen, weil diese Haltung des Genießens […] von vornherein von dem absieht, was in dem Kunstwerk eigentlich vorliegt“. Denn die ästhetische Erfahrung erfüllt sich, Adorno zufolge, – ganz entgegengesetzt zum Genuss-Gewinn des Konsumenten – in der Überwältigung, der Erschütterung, ja der „Auslöschung des Subjekts“, wenn es dem Kunstwerk gelingt, Hörende und Betrachtende „der entfremdeten Welt zu entfremden“. Wenn das Wohltemperierte, Gemessene, Zurückhaltende und Kontrollierte den Genuss ebenso kennzeichnen sollen wie Freude und Wohlbefinden und der Verzicht in dieser K ­ onzeption dem Genuss inhärent sei, dann sitzt man mit dieser Vorstellung nach Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schon in der ­Falle. Denn, so schreiben sie 1944 in ihrer „Dialektik der Aufklärung“, Genuss sei die Rache der Natur: „In ihm entledigen die Menschen sich des Denkens, entrinnen der Zivilisation.“ Genuss entlud sich gleichsam in kollektiven Orgien, in „den ältesten Gesellschaften war solche Rückkehr als gemeinsame in den Festen vorgesehen“. Die Rationalisierung des Genusses, die im Zuge der Zivilisierung von den Herrschenden betrieben wurde, diente dann aber der manipulativen Einhegung, als „Zoll an die nicht gebändigte Natur“, Genuss werde dosiert, wo er nicht entzogen werden könne. So sei er ein „Gegenstand der Manipulation, solange bis er endlich ganz in den Veranstaltungen untergeht.“ Diese Entwicklung, so lautet das schöne Dik­ tum von Horkheimer und Adorno, „verläuft vom primitiven Fest bis zu den Ferien.“ Der Philosoph Slavoj Žižek sieht den exzessiven Genuss – durchgebrochen ins soziale Feld – als Ursache für Nationalismus. In seinem Band „Mehr-Geniessen. Lacan in der Populär-

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Genuss & Verzicht

kultur“ von 1992 hält er fest: „Kurz gesagt, was uns wirklich am ‚anderen‘ stört, ist die befremdliche Art, wie er sein Genießen organisiert, genaugenommen das Mehr daran, der ‚Exzeß‘, der ihm anhängt (der Geruch ihrer Speisen, ihre ‚lärmenden‘ Lieder und Tänze, ihre seltsamen Verhaltensweisen, ihre Arbeitseinstellung).“ Man neidet anderen, was diese genießen, insofern die manifestierten oder angenommenen Genüsse zurückwerfen auf den eigenen Genuss, der vielleicht doch als zu extrem oder als zu gering oder in seiner sozialen Anerkennung als zu wenig akzeptiert wirkt? Was eine solche Abgrenzung und Konkurrenz betrifft, sollten wir nicht vergessen, dass unsere Ökonomie und unser ­Konsum – die Basis vieler Genüsse – im globalisierten Kapitalismus auf höchst ungerechter Verteilung beruhen und die reichen Gesellschaften Kosten, Risiken, Nachteile und Umweltschäden in den globalen Süden auslagern: „Wir leben gut, weil andere schlechter leben“, wie der Soziologe Stephan Lessenich 2016 in seinem Buch „Neben uns die Sintflut“ deutlich macht. Von daher gewinnt auch die Forderung nach Verzicht der Fridays for Future-Bewegung an Brisanz. Schneller und durchschlagender als gedacht, protestieren ihre Mitglieder für eine Kultur des Verzichts und formulieren Forderungen an die Politik, mit denen die Ziele des Pariser Abkommens und des 1,5°-Ziels erreicht werden sollen. Als Motto über ihren Forderungen prangt eine Sentenz von Molière: „Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“ Die Zitat-Anleihe aus dem Theater hätte auch gut zu einer Aktion des flämischen Performers, Regisseurs und bildenden Künstlers Benjamin Verdonck gepasst, der sich schon 2011 Gedanken darüber gemacht hat, wie Theaterbetrieb und Umweltschutz zusammenpassen könnten. Er publizierte eine „­ Charta für eine aktive Mitarbeit der darstellenden Künste auf dem Weg zu einer gerechten Nachhaltigkeit“, adressierte sie an die flämischen Produktionshäuser, die öffentliche Gelder beziehen, und bot ihnen an, zum Koproduzenten und Kokreateur seines ­neuen Werkes zu werden – wenn alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihrer Unterschrift garantierten, dass sie alle Forderungen erfüllen würden, eine Spielzeit, 160 Tage lang, während der Arbeitszeit.

Fotografie: Ramon Haindl

„Zug- statt Autofahrten, keine Flugreisen mehr, leicht zu transportierende, ökologisch vertretbare Bühnenbilder (das gesparte Geld solle in neue Stellen für Künstlerinnen und Künstler investiert werden), statt des Veggie-Donnerstags in der Kantine ein Fleisch- und Fischtag in der ansonsten vegetarischen Woche. So vernünftig wie institutionskritisch“


Die Charta hatte grundsätzliche strukturelle Änderungen im Blick (für alle Veröffentlichungen Recycling-Papier benutzen!), nahm aber vor allem den Verzicht des Einzelnen und des einzelnen Künstlers in den Fokus: Zug- statt Autofahrten, keine Flugreisen mehr, leicht zu transportierende, ökologisch vertretbare Bühnenbilder (das gesparte Geld solle in neue Stellen für Künstlerinnen und Künstler investiert werden), statt des Veggie-Donnerstags in der Kantine ein Fleisch- und Fischtag in der ansonsten vegetarischen Woche. So vernünftig wie institutionskritisch. Das Schicksal seiner Charta dokumentierte Verdonck zusammen mit dem Dramaturgen Sébastien Hendrickx in dem 2014 erschienenen Sammelband „The Ethics of Art“. Eine kleine Produktionsstätte in Antwerpen sagte zu, sich an alle Forderungen für eine Spielzeit zu halten, alle anderen sagten ab, darunter Stuk in Löwen, Victoria in Gent, das Brüsseler Stadttheater, das Toneelhuis in Antwerpen und die Needcompany.

GENUSS-PLAYLIST

Patti Smith: Pastime Paradise José Larralde: Quimey Neuquén Gustav Mahler: Ich bin der Welt abhanden gekommen Link zum Nachhören auf Spotify: t1p.de/genuss-playlist

Essay

Klima-Charta? Abgelehnt! Das Provokative an Verdoncks Charta liegt in dem Versuch, zum einen Verhaltensroutinen Einzelner ändern zu wollen, zum anderen in Abläufe von Organisationen massiv einzugreifen, und das als Kunst zu markieren. In den Gründen für die Ablehnung von Verdoncks Kunstaktion spiegeln sich die Argumentationsmuster, die heutige Fridays for Future-Aktivisten so ­wütend machen: Die grundsätzliche Wichtigkeit ihrer Ziele und ihrer Sorge wird stets betont (wir müssen das Klima retten!), die konkrete Umsetzung, die Verzichtleistungen bedeuten würde, wird abgelehnt mit dem Hinweis, das reiche doch nicht aus, bestimme zu sehr über die Privatsphäre des Einzelnen, sei zu dogmatisch et cetera pp. Und nun? Der Mensch organisiert sich seinen Genuss selbst. Was er als genussvoll erlebt, das ist so individuell wie soziokulturell bestimmt. Was ihm Freude macht, fördert ihn, seine Gesundheit, sein Wohlbefinden. Es aushalten zu können, dass Mitmenschen auf eine andere Art genießen als man selbst, das ist ein Lernprozess. Ebenso wie man lernen muss, Genuss am Verzicht zu erleben. Worauf verzichtet wird, gerade auch in der Ausbildung zum Künstler, zur Künstlerin, wird instrumentalisiert für das genussvolle Ausleben der eigenen Betätigung. „Menschen verzichten bewusst auf eine Bedürfnisbefriedigung zugunsten einer langfristigen Vermeidung negativer Konsequenzen, zum Beispiel der Entwicklung eines Suchtgefühls oder auch der Abnahme der Attraktivität einer Genussquelle – durch Verzicht sichern sie sich damit das Erleben positiver Gefühle, die mit einem spezifischen Genuss verbunden sind. Das heißt: Mit Genuss ist eine bewusste, das eigene Verhalten reflektierende und steuernde Selbstkontrolle verbunden, um Genuss zu erhalten und Sucht zu vermeiden“, schreiben Reinhold Bergler und Tanja Hoff. Was hier als freiwilliger Verzicht, der Genuss fördert, propagiert wird, ist an den Einzelnen, an dessen eigene positive Gefühle und den Erhalt des eigenen Wohlbefindens r­ ückgebunden. Verzicht ist in diesem – im glücklichen Fall ausbalancierten – Modell nie unfunktional, nie Selbstzweck, sondern wird ­immer „gegengerechnet“ mit dem, was der Verzicht an weiterem Genuss möglich macht. So wird denn auch die unangenehme asketische Verzichts-Leistung mit dem Genussversprechen angepriesen („Abnehmen mit Genuss“). Was passiert, wenn ­diese sanfte, verträgliche Verzichtsethik nicht mehr greift, wenn der Verzicht nicht oder nicht nachvollziehbar für die eigenen ­Zwecke, den eigenen Genuss, genutzt werden kann, sondern ganz ohne Genuss-Aussicht gefordert wird – um beispielsweise unseren Planeten zu erhalten? Diese Balance von Genuss und Verzicht müssen wir gerade selbst austarieren. Vielleicht hilft es dabei, dass der Gegenbegriff zum Genuss nicht Verzicht ist, sondern Anhedonie. Die Unfähigkeit, überhaupt Freude oder Lust zu empfinden.

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rof. Dr. Katja Schneider ist Professorin für Tanztheorie P und lehrt in den Studiengängen BAtanz, MA CoDE sowie Theater- und Orchestermanagement. Genuss bedeutete für sie früher mal: stundenlanges Schaukeln. Und heute? Auf S. 57 finden Sie ein Porträt über sie.

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Was Genuss bedeutet, lässt sich schlecht auf einen Nenner bringen. „Frankfurt in Takt“ hat nachgefragt.

Bloß so ein Gefühl? Der Auftritt im Video: t1p.de/Henri-DunantGS-auf-YouTube

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Genuss & Verzicht

Standing Ovations für „Unsere Erde“ TEXT: SABINE FISCHMANN

An der Henri-Dunant-Grundschule in Frankfurt entsteht eine neue Stadtteiloper – „Planet Sossenheim“. Alle Kinder sind beteiligt, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schule sowie Einwohner des Stadtteils Sossenheim, dazu Markus Neumeyer (musikalische Leitung), Sebastian Schiller (Videoproduzent) und wir von der HfMDK: Anne Rumpf (pädagogische Leitung, Einstudierung der Kinderchöre), Daniel Kemminer (Arrangements, Bandcoaching) und ich. Die Grundidee war, ein Projekt über Akzeptanz, Toleranz und Freundschaft ins Leben zu rufen, und das in Verbindung mit einer A ­ lien-Geschichte, lustigen, actionreichen und anrührenden Szenen, sowie jeder Menge Musik von Klassik bis Pop. Wir waren schon mittendrin, da erreichte uns plötzlich d ­ iese Überraschungsnachricht: Die Kinder waren ausgewählt worden, am 13. Septem­ber bei der Eröffnung des Grundschulkongresses in der Paulskirche aufzutreten, noch dazu vor Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Aufregend! Anne Rumpf und ich bereiteten sie musikalisch, szenisch und pädagogisch vor, probten mit ihnen auch zwei meiner für sie geschriebenen Lieder aus der Stadtteil­ oper – „Du bist ok“, ein Lied über Akzeptanz und Freundschaft, und „Unsere Erde“, ein Lied über die Gedanken der Kinder zum Klimaschutz. Und dann kam schließlich der große Moment in der vollbesetzten Paulskirche: Die Kinder sangen als Eröffnungslied „Ok“ und bekamen einen donnernden Applaus, nach „Unsere Erde“ gab es für sie sogar Standing Ovations (insgesamt sangen sie fünf ­Lieder, drei von Johannes Brahms, dazu die beiden von mir). Als wir eine Woche später diesen Erfolg noch einmal feierten, hatten wir 50 vom Bundespräsidenten ­eigenhändig unterschriebene Autogrammkarten für sie dabei, einen Stapel lobender Zeitungsartikel und viele, viele Fotos. Sie haben sich wirklich sehr darüber gefreut und waren unheimlich stolz. Ein Mädchen mit selektivem Mutismus spricht seit ­dieser ­Feier mit mir. Was für eine Freude! An dieses Erlebnis, diesen Stolz der Kinder, denke ich derzeit oft. Es fiel mir auch sofort wieder ein, als ich gebeten wurde, hier etwas über Genuss zu schreiben. ­Gemeinsam mit anderen etwas zu bewegen, gestalten zu können: Ja, ich genieße ­solche Situationen – wenn sie (wie diese) mit Humor gelebt werden. Damit das klappt, habe ich für mich eine Übung entwickelt, die ich im Folgenden gern teile. Sie erdet und liefert eine Art Anleitung zum Lustigsein.

Fotografie: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

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Planet Sossenheim“: So heißt die neue Stadtteiloper, die ein Team der HfMDK mit Kindern der Henri-DunantGrundschule und Einwohnern des Stadtteils Sossenheim entwickelt. Noch vor der Premiere (26. März 2020) standen die Kinder jetzt mit zwei Liedern daraus auf der Bühne: bei der Eröffnung des Grundschulkongresses 2019 mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (Foto). Sabine Fischmann erinnert sich an diesen besonderen Moment. Sie ist ist Dozentin im Fachbereich 2 und bei „Planet Sossenheim“ für das Konzept, die Regie und die szenische Arbeit zuständig.


MEINE ANLEITUNG ZUM LUSTIGSEIN:

1.

I ch sehe mich als winzigen Teil eines großen Ganzen und nehme mich, bei aller Selbstliebe, nicht so ernst.

2.

I ch merke mir Situationen, in denen ich „ein Depp“ bin und lerne, über mich selbst zu lachen.

3.

I ch spüre, wie mich das entspannt und beginne, meine „Deppengeschichten“ anderen zu erzählen.

4. 5. 6.

Ich erkenne, dass gemeinsames Lachen sehr viel positive Energie erzeugen kann.

7.

I ch stelle fest, dass ich dieses Gefühl auf andere übertragen kann und dass es so möglich ist, für gute Stimmung zu sorgen.

Ich trainiere meinen Humor an verschiedenen Stellen im Alltag. I ch versuche, dieses wohltuende Gefühl zu speichern, damit ich es immer abrufbereit bei mir habe. Bin ich schlapp, fühle mich antriebslos oder schaltet sich mein kritisches Ego ein, ohne das ich es möchte, kann ich es aktivieren.

Afrika, ein Geschenk

Fotografie: Sandro Hirsch

TEXT: SANDRO HIRSCH Es ist Juni 2019. Ich stehe in Kigali, der Hauptstadt Rwandas. Über mir die Sonne, unter mir staubige Erde und in der Ferne eine weite grüne Hügellandschaft. Ich stehe direkt vor meinem Ziel – vor dem Gelände der Root Foundation. Seit sechs Monaten läuft hier der Aufbau einer Brass Band für junge Musiker überwiegend aus prekären Verhältnissen. Ein sympathischer Mann im blauem T-Shirt mit der Aufschrift „Brass for Africa – Teacher“ öffnet mir, mit strahlendem Lächeln. Dann werde ich von einer Gruppe junger Blechbläser musikalisch begrüßt, die Brass Band. Begeistert spielen sie, voll in ihrem Element, ein altes ugandisches Lied… Ich hatte den Eindruck, die Kinder und Jugendlichen, die ich beim Projekt kennenlernen durfte, hatten nach deutschen Maßstäben kaum Besitztümer, manche kaum Essen und Trinken, manche von ihnen lebten auf der Straße. Verzicht – so schien es mir – war für viele kennzeichnend für ihr Leben. Und dennoch wirkten sie als Mitglieder der neuen Brass Band sehr glücklich. Sie lachten, sie scherzten, sie wollten lernen. Und sie schienen jeden Moment, den sie in der Gruppe gemeinsam verbrachten, zu genießen. Die Geschichten der Kinder, ihre Begeisterung, ihre vielseitigen Talente ... selten war ich so oft so tief emotional berührt. Ich glaube nicht, dass sie ohne unser Musik-Projekt kein lebenswertes Leben haben würden... Nein.

Protokolle

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Angefangen hat alles 2016, als ein guter Freund ihm vom Blechbläser-Projekt „Brass for Africa“ in Uganda erzählte, und von seiner Idee, das Projekt zu expandieren. Sandro Hirsch war sofort dabei. Er und sein Team sammelten Spenden, klopften an jede Tür – und schafften es schließlich, dass im Nachbarland Rwanda drei Jahre später ein ähnliches Projekt entstehen konnte. Die Idee, die ihn so begeistert: Kinder aus schwierigsten finanziellen und familiären Verhältnissen musizieren gemeinsam, haben Spaß, werden stark. Sandro Hirsch studiert an der HfMDK Trompete bei Professor Klaus Schuhwerk.

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Aber eine Freude oder Genussmomente für sie zu ermöglichen, durch die sie stärker werden, einen tieferen Sinn finden, selbstbewusster werden, lernen, im Miteinander zu Musizieren, sich gegenseitig zuzuhören und neue echte Freunde finden, eine große Familie werden… Das ist ein wundervolles Geschenk. Für alle, die daran teil­ haben. Vielleicht möchten Sie diese jungen Menschen in Kigali, im Herzen Rwandas, ebenfalls unterstützen? Infos zum Projekt, Videos und ein Blog finden Sie hier: www.sandrohirsch.com/brass-for-africa-in-rwanda „BRASS FOR AFRICA“ IN RWANDA:

→→Beginn der Planung 2016 →→Beginn vor Ort 01/2019 →→ca. 60 Kinder/Jugendliche im Alter von 8-18 Jahren →→ 17 Blechblasinstrumente vor Ort, zehn weitere wurden gespendet (Versand nach Rwanda in Kürze)

→→Stadtteil Batsinda in Kigali, Rwanda →→4x 1–2 Stunden Probe pro Woche →→2 Tage Auswendigspiel →→2 Tage Notenlernen →→1 Auftritt pro Woche ↘↘

Schöne Stimmen TEXT: ULRIKE MÜNNICH Genuss bedeutet für mich in erster Linie: Hören. Ich liebe schöne Stimmen, Gesang, Barock- und Kammermusik, und so kam ich irgendwann zur HfMDK, zu den Veranstaltungen der Studierenden und schließlich zum Freundeskreis. Nicht, dass ich nicht auch andere musikalische Termine wahrnehmen würde, aber ich muss schon sagen, dass die Hochschule für mich etwas ganz Besonderes ist: In den vergangenen Jahren habe ich kaum einen Gesangsabend ausgelassen, unglaublich tolle Konzerte und Workshops erlebt – und die allermeisten davon auch sehr, sehr genossen. Es ist für mich einfach schön, junge Sängerinnen und Sänger in ihrer Entwicklung verfolgen zu können, sie haben meine volle Bewunderung. Hinzu kommt, dass ich über die ­Jah­re an der Hochschule unzählige interessante, nette Menschen kennenlernen konnte, Menschen mit den gleichen Interessen und Zielen wie ich – dadurch fühle ich mich an der HfMDK richtig zu Hause. Auch das genieße ich. Mittlerweile begegne ich in Konzerten und Opernhäusern häufig Sängerinnen und Sängern, auch Musikerinnen und Musikern, die ich aus ihren Studienzeiten an der HfMDK kenne, und ich begegne i­hnen nicht nur in Frankfurt. Im Sommer zum Beispiel, als ich die Marienvesper in einem Chor in Tübingen mitgesungen habe, da kam das halbe Orchester von der HfMDK! Für mich geht nichts über Musik, das Miterleben und Zuhören (mein erstes Opern-Abo bekam ich mit neun), dazu bin ich hin und wieder auch selbst gern aktiv, singe dann in einem Chor mit, spiele Werke von Bach auf meinem Cembalo und, vor allem, Schubert-Sonaten und -lieder auf dem Klavier.

Illustration: Jan Buchczik

Als Ulrike Münnich noch Tontechnikerin beim Hessischen Rundfunk war, musste der Genuss oft warten: Da sie im Schichtdienst arbeitete, blieb ihr für ihr Lieblingshobby häufig keine Zeit – dafür, Konzerte zu besuchen oder in die Oper zu gehen. Das ist heute anders. Ulrike Münnich holt alles nach, und die HfMDK spielt für sie dabei eine wichtige Rolle: So oft es geht, kommt sie zu Veranstaltungen in die Hochschule. Sie ist Mitglied in der Gesellschaft der Freunde und Förderer (GFF).

