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Jahrgang 12

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5,00 Euro

MAGAZIN Fร R

POLITIK UND GESUNDHEIT Gereon Nelles Multiple Sklerose: Modellregion Nordrhein S. 6

Hermann Grรถhe Gesundheitspolitik muss dem S. 12 Menschen dienen

Im Mittelpunkt:

DER MENSCH

Bettina am Orde Knappschaft setzt mehr auf Behandlungssicherheit S. 18


Caring and Curing Leben retten und Gesundheit verbessern – das ist unser Ziel Die Entwicklung bahnbrechender neuer Medikamente steht für Novartis an erster Stelle. Sie schaffen neue Behandlungsmöglichkeiten für bislang unerfüllte medizinische Bedürfnisse der Patienten. Patienten und ihre Bedürfnisse können jedoch sehr unterschiedlich sein. Deshalb bietet Novartis neben innovativen Medikamenten auch Möglichkeiten zur Krankheitsvorbeugung sowie Generika an und verbessert den Zugang zu medizinischer Versorgung.

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EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser,

in den letzten Wochen haben Tausende Flüchtlinge Deutschland erreicht. Das Leid hinter jedem einzelnen Menschen, der seine Heimat verlassen musste, verlangt uns auch in Deutschland einiges ab: Wir müssen in der Erstaufnahme mit einem schlüssigen Konzept überzeugen, die Flüchtlinge registrieren, sie medizinisch versorgen und ihnen eine Unterkunft geben. Zur medizinischen Versorgung gehören ein verbesserter Impfschutz sowie die Behandlung von Krankheiten und traumatischen Erlebnissen. Ich danke hier besonders den vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern für ihr großartiges Engagement. Die Einführung der "NRWGesundheitskarte für Asyl-

INHALT bewerber in den Kommunen" ist für die Flüchtlinge ein wichtiger Schritt in ein geordnetes Leben. Für die Kommunen bedeutet sie neben der bürokratischen Entlastung aber auch ein kaum kalkulierbares Haushaltsrisiko, das ihnen die Landesregierung aufgebürdet hat. Jede Stadt und jeder Kreis werden hier genau prüfen müssen, ob die Einführung der Gesundheitskarte tragbar ist. Wir sollten den Flüchtlingszustrom aber auch als eine Chance begreifen – insbesondere für unser Gesundheitswesen. Wir sind dringend auf Fachkräfte angewiesen und müssen Potentiale unter den Flüchtlingen für unseren Arbeitsmarkt erkennen. Das ist fair und hilft allen Beteiligten.

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Ein Land der Praxisnetze … nennt unser Autor Thomas Müller Westfalen-Lippe. Dort sind bereits 40 Prozent der niedergelassenen Ärzte organisiert

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Integrierte MS-Versorgung Im Versorgungsbereich der Ärztekammer Nordrhein erhalten MS-Patienten zusätzliche Versorgungsleistungen, die Gereon Nelles in seinem Beitrag näher erläutert

10 Chronische Erkrankungen Novartis Access vereinfacht den Therapiezugang für 15 Arzneimittel in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen 12 Gesundheitspolitik muss dem Menschen dienen Gesundheitsminister Hermann Gröhe spricht von einem „echten Kraftakt in dieser Wahlperiode in Sachen Pflege“ 14 13 Jahre Riester-Rente Unser Autor Roland Weber räumt mit allerlei Märchen und Verdrehungen rund um die 16 Millionen Riester-Verträge auf 18 Mehr Behandlungssicherheit Als erste Krankenkasse Deutschlands bietet die Knappschaft einen neuartigen Service: die elektronische Behandlungsinformation – eBI, erläutert Bettina am Orde 20 Schneller surfen mit Breitband CDU-MdB Thomas Jarzombek erläutert den aktuellen Stand der Breitband-Versorgung in Deutschland 22 Kolumne Hier schreibt unser neuer Kolumnist Gottfried Ludewig 22 Impressum

