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Mehr vom Weniger

TEXT: ORM FINNENDAHL

Es gehört zu den unausrottbaren Vorurteilen, dass „Verzicht“ in einen Gegensatz zu „Genuss“ gesetzt wird. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass das Verzichten die Negation bereits in der Vorsilbe enthält und damit der positiven Konnotation des Genießens zuwiderzulaufen scheint.

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„Die Fähigkeit zur Reduktion zählt zu den zentralen und überlebensnotwendigen Kompetenzen des Menschen“

Allerdings vermag das strategische Umbiegen des Wortes „Verzicht“ in das Wort „Reduktion“ dem vermeintlich lustfeindlichen eine positive Facette abzugewinnen. Denn die Fähigkeit zur Reduktion zählt zu den zentralen und überlebensnotwendigen Kompetenzen des Menschen: In der Form von Abstraktionen dienen Reduktionen dazu, überkomplexe Zusammenhänge überhaupt erst handhabbar und für Kommunikation verfügbar zu machen.

In der Kunst kann die Fähigkeit zur Reduktion gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wie schon Antoine de Exupéry bemerkte, besteht Vollkommenheit nicht darin, dass man nichts mehr hinzufügen, sondern darin, dass man nichts mehr weglassen kann. Dies gilt für die Kunst in besonderem Maße. Das pointierte Zuspitzen und Fokussieren ist hier zentrales Gestaltungsmittel. Kein übermäßiges Schwadronieren sollte den Blick auf das Wesentliche verstellen. „Weniger ist mehr“ nannte dies schon Mies van der Rohe.

Auch für mich ist Fokussierung und Konzentration ein zentrales Anliegen bei der kompositorischen Arbeit. Dabei geht es nicht um Askese, ganz im Gegenteil: Zunächst wird eine Unmenge an Materialien zusammengetragen, die dann in einem langwierigen Prozess auf ihre Notwendigkeit und Stichhal tigkeit hin befragt werden. Nur die besten Ideen überleben. Und naheliegenderweise sind das dann zumeist diejenigen, die mir das größte Vergnügen bereiten. Mit allem anderen muss ich das Publikum ja nicht belästigen.

Um in diesem Zusammenhang mit einem anderen Vorurteil aufzuräumen: Musik, auch die zeitgenössische Musik, muss unter allen Umständen unterhalten, auch und gerade in ihrer reduzierten Form. Mein Problem ist eher, dass ich mich von der Musik, die allgemein als unterhaltend verstanden wird, nicht unterhalten fühle. Ich finde sie eher langweilig und unterfordernd. Und Unterforderung ist bei mir nicht mit Lustgewinn verbunden. Spaß macht mir Musik vor allem dann, wenn sie mich anregt, Zusammenhänge zu entdecken, die mir vorher nicht aufgefallen waren. Das klappt bei mir mit reduziertem Material erheblich besser, als wenn Musik mir ihren Gefühlsüberschwang in überbordender Ausschweifung aufdrängen möchte. Wenn dies zudem von Interpreten vorgetragen wird, die mir zeigen möchten, wie ergriffen sie von sich selbst sind, ist das für mich eher ein Zeichen emotionaler Inkontinenz denn künstlerischer Reife. Auf diese Art des selbstverliebten Zurschaustellens von Genuss verzichte ich gerne, um beide Wörter einmal in den richtigen Zusammenhang zu bringen.

→ Prof. Orm Finnendahl ist Professor für Komposition und Ausbildungsdirektor für Komposition an der HfMDK. 2019 war mit einer 13-kanaligen Klanginstallation in der Schirn vertreten, die auf Basis algorithischer Verfahren entstanden ist.