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Genuss & Verzicht


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4 Studierende auf 24 m� TEXT: MALIN LAMPARTER Das Projekt „Lampartheim“ war eine sogenannte „Frankfurt Performance“. Als Regiestudierende habe ich die Aufgabe bekommen, mich mit meinem Ankommen in Frankfurt zu beschäftigen. Dabei sind mir vor allem die hohen Mietpreise aufgefallen. Teilweise zahlen Leute 600 Euro und mehr für ein WG-Zimmer – absolut absurd. Gleichzeitig sind viele Studierende von BAföG-Zahlungen abhängig, bei denen aber die immer höher werdenden Mietpreise gar nicht berücksichtigt werden. Lediglich eine Pauschale von 240 Euro ist vorgesehen – davon findet keiner eine Wohnung. Ich habe mich deshalb dazu entschlossen, mich in einen Selbstversuch zu begeben: Zusammen mit drei anderen lebte ich vier Tage lang in meiner 24 Quadratmeter-Wohnung – um herauszufinden, was es so mit einem macht, wenn man wirklich gar keine Privatsphäre mehr hat. Um diese Privatsphäre auch nicht nach außen entstehen zu lassen, haben wir unser Projekt auf Instagram geteilt. Die Regel: Mindestens ein Mal pro Stunde muss etwas gepostet werden. Ausnahme: Es schlafen alle.

Einen adäquaten Wohnraum, der auch noch bezahlbar ist, bekommen in Frankfurt nur die wenigsten Studierenden. Was das mit einem macht? Dieses Experiment von vier Studierenden der HfMDK zeigt es: Vier Tage lang lebten sie gemeinsam auf 24 Quadratmetern. Malin Lamparter, Regiestudentin und WG-Mitglied des Experiments, über einen Genuss der besonderen Art.

BEWOHNER DES LAMPARTHEIMS WAREN AUSSER MIR:

→→Anna, 21 (Schauspielstudentin) →→Jette, 23 (Regiestudentin) →→Simon, 26 (Schauspielstudent) Anna und Simon sind ein Paar, und haben deshalb den Wunsch nach Privatsphäre etwas nach oben getrieben. Jette ist einfach lieb und bei allem dabei, ich habe mich am meisten beschwert, obwohl ich mir alles ausgedacht hatte. Anna hatte alle unter Kontrolle und Simon war an allem Schuld. Nach dem Experiment führte ich mit Aylin Günel, sie ist Lehramtsstudentin im Fach Musik, dieses Interview:

Wie war das Experiment? Überraschend schön, aber schlaflos. I st es nach BAföG-Berechnungen möglich, zu viert auf 24 m� zu wohnen? Für vier Tage ist es möglich, aber für längere Zeit vermutlich nicht. Ich fürchte, spätestens nach zwei Wochen wären wir uns gegenseitig an die Gurgel gegangen. I st es realistisch, ohne Unterstützung (BAföG, Eltern u.a.) ein Studium in Frankfurt selbst zu finanzieren? Jeder weiß, wie teuer Frankfurt ist. Ohne Unterstützung geht da selbstverständlich gar nichts. Aber auch mit BAföG ist es nicht leicht. Selbst wenn man nur das billigste Essen kauft, in einem w ­ inzigen WG-Zimmer am Rande der Stadt wohnt, kein Geld für Kleidung ausgibt und beim Treffen mit F ­ reunden höchstens mal ein Bier beim Späti trinkt, dann reicht der berechnete Regelsatz häufig immer noch nicht aus. Gegen einen Nebenjob ist theoretisch natürlich nichts einzuwenden, das praktisch zu reali­sieren, ist bei den doch meist ziemlich zeitintensiven Studiengängen der HfMDK oft ein großer Kraftakt. Was hat am meisten genervt? Morgens geweckt zu werden, wenn die anderen aufstehen, man selbst aber noch liegen bleiben kann – der Schlafmangel war immer akut. Keine Möglichkeit, mal in Ruhe mit dem Freund zu telefonieren. Hinzu kamen die extreme Enge im Bad und die Tatsache, von den anderen abhängig zu sein: Es gab nur zwei Schlüssel.

Protokolle

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Welche Erkenntnisse und Erfahrungen nehmt ihr mit? Es war ein erstaunlich schönes Experiment, das auch viel Spaß gemacht hat. Die erstaunlichste Erkenntnis war, dass viel Nähe zu noch größerer Nähe führt. In dieser Situation ohne Privatsphäre haben wir alle die Flucht nach vorne gewählt und versucht, uns immer besser kennenzulernen. Inwiefern und in welcher Form spielte Verzicht eine Rolle? Es war ein Verzicht auf Privatsphäre und Selbstbestimmung. Man musste sich mit den anderen abstimmen, was es zu essen geben soll (mehrere Gerichte zu kochen, ist einfach keine Option mit so wenig Platz). Außerdem war zu klären, wo die Sachen der verschiedenen Leute untergebracht werden können, ob im Zimmer geraucht werden darf (obwohl es Nichtraucher gab) und natürlich, wann das Licht aus- und wieder angemacht werden kann. Was war für euch der größte Genuss während des Experiments? Schöne Gespräche mit lieben Menschen, gutes gemeinsames Essen und das Gefühl zusammenzuwachsen.

oben: Malin Lamparter, Anna Bardavelidze. unten: Jette Büshel, Simon Schwan

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Genuss & Verzicht

Kostbare Freundschaften TEXT: WILLY EGLI Ich wusste: Frei ohne Ende, das ist nichts für mich. Deshalb: Schon bevor ich mit 55 aufgehört habe zu arbeiten, suchte ich mir eine ehrenamtliche Beschäftigung – so lernte ich die HfMDK kennen. Nebenbei hatte ich in den ersten Jahren zwar noch ­einen Job auf der MS Deutschland, dem ehemaligen Traumschiff. Aber ich bin froh, dass das vorbei ist. Dieser Kontrast: Auf dem Schiff ist Genuss im Übermaß völlig normal, viele Passagiere sind übersättigt in mehrfacher Hinsicht. Da war es gut, jeweils danach in die Hochschule zurückzukommen und eine Art Balance zu erleben. Wie bereitwillig Studierende verzichten, um später mal den Sprung in die große Welt der Musik oder des Theaters zu schaffen, wie viel sie hinnehmen, beeindruckt mich bis heute... Wie dankbar sie sind, wenn sie mal eine Brezel oder ein Bier spendiert bekommen, ist immer wieder schön.

Fotografie: privat

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Catering an der HfMDK: Ohne Willy Egli können sich das nur die wenigsten noch vorstellen. Vor 13 Jahren war er der erste Ehrenamtliche, der hier bei Konzerten mit anpackte, etwas später auch den Einkauf übernahm – und heute sagt: Alles in allem hätte er es kaum besser treffen können. Egli hat den Vergleich, nach 30 Jahren im Service bei der Lufthansa und rund acht Jahren auf einem Kreuzfahrtschiff.


Ich genieße es, wie früher beim Fliegen mit jungen Leuten aus aller Welt zusammenarbeiten zu können, die noch eine ganz andere Sicht auf die Welt haben. So ­entsteht auch im Catering-Team eine bunte Mischung: die Studierenden aus allen Bereichen, wir ehrenamtlichen Servicefachkräfte, mehrheitlich von der Lufthansa, und die Hauptamtlichen der HfMDK, namentlich das KBB – also das Künstlerische Betriebsbüro. Außerdem sind hier ein paar für mich sehr kostbare Freundschaften entstanden. Als großer Opernfan wird von mir manchmal die Gesangsabteilung leicht bevorzugt, aber mich haben auch Abende für Schlagzeug, Tanz oder alte Musik begeistern können. Im Publikum sind viele freundliche Stammgäste, mit denen sich ­immer wieder nette „Fachsimpeleien“ ergeben. Die logistischen Möglichkeiten in der Hochschule halten sich in Grenzen, trotzdem versuchen wir Qualität und guten Service anzubieten. Wenn ich sage: Ich genieße dieses Ehrenamt, spreche ich wohl auch im Namen meiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Solange alle zufrieden sind, ist das doch eine Win-win-win-Situation, nicht wahr?

Der Sound der Straße TEXT: RAINER MICHEL

Illustration: Jan Buchczik

Über Genuss denke ich selten nach: Genuss ist nichts, was mich antreibt, was ich ­unbedingt erreichen will. Spontan würde ich aber sagen: Genuss, das sind für mich die Momente, in denen alles, die gesamte Atmosphäre, auf fast wundersame Weise stimmig ist. Zum Beispiel im Sommer, wenn ich mich tagsüber mal mit meiner Gitarre zum Experimentieren draußen vor die Tür unseres Ladens setze – die Temperaturen sind angenehm, es laufen nette Leute vorbei, jemand bleibt stehen und es kommt ein interessantes, gutes Gespräch zustande. Solche Momente meine ich. Sie haben etwas Spielerisches, Intuitives, Unangestrengt es, und sie lassen sich eigentlich nicht planen. Das Experiment für mich an der Sache ist: Ich stimme meine Gitarre draußen nicht wie üblich, sondern orientiere mich dabei vor allem an den Geräuschen der Straße. Manchmal kommen tolle Stücke dabei raus, sobald ich anfange zu spielen, manchmal auch nicht – ohne, dass es dem Genuss aber etwas ausmachen würde. In den 1980er Jahren habe ich eine Zeit lang in New York gelebt, in einer Wohnung oberhalb der Knitting Factory. Da waren viele meiner musikalischen Helden versammelt, einige von ihnen konnte ich vorher hier in Frankfurt im Historischen Museum umsonst und sonntags draußen bewundern. So fand ich den Weg zur experimentellen Musik, konnte später einige ziemlich spezielle Instrumente sammeln und habe auch angefangen, selbst welche zu bauen – Instrumente wie den Geigenbaum, der heute im Laden steht. Eine 92-jährige Engländerin, die oft zu uns kommt, findet, in Aktion klinge er wie eine Reinkarnation des Streichquartetts vom Untergang der Titanic. Wenn sie das so mit ihrem sehr geheimnisvollen Gesichtsausdruck sagt, gefällt der Gedanke ... Mittlerweile bin ich zwar ein wenig weg von der Klangforschung, Livemusik ist allerdings nach wie vor mein Ding: Seit 2017 hat der Laden deshalb sein eigenes kleines Kammerorchester, das Korridor Ensemble. Wir experimentieren, spielen oft aber auch Stücke, die ich in den vergangenen Jahrzehnten ursprünglich für Filme komponiert habe, von Easy Listening bis Weltmusik. Das Gegenteil von Genuss? Auch dazu fällt mir einiges ein, nicht nur die eigene Steuererklärung oder Ärger mit irgendwelchen Ämtern. Eher schon: Klimawandel, Demo­kratien unter Druck. Mein Leben einfach so zu genießen und die Kreativität hochzuhalten, ganz ehrlich – das ist gerade nichts für jeden Tag.

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Als Film- und Theater‑ komponist ist Rainer Michel bundesweit bekannt, sein Laden „Korridor“ in Frankfurt noch nicht – selbst in der Musikszene gilt er bis heute als Geheimtipp. Musik, Film und Klangkunst, Mode und Malerei: Hier greift alles nahtlos ineinander. Rainer Michel spielt Gitarre, komponiert, unterrichtet, experimentiert und probt mit seinem „Korridor Ensemble“, zu dem auch Studierende der HfMDK gehören. Die Künstlerin Pei Li, seine Frau, stellt ihre Bilder aus und verkauft die von ihr designten Kleider. „Korridor“ ist ein Laden, aber vielmehr noch eine Plattform für die künstlerische Arbeit von Pei Li und Rainer Michel – ein Labor, ein Ruhepool.

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Frankfurt in Takt 19-2

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„Wo der Verzicht auf mein eigenes Wohlbefinden anfängt, hört der Genuss auf“ Junge Schauspielerinnen und Schauspieler genießen es, ihr Publikum von der Bühne aus in eine Phantasiewelt mitzunehmen. Wie viel Verzicht damit verbunden ist, zeigen sie nicht.

Spielen bedeutet für mich, den Moment zu genießen. Sich eine Phantasiewelt zu erschaffen und in ihr zu handeln, so wie früher als Kind, als ich mich stundenlang in ein und dasselbe Spiel vertiefen konnte und jegliches Zeitgefühl verlor. Nichts war dann wichtiger als das, was ich im Spiel erlebte, für und mit meinen Freunden erlebbar machen konnte. Das ist nicht anders, wenn ich heute auf der Bühne stehe. Der Beruf des Schauspielers ist der, einem Publikum Geschichten zu erzählen und es, in welcher Form auch immer, auf eine Reise durch eine Phantasiewelt mitzunehmen, die mit unterschiedlichsten (Theater-) Mitteln kreiert wird. Wenn ich etwas beim Publikum ausgelöst habe, sei es Schmerz, Wut, Freude oder Scham, habe ich meinen Job eigentlich schon getan. Ich glaube allerdings, dass es nicht möglich ist, eine Verbindung zum Publikum herzustellen, ohne selbst auch in irgendeiner Form zu genießen. Und dabei ist es völlig egal, ob es sich um eine Komödie oder Tragödie handelt, denn mir geht es hier um den Genuss im Sinne von „Sich-der-Situation-hingeben“, und auch dem Rausch. Wobei das Loslassen für mich das Schwerste überhaupt an dem Beruf ist. Wenn ich Schauspielerinnen und Schauspieler, oder generell Künstler auf der Bühne sehe, die etwas in mir auslösen, von denen ich mehr wissen und sehen möchte, und ich mich im Nachhinein frage, was dieses Etwas war, das mich so angezogen hat, dann komme ich eigentlich immer zu dem Schluss, dass diese Künstler Genuss empfunden haben, als sie auf der Bühne standen. Denn Spielen und Genuss gehören für mich unmittelbar zusammen, sind kaum voneinander trennbar. Würde ich meine Spiellust verlieren und die Momente auf der Bühne nicht mehr genießen können, gäbe es keinen Grund mehr für mich, wei-

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ter Schauspielerin zu sein und mich immer wieder Extremsituationen auszusetzen. Dafür ist einfach der Verzicht, der mit diesem Beruf einhergeht, zu groß. Man opfert viel für seine Leidenschaft, in erster Linie Sicherheit. Ganz konkret heißt das für mich kurz vor den Absolventenvorspielen: Wo bin ich in einem Jahr? An welchem Theater werde ich spielen? Oder drehe ich dann vielleicht gerade einen Film oder nehme ein Hörbuch auf? Habe ich vielleicht gar kein Engagement und auch keine Projekte, in denen ich mitwirke, weil ich einfach Pech hatte und nicht zum Vorsprechen eingeladen wurde? Keine Ahnung, man weiß es nicht. Wissentlich weiß man nichts und begibt sich trotzdem in die Situation der Unsicherheit. Dazu kommen nicht geregelte Arbeitszeiten, wenig Freizeit, wenig Geld, wenig Zeit für Freunde und Familie, überhaupt für ein Privatleben, denn, dass Texte vor und nach der Probe gelernt werden, und zu Hause und im Alltag weiter recherchiert und beobachtet wird, ist allen klar, das wird vorausgesetzt. Es ist nun mal ein „Vierundzwanzigstundenjob“, man macht ihn ganz oder gar nicht. „Ich konnte mich nicht vorbereiten aus diesen und jenen Gründen“ gibt es nicht, denn es ist an jeder Produktion ein ganzes Team beteiligt. Was ich während des Studiojahres am Schauspiel Frankfurt besonders gelernt habe, ist, auf mich selbst aufzupassen. Ich habe mit Grippe gespielt und mit gebrochenem Arm, weil ich niemanden hängen lassen oder enttäuschen wollte, weil mir in dem Moment alles wichtiger vorkam, als meine eigene Gesundheit. Mittlerweile habe ich für mich eine klare Grenze gezogen: Da, wo der Verzicht auf mein eigenes Wohlbefinden anfängt, hört der Genuss auf. Und dafür bin ich selbst verantwortlich, diese Grenze zu ziehen.

Fotografie: Ramon Haindl (vorherige Seite);  Sandra Then (oben)

TEXT: LAURA TEIWES


Trotz all dieser Gedanken, die man sich rund um die Uhr macht, über alles, was hinter der Bühne passiert, was privat los ist und wie man die Rolle geprobt hat, besteht die Kunst des Schauspielens darin, im Moment des Spielens dem Körper zu vertrauen, sich zu spüren und zu handeln. Mein größtes Hindernis ist mein eigener Kopf, der so viel denkt und blockiert und jeden Tag von neuem nicht genießen will, weil ich unbewusst oft funktionieren und erfüllen will, anstatt mein Bedürfnis auszuleben. Wenn ich mich allerdings vor Proben und Vorstellungen bewusst daran erinnere, dass es mein Beruf ist, den Moment zu genießen, verschwinden viele Probleme von ganz alleine. Denn mein Beruf ist es, zu spielen – und das ist doch wunderbar!

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aura Teiwes hat schon im Alter von acht Jahren L Schauspiel- und Musicalkurse am Jungen Theater Bonn besucht, jetzt steht sie kurz vor dem Abschluss ihres Schauspielstudiums an der HfMDK. Zuletzt war sie u.a. in Falk Richters Stück „Rausch“ im Bockenheimer Depot in Frankfurt zu sehen – im Rahmen des Studiojahres Schauspiel 2018/19.

„Mein größtes Hindernis ist mein eigener Kopf, der so viel denkt und blockiert und jeden Tag von neuem nicht genießen will, weil ich unbewusst oft funktionieren und erfüllen will, anstatt mein Bedürfnis auszuleben“ Rampenlicht

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Schon wieder üben, E-Mails checken, Angst aushalten: Tim Vogler, Profes­­sor für Streicherkammermusik, hat damit Schluss gemacht. Hier plädiert er für einen entspannten Umgang mit den Anforderungen des Lebens.

Die Kunst  der

kommen sollte: das Üben oder der Gang ins Büro. Kurz abwägen. Oft habe ich mir dann gesagt, okay, üben kann ich auch später noch. Genauso gut hätte ich aber denken können, das Büro hat noch ein bisschen Zeit und üben kann ich abends, gehe ich also einfach nur spazieren.

TEXT: TIM VOGLER Als ich mit meinem Sohn im Sommer eine Woche in Island verbrachte, kamen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wir fanden unglaublich schöne Plätze, reihenweise – und standen doch stets vor der Frage, ob wir bleiben oder lieber weiterfahren sollten. Vielleicht würde es ja ein paar Kilometer weiter noch Unglaublicheres zu sehen geben. Wir mussten also Entscheidungen treffen, und haben letztlich beides getan: verweilen und weiterreisen. Jedes Musikstück, dem wir begegnen, das wir studieren und aufführen wollen, stellt uns dieselben Fragen. Die Möglichkeiten sind nahezu unendlich. Immer wieder müssen wir uns entscheiden, für eine einzelne Stelle – oder die Arbeit am Gesamtüberblick. Stille finden, Haltung, Atmung, tastende ­Hände. Intuition zulassen, die Partitur lesen, Strukturen aufdecken, Abläufe planen und üben, Intonation erarbeiten. Harmonien hören, Emotionen erfühlen und trainieren. In Zeitlupe üben, Tempo und Rhythmus finden. Das Werk entdecken, sich hineinhören, Arti­ kulationen lesen und umsetzen, ebenso Dynamik, Ausdruck, Klang. Natürlich wohnt jeder Entscheidung für etwas auch eine Entscheidung gegen etwas inne. Das fängt schon am Morgen an: Soll ich aufstehen oder bleibe ich noch liegen? Eine zentrale Frage, wenn man keine Probe oder keinen Unterricht hat, sondern, wie es vielen freiberuflichen Künstlern oder auch Studierenden gehen mag, nur eine Verabredung mit sich selbst – zum Üben. Ich war viele Jahre mit meinem Quartett freiberuflich tätig und muss sagen, dass neben der künstlerischen Arbeit eine ständig wachsende Menge an Büroarbeit zu erledigen war. Nach der Entscheidung für das Aufstehen war dann also oft, zumindest wenn keine Probe anstand, zu überlegen, was zuerst

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Genuss & Verzicht


GENUSS-PLAYLIST

Maurice Ravel, Streichquartett F-Dur, III. Très lent, Vogler Quartett Franz Schubert, Streichquintett C-Dur, Op. 163, D. 956: II. Adagio, Vogler Quartett, Daniel Müller-Schott Astor Piazolla, Five Tango Sensations: No. 2, Loving, Marcelo Nisinman, Vogler Quartett Heifetz, Primrose, Piatigorsky: Mendelssohn Oktett, 1. Satz Link zum Nachhören auf Spotify: t1p.de/genuss-playlist

Fotografie: Andreas Reeg

Nun ist die Frage, ob man überhaupt in Ruhe spazieren gehen kann, wenn man weiß, dass E-Mails beantwortet werden sollten und ich noch dringender üben müsste, weil die nächste Quartettprobe oder ein Konzerttermin naht. Konnte ich diesen Spaziergang trotzdem unbefangen genießen? Hier berühren wir einen Bereich, der mit Lebenskunst zu tun hat. Vielleicht war es die beste Entscheidung, spazieren zu gehen, trotz des schlechten Gewissens, das mich begleitete: Das Licht und die frische Luft ließen meine Gedanken klarer werden, ich reflektierte bewusst oder unbewusst die anstehenden Aufgaben, kam dadurch später viel schneller und effektiver zum Ziel – und lernte nebenbei, das Sowohl-als-auch des Lebens sehr zu schätzen. Wir Menschen haben die großartige Fähigkeit, zeitgleich verschiedene Dinge zu empfinden oder zu denken. Wir leben im Moment, aber auch in der Zukunft. Wir versuchen ständig, das Kommende zu strukturieren, und müssen das auch. Denn anders ist es überhaupt nicht möglich, ein Konzertprogramm zum Termin sorgfältig vorzubereiten und gleichzeitig so viele andere Dinge in unseren Lebensfluss einzuordnen. Die Kunst dabei ist, die Dinge mit Muße und Zuwendung zu tun. Eine Stunde Zeit zum Üben heißt, zu sich zu kommen, Ruhe zu finden, abseits von Stress und auch: von Angst. Die Angst, etwas nicht zu schaffen, nicht zu wissen, wie. Sich etwas nicht zuzutrauen. Angst zu versagen. Damit haben alle Musiker, alle Künstler zu kämpfen. Aber in der täglichen Arbeit, im Umgang mit dem Instrument, sollte diese Angst nicht mitspielen. Dann lieber nicht üben. „Wer nicht übt, kann auch nichts falsch machen“, hat mir eine hochverehrte Lehrerin immer gesagt. Und sie sagte auch, „nur ein lockerer, gut ­gelaunter Körper kann Geige spielen“. Wenn wir viele Stunden täglich ­unter Angst üben, die Angst in unserem Körper präsent ist, sind wir die besten Kandidaten für eine spätere psychosomatische Musikerkrankheit.