Serap Güler (38) Seit 2012 Mitglied des Landtages in NRW

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Foto Thommy Weiß/ pixelio.de

PRAXISNETZE

Fast 40 Prozent der niedergelassenen Ärzte in Westfalen-Lippe haben sich in Praxisnetzen organisiert

Westfalen-Lippe das LAND DER PRAXISNETZE Von Thomas Müller Die gezielte Förderung von kooperativen Versorgungsformen der KVWL führte dazu, dass sich folgende Erkenntnis bei westfälischen Ärzten und Psychotherapeuten gefestigt hat: Aufgaben lassen sich in einer Gemeinschaft besser lösen! Die Region Westfalen-Lippe dokumentiert die höchste Dichte an Praxisnetzen. Der Erfolg zeigt es – Praxisnetze schließen effektiv Versorgungslücken und es entstehen neue Versorgungsformen durch die gelungene Arbeit und Kooperationen.

Durch den Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigung und die stetigen Bemühungen um die zukünftige ambulante medizinische Versorgung, wird es immer wichtiger, besonders dem ärztlichen und psychotherapeutischen Nachwuchs volle Aufmerksamkeit zu schenken. Der Wandel und die Zukunftsaussichten werden besonders in vielen Umfragen unter niederlassungswilligen jungen Medizinern und auch Medizinstudenten klar. Da gehört besonders die Einzelkämpfermentalität der Vergangenheit an. Des Weiteren werden bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, planbare Arbeitszeiten und geringes

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wirtschaftliches Risiko besonders wichtig und spielen eine große Rolle bei der Entscheidung im ambulanten Bereich tätig zu werden.

15 anerkannte Praxisnetze Besonders wirkungsvoll in WestfalenLippe: Kooperationen. Die Qualität und die Effizienz der arztübergreifenden Abläufe in den Regionen steigen stetig an. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich fast 40 Prozent der niedergelassenen Ärzte in Westfalen-Lippe in Praxisnetzen organisiert haben und besonders auf einen kontinuierlichen kollegialen Austausch setzen. Das gemeinsame Arbeiten fördert nicht nur den Reiz des Arztberufes, sondern auch die Attraktivität der im Netz beteiligten Praxen. Hier sieht sich die KVWL in der Position diese Entwicklung aktiv mitzugestalten und die lange Tradition der Gründung von Praxisnetzen in unserer KV-Region fortzusetzen. Die Richtlinie zur Anerkennung von Praxisnetzen nach § 87 b Abs. 4 SGB V trat am 1. Januar 2014 in Kraft. Zur Unterstützung der bestehenden Praxisnetze und den an einer Netzgründung interessierten Ärzten und Psychotherapeuten rief die KVWL eigens die Geschäftsstelle „Neue Versorgungsformen und Pra-

xisnetze“ ins Leben. Die Geschäftsstelle steht den Ärzten auch beratend zur Seite. Die bestehenden Praxisnetze können hier u.a. ihre Anerkennung beantragen und erhalten eine Art Qualitätssiegel. Dieses macht sie zu potenziellen, attraktiven Vertragspartnern der Krankenkassen. Die Anerkennungsurkunde konnte die Geschäftsstelle bereits an sieben Kooperationen übergeben. Bis heute sind es insgesamt bereits 15 anerkannte Praxisnetze in Westfalen-Lippe. MedQN Medizinisches Qualitätsnetz Bochum MuM Medizin und Mehr eG aus Bünde Ärztenetz Lippe GmbH mit Sitz in Detmold MAN Marler Arztnetz Gesundheitsregion Siegerland GmbH GNU Gesundheitsnetz Unna ÄQW Ärztliche Qualitätsgemeinschaft Witten GmbH MedNET Med Net Borken e.V. QPG Qualitätsgemeinschaft Praxisnetz Gelsenkirchen e.V. Medis Münster Praxisnetz Paderborn RANIQ Recklinghäuser Arztnetz für Information und Qualität GbR Medicoos GmbH mit Sitz in Steinfurt Praxisnetz Warendorfer Ärzte e.V. Ärzte-Verbund Rheine e. V. Weitere Zertifizierungen sind in Vorbereitung.