Immer wieder stoße ich auf den Begriff Kontrolle. Als Geiger sollen wir unseren Bogenarm kontrollieren, oder die linke Hand, control your intonation. Gerade im Englischen ist oft viel von Kontrolle die Rede. Ich möchte jetzt gar nicht in Abrede stellen, dass es auch um Kontrolle geht. Aber: Ich bin in der DDR aufgewachsen. Bei allem was man tat, hatte man das kleine Achtungszeichen einer Kontrolle von außen im Kopf. Deshalb bedeutet Kontrolle für mich auch eine Art Enge, gekoppelt mit Angst: Nicht wirklich frei atmen zu können. Meine Erfahrung ist, dass man viel glücklicher leben kann, genussvoller und reicher, wenn man es schafft, in friedlicher Kooperation mit dem Kontrollorgan im Kopf zu leben. Fähig zu sein, nach der bewusst getroffenen Entscheidung für das Üben und für die Art und Weise des Übens, die Kontrolle über den Prozess der Arbeit wieder ein Stück zu delegieren, an den Gehörsinn, den Tastsinn, das intuitive Verständnis der Dinge und an die selbstdenkende Handlungsfähigkeit des eigenen Körpers. Stichwort „die denkende Hand“ – diesen wunderbaren Begriff hörte ich zum ersten Mal von meiner schon genannten Lehrerin, Hedi Gigler, einer bedeutenden österreichischen Geigerin (zum zweiten Mal begegnete ich ihm, variiert als „die hörende Hand“, in einer Ausgabe der „Frankfurt in Takt“ des Jahres 2018, dankbar gelesen im Artikel von Catherine Vickers, ehemals HfMDK-Professorin für Klavier). Der Begriff beschreibt, wie unsere Hände selbstdenkend, selbsthörend ihren Weg finden, so wir sie denn lassen. Dass sowohl in uns selbst als auch in der Musik viele Prozesse oder Strukturen simultan ablaufen, ist ein ganz wesentlicher Gedanke, um musikalisch zu einer Aussage zu finden. Bei einem kürzlich gehaltenen Werkstattgespräch zu Mendelssohns Streichoktett op. 20 gelang es, die Aufführungsqualität und die Atmosphäre hörbar anzuheben, indem wir jede Struktur einzeln anhörten und versuchten, den Charakter jeder Schicht lebendig werden zu lassen. Den Bass, die Synkopen, der Klangteppich, die Harmonien, die Melodie. Diese Melodie, an sich und ohne Begleitung bereits wunderbar, erhält ihren Sinn erst durch die sie unterstützenden Instrumente. Doch zurück zum Thema, und zum Schluss: Alle Bereiche des künstlerischen Lebens in eine genussvolle und damit positive Sicht der Dinge einzubeziehen – ja, das ist möglich. Dieser Text ist ein Plädoyer dafür.

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rof. Tim Vogler ist Professor für Streicher­kammermusik P an der HfMDK und bis heute 1. Geiger des von ihm 1985 gegründeten Vogler Quartetts.

Kontrolle Intuition

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„Musik fesselt uns, wir fühlen uns hineingezogen, absorbiert“

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Genuss & Verzicht


Menschen genießen Musik, jederzeit und überall. Woher das kommt und wie viel Absicht dabei ist: Ein Gespräch mit Melanie Wald-Fuhrmann, Direktorin der Abteilung Musik am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt. INTERVIEW: TAMARA WEISE Das Konzert ist zu Ende und das Publikum klatscht minutenlang Beifall. Was passiert da, ist Applaus eine Genussreaktion? Wald-Fuhrmann: Davon würde ich ausgehen, auch wenn Menschen in diesem Punkt höchst individuell sind. Persönlichkeitsmerkmale spielen eine Rolle, Einstellungen, Vorerfahrungen und sozio­ demografische Faktoren. Sogar an sich negative Gefühle können hier beteiligt sein – im ästhetischen Kontext sind sie oft positiv besetzt. Je mehr Tränen fließen, umso größer ist der Genuss? Ja, so ungefähr. Genuss an Musik kann viele Quellen haben, eben auch, wenn wir emotional berührt werden und dieses Berührtsein als angenehm empfinden. Musik kann uns aber auch fesseln, in sich hineinziehen, absorbieren. Wichtig für die positive Bewertung von Musik ist zudem, Klangereignisse als sinnvoll und zusammengehörig zu erleben – nicht bloß als Chaos von Tönen. Nun aber zu Ihrer Frage: Das liegt an der sekundären Lust am negativen Gefühl. Wie ist das zu verstehen? Gefühle, die wir im Alltag als negativ beurteilen und vermeiden, können wir in einem Kunstkontext genießen – weil klar ist, hier geht es um reine Fiktion. Offenkundig ist es für Menschen grundsätzlich angenehm, ein intensives Gefühl zu haben, egal, ob es positiv oder negativ ist. Wo stehen Musiker in diesem Kosmos an Gefühlen? Bei einem Konzert mittendrin. Wenn Musiker zum Beispiel etwas über ihre eigene Beziehung zu den Stücken erzählen, die sie spielen, schaffen sie dadurch eine Verbindung zu ihrem Publikum – das dann eben auch anders zuhört. Es entsteht Kommunikation, die gläserne Wand zwischen ihnen löst sich auf. Popmusiker machen das nicht ohne Grund die ganze Zeit. Vielleicht dazu noch mal generell: Eine Konzertatmosphäre eignet sich eher dazu, eine intensive, tiefe Begegnung mit Musik zu ermöglichen. Restaurants und Läden setzen Musik oft als Mittel zum Zweck ein, damit eine Genuss-Atmosphäre entsteht. Wer genießt, gibt leichter Geld aus, lautet ihr Kalkül. Und empirische Studien bestätigen das. Menschen sind extrem virtuos darin, Musik ­beziehungsweise den Genuss an ihr für andere Zwecke zu nutzen – kommerziell und auch sonst. Viele wissen sehr genau, welche Art von Musik in welcher Situation was mit ihnen macht, vor allem, seitdem Musik durch Streaming-Angebote wirklich ständig verfügbar geworden ist. Ich finde das faszinierend, man gestaltet sich quasi einen Soundtrack fürs eigene Leben. Dass es so einfach ist, sich jederzeit in Stimmung zu bringen: Was macht das mit dem Musikerleben? Dazu kenne ich keine Studien, aber ich finde die Beobachtung sehr spannend – weil sie zeigt, wie eng Menschen mit Musik verbunden sind. Einziger Haken: Läuft Musik in Dauerschleife, begibt man sich auch leicht in das Risiko der Abstumpfung.

Fotografie: plainpicture/Heidi Mayer

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Forschung

rof. Dr. Melanie Wald-Fuhrmann leitet seit 2013 die P Abteilung Musik am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main. Was für das Institut insgesamt gilt, gilt auch für sie: In ihren Forschungen konzentriert sie sich darauf, was wem warum und unter welchen Bedingungen an Musik ästhetisch gefällt – und welche Funktionen ästhetische Praktiken und Präferenzen für Individuen und Gesellschaften haben. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des Hochschulrats der HfMDK.

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Genuss & Verzicht

Fotografie: Ramon Haindl


Verzicht ist das Gegenteil von Genuss? Im Gegenteil. Argumente von Orm Finnendahl, Professor für Komposition.

Mehr vom  Weniger TEXT: ORM FINNENDAHL Es gehört zu den unausrottbaren Vorurteilen, dass „Verzicht“ in einen Gegensatz zu „Genuss“ gesetzt wird. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass das Verzichten die Negation bereits in der Vorsilbe enthält und damit der positiven Konnotation des Genießens zuwiderzulaufen scheint. Allerdings vermag das strategische Umbiegen des Wortes „Verzicht“ in das Wort „Reduktion“ dem vermeintlich lustfeindlichen eine positive Facette abzugewinnen. Denn die Fähigkeit zur Reduktion zählt zu den zentralen und überlebensnotwendigen Kompetenzen des Menschen: In der Form von Abstraktionen dienen Reduktionen dazu, überkomplexe Zusammenhänge überhaupt erst handhabbar und für Kommunikation verfügbar zu machen. In der Kunst kann die Fähigkeit zur Reduktion gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wie schon Antoine de ­Exupéry bemerkte, besteht Vollkommenheit nicht darin, dass man nichts mehr hinzufügen, sondern darin, dass man nichts mehr weglassen kann. Dies gilt für die Kunst in besonderem Maße. Das pointierte Zuspitzen und Fokussieren ist hier zentrales Gestaltungsmittel. Kein übermäßiges Schwadronieren sollte den Blick auf das Wesentliche verstellen. „Weniger ist mehr“ nannte dies schon Mies van der Rohe. Auch für mich ist Fokussierung und Konzentration ein zentrales Anliegen bei der kompositorischen Arbeit. Dabei geht es nicht um Askese, ganz im Gegenteil: Zunächst wird eine Unmenge an Materialien zusammengetragen, die dann in ­einem langwierigen Prozess auf ihre Notwendigkeit und Stichhal-

tigkeit hin befragt werden. Nur die besten Ideen überleben. Und naheliegenderweise sind das dann zumeist diejenigen, die mir das größte Vergnügen bereiten. Mit allem anderen muss ich das Publikum ja nicht belästigen. Um in diesem Zusammenhang mit einem anderen Vorurteil aufzuräumen: Musik, auch die zeitgenössische Musik, muss ­unter allen Umständen unterhalten, auch und gerade in ihrer reduzierten Form. Mein Problem ist eher, dass ich mich von der Musik, die allgemein als unterhaltend verstanden wird, nicht unterhalten fühle. Ich finde sie eher langweilig und unterfordernd. Und Unterforderung ist bei mir nicht mit Lustgewinn verbunden. Spaß macht mir Musik vor allem dann, wenn sie mich ­anregt, Zusammenhänge zu entdecken, die mir vorher nicht aufgefallen waren. Das klappt bei mir mit reduziertem Material erheblich besser, als wenn Musik mir ihren Gefühlsüberschwang in überbordender Ausschweifung aufdrängen möchte. Wenn dies zudem von Interpreten vorgetragen wird, die mir zeigen möchten, wie ergriffen sie von sich selbst sind, ist das für mich eher ein Zeichen emotionaler Inkontinenz denn künstlerischer Reife. Auf diese Art des selbstverliebten Zurschaustellens von Genuss verzichte ich gerne, um beide Wörter einmal in den richtigen Zusammenhang zu bringen.

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rof. Orm Finnendahl ist Professor für Komposition P und Ausbildungsdirektor für Komposition an der HfMDK. 2019 war mit einer 13-kanaligen Klanginstallation in der Schirn vertreten, die auf Basis algorithischer Verfahren entstanden ist (mehr dazu auf Seite 65).

„Die Fähigkeit zur Reduktion zählt zu den zentralen und überlebensnotwendigen Kompetenzen des Menschen“ Reduktion

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Der Barock gilt als Ära der Opulenz und reichen Genüsse, doch dies ist nur eine Seite der Medaille. Eva Maria Pollerus, Professorin für Cembalo, über Alte Musik und überholte Klischees. TEXT: EVA MARIA POLLERUS

Zeit der F   ülle „Der barocke Alltag hatte wenig mit einem Fest in Versailles gemeinsam – Krankheit, Tod, Krieg, Hunger und Grauen waren unverhüllte und selbstverständliche Zeitgenossen“ 30

Genuss & Verzicht


Schlank im Klangbild, leise, eine freiwillige Selbstkasteiung auf intellektuell begründbares Musizieren aus vor allem „musealem“ Interesse – die so genannte Historische Aufführungspraxis (HIP) hatte in ihrer Anfangszeit in der Musikwelt lange den Ruf, besonders für eines zu stehen: Verzicht. Auch wenn wir dieses ­Klischee wohl längst hinter uns gelassen haben, so müssen doch tatsächlich alle, die sich ernsthaft auf die sogenannte „Alte Musik“ einlassen, zunächst vielen liebgewonnenen, von Idealen des 20. Jahrhunderts geprägten Spiel- und Hörgewohnheiten entsagen. Wer aber den Komfort moderner Editionen gegen die Begegnung mit manchmal durchaus schwer lesbaren Faksimiles von Handschriften eintauscht, wer sich mit „historischen Instrumenten“ und ihren scheinbaren Schwächen plagt, wer auf stimmungsstabile Stahlsaiten, Dauervibrato, Schulterstütze, Haltepedal und ähnliches zunächst einmal bewusst verzichtet, macht sich frei für neue Entdeckungen, für einen Reichtum an neuen, anderen Ausdrucksmöglichkeiten. Heute sind andere Klischees präsenter: „HIP = freieres ­Musizieren“ oder „Barock = Fülle“. Doch auch diese Gleichungen gehen in ihrer Einfachheit natürlich nicht vollständig auf. So verbinden wir das Barock zurecht mit Sinnlichkeit, Pracht, Repräsentation und virtuoser Spielfreude. Neben so erfreulichen Erfindungen wie dem Sekt, hat diese Zeit doch auch das Gesamtkunstwerk „Oper“ hervorgebracht, in dem Musik mit Schauspiel, Tanz und gigantischen Bühnenmaschinerien zusammenkam und vom Publikum genossen wurde, während „Orangenmädchen“ in den Logen nicht nur kulinarische Leckereien verkauften. Doch der barocke Alltag hatte im Allgemeinen mit einem Fest auf Versailles wenig gemeinsam – Krankheit, Tod, Krieg, Hunger und Grauen waren unverhüllte und selbstverständliche Zeitgenossen. „Verzicht“ und Reduktion auf Wesentliches waren im vom Dreißigjährigen Krieg geprägten Europa sicher eine mögliche künstlerische Antwort auf das Leben, aber keinesfalls immer eine freiwillige künstlerische Wahl – etwa wenn Johann Sebastian Bach in Leipzig viele seiner Kantaten vermutlich nur mit einem Musiker pro Stimme aufführen konnte, während sein Zeitgenosse Arcangelo Corelli in Rom mit Orchestern bis zu 100 Musikern auftrat! War die Historische Interpretationspraxis lange verrufen als Versuch, Musik aus rein historischen Gründen in „richtig“ oder „falsch“ einzuteilen, und die Kunst in ein historisches Korsett zwingen zu wollen, so gilt sie mittlerweile als r­ evolutionäre Kraft, die den Mainstream und unhinterfragte Musiziertraditionen erfrischend durcheinanderbringt und für eine Fülle an „unerhörten“ Möglichkeiten öffnet. Dabei ist die „Alte Musik“ längst selbst im marktorientierten Mainstream angekommen, hat ihre eigenen, auch wieder standardisierten Aufführungstraditionen entwickelt. Häufig trifft man dabei auf eine Haltung, die vermittelt: „anything goes“. Doch erst in der Auseinandersetzung mit Regeln und Freiheit, Einschränkungen und Fülle, erst in diesem Balanceakt entstand und entsteht für mich Kunst. Verzicht und Genuss bedingen einander und es kommt auch in der HIP meist vor allem auf die Frage der richtigen Dosis im ­jeweiligen Kontext an.

Fotografie: Hansjörg Rindsberg

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rof. Eva Maria Pollerus hat im Frühjahr 2019 die ProP fessur für den neu eingerichteten Lehrstuhl Cembalo/ Generalbass und Kammermusik angetreten. Außerdem übernahm sie als neue Ausbildungsdirektorin des Instituts für Historische Interpretationspraxis (HIP) die Verantwortung für die Ausbildung in der Aufführungspraxis Alter Musik sowie die Leitung der vielfältigen Ensembles, Orchesterformationen und Projekte des HIP-Instituts.

Klischeekorrektur

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Ein Kunstwerk intellektuell bis hinein in kleinste Details zu durchdringen: Das halten viele bis heute für unabdingbar, damit sich Genuss einstellt. Christopher Brandt, Vizepräsident für Kunst und Forschung der HfMDK, sieht die Sache anders. Sein Text ist ein Zwischenruf.

Die Welt mit anderen Augen

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Genuss & Verzicht

Man kann jetzt natürlich vorschnell anfangen, rumzujammern: Darüber, dass Musik nur noch über Youtube konsumiert wird, atomisiert in einzelne Tracks; niemand mehr die Muße hat, sich ablenkungsfrei ein Album von vorne bis hinten anzuhören; die Leute nicht einmal im Konzert aufhören, an ihren Smartphones herumzuspielen; die vielgescholtene „Videoclipästhetik“ aus dem Fernsehen verschwunden ist, weil ja niemand mehr fernsieht, und eine neue Heimat im Regietheater gefunden hat et cetera pp.; unbestritten sollten Musik- und Kunsthochschulen die Orte sein, an denen künstlerische Gegenwart gelebt wird, Neues ausprobiert und Altes weitergegeben (wo denn sonst). Aber wollen wir wirklich wissen, ob das, was wir tun, überhaupt die Relevanz hat, die wir ihm beimessen? Wenn Kunst ein Spiegel der Gesellschaft sein soll, sieht es sowieso nicht besonders gut aus. Die Tendenz, einerseits Menschen nach ihrer Zweckhaftigkeit zu bewerten und sie andererseits mit ihrer eigenen Nutzlosigkeit im Regen stehen zu lassen, führt nicht nur dazu, dass sich Ängste und fehlende Perspektiven in Tendenzen kanalisieren, die das System als Ganzes bedrohen. In der Kunst sind darüber hinaus offensichtlich die Möglichkeiten verloren gegangen, gesellschaftliche Fragen zu artikulieren (oder habe ich im deutschen Pop irgendwen übersehen, der nicht auf Schlagerniveau privaten Trübsinn glorifi-

Illustration: State

TEXT: CHRISTOPHER BRANDT Es gibt beim Komponieren bestimmte Fragestellungen, die für das Gelingen eines Werkes zentral sind. Eine davon: die Diskrepanz zwischen den Intentionen des oder der Komponierenden (offensichtlich verschiebt die Genderfrage den Akzent weg von der Berufs- hin zur Tätigkeitsbezeichnung, was hier ja auch ganz passend ist) und dem, was beim Rezipienten, beim Publikum ankommt. Man kann sich beim Komponieren natürlich in Details verlieren, in spannenden Konzepten, Referenzen schaffen und Resonanzen, und das Publikum hört trotzdem ein ganz anderes Werk als das, welches sich der Komponist vorgenommen hat: Die freundlich geneigte Zuhörerschaft erfreut sich beispielsweise am schönen Streicherteppich, der eigentlich nur als harmloses Füllwerk gemeint war, während die unheimlich witzige Anspielung auf den „dodekaphonen Dialog für zwei Fagotte“ des geschätzten Kollegen leider vom Raumklang verschluckt wird. Wenn wir ehrlich sind, geht es uns allen so. Wir machen und tun, konzipieren, kooperieren, erzeugen Synergien, schreiben Leitbilder, die uns unserer gesellschaftlichen Relevanz versichern, Artikel für die „Frankfurt in Takt“, die irgendwem erklären sollen, was wir hier tun, aber kommt das an? Wo es hin soll? Wo wir doch selber nicht einmal die Muße haben, die Kunst wahrzunehmen, die wir erzeugen.


ziert? In der zeitgenössischen Musik? Aber wer sollte sich das ganze Zeug denn dann auch anhören?) Auch die Musikhochschulen verlieren die Möglichkeiten und das Potenzial, zu gesellschaftlichen Kernfragen vorzustoßen, da sie, wie die meisten Institutionen, das allgemeine ADHS verwalten, statt mutig Gegenakzente zu setzen. Hier setzt meine These vom Genuss als subversiver Kraft an. Um einmal und ausnahmsweise persönlich zu werden: Wie in der Legende „Die sieben Faulen“ von Friedrich Wagenfeld aus Bremen waren alle meine Aktivitäten, die sich im Nachhinein als „Karriere“ interpretieren ließen, eigentlich Versuche, mir ein Umfeld zu etablieren, in dem ich endlich meine Ruhe habe – um zu üben, zu lesen, Musik zu hören, zu komponieren, spazieren zu gehen, Bilder zu betrachten, solche Sachen. Das ist (was hier nicht das Thema sein soll) leider gründlich schiefgegangen. Geblieben ist jedoch immerhin das Bewusstsein, dass das Hamsterrad nicht unsere Bestimmung ist, vor allem als Künstler, sondern auf einen Zweck hinarbeitet, der sich vollendet, indem er sich abschafft. Ich möchte nämlich, wenn ich mit Freuden und aufmerksam Musik höre oder mache (oder ins Theater gehe; ein Buch lese; ein Bild betrachte etc.), nichts wissen von Transfereffekten, nichts zu schaffen haben mit Synergien, m ­ eine Ruhe haben vor Diskurs und Relevanz. Im günstigsten Fall interessiert es mich sogar selber überhaupt nicht mehr, wie ich dieses Kunstwerk jetzt finde.

GENUSS-PLAYLIST

Josquin Deprez: Missa Hercules Dux Ferrariae, The Hilliard Ensemble Jean Sibelius: Sinfonie Nr. 6. d-Moll Op. 104, Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan Helmut Lachenmann: „ …zwei Gefühle…“, Musik mit Leonardo, Peter Eötvös/ Ensemble Modern Scott Walker + Sunn O))): Soused Judee Sill: The Kiss Link zum Nachhören auf Spotify: t1p.de/genuss-playlist

Kontemplation

Mit anderen Worten: Für mich bedeutet Genuss, zumindest im Bereich der Kunst, Kontemplation. Ohne hier dramatisch verkürzen zu wollen, hat sie in diesem Zusammenhang drei zentrale Aspekte: 1.) Konzentration, 2.) Präsenz, 3.) Loslassen von Meinungen und Glaubenssätzen. Sie bezieht sich auf die eigene Haltung, nicht notwendigerweise auf die ­Faktur des Kunstwerks: Man kann auch Grindcore oder „Figaros Hochzeit“ kontemplativ erfahren. Um unnötige Diskussionen zu vermeiden, weise ich noch einmal darauf hin, dass ich lediglich einen Zugang beschreibe, der sich für mich als sinnstiftend und heilsam erwiesen hat, aber nicht notwendigerweise verallgemeinern lässt. Wenn jemand Spaß daran hat, sich während einer Performance wahnsinnig zu ärgern und sich danach beim Wein mit Gleichgesinnten darüber auszutauschen, ist das natürlich auch O.K. Eines der großen Missverständnisse, das den Genuss zeitgenössischer Musik (und nicht nur dort) behindert, ist ja dieser Glaubenssatz: Das Kunstwerk sei ein komplexes Geflecht intellektueller Anspielungen und Anstrengungen, und erst, wenn man dieses durchdringt, hat man sozusagen die Erlaubnis, das Werk zu verstehen und schön zu finden. Dabei kommt es doch nur darauf an, sich auf das einzulassen, was man hört. ­Bezeichnenderweise habe ich nirgends, bei keinem Orchester oder ­Ensemble der Welt, jemals erlebt, dass sich irgendjemand bei der Einstudierung eines neuen Werkes groß für die Intentionen des Komponisten oder den intellektuellen Hintergrund eines Werkes interessiert hat. Es geht darum, Musik zu machen, so virtuos, hingebungsvoll und leidenschaftlich wie möglich. Das ist der Kern, und es ist nicht nötig, das aufzuwerten, indem man es intellektuell verbrämt, auch an einer Musikhochschule nicht. Aber ich schweife ab. Für mich, in meiner beschränkten und subjektiven Wahrnehmung, ist die Krise der Kunst wie der Gesellschaft vor allem eine spirituelle, weil Anteile, die integral zur Gesellschaft, zum Menschen, zur Kunst gehören, negiert oder unterdrückt werden, aus welchen Gründen auch immer. In der katholischen Kirche (der einzigen Religion, die man unbestraft beleidigen darf) gibt es eine besondere Wertschätzung der rein kontemplativen Orden, also der Gemeinschaften, die nichts Zweckhaftes produzieren, sondern sich nur und ausschließlich dem Gebet widmen; sie seien es, die das Gefüge des Glaubens und der Welt zusammenhalten. So etwas brauchen wir auch in der Kunst: Hörer und Seher, die ihre Ängste und Erwartungen hinter sich lassen und sich vorbehaltlos der Schönheit hingeben, die größer ist als das, was wir von ihr zu wissen glauben. „Als ich aber geraume Zeit verharrt hatte, erwachten plötzlich in mir zwei Gefühle: Furcht und Verlangen. Furcht vor der drohenden Dunkelheit der Höhle, Verlangen aber mit eigenen Augen zu sehen, was darin an Wunderbarem sein möchte“ – in seinem Stück „… zwei Gefühle …, Musik mit Leonardo“ vertont Helmut Lachenmann diesen Text von Leonardo da Vinci in geradezu unheilvollen, nie gehörten Klängen. Diese Passage ist für mich eine der schönsten der gesamten Musikgeschichte.

→→

rof. Christopher Brandt kennt die HfMDK schon seit P seinem Studium. Trotz vieler internationaler Musik­ projekte und Engagements kehrte er immer wieder nach Frankfurt zurück. Heute ist er Vizepräsident für Kunst und Forschung der Hochschule, Ausbildungsdirektor Instrumentalpädagogik und Professor für Gitarre.

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Von der Kunst – zur Kunst des Genießens, ganz ohne Umwege: „Frankfurt in Takt“ serviert Ihnen ein weihnachtliches 3-Gänge-Menü. Frohes Fest!

In der Küche  mit … Elmar Fulda, Präsident der HfMDK

Carsten Wiebusch, Professor für Orgel

Die Vorspeise Mango-Caprese

Der Hauptgang Gebeizte Rehkeule mit Macaire-Kartoffeln

Ein Klassiker, mal anders. Caprese kennt man, Tomaten, Mozza­- Badischer Weihnachtsklassiker ist natürlich Reh. Die Keule zieht rella, Basilikumblätter, Olivenöl darüber, etwas Salz – ­fertig.
 2-3 Tage in dieser Beize: Unser Weihnachtsmenü beginnen wir mit einer Variation, die Eleganz und Fruchtigkeit mitbringt. Benötigt werden: 100g Zwiebeln

→→1 reife Mango →→1 Büffelmozzarella →→Basilikum, frisch →→bestes Olivenöl →→feinster Balsamico-Essig →→rosa Pfefferbeeren →→Salz Die Zubereitung geht schnell: Mango schälen – ich nehme immer einen Sparschäler wie für Spargel –, in dünne Scheiben schneiden, ebenso den Mozzarella. Alles auf einer Platte im Wechsel aneinander legen, großzügig mit Olivenöl beträufeln, einige Pfefferbeeren schroten und zusammen mit ungeschroteten darüber streuen, nach Bedarf salzen, Basilikumblätter und Tropfen des Essigs darüber geben. Dazu ein fruchtiger Weißwein mit Säure aus dem Veneto, Ciabattabrot.

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Genuss & Verzicht

→→ →→300g Suppengemüse →→1/4l Rotwein →→1/4l Weinessig →→ Lorbeerblätter, Wacholderbeeren, Pfeffer, Thymian, Rosmarin

→→2l Wasser Am frühen Nachmittag des Heiligabends wird die Keule ­kräftig ringsum angebraten und kommt dann mit dem Gemüse aus der Beize für etwa drei Stunden in den Ofen bei nur 120 Grad. Vorteil: In aller Ruhe kann ich nun beim festlichen Weihnachtsgottesdienst in der Christuskirche Karlsruhe orgeln. Ohne das schmeckt auch das Essen nicht. Badische Küche ist auch französische Küche: Als Beilage gibt es Macaire-Kartoffeln, Taler aus Kartoffelstampf, Speck, Zwiebeln, Schnittlauch und Eiern. Eine gute badische Oma richtet dazu natürlich noch Rosen-, Rotkohl oder Rahmwirsing an.


Lukas Massoth, Masterstudent Klarinette

Henriette Meyer-Ravenstein, Professorin für Gesang

Das Dessert Lebkuchentörtchen mit Vanilleeis

Die Begleiter Wein & Musik

Die Zutaten für den Teig sollten Zimmertemperatur haben. In einer Schüssel Butter, Zucker, Eier, Vanillezucker und eine Prise Salz mit dem Mixer verrühren. Es hilft, wenn die Butter weich ist. Anschließend Mehl, Spekulatiuskrümel, Backpulver und das Lebkuchengewürz dazugeben und alles gut verrühren. Den Teig nun in Muffinförmchen aufteilen und bei 180 Grad auf der mittleren Schiene etwa 20-25 Minuten backen lassen. Wenn der Ofen vier Schienen hat, nimmt man die zweite von unten. Die Muffins müssen anschließend gut abkühlen. Die Schlagsahne mit dem Vanillezucker in eine Schüssel geben und aufschlagen, lieber zu lange als zu kurz. Wer mag, kann zur Hilfe 1-2 Päckchen Sahnesteif dazugeben. Die Rührstäbe sollten gut gesäubert worden sein, sonst schlägt sich die Sahne nicht oder flockt! Den Schmand und ein paar Tropfen Butter­ vanillearoma hinzufügen und mit einem Löffel unterheben. Die Creme mit einer Spritztülle auf den Teig geben. Ist ­keine Tülle im Haus, kann man sich ganz einfach aus Backpapier selbst eine rollen – dazu gibt es im Internet zahlreiche Tutorials. Zum Schluss noch zwei Kugeln Vanilleeis dazu drapieren und nach eigenem Ermessen und Kreativität dekorieren (auch 3 oder 4 Kugeln Eis sind erlaubt). Das Rezept ergibt insgesamt 12 Portionen.

Weihnachten – immer wieder soll es in jeder Hinsicht was Besonderes sein. Und zu so einem köstlichen Menü braucht man unbedingt richtig gute Weine. Als Frau eines Mittelrhein-­ Winzers bin ich Fan deutscher Weine und wundere mich immer wieder, dass in unseren Restaurants oft eher Wein aus Chile auf der Karte steht als Wein von der Nahe.

FÜR DEN TEIG:

→→150g Butter →→125g Zucker →→200g Mehl →→100g gehackte Spekulatius →→3 Eier →→1 Päckchen Vanillezucker →→1 Päckchen Backpulver →→1 Prise Salz →→3 TL Lebkuchengewürz

HIER ALSO MEINE EMPFEHLUNG:

→→ Zur Vorspeise alternativ zum Wein aus dem Veneto:

ein fruchtiger Mosel-Riesling, z.B. Bockstein Riesling Kabinett 2015 vom Weingut St. Urbans-Hof an der Mosel

→→ Zum Rehbraten: ein Badischer Spätburgunder,

z.B. 2011er Freiburger Schlossberg Spätburgunder Großes Gewächs vom Weingut Stigler

→→ Und zum Dessert: eine nicht ganz süße GewürztraminerSpätlese, z.B. 2015er Durbacher Schlossberg, Traminer Spätlese vom Weingut Graf Wolff Metternich

Was meine Weihnachtsmusik betrifft, bin ich extrem konservativ. Ohne die wunderbare CD „Heiligste Nacht, Joseph und Michael Haydn, Franz-Xaver Gruber“ des Hassler-Consorts geht es gar nicht. Das Original von „Stille Nacht“ ist einfach zauberhaft musiziert und so weit von jeder abgenudelten Kaufhaus-Fassung, dass es genuin glücklich macht. Und danach „Nils Landgren, Christmas with my friends“. Alle Volumes haben diese spezielle Mischung aus schwedisch schlichtem Gesang und Jazz, die mich immer wieder berührt.

FÜR DIE CREME:

Illustration: Jan Buchczik

→→400ml Schlagsahne →→200g Schmand →→2 Päckchen Vanillezucker →→Buttervanillearoma FÜR DIE DEKORATION:

→→Sternanis →→Zimtstangen →→1 Orange Menü

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Genuss & Verzicht


Frankfurt in Takt 19-2

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Aus der „Es ist in der Konfrontation mit extremen Meinungen oft schwierig und mühsam, die einzelnen Schritte hin zu einer Lösung darzustellen“

→ S. 40

„Meine Werkzeuge, meine Instrumente, sind die Kunst und die wissenschaft­lichen Erkenntnisse“ TANIA RUBIO

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→ S. 58

Fotografie: Ramon Haindl (inkl. vorherige Seite)

ANGELA DORN


Hochschule 39


„Ich wollte wissen, was Menschen bewegt und warum“

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Aus der Hochschule


Es ist das Spannungsfeld zwischen extremen Anforderungen und den kleinen Schritten, die nötig sind, sie zu bestehen, das Angela Dorn schon immer interessierte, als Studentin der Psychologie, später als Thera­ peutin in der forensischen Psychiatrie, in der Politik, bei der großen Menschheitsfrage Klimawandel und als Hessische Ministerin für Wissen­ schaft und Kunst. Seit Januar 2019 ist die Grünen-Politikerin verantwortlich für die Hochschulen des Landes. Hochschulpräsident Prof. Elmar Fulda spricht mit ihr über Ausnahmesituationen in ihrem Leben, in Kunst und Gesellschaft. ANGELA DORN IM GESPRÄCH MIT ELMAR FULDA  DOKUMENTATION: BJÖRN HADEM

Frau Dorn, haben Sie Kunst schon einmal als emotionale Erschütterung wahrgenommen? Angela Dorn: Ja, es war eine Ballettaufführung, die ich als 16-Jährige besucht habe. Ich weiß weder, was getanzt wurde noch von wem, es war etwas Modernes und für mich der erste Zauber, den ich mit Kunst erlebt habe. Es ging um einen wahrhaften Aufbruch, das blieb emotional haften. Ich saß ohne sonderliche Erwartungen da, bis ich zum Ende gar nicht mehr wusste, was ich mit meinen starken Gefühlen machen sollte, die Tanz und Musik in mir auslösten. Ich traute mich kaum noch zu atmen, war völlig in den Bann gezogen und konnte vor Faszination noch nicht einmal applaudieren, ich fühlte mich jenseits dieser Welt. In Erinnerung bleibt mir auch eine „Salome“-Aufführung in Wiesbaden: Die moderne Inszenierung übersetzte sehr gelungen das, was früher als provokativ galt, in die heutige Zeit. Sie konfrontierte mich mit der Tatsache, dass viele schlimme Dinge in der Welt geschehen, die wir einfach hinnehmen – das menschenunwürdige Gefangenenlager Guantanamo kam damals als Beispiel. Das schuf bei mir eine Beklommenheit, machte mich persönlich betroffen. Kunst also in der Funktion von Stachel oder Widerhaken? Definitiv, ja. In der Oper – kleiner Exkurs in mein früheres Leben als Opernregisseur – geht es immer um extreme emotionale Momente. Die meisten Opern konfrontieren die Protagonisten mit existenziellen Gefühlsmomenten wie Schmerz, Tod, Leid, Euphorie, Raserei, große Liebe, großes Glück. Die Lust des Publikums, an derlei Extremen teilzuhaben, ist ein großer Antrieb, sich mit Kunst auseinanderzusetzen. Geht es Ihnen auch so?

Fotografie: Björn Hadem

Menschen erleben vieles in ihrer eigenen Gefühlswelt als sehr extrem, können es ihrem Gegenüber aber oft nicht adäquat vermitteln. Vielleicht sind extreme Zustände in der Kunst eine Möglichkeit, eigene Emotionen zu verarbeiten, auf einer anderen Ebene nochmals zu durchleben. Jeder, der eine Oper sieht, erlebt sie anders und entwickelt Assoziationen, die zu seinem eigenen Leben passen. ­­­Und das Schöne an Kunst ist ja, dass sie Interpretationen nicht vorwegnimmt, sondern eine eigene ­Deutung zulässt. Für die ausübenden Künstler ist es manchmal schwer, die Deutungshoheit ans Publikum abzugeben. Nach meinen eigenen Inszenierungen erzählten mir Menschen oft, wie sie die Bühnengeschichte erlebten, was sie berührte. Mitunter war mein Regieantrieb aber ein ganz anderer gewesen. Diese Diskrepanz muss man als Künstler aushalten. Haben Sie in der Kunst bestimmte Präferenzen jenseits Ihrer Verantwortung als Ministerin für Wissenschaft und Kunst?

Das Gespräch

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„Ich möchte den Menschen diese Sorge gern nehmen. Sie sollen wissen, dass es in der Kunst kein Richtig oder Falsch gibt. Man muss nicht jeden Feuilleton-Artikel verstehen, um Kunst intensiv erleben zu können“

Diese Verantwortung ist mir sehr wichtig, weil es dazu gehört, die Freiheit der Kunst zu s ­ chützen und zu fördern. Gerade in Zeiten, in denen Extremisten und Populisten unsere vielfältigen ­Gesell­­­­­schaften auseinandertreiben und Freiheiten einschränken wollen. Demokratie und gelebte Freiheit sind nicht denkbar ohne die Freiheit der Kunst. Deshalb sehe ich es als Aufgabe, Freiräume für Kunst zu e ­ rhalten und zu erweitern. Und das macht mir großen Spaß; ich empfinde es als Privileg, so viele sehr unterschiedliche Termine rund um die Kunst wahrnehmen zu dürfen, bei denen ich Neues ent­ decke. Ich kann zu vielem einen Zugang finden, weil ich neugierig bin und akzeptiere, dass mir auch mal etwas nicht gefallen darf. Meistens aber werde ich positiv überrascht. Ich selbst bin ein berüchtigter „Pausengänger“, wenn mir eine Aufführung nichts erzählt. Künstler müssen akzeptieren, dass jemand eine Aufführung verlässt. Diese Freiheit können Sie sich als Fachmann ja auch nehmen, weil Sie sich keine Gedanken darüber zu machen brauchen, ob Sie der Kunst gewachsen sind. Viele Menschen haben indes Sorge, dass sie „noch nicht gebildet genug“ seien, um Kunst zu verstehen. Ich möchte den Menschen diese Sorge gern nehmen. Sie sollen wissen, dass es in der Kunst kein Richtig oder Falsch gibt. Man muss nicht jeden Feuilleton-Artikel verstehen, um Kunst intensiv erleben zu können. Kunst vergleiche ich gern mit Fußball: Man kann ihn als Zuschauer ohne jegliche Regelkenntnisse genießen. Doch wenn man die Abseitsregel kennt, genießt man intensiver. Mit Kunst und Kultur ist es ähnlich. Kunst kann gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen – das interessiert mich sehr. Genau dieses Potenzial von Kunst – Identität zu stiften und den gesellschaftlichen Diskurs zu stärken – will ich weiter ins öffentliche Bewusstsein rücken. Wir sprachen von extremen Emotionen, die Kunst hervorruft. Vor Ihrer politischen Karriere haben Sie als Psychologin Gebiete des menschlichen Seins in den Blick genommen, die jenseits der Vernunft liegen. Was hat Sie daran interessiert? Ich wollte wissen, was Menschen bewegt und warum. Im Rahmen meines Freiwilligen Sozialen ­Jahres in einem Heim für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche fühlte ich mich recht hilflos darin, kompetent mit Menschen in Kontakt zu kommen, die viel Schwieriges in ihrem Leben erfahren haben. Erlebt habe ich jedoch, wie ein Kind anfing, Schlagzeug zu spielen, sich dadurch öffnete und zu einem neuen Selbstbewusstsein fand. So fand ich Zugang zu dem Kind und habe gemerkt, was Musik für einen Einfluss auf Menschen haben kann.

Ich erinnere mich an einen männlichen Insassen mit einer chronischen Schizophrenie. Das Tötungsdelikt, dessentwegen er einsaß, war eines der brutalsten, von denen ich je gelesen hatte. Ich befand mich zur Therapie mit ihm in einem Raum und arbeitete mit ihm in aller Deutlichkeit und Direktheit. Dabei wurde der stämmige Zwei-Meter-Mann wütend und baute sich vor mir auf. Ich konnte ihn schließlich beruhigen und dann unbeschadet den Raum verlassen. Meine Oberärztin wies mich daraufhin streng zurecht, weil ich mich in Gefahr begeben hatte, statt den Notfallknopf zu drücken, um mir Hilfe zu holen.