Grundlage der Richtlinie Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat gemeinsam mit dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen eine Rahmenvorgabe für die Anerkennung von Praxisnetzen nach § 87b Abs. 4 GB V zum 01.05.2013 in Kraft gesetzt. Diese Rahmenvorgabe gibt den Kassenärztlichen Vereinigungen in Deutschland die Möglichkeit, eine solche Richtlinie zu entwickeln. Mit dem Versorgungsstärkungsgesetz wird diese Kann-Bestimmung in eine Muss-Bestimmung umgewandelt. So sind die KVen dazu verpflichtet, Praxisnetze anzuerkennen und finanziell zu fördern.


PRAXISNETZE

Weiterhin müssen die Praxen im Praxisnetz folgende Standards vereinbaren: Unabhängigkeit gegenüber Dritten, Qualitätsmanagement, Wissens- und Informationsmanagement. Darüber hinaus müssen Praxisnetze Versorgungsziele zu den Themen » Patientenzentrierung «, » Kooperative Berufsausübung « und » Verbesserte Effizienz « erfüllen, die sich beispielsweise durch Arbeit in Qualitätszirkeln, ein internes Fehlermanagement, sichere elektronische Kommunikation, Terminvereinbarungsregeln oder Medikamentenchecks darstellen.

falen-Lippe fördert Praxisnetze durch Beratung, Unterstützung bei Verhandlungen mit Krankenkassen, regionale Datenanalysen und vertritt die Praxisnetze auf Landes- sowie Bundesebene. Des Weiteren ist es der KVWL gelungen, eine Fördersumme in Höhe von 5 Millionen Euro mit den Krankenkassen außerhalb der Gesamtvergütung für das Jahr 2015 zu verhandeln. Dieses Budget steht nun für Praxisnetze und innovative Versorgungsmodelle zur Verfügung. Aufgrund dessen wird für die Anerkennung als Praxisnetz in der Basis-Stufe eine einmalige Förderung von 100.000 € pro Netz ausgelobt. Gleiches gilt, wenn das Praxisnetz die nächst höhere Stufe der Richtlinie erreicht. Eine etwas andere Form von Förderung stellt sich in einer Art Ideenwettbewerb der Praxisnetze dar. Die anerkannten Netze hatten die Möglichkeit innovative Projekte bis Ende August einzureichen und werden hierzu noch im Jahr 2015 eine entsprechende finanzielle Förderung erhalten. Diese Vorgehensweise ist einmalig in Deutschland und bietet den Netzen jede Möglichkeit, verschiedenste Projekte zu erproben, ohne direkt einen Vertrag mit Krankenkassen zur finanziellen Förderung abschließen zu müssen.

Förderung von Praxisnetzen Die Kassenärztliche Vereinigung West-

Fazit: Praxisnetze haben sich insbesondere in

Anforderungen an Praxisnetze Die Richtlinie beinhaltet unterschiedliche Anforderungen an die Praxisnetze. Es sind bestimmte Strukturvorgaben zu erfüllen, zum Beispiel die Anzahl der Praxen im Netz, welche sich interdisziplinär zusammensetzen, oder die Betriebsstätten, die ein zusammenhängendes Gebiet versorgen. Weitere Voraussetzungen sind eine bestimmte Gesellschaftsform, eine eigene Geschäftsstelle, ein Geschäftsführer sowie ein ärztlicher Leiter/ Koordinator. Das Netz muss seit mindestens drei Jahren bestehen und hat verschiedene Anzeigepflichten gegenüber der KVWL, sobald es anerkannt wurde.

den vergangenen 2 Jahren kontinuierlich weiterentwickelt. Das große Engagement im Sinne der Patientenversorgung ist unübersehbar. Gemeinsam mit den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Krankenkassen können Modelle zur regionalen (Voll-)Versorgung erarbeitet werden. Hier liegt die Zukunft für alle Beteiligten im Gesundheitswesen.