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Aus der Hochschule

Fotografie: Björn Hadem

Was Sie schildern, ist ein Paradebeispiel dafür, dass mit Musik Bereiche des Menschseins angesprochen werden, die nicht über die Ratio gesteuert werden. Während Ihrer Arbeit in der forensischen Psychiatrie sind Sie mit psychisch kranken Menschen in Kontakt gekommen, die straffällig geworden sind. Waren das ex­ treme Herausforderungen jenseits einer einfachen Normalität?


Entsteht bei der Therapie ein innerer Spagat zwischen Ablehnung aus dem Wissen um die Straftaten und Sympathie für den kranken Menschen? Den Spagat gibt es. Man kommt den Menschen sehr nahe; alle Menschen haben Bedürfnisse, Ängste, eine schreckliche Vergangenheit. Deren Biografien offenbaren deutlich, wie oft sie durch das gesellschaftliche Raster gefallen sind, wie oft sie eben keine Chance hatten, wie oft ihnen etwas verwehrt blieb. Diese Zeit hat mein Bewusstsein dafür geprägt, wie elementar Prävention ist: Vieles lässt sich abwenden, wenn man rechtzeitig erkennt und handelt. Wie hat diese Zeit Ihren Blick auf Menschen verändert? Sind Sie misstrauischer geworden? Ein wenig misstrauischer sicher. Ich erlebte pädophile Straftäter, die häufig als freundliche Menschen in der Nachbarschaft und im Sportverein gut integriert waren – das hat etwas mit mir gemacht. Ich habe in die sehr dunklen Seiten des Menschen schauen können. Aber wir hatten eine sehr gute Supervision, die mir geholfen hat, nicht zu viel davon mit nach Hause zu nehmen. Unsere Demokratie sucht Kompromisse, um in Abstimmungen auch die Unterlegenen mitzunehmen. Wir leben in einer Gesellschaft, die ihre Stabilität bislang sehr aus Vermittlung und Ausgleich von Extremen bezogen hat. Mein Eindruck ist, dass diese Kompromissfähigkeit immer öfter diffamiert wird. Erleben Sie das auch so? Leider ja. Es beschäftigt mich, dass dabei das Bewusstsein für den Mehrwert eines Kompromisses verlorengeht. Meine Aufgabe als Politikerin ist ja nicht, maximal für eine Gruppierung alles durch­ zusetzen, sondern Lösungen zu schaffen, die möglichst vielen Menschen helfen. In Fragen des Klima­schutzes bin ich beispielsweise kompromissbereit, über verschiedene Wege nachzudenken, allerdings nicht über das Ziel an sich. Das Gespräch

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Die Jugend, die in den letzten Jahren als konsumorientiert und unpolitisch galt, treibt aktuell die Erwachsenen mit Fridays for Future vor sich her, und das mit vielen guten Argumenten. Leben wir in einer extremen Welt? Was das Klima anbelangt, absolut. Die Jugend hat ein Anrecht, auf eine ganz wesentliche Überlebens­frage der Menschheit eine Antwort zu bekommen. Klimaschutz ist ja auch eines der Themen, die mich persönlich politisiert haben. Es gab viele Momente, in denen ich daran verzweifelt bin, dass das Thema so wenig Gehör findet. Wir befinden uns im Prozess der Globalisierung. Für Politiker und die Gesellschaft ist es schwer, ihn so zu gestalten, dass alle Menschen mit dieser Entwicklung mithalten können. Die Digitalisierung hat einen so rasanten Wandel herbeigeführt wie bisher wenige technische Revolutionen. Und Migrationsprobleme sind maßgeblich durch den Klimawandel mitverursacht. In solchen extremen Zeiten ist es umso wichtiger, dass es keine extremen Antworten gibt, sondern besonnene, ganzheitliche und vernünftige. Wie verändert die Radikalisierung in der öffentlichen Auseinandersetzung unsere Demokratie? Die Extrempositionen werden lauter – das erleben wir ja an der wachsenden Zustimmung für die rechten Parteien. Wir befinden uns in einer sehr sensiblen Phase der Demokratie, in der wir mit aller Kraft für den Zusammenhalt kämpfen müssen. Ich denke auch an den Hass, der in den Sozialen Medien aufschlägt, ebenso an die rechten Übergriffe der jüngsten Zeit. Passend dazu haben wir gerade das Aktionsprogramm „Hessen gegen Hetze“ auf den Weg gebracht, mit dem wir es schaffen wollen, diesem Hass zu begegnen. Wie passt es in der Schnelllebigkeit der Medien zusammen, dass wir einerseits von den Politikern knackige Statements erwarten, andererseits aber keine pauschalen Antworten haben wollen? Eine spannende Frage. Viele Menschen werfen uns Politikern vor, wir würden uns eines stereotypen „Politik-Sprechs“ bedienen. Doch wir sollen es ja schaffen, innerhalb von wenigen Sekunden unsere gesamte Botschaft in einen Satz zu packen. Das führt dazu, dass die Differenziertheit eines Sachverhalts nicht mehr zum Ausdruck kommt. Ich muss also als Politikerin Botschaften entwickeln, die „draußen“ verständlich sind, ohne dabei plump zu sein – ein Balanceakt. Wichtig finde ich kommunikativ ertragreiche Gesprächsformate, wie ich es mit der „Stunde der Wahrheit“ veranstalte. Dabei bringe ich Menschen aus der Wissenschaft mit Bürgerinnen und Bürgern am Stammtisch ins Gespräch. Da findet wieder wahres Zuhören statt. Übrigens: Der Grund, warum in Hessen so leise regiert wird, besteht darin, dass wir uns in der Koalition regelmäßig sehr intensiv über die aktuellen Themen austauschen, uns gegenseitig zuhören. Genau das wird in der Politik maßlos unterschätzt. Nur gutes Zuhören macht es möglich, eine Brücke zwischen den verschiedenen Positionen zu finden. Wie gehen Sie mit extremen Meinungen um? Es ist in der Konfrontation mit extremen Meinungen oft schwierig und mühsam, die einzelnen ­Schritte hin zu einer Lösung darzustellen. Menschen kommen mit ganz bestimmten Interessen auf einen zu, die sie umgesetzt sehen wollen. Ihnen klarzumachen, welche Schritte dafür nötig oder auch, welche unmöglich sind, ist anstrengend. Es ist mühsam, die Politik der kleinen Schritte zu vermitteln; sie ist nicht unbedingt sexy, aber die Grundlage von allem und damit am Ende für den sozialen Zusammenhalt und echten Fortschritt notwendig. Undurchdachte Prozesse, die einfach über­gestülpt werden, haben meist keine lange Halbwertszeit. Es gibt prominente Politiker, die sehr populistisch argumentieren. Wie geht man mit denen um? Das ist eine Frage, die mich gerade sehr umtreibt. Wie schaffen wir es, die Wissenschaftlichkeit in ihrem Wert deutlich zu machen? Sie ist die Grundlage unserer gesellschaftlichen Prozesse und poli­ tischen Lösungen. Was passiert, wenn diese unter Beschuss gerät, sieht man in den USA, wo die Regierung der Klimaforschung die Mittel streicht, weil das ein unliebsames Thema ist; oder in der Türkei, wo Wissenschaftler in ihrer Arbeit keine Freiheit mehr haben. Die Freiheit der Wissenschaft und die Wissenschaftlichkeit als solche sind die Lösung für unsere Herausforderungen. Ein Schlüssel dafür ist, dass Wissenschaft verstanden werden muss. Wir müssen klarmachen, dass Wissenschaft daran interessiert ist, ihre Hypothesen zu verifizieren oder falsifizieren, um zu immer neuen Erkenntnissen zu gelangen, die anwendbar sind und Lösungen bereitstellen.

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Aus der Hochschule


Was sagen Sie Ihren Kindern, wenn Sie für Friday for Future in den Schulstreik gehen wollen? Ihr könnt gern gehen. Ich finde es richtig, dass sie für ihre Rechte eintreten. Mein Studium habe ich auch dafür genutzt, immer wieder auf die Straße zu gehen und für unsere Rechte einzustehen – damals waren es die Studiengebühren. Wo haben Sie Demokratie gelernt? Zuerst in der Schülervertretung. Dort habe ich erlebt, wie toll es ist, sich für etwas einzusetzen, was verändert werden soll. Damals haben wir gegen das Fünf-Fächer-Abitur gekämpft, wollten mehr Wahlfreiheit. Es hilft immer, sich zusammenzuschließen und Forderungen zu erheben. Brauchen wir eine neue Schule der Demokratie? Ich glaube, dass Kinder von Beginn an Mitbestimmung als maßgeblichen Treiber erleben sollten.­Dabei müssen wir sie sehr ernst nehmen. Es gibt wunderbare Erfahrungen mit Kinder- und Jugendparlamenten und verschiedenen anderen Beteiligungsmöglichkeiten, sowohl an Schulen als auch in der öffentlichen Politik. Das kann ich bestätigen: Immer, wenn Studierende in der Hochschule mitdiskutieren, erlebe ich deren Stellungnahmen als überaus inspirierend und zielführend. Sie haben einen anderen Blick auf die Dinge, formulieren sehr deutlich, was sie sich vorstellen, und mischen die Runden lebendig auf. Politikerinnen und ­Politiker sind immer im Dienst, sagt man. Wie gehen Sie mit Druck um, wie entspannen Sie? Ich versuche, in meiner Arbeit nicht den ganzen Berg anzuschauen, sondern immer den nächsten Schritt. Haben Sie Lieblingsorte wie ich mein Segelboot, wo der Wind sprichwörtlich trübe Gedanken wegpustet? Der unspektakulärste und schönste Ort ist mein Bett, wenn meine Kinder morgens hineinkrabbeln und sich freuen, mich wiederzusehen – dann wird die ganze Welt einfach sehr klein und kuschelig und damit sehr klar. Ansonsten bin ich wahnsinnig gern in der Natur. Wir fahren Kanu, gehen wandern und klettern; ich kann mich unglaublich begeistern, wenn ich draußen unterwegs bin und die Schönheit dieser Welt sehen darf. Da schließen sich für mich die Kreise, da werde ich frei. Wenn ich nach vorn blicke, freue ich mich auf den ersten Spatenstich für den Neubau unserer Hochschule auf dem Kulturcampus Frankfurt. Wo sehen Sie denn die HfMDK am Ende dieser Legislaturperiode? Ich strenge mich jetzt an, meinen Beitrag dazu zu leisten, dass diese wunderbare Hochschule ihren Neubau schafft und bald umziehen kann, denn das ist dringend notwendig. In meiner Vision ist sie integriert in einen Kulturcampus mit vielen anderen Kulturinstitutionen, die sie umgeben und inspirieren. Ich hoffe, dass mit dem Hochschulneubau der Nukleus für ein weiteres Wachstum des Kulturcampus gelegt sein wird – das würde mich wirklich glücklich machen.

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ngela Dorn (37) hat Psychologie in Marburg studiert A und arbeitete anschließend in der forensischen Psychiatrie Haina. 2009 wechselte sie hauptberuflich in die Politik – wurde für die Grünen Mitglied im Hessischen Landtag. Seit 2017 ist sie Landesvorsitzende der Partei, seit Januar dieses Jahres auch Hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst. Sie ist verheiratet und hat drei Töchter.

„Ich muss also als Politikerin Botschaften entwickeln, die ,draußen‘ verständlich sind, ohne dabei plump zu sein – ein Balanceakt“ Das Gespräch

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Ein Publikum, dem es nicht nur um Musik geht. Konzertvorbereitungen, die aus dem Ruder laufen. Ein Theaterstück, das plötzlich real wird: Extremsituationen erlebt jeder anders. Fünf Beispiele.

Arbeiten im Ausnahmezustand Eine Stunde Hoffnung: Live Music Now Frankfurt

Surreale Bühnenerfahrung: Studiojahr Schauspiel

Aus der Not eine Tugend: Hausdienst der HfMDK

Live Music Now bringt den Konzertsaal dorthin, wo normalerweise kein Konzert stattfinden kann, zum Beispiel in Gefängnisse oder Krankenhäuser. Y ­ ehudi Menuhin gründete die Initiative 1977 in der Überzeugung, „Musik heilt, Musik tröstet, Musik bringt Freude“ – das ist bis heute auch das Motto. Dafür engagieren wir uns, und das sehr gern: Seit Januar treten wir als Duo Hein-Ehinger mehrmals pro Monat in Altenheimen auf. Unser Programm dauert rund eine Stunde und ist an sich zwar durchgeplant, lässt sich aber so fast nie umsetzen. Mal stellt das Publikum spontan Zwischenfragen, mal möchte jemand laut eine Erinnerung teilen oder ganz etwas anderes. Es kam auch schon vor, dass mittendrin ein Krankenwagen vor der Tür hielt. Mit all dem werden wir konfrontiert, es ist immer schön, aber nie einfach – vor allem, wenn man dabei so wie wir auch an seine eigenen Großeltern denkt. Da muss man stark bleiben.

Einen Text zu spielen, der wie „Patentöchter“ auf einer wahren Begebenheit beruht, ist eine Herausforderung, der man sich mit hohem Verantwortungsbewusstsein stellen muss. Das Stück behandelt den Terroranschlag der RAF vom 30. Juli 1977, bei dem der Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, in seinem Haus in Oberursel ermordet wurde. Unter den Terroristen war Susanne Albrecht, die Tochter eines Freundes. Nur durch ihre persönliche Bekanntschaft mit den Pontos war es den Terroristen möglich, ihr Opfer so schutzlos zu treffen. Jahrzehnte später hielten Corinna Ponto, Tochter des Opfers, und Julia Albrecht, Schwester der Attentäterin, ihre Begegnungen und ihren Austausch über das Geschehene in dem Roman „Patentöchter“ fest – in der Inszenierung von R ­ egina Wenig übernehmen wir unter anderem diese beiden Rollen. Eine Herausforderung ist dabei auch die sehr ungewöhnliche Bühnensituation, da wir gemeinsam mit dem Publikum an einer langen Tafel sitzen. Einmal wurde sie für uns zu einer Extremsituation: Mit uns am Tisch entdeckten wir eine der Autorinnen. Plötzlich wurde der Text greifbarer als je zuvor, eine ganz neue Form der Realität entstand.

Gegen 15 Uhr war im Opernstudio ein Aufbau für eine Veranstaltung geplant, die eine halbe Stunde später starten sollte – doch genau zu dieser Zeit wurde hier noch unterrichtet. Da der unterrichtende Professor nichts dagegen hatte, konnte der Aufbau trotzdem stattfinden. Wenn auch nicht wie sonst: Die Stühle aufzubauen, wurde Teil des Unterrichts, Teil einer Probe für eine Opern­arie. Ein Student baute also mit mir ­Stühle auf, während er sowohl mich als auch das Inventar lauthals mit italienischen Klängen ansang. Der Aufbau war schnell fertig – und ich ein wenig verstört. Es gibt also auch nach langer Zeit der Beschäftigung an der HfMDK immer noch Situationen, die man noch nie erlebt hat und so auch woanders wohl nie erleben wird.

KATHARINA KURSCHAT & JULIA STAUFER, SCHAUSPIELSTUDENTINNEN

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Aus der Hochschule

Illustration: Jan Buchczik

HARALD HIERONYMUS HEIN (BASSBARITON) & JOHANNES EHINGER (PIANIST)

NILS AMELUNG, HAUSDIENST UND SICHERHEITSBEAUFTRAGTER DER HFMDK


Was heißt Abseits des schon „extrem“?: Vorstellbaren: Hilfe für Künstlerisches Menschen im Kongo Betriebsbüro der HfMDK Statt sofort mit dem Studium anzufanDen „Normalfall“ gibt es für uns im Künstlerischen Betriebsbüro (KBB) nicht – gefühlt befinden wir uns immer in einer extremen Situation. Das macht unsere Arbeit aber auch so spannend: Wir sind stets gefordert, kreative und flexible Lösungen zu finden. Dabei gibt es durchaus (Vor-)Fälle, bei denen auch wir an unsere Grenzen stoßen. Vor einigen Jahren beim Weihnachtskonzert der Gesangsklassen zum Beispiel. Besinnlichkeit, Beisammensein, Freude: Um einen Konzertabend so gestalten zu können, müssen Künstlerinnen und Künstler hundert Prozent geben, aber auch wir. So gehört es zu den Sicherheitsmaßnahmen, keine weiteren Gäste mehr in den Saal zu lassen, sobald die Kapazität ausgelastet ist. Diesen Umstand nahm eine unserer langjährigen Zuhörerinnen zum Anlass, die Veranstaltungsleitung sowie den verantwortlichen Meister für Veranstaltungstechnik derart anzugehen und lauthals im Foyer als „KZ-Aufseherin“ und „Hornochse“ zu beschimpfen, dass einem nichts mehr einfällt. Oder das Orchesterkonzert im Kloster Eberbach 2018. Alles war bis ins kleinste Detail organisiert: der Transport der Instrumente ebenso wie der der über 120 Mitwirkenden, inklusive zweier Flügel. Wenige Stunden vor der Aufführung dann der Schreck: Es stand kein einziger Flügel auf der Bühne der Basilika. Durch ein sehr gutes Netzwerk und eine fokussierte Herangehensweise konnte abends die „Carmina Burana“ doch noch stattfinden. Dass der eine Flügel am Ende rot lackiert war, hat niemand gestört.

gen, wollte ich nach dem Abitur erst einmal durchatmen, mir die Welt ansehen und dabei auch meine Französischkenntnisse aufbessern. Ich entschied mich für ein Entwicklungsland: Knapp sechs Monate arbeitete ich 2015 für den Verein „Hilfe für Menschen im Kongo“ in einer Schule in Kinshasa. Dass das ­keine leichte Zeit war, zählt nicht – denn sie hat mich trotzdem sehr im Positiven geprägt. Ich lernte verstehen, was Hunger und Elend bedeuten, aber ich sah auch, mit welcher inneren Stärke die Kinder ihr Leben meistern, sogar die mit wirklich furchtbaren Biografien. 2018 habe ich sie für fünf Wochen noch einmal besucht, werde das auch wieder tun: Den Kinderchor, den ich während meines Praktikums gegründet habe, gibt es dank der Unterstützung von zwei Musikern aus dem Ort bis heute. Für die Kinder freut mich das sehr.

ANNA-KATHARINA KÜRSCHNER, STUDENTIN DER MUSIKPÄDAGOGIK

DAS TEAM DES KBB, UNTER LEITUNG VON DANIELA KABS

Protokolle

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Gloria Erfolge unserer Studierenden – eine Auswahl:

Schauspiel, Regie Tanz, MA CoDE →→Vanessa Bärtsch aus dem zweiten

Jahrgang Schauspiel erhält den „Studien­preis Schauspiel“ 2019 des Migros-Kultur­prozent, dotiert mit 14.400­ ­Franken, und Anna Bardavelidze (ebenfalls zweiter Jahrgang) einen Preis für die beste Partnerrolle in Höhe von 3.000 Franken.

→→Eva Bühnen aus dem dritten

Jahrgang Schauspiel ist seit Beginn der ­neuen Spielzeit Ensemblemitglied am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und konnte dort im November ihre erste Premiere feiern.

→→

Der Preis des 16. Festival Körber Studio Junge Regie ging an den Regiestudenten Felix Krakau für seine Inszenierung von „Peer Gynt“ nach Henrik Ibsen. Die Auszeichnung der Körber Stiftung ist mit einem Produktions­kosten­ zuschuss von 10.000 Euro für eine neue Regiearbeit verbunden.

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→→

Marina Grün, Studierende im MA CoDE, hat als Theater- und Tanzvermittlerin am Staatstheater Mainz eine der begehrten Stellen für diesen Bereich in deutschen Theatern (als Elternzeitvertretung) angetreten.

→→Steven Höhn (3. Jahr BAtanz)

erhielt ein Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes.

→→

Michael Steven Carman (Absolvent BAtanz) hat ein Engagement als Solist in der Ballettcompagnie des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters in Flensburg erhalten.

→→

Stefane Meseguer Alves erhält nach seinem ganzjährigen Praktikum im 3. Studienjahr ab Sommer 2019 einen Festvertrag beim Saarländischen Staatsballett.

Glanz Aus der Hochschule


Musiktheater/ Gesang →→

Julian Habermann, Tenor (Klasse Prof. Thilo Dahlmann) ist seit der Spielzeit 19/20 als Ensemblemitglied des Staatstheaters Wiesbaden zu hören.