THOMAS MÜLLER

Thomas Müller, Betriebswirt, seit 2008 Geschäftsführer des Zentralstabs Unternehmensentwicklung der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe, Dortmund; seit 1986 in verschiedenen Positionen dort tätig, unter anderem als Geschäftsführer des Ressorts Gewährleistung und der Verwaltungsstelle Münster

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Foto: Clipdealer

MULTIPLE SKLEROSE

INTEGRIERTE VERSORGUNG

Multiple Sklerose – Modellregion Nordrhein Im Versorgungsbereich der Ärztekammer Nordrhein erhalten MS-Patienten zusätzliche Versorgungsleistungen

Von Gereon Nelles

Die integrierte Versorgung (IV) für Patienten mit Multipler Sklerose (MS) bietet seit 2006 im Versorgungsbereich der Ärztekammer Nordrhein zusätzliche Versorgungsleistungen an. Die wesentlichen Ziele des zwischen niedergelassenen Ärzten, Krankenhäusern und gesetzlichen Krankenkassen (unter Federführung der AOK Rheinland/Hamburg) geschlossenen Vertrages sind die bessere Zusammenarbeit der Ärzte in Praxis und Klinik, die Reduzierung der stationären Behandlungen und die Verbesserung des Krankheitsverlaufes. Teilnahmevoraussetzungen für die Integrierte Versorgung

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Voraussetzung für die Teilnahme an der Integrierten Versorgung ist das schriftliche Einverständnis des Patienten. Zu den Teilnahmebedingungen für niedergelassene Neurologen und Nervenärzte gehören u. a. eine mindestens 5-jährige Erfahrung in der medizinischen Betreuung von MS-Patienten, eine Mindestfallzahl von 25 Patienten pro Jahr, Bereitschaft zur standardisierten Dokumentation, Möglichkeit der Liquordiagnostik durch ein zertifiziertes Labor, Zusammenarbeit mit Neuroradiologen und Urologen, Bereitschaft zur ambulanten Schubtherapie und Durchführung von Schulungsmaßnahmen. Auch

für teilnehmende Kliniken wurden Zugangsvoraussetzungen analog zu denen für ambulante Praxen definiert. Zusätzlich zu den Kriterien für Praxen sollten mindestens 100 MS-Patienten (stationäre Einzelfälle) pro Jahr behandelt werden. Eine Eskalationsbehandlung für alle eingeführten MS-Therapeutika nach den aktuell gültigen Leitlinien muss in der Klinik zusätzlich möglich sein. Beigetreten sind dem Vertrag im Kammerbereich Nordrhein bislang knapp 2000 Patienten, 12 Neurologische Kliniken und 126 Ärzte/Ärztinnen für Neurologie oder Nervenheilkunde.


MULTIPLE SKLEROSE Leistungen der Integrierten Versorgung

nehmen an der integrierten Versorgung nach §140 SGB V nicht teil.

In der integrierten Versorgung werden - zusätzlich zur Regelversorgung nur solche Leistungen oder Leistungskomplexe erbracht und vergütet, die nicht Bestandteil der gesetzlichen Regelversorgung sind. Dazu gehören z.B. spezielle Schulungsprogramme für Patienten sowie Gruppentherapien zur Krankheitsverarbeitung, Stressbewältigung und Fatiguemanagement, die auf die vielfältigen und komplexen funktionellen Beeinträchtigungen und Teilhabestörungen ausgerichtet sind. Für sie zeit- und personalintensive Behandlung von akuten MS-Schüben oder die Einstellung und Überwachung von Immuntherapien gibt es Behandlungspauschalen für den ambulanten Bereich. Alle Leistungen – mit Ausnahme der Behandlungspauschale – können sowohl im stationären wie im ambulanten Bereich erbracht werden. Die Vergütung der IV-Leistungen erfolgt zusätzlich zum Regelleistungsvolumen. Privat Versicherte

Behandlungspfade Die Leistungserbringung erfolgt über definierte Behandlungspfade. Die Behandlungspfade unterscheiden zwischen planbaren Leistungen und unvorhersehbaren Leistungen. Zu den planbaren Leistungen zählt eine jährliche große Jahreskonsultation mit Erhebung eines klinischen Status und Daten zur Lebensqualität. Die standardisierte Dokumentation einmal jährlich umfasst krankheitsbezogene Daten mit einem Minimaldatensatz (Minimal Data Set) und Daten zur Lebensqualität. Bei vielen Patienten besteht aufgrund von Komplikationen der Bedarf an weiteren Kontakten. In dem Behandlungspfad werden diese Krankheitskomplikationen in vier Gruppen eingeteilt: Funktionsverschlechterungen, Therapiekomplikationen, neuropsychologische Störungen und spezielle psychosoziale Probleme im häuslichen, familiären

und beruflichen Umfeld. Die Berücksichtigung der neuropsychologischen und psychosozialen Aspekte ist für die Lebensqualität der Patienten von besonderer Wichtigkeit, Ergebnisse Auf Basis der Routinedaten der AOK Rheinland/Hamburg aus den Jahren 2008 bis Mitte 2011 erfolgte ein Vergleich von medizinischen, ökonomischen und Prozess-Parametern zu einer Kontrollgruppe aus der Regelversorgung. Ein wichtiges Ergebnis ist die Abnahme der akutstationären Versorgung bei IV-Patienten (Abbildung). Sowohl für allgemein-medizinische Erkrankungen als auch für MS-bezogene Komplikationen wurden Patienten in der Integrierten Versorgung bisher nur etwa halb so häufig stationär aufgenommen wie Patienten, die an der Integrierten Versorgung nicht teilnahmen. Gründe für eine stationäre Behandlung bei MS-Patienten sind neurologischen Funktionsstörungen, Infektionskrankheiten, psychopatho-

Ein wichtiger Grund für die seltenere stationäre Behandlung ist die kontinuierliche und regelmäßige Information der Patienten durch ein Schulungsprogramm

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MULTIPLE SKLEROSE logische Symptome wie Depression oder Fatigue. Das Erkennen und die Behandlung dieser Komplikationen werden in den Behandlungspfaden der Integrierten Versorgung klar geregelt. Die Behandlungspfade geben Entscheidungshilfen, wann und unter welchen Bedingungen MS-Komplikationen ambulant behandelt werden müssen und wann eine stationäre Einweisung sinnvoll ist. Ein höherer Wissensstand der Patienten über ihre Erkrankung fördert die Souveränität und befähigt Patienten, sich aktiv und kompetent bei Entscheidungen, wie z. B. der Frage ob eine ambulante oder stationäre Behandlung erfolgen soll, einzubringen.

lung mit monoklonalen Antikörpern sind in besonderem Maße räumliche und personelle Ressourcen notwendig.

Ausblick

Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. Gereon Nelles NeuromedCampus, St. Elisabeth Krankenhaus Köln Werthmannstr. 1c, 50935 Köln