Theater- und Orchestermanagement →→

Sebastian Schlootz (Absolvent Theater- und Orchestermanagement bei Prof. Thomas Schmidt) hat im Juli 2019 die Produktionsleitung am Humboldt Forum Berlin übernommen.

→→Harald Hieronymus Hein,

Bass-Bariton (Klasse Prof. Thilo Dahlmann), erarbeitet im Rahmen des Förder­programms „Akademie Musiktheater heute“ der Deutschen Bank Stiftung für den Musiktheaternachwuchs gemeinsam mit dem Ensemble Modern drei Musiktheaterwerke.

→→

Magdalena Strömberg (Absolventin Theater- und Orchestermanagement bei Prof. Thomas Schmidt) trat bereits vor Abschluss des Studiums ihre Stelle als Leiterin Produktion Konzert am Theater Bern an.

→→

Florian Marignol, Bariton (Klasse Prof. Thilo Dahlmann), und Sarah Mehnert, Mezzosopran (Klasse Prof. Thomas Heyer), wurden im Festengagement an das Theater Bern engagiert.

→→

Andrea Cueva Molnar, Sopran (Klasse Prof. Klesie Kelly-Moog) wurde in der „Academie Nationale de Paris“ zur kommenden Spielzeit aufgenommen.

Instrumentalausbildung und Dirigieren

→→

Josy Santos (Alumna Klasse Prof. Ursula Targler-Sell) hat den zweiten Hauptpreis für weibliche Stimmen beim 52. Internationalen Gesangswettbewerb in Toulouse 2019 erhalten.

&

→→

Jeremie Abergel (Klasse Prof. Stephanie Winker) hat sich die Solo-Piccolo-Stelle an der Staatsoper Hannover erspielt.

→→

Dmitry Ablogin, Hammerklavier (Klasse Prof. Jesper Christensen), erhielt den zweiten Platz und den Publi­ kumspreis beim Wettbewerb „Musica Antiqua“ in Brügge, einem der weltweit bedeutendsten Nachwuchswettbewerbe für Alte Musik.

→→

Solenn Grand (Klasse Prof. Francoise Friedrich) gewann das Probespiel für die Stelle der 2. Harfenistin an der State Opera Prague.

→→

Iris Higginbotham (Klasse Prof. Michael Sanderling) erspielte sich die Teilnahme beim diesjährigen Schleswig-Holstein Festival Orchester. Seit September ist sie außerdem Akademistin der PaulHindemith-Orchesterakademie sowie am Staatstheater Darmstadt.

→→

Ebenfalls für das Orchester des Schleswig-Holstein Musik Festivals qualifiziert hat sich Jonas Klepper (Violoncello, Klasse Prof. Jan Ickert) und spielte in den sechs Festivalwochen unter anderem unter Ton Koopman, Christoph Eschenbach, Michael Sanderling.

→→Tommy Liu (Klasse Prof. Henrik

Rabien) erhielt nach erfolgreichem Probe­spiel eine Einladung zu Trial- Projekten für die Solofagott-Position im Royal Philharmonic Orchestra London. Erfreu­ licherweise wurde ihm dazu von der britischen Visa-Behörde das für NichtEU-Bürger notwendige, aber leider nur schwer erhältliche Arbeitsvisum genehmigt.

→→

Katharina Martini, ­Querflöte (Klasse Thaddeus Watson) gewann beim „International Young Musician Competition Città di Barletta“ in Italien den 1. Preis. Ebenso erspielte sie sich beim Grand Prize Virtuoso einen 1. Preis, verbunden mit einem Konzert im Concertgebouw Amsterdam.

→→

Petros Mavrommatis, Oboe (Klasse Prof. Fabian Menzel), wurde in Griechenland als einer von wenigen griechischen Musikerinnen und Musikern ausgewählt und für das europäische Jugendorchester „Giovanile Luigi ­Cherubini“ qualifiziert. In diesem Sommer wirkte er beim „Ravenna Festival“ in Italien und beim „Athen-und EpidaurosFestival“ in Athen unter der Leitung des weltbekannten Dirigenten Ricardo Muti mit.

→→

Das Klavierstück „Heim-Weg“ von Dayoung Park wurde beim 4. ­Mauricio Kagel Kompositionswettbewerb als eines von 15 Werken aus 151 Einsendungen für die Finalrunde ausgewählt. Dayoung Park studiert Komposition bei Prof. Orm Finnendahl und Prof. Michael Reudenbach.

→→

Daniel Reith (Dirigierklasse Prof. Vassilis Christopoulos) wurde für zwei Jahre ins norwegische Dirigenten­ forum sowie ins Förderprogramm „Opptakt“ (Auftakt) aufgenommen, das jedes Jahr nur an eine begabte junge Dirigierpersönlichkeit vergeben wird. Dadurch wird er zwischen 2020 und 2022 alle professionellen norwegischen Orchester mindestens einmal in einem regulären Konzert dirigieren!

→→

Raphael-Yujin Horn und Anne Sophie Luong, Jungstudierende der Violinklasse von Prof. Susanne Stoodt und seit Oktober 2019 Mitglieder der Young Academy, haben beim diesjährigen Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ in der Kategorie Solowertung Violine einen 1. Bundespreis gewonnen.

Erfolge

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Nachrichten aus den Fachbereichen — FB 1 Die neue Young Academy der HfMDK verfolgt ein ambitioniertes P ­ rogramm: Sie will musikalische Hochbegabung fördern – so früh, so individuell und so intensiv wie nur möglich. Die künstlerische Leiterin Prof. Susanne Stoodt und Isabel von Bernstorff, zuständig für Organisation und konzeptionelle Fragen, erklären die Hintergründe.

Die Young Academy geht an den Start Für junge Talente stehen die Türen der HfMDK schon lange offen. Was ändert sich durch die Young Academy? Stoodt: Das Programm, das wir für unsere Jungstudierenden zusammengestellt haben, geht weit über das bisherige Angebot hinaus. Zusätzlich zum Einzelunterricht am Instru­­ment bieten wir ihnen künftig eine Vielzahl an weiteren Fächern an. Diese dienen dazu, ihr musikalisches Spektrum zu erweitern. Wir möchten die Jungstudierenden auf a ­ llen musikalischen Gebieten und auch auf der persönlichen Ebene ganzheitlich fördern. Durch die gemeinsame Arbeit lernen sie sich auch untereinander besser kennen. Hat das vom Start weg funktioniert? Stoodt: Ja, da entsteht gerade eine sehr schöne Gemeinschaft. Das zeigte sich schon bei der Auftaktveranstaltung im September, bei der Jungstudierende, Eltern und Lehr­en­ de nach der offiziellen Begrüßung und Einführung bunt gemischt zusammenstanden und sich in zwangloser Atmosphäre intensiv ausgetauscht haben. von Bernstorff: Die Anfangsmotiviation ist bei allen wirklich sehr hoch. Wie schaffen es die Jugendlichen, Schule und Studium miteinander zu vereinbaren? von Bernstorff: Sehr gut, sie glühen für ihre Sache, für die Musik, für ihr Instrument. Geige, Cello, Trompete, Gitarre, Klavier, Horn, Blockflöte – das ist das momentane Spek­ trum des ersten Jahrgangs. Um den Jugendlichen die Vereinbarkeit von Schule und Frühstudium zu erleichtern, finden die Theoriekurse am Wochenende statt, ihren Einzelunterricht vereinbaren sie jeweils individuell mit ihrem Hauptfachlehrer. Unterm Strich, schätze ich, verbringen sie im Schnitt vier bis fünf Stunden pro Woche hier im Haus. Woran machen Sie fest, ob jemand hochbegabt ist oder nicht?

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Aus der Hochschule

Stoodt: Bei der Eignungsprüfung schauen wir vor allem auf zwei Dinge – das instrumentale beziehungsweise stimmliche Können und die künstlerische Aussage. Neben der technischen Beherrschung sollte Leidenschaft für die Musik, eine spürbare Mitteilsamkeit und ein starker künstlerischer Ausdruckswille erkennbar sein. Ist Spitzenförderung heute ein Muss für jede künstlerische Hochschule? Stoodt: Eine institutionalisierte Förderung musikalisch hochbegabter Musiker vor Eintritt des Studiums ist dringend erforderlich und noch ausbaufähig. Letztlich geht es darum, dass es auch in Zukunft Menschen gibt, die Musik nicht bloß als zierendes Beiwerk verstehen. Kunst trägt dazu bei, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Ohne Menschen, die sich künstlerisch betätigen, sähe es finster aus. Ist die Young Academy bereits ausgebucht? von Bernstorff: Aktuell haben wir 13 Studierende, mittelfristig ist momentan eine Kapazität von 20 Jungstudierenden vorgesehen. Die hohe Nachfrage nach unserem Studienkonzept und dem Curriculum freut uns sehr, weil in der Young Academy unglaublich viel Herzblut steckt. Aber vor allem bestärkt es uns darin, dass wir mit dem Angebot richtig liegen. ECKDATEN /// ZERTIFIKATSSTUDIUM FÜR HOCHBEGABTE: DIE YOUNG ACADEMY DER HFMDK

→→Start: zum Wintersemester 2019/2020 →→ Zielgruppe: musikalisch hochbegabte Musikerinnen und Musiker zwischen 14 und 18 Jahren (in Ausnahmefällen auch jünger)

→→Dauer: in der Regel drei Jahre (Verlängerung möglich) →→Anzahl der Studienplätze: ca. 20 →→Semestergebühr: 500 € →→Mehr dazu unter: www.hfmdk-frankfurt.de/young-academy


Nachrichten aus den Fachbereichen — FB 2 Primacanta hat seit seiner Gründung hunderte Lehrerinnen und Lehrer an Grundschulen erreicht – und tausende Kinder. Jetzt geht die Erfolgs­geschichte für das musikpädagogische Weiterbildungsprogramm weiter: Seit 2019 liegt ein praxisnahes Handbuch vor, das das Gesamtkonzept noch einmal im Detail vorstellt. Zentrales Thema: der Aufbauende Musikunterricht.

Ein Konzept, das Schule macht Musikmüde Kinder schon in der Grundschule? Primacanta weiß, wie sich das verhindern lässt. Gestartet 2008 zunächst in Frankfurt, ist das von der Crespo Foundation und der HfMDK initiierte Weiterbildungsprogramm längst bundesweit bekannt, sogar in Belgien nahm man es sich zum Vorbild. Der Ansatz: Aufbauender Musikunterricht. Bevor Kinder im Unterricht etwas über Musik erfahren, erfahren sie sich zunächst musikalisch selbst, indem sie singen und musizieren. Ganzheitlich und nachhaltig werden sie so ermutigt, sich schrittweise musikalische Kompetenzen anzueignen. Das didaktische Konzept dazu wurde maßgeblich an der HfMDK von Prof. Dr. Werner Jank entwickelt – der heute sagt: „Aufbauender Musikunterricht ist etwas für Lehrkräfte, denen die Freude der Kinder am Herzen liegt, sich musikalisch auszudrücken. Wenn Kinder erleben, wie rasch ihr eigenes musikalisches Können mit Primacanta zunimmt, dann ist das die beste Förderung ihrer Motivation für Musik, für das Singen und für den Musikunterricht.“ Das Konzept, vorangetrieben auch durch die Begleitforschung von Prof. Dr. Maria Spychiger, ist in die reformierte L1-Ausbildung an der Hochschule eingeflossen. Es konzentriert sich auf drei Kompetenzbereiche: tonal-vokal, Metrum und Bewegung sowie Rhythmus. Wie sie im Unterricht aufeinander aufgebaut und vertieft werden können, steht im Zentrum von Primacanta, wird zudem in mehreren Publikationen behandelt, insbesondere in „Primacanta – Jedem Kind seine Stimme!“ (Helbling Verlag). Das Handbuch, 2019 erschienen, informiert über das Konzept und die Methodik des Aufbauenden Musik­unterrichts und liefert einen Werkzeugkasten zur Stimmbildung, zur Liederarbeitung und zum Classroom Management. Herausgegeben wurde der Band von Werner Jank, Dorothee Graefe-Hessler, sie ist Präsidentin des Bundesverbands Musikunterricht Hessen, und Annette Marke, die bei der Crespo Foundation bis 2018 Projektleiterin für Primacanta war.

Nachrichten

MEILENSTEIN DER MUSIKPÄDAGOGIK: PRIMACANTA CHRONIK

→→ 2008 Crespo Foundation und HfMDK starten „Primacanta

– Jedem Kind seine Stimme“ als Weiterbildungsprogramm für Lehrerinnen und Lehrer an Grundschulen in Frankfurt. Die Basis bildet das an der HfMDK entstandene Konzept des Aufbauenden Musikunterrichts.

→→ 2009 Die Intiative gewinnt den Musikpädagogenpreis

„Inventio“ des Deutschen Musikrats und der Yamaha-Stiftung. 2012 überzeugt sie auch im Rahmen des vom Bundesbildungsministerium ausgerufenen Wettbewerbs „Ideen für die Bildungsrepublik“.

→→ 2011 Brandenburg gründet Belcantare Brandenburg –

nach dem Vorbild in Rhein-Main. Ein Jahr später wird „Primacanta Nordhessen“ gegründet. Belgien übernimmt das Programm für die Deutschsprachige Gemeinschaft 2016.

→→ 2014 Das Programm wird auf die musikalische Früherziehung ausgedehnt – mit PrimacantaKita.

→→ 2017 Die Landesmusikakademie Hessen steigt in das Pro-

gramm ein, Primacanta kann fortan hessenweit angeboten werden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits rund 210 Grundschullehrerinnen und -lehrer in Frankfurt, Offenbach, im Main-Taunus- und im Hochtaunuskreis weitergebildet – mehr als 40.000 Grundschulkinder wurden erreicht.

→→ 2019 Das Handbuch „Primacanta – Jedem Kind eine Stimme“ erscheint (Helbling Verlag).

LEITBILD FÜRS LEHRAMT

→→ Der Fachbereich 2 arbeitet an einem Leitbild für die Lehr-

amtsstudiengänge der HfMDK. „Das Leitbild soll noch einmal ganz generell deutlich machen, wofür wir mit unseren Lehramtsstudiengängen stehen und was uns prägt“, sagt Dekanin Prof. Dr. Katharina Schilling-Sandvoß. Erste Vorarbeiten auf dem Weg dahin sind bereits erledigt: Während des Fachbereichstags am 23. November diskutierten Lehrende und Studierende u.a. über das eigene Selbstverständnis, über die Besonderheiten und das Qualifikationsprofil an der HfMDK.

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Nachrichten aus den Fachbereichen — FB 3

Fotografie: Hansjörg Rindsberg

„  Schade, dass es schon wieder vorbei ist!“

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Aus der Hochschule


Nachrichten aus den Fachbereichen — FB 3 … so endete im September der dreitägige Exzellenzworkshop für den Abschlussjahrgang Schauspiel mit Bibiana Beglau (Foto S. 52, mit L ­ aura Teiwes). Insidertipps, konkrete Verbesserungsvorschläge und Lob: Die ­preisgekrönte Schauspielerin hat an nichts gespart. Ermöglicht wurde der Workshop von der Gesellschaft der Freunde und Förderer der HfMDK.

Schauspiel

Die HfMDK begrüßt Martin Nachbar: Der Choreograph und Performer übernimmt zum Sommersemester 2020 die Professur für Szenische Körperarbeit, seit Oktober ist er bereits mit einem Lehrauftrag vor Ort. Nachbar bringt neue Impulse mit – und internationale Bühnenerfahrung. Insgesamt konnte er bislang mehr als 30 Stücke choreogaphieren, darunter „Urheben Aufheben“ mit der Rekonstruktion von Dore Hoyers Tanzzyklus „Affectos Humanos“. Unterrichtet hat er bisher u.a. an der Hollins University (USA), an der School for contemporary ­dance P.A.R.T.S. (Belgien) sowie am Trinity Laban Conservatoire of Music and Dance (Großbritannien). „Tanken in Frankfurt“: Unter diesem Titel erscheint der halb dokumentarische, halb fiktionale Film des Studiojahres Schauspiel (Spielzeit 2018/19) – es ist bereits der fünfte Frankfurt-Film, den Studierende der HfMDK gemeinsam mit Tobias Lenel entwickelt haben. Schauplatz diesmal: eine kleine Tankstelle im Stadtteil Heddernheim, die seit drei Generationen in Familienbesitz ist. Der Film, entstanden in Kooperation mit dem Verein Oderlaeufe, hatte im Schauspiel Frankfurt Ende November Premiere, in Kürze ist er auch auf der HfMDK-Website zu sehen.

Regie

Cum-Ex auf der Bühne: Regie-Studierende der HfMDK haben Mitte Oktober im Rahmen des Frankfurter Festivals „What a Mess/ It’s Cum Ex“ an drei Tagen einen der größten deutschen Steuerskandale in Szene gesetzt. Ihre Aufführungen im ­studioNaxos basierten auf Texten, die für den Wettbewerb eingereicht worden waren, der bereits im Vorfeld des interdisziplinären Festivals lief.

Nachrichten

Tanz

Eine Woche Rhythmus: Für Bachelor- und Masterstudierende der Tanzabteilung stand im November zum ersten Mal eine gemeinsame Projektwoche auf dem Programm – mit internationalen Gästen. Eingeladen waren Jeremy Nelson aus den USA, Simon Mayer aus Österreich und die MA CoDE-Alumna Kaya Kolodziejczyk aus Polen. Ihr Thema: Rhythmus. Darüber – wie über die gemeinsam besuchten Aufführungen beim Tanzfestival Rhein-Main – wurde bei täglichen Lunch Talks (moderiert von Prof. Dr. Katja Schneider) gesprochen.

Gesang

Die Jahresproduktion der Gesangsabteilung konzentriert sich 2020 auf drei Werke – der Arbeitstitel lautet deshalb zunächst „Il piccolo trittico“, das kleine Triptychon. Zur Aufführung kommen Gaetano Donizettis Oper „Rita“ sowie die Oper „Le pauvre matelot“ von Darius Milhaud, beide sind einaktig. Das kürzeste Stück, das die Studierenden gemeinsam mit dem Hochschulorchester auf die Bühne bringen werden, ist die dramatische Kantate „Phaedra“ von Benjamin Britten. Regie führt Prof. Jan-Richard Kehl, die musikalische Leitung übernimmt Prof. Günter Albers. Zum Vormerken: Premiere ist am 19. April 2020 im Frankfurt LAB. NEUE STUDIEN- UND PRÜFUNGSORDNUNGEN

→→ BAtanz und BA Regie: Die Studien- und Prüfungsordnungen (SPO) für die Bachelorstudiengänge Tanz und Regie wurden erfolgreich überarbeitet. Noch vor Beginn des Wintersemesters konnten sie in Kraft treten.

→→ BA Gesang, MA Musiktheater und MA Konzert: Der Bachelorstudiengang Gesang sowie die beiden Masterstudiengänge Musiktheater und Konzert bekommen voraussichtlich zum Sommersemester 2020 eine neue Studien- und Prüfungsordnung. Neu ist auch: Die beiden Schwerpunkte „Musiktheater“ und „Konzert“ im bisher gemeinsamen Masterstudiengang Gesang werden nun als Studiengänge eigenständig und unterscheiden sich in ihren Inhalten deutlich voneinander.

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Einer geht, der fehlen wird

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Aus der Hochschule


Leidenschaftlicher Musiker, ideenreicher Chorleiter, Dirigent, Komponist, Lehrer, Motivator: Mit seinem Abschied von der HfMDK setzt Prof. Winfried Toll den Schlusspunkt unter eine Ära. TEXT: STEFAN VIEGELAHN

Es war ein leiser Abschied am 4. Juli, den Prof. Winfried Toll nahm. Nach dem großen Verdi-Requiem mit dem Hochschulchor, das im April im HR-Sendesaal zu Beginn des Sommer­ semesters stattgefunden hatte, war sein letztes Hochschulkonzert von Werken in kleinerer Besetzung (Johann S ­ ebastian Bach, Max Reger, Gerald Finzi und Leonard Bernstein) geprägt. Ergänzend erklangen die „Wegkreuze“ für Orgel, eine Komposition Tolls von 1980. Allen Anwesenden war klar, dass an diesem Abend für die HfMDK eine Ära zu Ende ging. Winfried Toll begegnete mir zuallererst als leidenschaftlicher Musiker. Zu welchen Klängen ein Chor fähig ist, das vermag er in Momenten musikalischer Grenzerfahrung zu zaubern. Wenn man ehemalige Studierende befragt, was die zentralen Aspekte des Chorleitungsunterrichts sind, die sie vermittelt bekamen, hört man sofort die Stichworte „Klangfarbe – Vokalfarben – Registermischungen“ – und sogar noch umfassender: „Alles über das Singen habe ich bei ihm gelernt.“

Ein Chorwerk zum Leuchten bringen

→→

rof. Stefan Viegelahn ist Ausbildungsdirektor KirchenP musik und Professor für Kirchenmusik mit Schwerpunkt Orgelimprovisation – und natürlich dabeigewesen, als Winfried Toll im Juli leise in den Ruhestand verabschiedet wurde. Dass es zuvor im Sendesaal des Hessischen Rundfunks schon einmal ein großes, stimmgewaltiges Finale gab, ließ er im Text unerwähnt. Darüber schreibt Winfried Toll in dieser Ausgabe selbst (auf Seite 64).