Als besonders belastend werden von MSPatienten die Beeinträchtigungen der körperlichen Rollenfunktion, Fatigue (Mangel an Energie) und die allgemeine Gesundheitswahrnehmung empfunden. Diese Beobachtungen zeigen, dass die Betreuung von psychosozialen Teilhabestörungen, spezifische Therapien von Fatigue und neuropsychologischen Störungen optimiert werden muss. Deswegen wurde 2014 in Zusammenarbeit mit der Deutschen Multiplen Sklerose Gesellschaft, die seit 2006 aktiv an dem Schulungsprogramm und an der Weiterentwicklung des IV-Vertrages beteiligt ist, ein modulares Behandlungskonzept für die Integrierte Versorgung erarbeitet, das auf diese speziellen Beeinträchtigungen bei der Teilhabe gezielt eingeht. Eine weitere Anpassung der IV-Leistungen ist bei der leitlinienbasierten Immuntherapie notwendig. Die pharmakologische Therapie richtet sich heute wesentlich nach der Aktivität der Erkrankung: Behandlungsziel ist nicht mehr nur die Abnahme der Schubaktivität, sondern möglichst die Freiheit von Schubaktivität, Krankheitsprogression, neuropsychologischen Komplikationen und MRT-Aktivität. Alle dafür in Frage kommenden medikamentösen Therapien sind in den letzten 5 Jahren zunehmend komplex geworden und erfordern ein besonderes Sicherheitsmonitoring. Insbesondere für die Behand-

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Literatur Nelles G et al. Integrierte Versorgung Multiple Sklerose – Modellregion Nordrhein. 2-Jahres Verlaufsbeobachtung. Aktuelle Neurologie 2010, 37:170177. Nelles G et al. Multiple Sklerose - Was bringt die integrierte Versorgung wirklich? Neurotransmitter 2013; 24(5).

GEREON NELLES

Liebe, die bleibt Ein Testament für Menschen, die Hilfe brauchen Ein Testament zugunsten der Malteser hilft, Menschen zu retten, Kranke zu heilen, Sterbenden beizustehen und die Armut in der Welt zu lindern. Es ist gelebtes Mitgefühl und Liebe, die bleibt. Wie Sie ein Testament machen? Antwort gibt Ihnen die kostenlose TestamenteBroschüre der Malteser. Fordern Sie sie noch heute an. Nachlässe für die Malteser sind von der Erbschaftssteuer befreit und kommen zu 100 % der Malteser Arbeit zugute. Malteser Hilfsdienst e.V., Zentrale Frau Monika Willich Kalker Hauptstr. 22-24 . 51103 Köln Tel. (02 21) 98 22-515 E-Mail: monika.willich@malteser.org www.malteser-spenden.de/testamente

Prof. Dr. med. Gereon Nelles (50) ist Neurologe und seit 2004 in freier Praxis in Köln tätig. Er studierte und promovierte an der Universität zu Köln. Hier legte er auch das US-Staatsexamen ab. Seine Facharztausbildung erhielt er in Leverkusen, Solingen und Boston. Er arbeitete dann wissenschaftlich und als Oberarzt an der Neurologischen Universitätsklinik in Essen, wo er 2003 habilitierte und 2011 zum außerplanmäßigen Professor berufen wurde. Er leitet in Köln den Qualitätszirkel Multiple Sklerose und hat in dieser Tätigkeit einen Vertrag zur integrierten Versorgung Multiple Sklerose entwickelt, der 2006 unter Federführung der AOKRheinland unterzeichnet wurde. Prof. Nelles ist Mitglied im Vorstand des Berufsverband Deutscher Nervenärzte und im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Neurologie

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CHRONISCHE ERKRANKUNGEN

Novartis Access vereinfacht Therapiezugang für 15 Arzneimittel in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen

Es sind ehrgeizige Ziele zur nachhaltigen Entwicklung (ZNE), die die Vereinten Nationen als Leitschnur für die globalen Entwicklungsbemühungen der nächsten 15 Jahre verabschiedet haben: Erstmals haben es sich die Regierungen weltweit zur Aufgabe gemacht, die Zahl der Todesfälle, die durch chronische Krankheiten wie Krebs, Herzerkrankungen und Diabetes verursacht werden, zu verringern – und dies angesichts eines rapiden Bevölkerungswachstums und immer schneller alternder Gesellschaften. Wie diese Ziele erfolgsversprechend angegangen werden können, zeigt die Ende September in New York vorgestellte Novartis Access der Schweizer Novartis-Gruppe. Das Unternehmen stellt Regierungen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und anderen Gesundheitsversorgern des öffentlichen

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Sektors in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen ein Portfolio von 15 Arzneimitteln zur Behandlung von chronischen Erkrankungen zur Verfügung – für 1 USD pro Behandlung und Monat. In den letzten zwölf Jahren ist die Weltbevölkerung um eine Milliarde Menschen gewachsen; bis 2030 werden etwa eine weitere Milliarde Menschen hinzukommen. Damit wird die Bevölkerungszahl laut UN-Schätzungen auf 8,5 Milliarden steigen. Den größten Sprung macht dabei die Altersgruppe der über 60-jährigen: Bis 2030 wird diese Bevölkerungsgruppe um ein Drittel ansteigen, womit sie um 500 Millionen auf 1,4 Milliarden Menschen vergrößern dürfte. Hinzu kommt, dass ältere Leute häu-

figer chronische Krankheiten entwickeln. Auf diese Krankheit entfallen inzwischen 63 Prozent aller weltweiten Todesfälle. Langfristig geht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) davon aus, dass der Anteil in den nächsten zehn Jahren 70 Prozent erreichen wird. Die meisten Todesfälle werden dann in den Entwicklungsländern auftreten. Schon heute sterben jährlich rund 28 Millionen Menschen in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen an chronischen Erkrankungen – das sind drei von vier aller weltweit durch chronische Erkrankungen verursachten Todesfälle. Verstärkt wird dies dadurch, dass die Gesundheitssysteme der Entwicklungsländer schon jetzt häufig an ihre Grenzen stoßen. Es fehlen Medikamente, Res-


CHRONISCHE ERKRANKUNGEN heitspersonal in der Diagnose und Behandlung von chronischen Erkrankungen geschult und die Verteilsysteme für Arzneimittel gestärkt werden. Gleichzeitig stellt Novartis Access Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen 15 patentgeschützte Medikamente und Generika der Novartis-Gruppe zur Verfügung. Basis für das ausgewählte Portfolio sind die der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der WHO und die Liste der in diesen Ländern am häufigsten verschriebenen Medikamente. Nach dem Startschuss in Kenia Mitte Oktober sollen bis Ende 2015 Vietnam und Äthiopien folgen. Langfristig möchte Novartis das Portfolio in 30 Ländern einfügen, dies ist von der Nachfrage abhängig. Nach Informationen von Novartis; weitere Informationen unter www.novartis.de

sourcen und Kenntnisse, um chronisch kranke Patienten zu behandeln, die möglicherweise eine jahre- oder jahrzehntelange Therapie benötigen. In Äthiopien, einem Land mit rund 97 Millionen Menschen, gibt es gerade einmal vier Onkologen. Gleichzeit gilt es in diesen Ländern, die doppelte Belastung durch beispielsweise Infektionskrankheiten wie Malaria, Tuberkulose und HIV/AIDS zu bewältigen. Hier setzt Novartis Access an: In Zusammenarbeit mit Regierungen, Nichtregierungsorganisationen und anderen Organisationen im öffentlichen Sektor soll gemeinsam das Bewusstsein für die Krankheiten geschärft, das Gesund-

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GESUNDHEITSPOLITIK

Gesundheitspolitik muss dem Menschen dienen Hermann Gröhe: Einen echten Kraftakt haben wir uns in dieser Wahlperiode in der Pflege vorgenommen

Von Hermann Gröhe, MdB

Eine gute flächendeckende Gesundheitsversorgung, ein gleichberechtigter Zugang zu Pflegeleistungen und eine solide finanzielle Grundlage sind unsere Eckpfeiler für ein zukunftsfestes Gesundheitswesen. In den vergangenen zwei Jahren haben wir bereits viel erreicht. Mit der Krankenhausreform machen wir die Qualität der Leistung zum entscheidenden Maßstab der Krankenhausversorgung. Wir stärken die Spitzenmedizin und sorgen für mehr Pflegepersonal am Krankenbett. Das Versorgungsstärkungsgesetz verbessert die Versorgung überall in Deutschland und gerade im ländlichen Raum. Beide Gesetze tragen außerdem zu einer wei-