Fotografie: Björn Hadem

Die eigene Stimme als Instrument zu verstehen, eine fundierte Vermittlung dessen, was eine Chorleiterin und ein Chorleiter hier wissen und beherrschen muss, stand bei ihm im Vordergrund des Unterrichts. Schlagtechnik wurde nicht als Selbstzweck verstanden, sondern war immer das Mittel, um ein Chorwerk in der jeweils ihm gemäßen Form zum Leuchten zu bringen. Auch wer nur im Hochschulchor oder bei einem Kammerchorprojekt mitgesungen hat, bekam unwillkürlich eine ­klare Vorstellung davon, wie bewegend und begeisternd Chormusik sein kann.

Eine Chorleiterpersönlichkeit mit beeindruckendem F ­ euer und zudem ein hilfsbereiter Kollege – so habe ich ihn vor drei Jahren kennengelernt, als der Ausbildungsbereich Kirchenmusik begann, sich personell und strukturell neu zu formieren. Winfried Toll gehörte über zwei Jahrzehnte lang zu den Konstanten der Hochschule, die die große Chorleitertradition Frankfurts (Kurt Thomas, Uwe Gronostay, Helmuth Rilling, Wolfgang Schäfer) auch unter veränderten, nicht immer einfacheren Bedingungen beharrlich weiterführten. Zuletzt machte ihm, wie er selbst sagte, gerade die erfreuliche Arbeit mit den jungen Kirchen­musikstudierenden den Abschied schwer. Eine Absolventin erzählte mir, dass für sie folgender Satz, den sie im Unterricht von Winfried Toll hörte, zu einem Schlüsselerlebnis im Studium geworden ist: „Sie haben Begabung von Gott erhalten; also ist es Ihre heilige Pflicht, etwas daraus zu machen.“ Winfried Toll hat in diesem Sinne viele Menschen in der HfMDK an seiner chorleiterischen Meisterschaft teilhaben lassen.

Adieu

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Herzlich willkommen. Die HfMDK begrüßt fünf neue Professorinnen und Professoren – Vorhang auf, „Frankfurt in Takt“ stellt sie vor.

Hallo! Die HfMDK kennt Michael Böttcher schon länger, jetzt wurde er zum Professor berufen – nicht zuletzt für Studierende wie mich ist das eine sehr gute Nachricht. Ich kann weiter von ihm lernen, Teil des von ihm geleiteten Collegium Musicums sein und als HiWi mit ihm zusammenarbeiten. Wichtige Aspekte, die ich aus seinem Unterricht bisher mitgenommen habe, beziehen sich auf die Schlagtechnik und die Dirigiersprache, er schulte aber auch meinen Sinn für künstlerische Fein- und Freiheiten. Dass die Aufgaben von Dirigenten nicht auf das Pult vor ihnen begrenzt sind, hat er uns Studierenden eindrücklich klargemacht. Denn klar: Michael Böttcher hat in all dem viel Erfahrung. In großen Schritten: Los ging es für ihn mit einem Studium in den Fächern Viola und Dirigieren an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Danach war er unter anderem Bratschist im Heilbronner Sinfonie Orchester und Lehrkraft an der Städtischen Musikschule Heilbronn, bevor er 1990 für mehrere Jahre als Dozent an die Universität Ulm ging und dort auch das Universitätsorchester und die Bigband leitete. 1992 übernahm er zudem die künstlerische Leitung der Jungen Orchesterakademie der Region Franken, die er bis heute inne hat. Nach wie vor ist er auch Dirigent des Heinrich-Schütz-Chores Heilbronn und

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Aus der Hochschule

des Heilbronner Vokalensembles „alto e basso“. Diese Vielfalt macht ihn aus, und sie motiviert uns – weil sie Haltung zeigt. Michael Böttcher hat für seine Studierenden stets ein offenes Ohr, begegnet uns auf Augenhöhe, humorvoll, geradlinig, ausdrucksstark.

PAUL SIMON KRANZ, LEHRAMT GYMNASIUM, KLARINETTE

Michelle Breedt, Professorin für Gesang Michelle Breedt gehört zu den führenden Mezzosopranistinnen ihrer Generation. Aufgewachsen in Südafrika, studierte sie zunächst an der Stellenbosch Univer­ sität und der Guildhall School in London, begann ihre Karriere dann jedoch woanders – im Kölner Opernstudio. Von dort ging es für sie ans Staatstheater nach Braunschweig, an die Wiener Staatsoper und die Pariser Oper, später u.a. auch nach Berlin, Bayreuth und Dresden, New York, Rom, Tokio. Und Brigitte Fassbaender war ihr immer eine wichtige Mentorin, so wie für mich: Als ich mich dazu entschlossen hatte, Gesang zu studieren, empfahl sie sie mir als eine der besten Stimmpädagoginnen – sie hatte völlig recht. Deshalb bin ich Michelle Breedt jetzt auch gefolgt, von der Hochschule für Musik und Theater München, wo sie seit 2013 unterrichtete, an die HfMDK. Was mich an ihr besonders

beeindruckt: Sie hat als Opernsängerin Erfahrungen an den besten Häusern der Welt gesammelt, allein ihr Werdegang im Wagner'schen Mezzosopranfach ist einzigartig. Michelle Breedt verfügt über ein riesiges Spektrum an technischen Zugängen und Know-how, die Ausbildung bei ihr vermittelt nicht nur, das Arbeitspensum im Beruf zu bewältigen, sondern auch, daran zu wachsen. Sie sagt immer, sie möchte uns im Studium „eine große Werkzeugkiste packen“, damit wir uns im Fall der Fälle selbst helfen können – sie ermöglicht uns damit eine Ausbildung zur Selbsthilfe. Hinzu kommt ihr beispielloses Verständnis für ihre Schülerinnen und Schüler. Einmal sagte sie: „Für euch gehe ich barfuß auf den Vesuv, wenn es sein muss“ – keine Frage, das würde sie ohne Zweifel tun.

PATRIK REITER, TENOR UND MASTERSTUDENT AN DER HFMDK

Florian Lohmann, Professor für Chorleitung Zum Wintersemester wurde Florian Lohmann auf die Professur für Chorleitung berufen. Da ich Florian schon seit unserem gemeinsamen Schulmusik-Studium in Hannover sehr schätze, freut mich dies ganz besonders. Als Vater von zwei Kindern (vier Jahre und ein Jahr alt) lebt er mit seiner Familie in Hannover und leitet dort die Capel-

Fotografie: Lorna Lüers

Michael Böttcher, Professor für Chorund Orchesterleitung


la St. Crucis Hannover und das Collegium Vocale Hannover. Mit beiden Chören wurde er u.a. beim Deutschen Chorwettbewerb 2018 Preisträger und ist erfolgreich bei Wettbewerben, CD-Aufnahmen und Konzerten im In- und Ausland. Florian Lohmann reist sehr gerne und trat mit seinen Chören auch im europäischen Ausland, in Südafrika, in Argentinien und zuletzt in Australien auf. Noch heute leuchten seine Augen, wenn er davon erzählt, dass er dieses Jahr im April die Ehre hatte, am Sydney Opera House Mozarts c-Moll-Messe zu dirigieren. Neun Jahre lang war Florian Lohmann Lehrbeauftragter für Gesang an der HMTM Hannover und unterrichtet zudem seit sechs Jahren Chorleitung an der HfM Detmold. Für seine Arbeit an der HfMDK liegt ihm besonders der Aufbau des Kammerchores am Herzen, für den Studierende aus allen Fachbereichen vorsingen können. Mit dem Kammerchor gestaltet er sein Antrittskonzert am 31. Januar 2020 im Großen Saal der Hochschule. Außerdem sollen Chorleitungsstudierende mehr Möglichkeiten erhalten, mit Chören zu proben und auch Konzerte zu dirigieren. Folgerichtig wird das zweite Konzert mit dem Kammerchor am 1. Februar von Studierenden dirigiert.

FABIAN SENNHOLZ, PROFESSOR FÜR ENSEMBLEARBEIT

Katja Schneider, Professorin für Tanztheorie Am Ort sein und nie stehen bleiben: Dr. Katja Schneider hat seit dem Sommersemester 2019 die nagelneue Professur für Tanztheorie an der HfMDK inne und unterrichtet sowohl im Bachelor-Studiengang Tanz als auch im Master Con­ temporary Dance Education (MA CoDE). Sie wurde in München geboren, studierte dort Theaterwissenschaft, Neuere Deutsche Literatur und Philosophie und wurde 1996 promoviert mit einer Arbeit über Dramatik und Emotionalisierungsstrategien im 18. Jahrhundert. Daneben absolvierte sie eine Verlagsausbildung und schrieb fortan über Tanz in Zeitungen, Zeitschriften und Lexika; und Tanzpädagogin speziell für Kinder wurde sie auch noch. An der Münchner Uni lehrte sie dann ab 2004; ihre Habilitation verband schließlich „Tanz und Text“, Untertitel: „Zu Figurationen von Bewegung und Sprache“. Kein Wunder, dass Genuss für Katja Schneider mit Bewe-

Willkommen

gen zu tun hat. „Stundenlanges Schaukeln“, diesen Genuss vermisse sie von früher. Heute brauche es Anstrengung, selbst in Bewegung zu kommen. Dies wird dann Genuss, wahrgenommen mit dem speziellen Sinn, „mit den Rezeptoren, die für k ­ inästhetische Erfahrungen zuständig sind“, so die Wissenschaftlerin. Was genießt sie als Dozentin? „Wenn man merkt, dass eine Lehrveranstaltung Resonanzen erzeugt.“ Und was speziell als Theater- und Tanzwissenschaftlerin? „Flow des Schreibens, Drive des Lesens.“ Eine rhythmische Antwort.

MELANIE SUCHY, FREIE JOURNALISTIN UND MENTORIN IM STUDIENGANG MA CODE

Jan Van Hoecke, Professor für Blockflöte, Consortspiel und Kammermusik Von Frankfurt kannte er nur den Flughafen und den Hauptbahnhof, als er sich an der HfMDK bewarb – seit Oktober ist er nun hier und, trotz der Turbulenzen, die die Wohnungssuche mit sich brachte, immer noch euphorisch. Endlich könne er all das umsetzen, was ihm als Künstler und Lehrer viel bedeutet, sagt Jan Van Hoecke, „endlich auch interdisziplinär“. Alte Musik, zeitgenössische Musik, die Nähe zum Schauspiel, zur Komposition

und zur Musikpädagogik: „Ich bin davon überzeugt, dass diese Vielfalt tausend Möglichkeiten bietet.“ Die Arbeit am Institut für Historische Interpretationspraxis (HIP) reize ihn sehr, betont er, zumal er in ein hochschulweit vernetztes Institut komme, „das von der Renaissance bis zur zeitgenössischen Musik alles macht – und dies auch machen kann, unter anderem Dank der Lehrangebote und interdisziplinären Projekte des Instituts für zeitgenössische Musik.“ Eine besondere Freude sei es ihm zudem, den Csakan, die Blockflöte des 19. Jahrhunderts, in den Unterricht einführen zu können. Jan Van Hoecke ist im belgischen Ertvelde aufgewachsen, ging von dort zunächst nach Brüssel, um am Koninklijk Conservatorium zu studieren, später an das Konservatorium nach Lausanne – die Stadt wurde für mehr als zehn Jahre auch sein Zuhause. Von 2009 bis zu seinem Umzug nach Frankfurt lehrte er in Lausanne sowohl am Konservatorium als auch an der HEMU, der Haute Ecole de Musique. Zwischendurch gewann er zahlreiche internationale Preise und reiste zu Konzerten um die halbe Welt. Auch in Frankfurt ist er schon verabredet: Am 9. März 2020 betritt er mit den Professorinnen Eva Maria Pollerus und Kristin von der Goltz sowie seinem Vorgänger an der HMDK, Professor M ­ ichael Schneider, die Bühne – für ein Konzert in der Telemann-Reihe „Die Kleine Kammermusik“.

v.l.n.r.: Prof. Dr. Katja Schneider, Prof. Florian Lohmann, Prof. Jan Van Hoecke, Prof. Michelle Breedt, Prof. Hannah Shakti Bühler (seit einem Jahr als Professorin an der HfMDK), Prof. Michael Böttcher

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„Wenn wir jetzt nicht handeln“ Tania Rubio hat im Sommer drei Monate lang als „Composer in Residence“ an der HfMDK verbracht – auch hier gab es für sie kein wichtigeres Thema als die Umweltzerstörung. Warum sie die Klimakrise in den Mittelpunkt ihrer künstlerischen Arbeit stellt.

Als Menschen sind wir auf die Natur angewiesen, um zu überleben, im körperlichen Sinn genauso wie im geistigen. Trotzdem verhalten sich unsere Gesellschaft, Politik und Großindus­ trie so, als hätten unsere Handlungen keine Konsequenzen. Ich habe gesehen, wie viele Ökosysteme sich in kurzer Zeit durch Müll, Kunststoffe, Herbizide, Klimawandel und dergleichen verändert haben. Das Wasser, das wir trinken, ist durch Chemikalien verunreinigt, die Nahrung, die wir essen, wird in Pestiziden ertränkt, unser Esstisch ist voll von leidenden ­Tieren ... Was für eine verrückte Welt ist das?! Natur und Gesellschaft, für mich ist die Beziehung zerstört worden – wir müssen sie reparieren, sie wieder herstellen. Wir sind ein Teil der Natur, genau wie Ameisen, Wale oder Pflanzen. Wir sind Lebewesen mit Sozialverhalten, wir teilen uns den Planeten mit anderen Lebewesen, die schon länger hier sind als wir – und wie wir ein Recht darauf haben zu leben. Es ist nicht rational, den lebenden Planeten, the living planet, sterben zu sehen, und nichts zu tun. Die Erde ist ein riesiges Paradies, das von einer großen Krise bedroht ist. Unser aller Zukunft hängt davon ab, wie wir heute handeln. Kunst hat die Kraft, Menschen zu sensibilisieren und ein ­Bewusstsein für das zu schaffen, was gerade passiert. Zum Beispiel mein Stück „The banality of Evil“, das während m ­ einer Zeit in Frankfurt entstand – ein kurzes Objekttheater für ­Flöte, ­Stimme und Elektronik. Es thematisiert den immensen S ­ chaden, den wir der natürlichen Umwelt zufügten, und die Verantwortung, die wir hier als rationale, vernunftbegabte menschliche Wesen haben.

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Grundlage des Stücks war für mich das Buch „Silent Spring“ von Rachel Carson (in deutscher Übersetzung: „Der stumme Frühling“), in dem sie anhand wissenschaftlicher Fakten zeigt, welchen gewaltigen Einfluss die chemische Industrie in den vergangenen Jahrzehnten auf die Natur hatte, auf ihre Zerstörung und Verschmutzung. Heute sehen wir die Folgen, etwa beim Vogel­sterben: Kürzlich veröffentlichte Studien zeigen, dass ­allein in Nordamerika in den letzten 50 Jahren 2,9 Milliarden Vögel verschwunden sind – das entspricht einem Rückgang um rund ein Drittel. Die Studie hat mich wirklich schockiert. Wir sprechen hier von einer der am einfachsten messbaren Arten in der Natur, Vögel lassen sich gut beobachten; aber wenn wir das in Beziehung zu Insekten und Amphibien sehen, ergibt sich ein katastrophales Bild. Wenn wir jetzt nicht handeln, kommt es zu einer Kettenreaktion, die nicht mehr aufhören wird. Kunst und Wissenschaft bilden mein Handwerkszeug, um die Herzen der Menschen zu erreichen. Kunst ist wie eine Saat, die in unserem Herzen aufgeht und unser Leben verändern kann. Ich möchte diese Saat in die Herzen der Menschen ausbringen, sodass sie Liebe und Dankbarkeit dafür empfinden können, am Leben zu sein. Wenn wir das Problem sind, müssen wir auch die Lösung sein.

→→

ie Komponistin Tania Rubio, geboren 1987 in MexikoD Stadt, arbeitet an der Schnittstelle zwischen Kunst, Wissenschaft, Technologie und Natur. In vielen ihrer Stücke thematisiert sie Fragen des Umweltschutzes und des Klimawandelns. 2019 erhielt sie das Arbeitsstipen­ dium „Composer in Residence“. Derzeit promoviert sie bei Carola Bauckholt in Linz. https://taniarubio.com/en/

Fotografie: Archiv Frau und Musik / Eva und Roland Brendel

TEXT: TANIA RUBIO


ÜBER COMPOSER IN RESIDENCE:

as Programm unterstützt Nachwuchskomponistinnen D aus aller Welt mit einem Arbeitsstipendium – vergeben wird es vom Archiv Frau und Musik in Kooperation mit dem Institut für zeitgenössische Musik IzM der HfMDK. Förderer des Projekts sind die Frankfurter Stiftung Maecenia für Frauen in Wissenschaft und Kunst, das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst sowie die Städte Frankfurt am Main und Kassel und die Mariann Steegmann Foundation.

Composer in Residence

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Aus der Hochschule


Lebenswege der HfMDK-Alumni, Folge 11: Musikpädagogin Dr. Julia Jung

Fotografie: Rebecca Hahn

Atmosphären Ein Schritt vor, einer zurück, die Unruhe in Person: So war er, der erste Moment als Lehrerin vor einer Klasse – aber nur der erste. „Irgendwann habe ich mich aufs Pult gesetzt und beschlossen, dass das jetzt meine Position ist. Damit war es dann gut.“ Und gut ist es bis heute. Dr. Julia Jung (32) unterrichtet mittlerweile im zweiten Jahr am Adorno-Gymnasium in Frankfurt, außer Musik auch Spanisch und dazu seit kurzem ein neues Fach, das sie selbst initiierte – Ästhetik. Die Musikpädagogin konnte ihr gesamtes Wissen aus der Zeit ihrer Promotion einbringen, entwickelte sogar das Curriculum mit. Darin steht: Verteilt auf zwei Jahre lernen die Gymnasiasten etwas über Ästhetik, Atmosphären und die Faktoren, die ihre Wahrnehmung beeinflussen. „Auslöser dafür, meine Kolleginnen und Kollegen von diesem Konzept zu überzeugen, war für mich die Beobachtung, dass Musikunterricht allein heute nicht mehr alle Fragen abdecken kann, die sich ­Kinder und Jugendliche mit Blick auf ihre Kreativität und ihre Umwelt stellen“, sagt Dr. Jung. Das Fach könne hier Bewusstsein schaffen, sensibilisieren. „Es ist toll, dass wir die Idee im Team jetzt umsetzen.“ Dabei ist die Schule nicht der einzige Ort, an dem sie ihr Thema voranbringt: Seit Abschluss ihrer Promotion bei Prof. Dr. Maria Spychiger Ende 2018 ist sie Lehrbeauftragte an der HfMDK. Ihr Seminar heißt „Lehren als ästhetische Tätigkeit“, und „spürend handeln“ ihre Methode – schon mit ihrer Doktor­arbeit („Stimmungen weben“, Springer 2019) dazu, gefördert von der Polytechnischen Gesellschaft und der G ­ raduiertenschule Musikpädagogik, setzte sie Maßstäbe. Auf der Urkunde, die sie im Anschluss an deren Verteidigung erhielt, steht: summa cum laude.

„Musikunterricht allein kann heute nicht mehr alle Fragen abdecken“ Lebenswege

Abgehoben wirkt die Musikpädagogin trotzdem nicht. Dass ihr der Start in den Beruf derart störungsfrei gelang, sie in so wenigen Jahren so viel bewegen konnte: Dr. Jung freut das, es gebe ihr Zuversicht – alles unnahbar Erhabene, was sich sonst daraus ergeben könnte, ist ihr jedoch auffallend fremd. Ohnehin erzählt sie ihren Lebenslauf nicht entlang ihrer Erfolge, sondern entlang der Orte, die ihr etwas bedeuten, wo sie auf Menschen traf, die sie darin bestärkten, ihren Weg zu gehen. Den Anfang machten ihre Heimatstadt Speyer – und dort ihre Klavierlehrerin. „Sie konnte streng sein, wenn ich mal wieder nicht geübt hatte, aber sie hat mich immer respektiert und auf eine sehr feine, freundliche Weise gefördert.“ Das habe sie geprägt. Es folgten: das Studium an der HfMDK, während dessen sie auch ein Jahr in Granada (Spanien) verbrachte; die Promotion, erneut in Frankfurt, diesmal kombiniert mit einer ausgedehnten Schreibphase in Hamburg – dann die Rückkehr in den Schuldienst und der Lehrauftrag an der HfMDK. Auf der Landkarte ihres Lebens bleibe Speyer zwar nach wie vor zentral, die eigentliche Zentrale sei aber längst Frankfurt, bekennt Dr. Jung. Hier wieder wegzugehen? „Das steht nicht auf meinem Plan.“

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Höchst engagiert Gesellschaft der Freunde und Förderer Das passiert, wenn die eigene Begeisterung Funken schlägt: Dr. Stefanie Heraeus, Dr. Daniela Favoccia und Dr. Kristina Hasenpflug konnten den Kreis der Freunde und Förderer der HfMDK in den vergangenen Jahren deutlich erweitern. 2019 wurden alle drei als Vorstand wieder­gewählt. Warum ihnen dieses Ehrenamt so wichtig ist?

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Mehr als 400 Mitglieder zählt die Gesellschaft der Freunde und Förderer (GFF) der HfMDK aktuell. Das sind 60 mehr als am Jahresanfang – damit handelt es sich um den größten Mitgliederzuwachs in einem Jahr seit der Gründung 2007/2008. Insgesamt hat die GFF bis heute rund 2,8 Millionen Euro für die Studierenden der Hochschule zur Verfügung gestellt. In diesem Förderjahr wurden unter anderem zwei Violinen und ein Cembalo finanziert.

↘↘Spendenkonto der GFF

Deutsche Bank DE68 5007 0024 0806 5070 00 DEUTDEDBFRA

Dr. Stefanie Heraeus Dr. Stefanie Heraeus ist mit dem Leben einer Hochschule vertraut: Am Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe-Universität initiierte sie 2010 den Masterstudien­ gang „Curatorial Studies“ – der Master, für den sie die Städelschule als Partner ­gewinnen konnte, fand unter ihrer Leitung rasch internationales Ansehen. Dass sie sich nun bereits seit fünf Jahren im Freundeskreis der HfMDK engagiert, seit 2016 ist sie auch dessen Vorsitzende, hält sie für selbstverständlich. Letztlich, betont sie, gehe es ihr hier darum, den Frankfurtern zu vermitteln, „welches Juwel sie mit der HfMDK in der Stadt haben“ – und der nächsten Generation Experimentierräume für Musik, Theater und Tanz zu eröffnen. Wer hier studiere, sollte in besonderer Weise unterstützt werden, dafür setze sie sich ein. „Als Freunde der Hochschule möchten wir bestmögliche Studienbedingungen schaffen, über das reguläre Angebot hinaus.«

Dr. Daniela Favoccia

Konzerte, Opern, Ballet- und Theaterabende hatten für die Juristin Dr. Daniela ­Favoccia schon immer einen hohen Stellenwert, lange bevor sie 2016 zum ersten Mal die HfMDK betrat und bald daraufhin zusagte, im Vorstand der GFF mitzuarbeiten. Kunst dort zu erleben, wo sie gerade erst entsteht, sei etwas völlig Einzigartiges, sagt sie. „Ich begegne an der Hochschule so vielen Talenten – es ist mir eine Freude, sie zu fördern.“ Ihre Hauptaufgabe im Vorstand sieht Dr. Favoccia vor allem darin, Gelegenheiten aufzuspüren, bei denen sie für die Hochschule und den Freundeskreis werben, beide in der Stadt bekannter machen kann. Und das gelingt ihr. Dr. Favoccia ist Partnerin bei der auf Gesellschaftsrecht, Fusionen und Übernahmen spezialisierten Kanzlei Hengeler Mueller in Frankfurt. 2015 wurde sie vom „Manager Magazin“ in die Liste der einflussreichsten Frauen der deutschen Wirtschaft aufgenommen, zu dieser Liga gehört sie bis heute.

v.l.n.r.: Dr. Daniela Favoccia, Dr. Stefanie Heraeus, Dr. Kristina Hasenpflug

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Aus der Hochschule

Kultur und Kunst zu fördern, und dabei immer wieder einen neuen Dreh zu finden: Auch für die Literaturwissenschaftlerin Dr. Kristina Hasenpflug ist das das Thema Nummer eins. Seit 2016 leitet sie als Geschäftsführerin die Deutsche Bank Stiftung in Frankfurt und engagiert sich jetzt fast genauso lange im Vorstand der GFF. „Die Aufgaben, die mit einem solchen Amt verbunden sind, machen nicht nur Arbeit, sondern auch sehr viel Spaß«, begründet sie ihre Entscheidung pro HfMDK. Unternehmen zu motivieren, im Freundeskreis festes Mitglied zu werden, sei zwar schwieriger geworden. „Doch sonst, also mit Blick auf Privatpersonen, konnten wir wirklich v ­ iele Menschen für die Hochschule begeistern.“ Dr. Hasenpflug ist überzeugt, dass d ­ eren Gefühl und Haltung weitere Kreise ziehen: Jedes Mitglied trage die Idee weiter, dass die hier unterrichteten jungen Künstlerinnen und Künstler Förderung verdienen. Als Botschafter.

Fotografie: Hansjörg Rindsberg

Dr. Kristina Hasenpflug


Die Stiftung der HfMDK Die Studierenden der HfMDK sollen als Künstler, Lehrer oder Wissenschaftler ihren Platz in der Gesellschaft finden. Eine exzellente Ausbildung ist dafür grundlegend – daran will die HfMDK-Stiftung mit zusätzlichen Lehrangeboten wie Stiftungsprofessuren und Stipendien mitwirken.

„Wie sehr sie halfen, wie sie heißen, das soll der Zukunft dieses Buch verkünden“, darin sieht das Goldene Buch der Frankfurter Stiftungen seine Bestimmung. Als 131ste hat sich in diesem Jahr auch die HfMDK-Stiftung hier eingetragen. 2016 gegründet, soll sie die Ausbildungsbedingungen der Studierenden in Musik, Theater und Tanz verbessern. Mit dem in Deutschland einmaligen Goldenen Buch würdigt die Stadt Frankfurt das gesellschaftliche Engagement von Stiftungen und Stiftern. Und so haben im Frankfurter Römer alle Gründungsstifterinnen und -stifter das Blatt der HfMDK-Stiftung mit unterzeichnet: (das Foto oben entstand im Anschluss). „Eine Stiftung bedeutet noch etwas anderes“, erklärte HfMDK-Präsident Prof. Elmar Fulda bei der Feierstunde im Römer. „Es ist ein großer Vertrauensbeweis, eine Ermunterung, eine starke Verbindung zwischen Stiftern und der Hochschule, es ist die Botschaft: Das, was Ihr in dieser Hochschule, für die Kunst, für diese Menschen, die Studierenden, die Euch ihr Talent anvertrauen, in dieser Stadt macht, das ist uns Stiftern wichtig. Da wollen wir dabei sein, eine Partnerschaft knüpfen, gemeinsam den Weg gehen, durch dick und dünn. Denn das Engagement eines Stifters ist mehr als eine Spende, ein Betrag: Es ist ein Bekenntnis – das uns stolz macht, da es uns zeigt, dass wir den richtigen Weg gehen und dabei nicht alleine sind.“ Das erste Förderprojekt der HfMDK-Stiftung ist die Stiftungsgast­ professur Komposition. Renommierte Komponistinnen und Komponisten arbeiten ein Jahr mit Studierenden aller Fachbereiche. 2019 war Prof. Brian Ferneyhough Gastprofessor. 2020 kommt die italienische Komponistin Lucia Ronchetti. Die Gastprofessur stärkt das Profil der HfMDK in den zeitgenössischen Künsten (mehr dazu auf Seite 64). Engagieren auch Sie sich als Stifterin oder Stifter in der Stiftergemeinschaft der HfMDK!

HfMDK fördern

↘↘Weitere Informationen zur HfMDK-Stiftung: Dr. Laila Weigand, 069 154 007-210 zur Gesellschaft der Freunde und Förderer: Beate Eichenberg, 069 154 007-312 hfmdk-foerdern.de

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Highlights Ein Rückblick auf 2019, aber nicht irgendeiner: Studierende und Lehrende der HfMDK erzählen, welches Erlebnis das Jahr für sie besonders macht – und unvergessen.

↘↘Januar DR. KARIN DIETRICH, LEITERIN DES INSTITUTS FÜR ZEITGENÖSSISCHE MUSIK IZM, ÜBER:

len, eine gemeinsame Tour durchs Land, eine ganz neue, bewusste Zauberflöte, das Orchester gleichberechtigt mitten im Geschehen und ein ausverkaufter Großer Saal in der HfMDK. Und die nächste Runde ist schon in Arbeit!

Brian Ferneyhough und die Stiftungsgastprofessur Komposition ↘↘April Mein persönliches Highlight an der HfMDK war der erste Durchgang der Stiftungsgastprofessur Komposition mit Brian Ferneyhough. Nicht nur die Studierenden und Lehrenden konnten von seinem Können, seiner Menschen- und Weltkenntnis profitieren, auch wir im IzM, die seinen Aufenthalt mit ihm geplant und durchgeführt haben, kamen dem Künstler und Menschen Ferneyhough näher. Welch geistreicher, humorvoller und überaus kostbarer Austausch über Kunst, Kultur und Politik! Und Haustiere.

↘↘März EMIL RIEDEL, STUDENT FÜR VIOLONCELLO UND EHEMALIGER ASTA-VORSITZENDER, ÜBER:

Eine Operation der Künste Die doch noch immer allzu konservativen und patriarchalen Strukturen des klassischen Musikbetriebs, der einmal unsere Zukunft werden soll, hinter uns zu lassen – nicht kleiner war die Idee unseres Projekts operationderkuenste, das fünf Freunde und ich im Frühjahr in Angriff nahmen. Die erste Etappe: über 50 Studierende von über zehn Musikhochschu-

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Aus der Hochschule

WINFRIED TOLL, BIS ZUM WINTERSEMESTER PROF. FÜR CHORLEITUNG (SIEHE SEITE 56), ÜBER:

Giuseppe Verdi zum Abschied Ich denke, die Aufführung des VerdiRequiems war für mich sicher nicht nur ein ganz besonders hervorstechendes Erlebnis in diesem Jahr, sondern als Schlusspunkt meiner Tätigkeit als Chorleitungsprofessor auch ein besonderer Höhepunkt in der Arbeit mit dem Hochschulchor überhaupt. Ich wusste schon, dass es sehr gewagt war, ein so großes Werk zu wählen, da ich keine Ahnung hatte, wie der Hochschulchor aufgestellt sein würde zu Beginn der Probenphase. Glücklicherweise waren wir in allen Stimmen recht gut besetzt. Der Chor war herrlich motiviert und konzentriert bei der Arbeit, die Proben machten mir große Freude, dazu kam das bestens besetzte Hochschulorchester, sodass sich das Tor zur Musik rasch öffnete. Mit den wunderbaren Solisten und gemeinsam mit der Frankfurter Kantorei wurde das Konzert im Hessischen Rundfunk wirklich ein ganz besonderes und bleibendes Erlebnis in meinem Leben, und ich danke allen Beteiligten noch einmal für dieses großartige Geschenk.

↘↘April JAKOB KRUPP, STUDENT FÜR KONTRABASS, ÜBER:

Die Neue Musik Nacht Eines meiner persönlichen Highlights war die Neue Musik Nacht, da ich in gleich zwei ungewohnte Rollen schlüpfen durfte: In Dieter Schnebels „Nostalgie“ für Dirigenten verkörperte ich szenisch einen Dirigenten ohne Orchester. Außerdem gab es das Projekt „Stille Post“, eine interdisziplinäre Improvisationskette mit Tänzern, Schauspielern, Instrumentalensembles und einem Jazztrio. Ad hoc eine improvisierte Reaktion auf zuvor Gesehenes/Gehörtes zu finden, war für mich eine besonders reizvolle Aufgabe.

„Stille Post“ bei der Neuen Musik Nacht


↘↘Mai AURELIA TORISER, STUDENTIN FÜR BRATSCHE, ÜBER:

„McEarth – Ein Selbstbedienungsladen?“ Wer am 16. Mai in der HfMDK war, hat mit uns Danke gesagt: Danke, Erde! Dank Dir leben wir! Die Erschütterung über den Welterschöpfungstag war unser Anlass. Informationsstände, Werkstätten zusammen mit der wunderbaren vielfältigen Kraft und Aussage von Musik und Kunst waren unser Mittel, und 90 ehrenamtliche Mitwirkende unsere Bestärkung. Unser Ziel: das Bewusstsein für unsere Erde und den Umgang mit ihr neu zu wecken und zu schärfen, denn „McEarth – Ein Selbstbedienungsladen?“ – nein, Danke. Initiiert von Aylin Günel, Sophia Stiehler und mir, Aurelia Toriser. Unterstützt und gestaltet von Studierenden & Lehrenden aus allen Fachbereichen, sowie dem KBB der HfMDK, #grüngehtdoch, Greenpeace Frankfurt am Main, Umweltlernen in Frankfurt e.V., Engagement Global.

↘↘Juni-September ORM FINNENDAHL, PROF. FÜR KOMPOSITION UND AUSBILDUNGSDIREKTOR KOMPOSITION, ÜBER:

↘↘Juni

Big Orchestra

VASSILIS CHRISTOPOULOS, PROF. FÜR ORCHESTERLEITUNG, ÜBER:

Ein besonderes persönliches Erlebnis war die Konzeption und Präsentation einer 13-kanaligen Klanginstallation für die Ausstellung „Big Orchestra“ in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt. Aufnahmen k ­ urzer Samples der Ausstellungsobjekte bildeten mit Hilfe algorithmischer Verfahren fortwährend neue Konstellationen. Das Zusammenspiel der Klänge mit den Skulpturen und dem von oben beleuchteten, sehr beeindruckenden Ausstellungsraum mit einer Länge von 100 Metern, wird mir sicher noch lange Zeit in Erinnerung bleiben.

Farbenreiche Klanggestaltung beim LAB Festival

Fotografie: Hansjörg Rindsberg (unten); Björn Hadem (oben)

„Big Orchestra“ in der Schirn Kunsthalle

Ein Höhepunkt des Jahres war für mich die erste Zusammenarbeit des Hochschulorchesters mit dem Ensemble Modern im Rahmen des Frankfurt LAB Festivals im Juni 2019. Die farbenreiche Klanggestaltung, die rhythmische Genauigkeit, aber auch der entspannte und freundliche Umgang der erfahrenen Spezialisten mit den Studierenden auf der einen Seite sowie die gewissenhafte Vorbereitung und Freude am Lernen und am Musizieren der Mitglieder des Hochschulorchesters auf der anderen, haben zu einem spannenden, ja faszinierenden Konzerterlebnis geführt!

↘↘Juli INES HARTMUTH, STUDENTIN FÜR TROMPETE, ÜBER:

Applaus im Kloster Eberbach Beim Rheingau Musik Festival spielten wir mit unserem Blechbläser-Ensemble unter der Leitung von Steven Verhaert. Ein langer Festsaal, von Säulen durchzogen, bereitete unter anderem für Maltes Flügelhorn-Solo „Send in the Clowns“ die

Zum Schluss

perfekte Akustik. Da war es keine Überraschung, dass das Publikum bereits nach unserem ersten Stück vom Ambiente (oder war es unsere Musik?) mitgerissen wurde. Nicht enden wollender Applaus und Standing Ovations machten uns das Konzert unvergesslich. Ein perfektes Ende fand der Abend mit dem Jazzchor, welcher im riesigen Hof inmitten des alten Gebäudes stimmungsvoll im Sonnenuntergang sang.

↘↘Juli-August ROBIN BROSOWSKI, STUDENT FÜR SCHULMUSIK UND ASTA-VORSITZENDER, ÜBER:

Politische Haltung „Es wird immer gesagt, Studierende seien heutzutage unpolitisch. Nicht bei uns!“, sagte Herr Fulda im Anschluss an das McEarth-Wandelkonzert im Mai. Und in der Tat: Unsere Studierenden kämpften leidenschaftlich für ihre Belange. Auch der Arbeitskreis Awareness setzte sich ein: Für Bewusstsein im Bezug auf Diskriminierung jeder Art. Eine Woche lang befragten Freiwillige rund ein Drittel der Studierendenschaft zu Belästigungserfahrungen in der Hochschule. Die Ergebnisse sollten bei Erscheinung dieses Hefts bereits vorliegen. Die HfMDK bewegt sich – vor allem auch durch studentische Initiative.

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↘↘September DR. SYLVIA DENNERLE, LEITERIN DER PRESSE- UND ÖFFENTLICHKEITSARBEIT, ÜBER:

Das neue Erscheinungsbild der HfMDK Mein Highlight in 2019 war und ist der noch andauernde Entwicklungs- und Umset­zungsprozess des neuen H ­ fMDKErscheinungsbildes und die Überarbei­ tung der zentralen ­Kommunikations­­instru­­mente. Formal für mich quasi der ­zweite Big Bang-Moment der Hochschulkommunikation innerhalb der vergangenen zwei Jahrzehnte. Der erste war das novellierte Hessische Hochschul­gesetz aus dem Jahr 2000, das durch die damals übertragene Autonomie und die damit verbundene reale Wettbewerbssituation plötzlich einen professionellen Markenauftritt mit entsprechend starken Kommunikationsinstrumenten erforderte. ­Darauf antwortete vor gut 13 ­Jahren unsere dann langjährige Agentur mit ­ei­nem unverwechselbaren Printmedien-­Konzept.
 Die Digitalisierung und die damit einhergehenden rasanten Kommunikationsveränderungen führten in den folgenden zehn Jahren abermals zu einer grundlegenden Zäsur der (HfMDK-)Kommunikation. Im Frühjahr legte unsere neue Agentur im offiziellen Ausschreibungsverfahren ein Konzept vor, das so „einfach“ wie wirksam ist: Formal steht es für ein zeitgemäßes Erscheinungsbild, das sowohl die analogen als auch die digitalen Anforderungen berücksichtigt. Inhaltlich spiegelt das neue Hochschulgesicht die Vielfalt und künstlerische Experimentierfreude der HfMDK auf charmante Art durch seine Flexibilität und die individuellen Einsatzmöglichkeiten. Die Entwicklung ist damit nicht abgeschlossen: Viele HfMDK-Medien werden erst im Laufe der nächsten Monate mit dem neuen Corporate Design weiterentwickelt und umgesetzt. Wir freuen uns auf den Prozess – und auf Ihr Feedback.

Impressum Frankfurt in Takt – Magazin der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt Eschersheimer Landstraße 29–39 60322 Frankfurt am Main www.hfmdk-frankfurt.de Herausgeber: Prof. Elmar Fulda, Präsident der HfMDK Frankfurt Redaktion: Tamara Weise Redaktionsbeirat: Prof. Dr. Dagmar Borrmann, Dr. Sylvia Dennerle, Sabine Fischmann, Prof. Elmar Fulda, Aylin Günel, Sandro Hirsch, Dr. Anatol Riemer, Prof. Dr. Katja Schneider, Prof. Fabian Sennholz, Aurelia Toriser, Prof. Tim Vogler, Prof. Eike Wernhard Autorinnen und Autoren: Nils Amelung, Prof. Christopher Brandt, Robin Brosowski, Prof. ­Vassilis Christopoulos, Dr. Sylvia Dennerle, Dr. Karin Dietrich, Beate Eichenberg, Willy Egli, Johannes Ehinger, Prof. Orm Finnendahl, Sabine Fischmann, Prof. Elmar Fulda, Aylin Günel, Björn Hadem, Ines Hartmann, Harald ­Hieronymus Hein, Sandro Hirsch, Nina Koch, Paul Simon Kranz, Jakob Krupp, Anna-Katharina Kürschner, Katharina Kurschat, Malin ­Lamparter, Lorna Lüers, Lukas Massoth, Prof. Henriette Meyer-Ravenstein, ­Rainer ­Michel, Ulrike Münnich, Prof. Eva Maria Pollerus, Patrik Reiter, Emil ­Riedel, ­Tania Rubio, Prof. Dr. Katja Schneider, Prof. Fabian Sennholz, ­Julia ­Staufer, ­Melanie Suchy, Laura Teiwes, Prof. Winfried Toll, Aurelia Toriser, Prof. Stefan Viegelahn, Prof. Tim Vogler, Dr. Laila Weigand, Tamara W ­ eise, Prof. Carsten Wiebusch Titelfotos: Janine Bächle (oben) Ramon Haindl (unten) Konzept & Gestaltung: State – Design Consultancy www.s-t-a-t-e.com Anzeigen: Dr. Sylvia Dennerle (es gilt die Preisliste 2019) Erscheinungsweise: 1 mal pro Semester Druck: Druck- und Verlagshaus Zarbock GmbH & Co. KG Sontraer Straße 6 60386 Frankfurt am Main

„Frankfurt in Takt“ digital lesen: www.hfmdk-frankfurt.info/publikationen

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