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teren Vernetzung der ambulanten und stationären Versorgung bei. Diesen wichtigen Zielen dient auch das Gesetz für die sichere digitale Kommunikation und Anwendung im Gesundheitswesen – kurz E-Health-Gesetz. Es schafft endlich eine digitale „Autobahn“. So können Ärzte und Krankenhäuser künftig selbst über größere Distanzen durch Telemedizin zusammenarbeiten. Und schnell abrufbare Notfalldaten und ein Medikationsplan erhöhen die Sicherheit für Patienten – das kann Leben retten! Mit dem Präventionsgesetz stärken wir die Gesundheitsförderung in allen Lebensbereichen, von der Kita über die Schulen und den Arbeitsplatz bis in die Altenpflege. Damit wurde eine jahrelange Debatte zu einem guten Ergebnis geführt.

Echter Kraftakt Einen echten Kraftakt haben wir uns in dieser Wahlperiode in der Pflege vorgenommen. Mit zwei Pflegestärkungsgesetzen weiten wir die Hilfe für Pflegebedürftige und pflegende Angehörige spürbar aus und stärken die Pflegekräfte. Zudem führen wir endlich den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ein, über den so lange diskutiert wurde. Damit steht die Pflegeversicherung auf einer völlig neuen Grundlage. Alle Pflegebedürftigen – auch Demenzkranke – erhalten künftig gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung. Und vor allem: Die Pflege wird sich stärker am ganz persönlich Unterstützungsbedarf ausrichten. Denn gute Pflege gibt es nicht von der Stange. Sie muss wie ein Maßanzug auf die persönliche Situation zugeschnitten sein. Wichtig ist: Die beschriebenen gesetzlichen Neuerungen sind kein Selbstzweck, sie bedeuten eine echte Verbesserung der Lebensqualität der Menschen in unserem Land. Denn Gesundheitspolitik muss dem Menschen dienen! Deshalb muss auch die Menschlichkeit Grundsatz unseres Handelns sein. Das gilt auch für die Versorgung und Begleitung am Lebensende. Wir dürfen schwer kranke und sterbende Menschen nicht allein lassen. Sie müssen die Gewissheit haben, gut versorgt und betreut zu werden – bis zuletzt. Was wir an guter medizinischer, pflegerischer und menschlicher Begleitung schwer kranker Menschen heute leisten können, das muss überall in unserem Land angeboten werden! Deshalb wird die Hospiz- und Palliativversorgung deutlich ausgebaut.

Eine sorgsam abwägende Gesundheitspolitik Medizinischer Fortschritt muss allen zugutekommen. Dabei ist entscheidend, den Menschen und den Nutzen für die Patienten in den Mittelpunkt zu stellen. Und da muss gelten: Leistungen und Produkte, die jemand dringend braucht, muss sie oder er auch bekommen – unabhängig vom Einkommen, vom Alter oder vom Wohnort. Das heißt ganz


Hermann Gröhe: Medizinischer Fortschritt muss allen zugutekommen

konkret: Es darf nicht sein, dass jemand, der auf dem Land lebt, weniger gut versorgt wird als jemand, der in der Stadt lebt. Und es darf auch nicht sein, dass neue technische Möglichkeiten von Versicherungsunternehmen genutzt werden, um Rosinenpickerei zu Lasten von älteren und kränkeren Versicherten zu betreiben. Mehr denn je müssen wir politisch darauf achten, dass die Grundlagen unseres solidarischen Gesundheitssystems nicht unterlaufen und geschwächt, sondern erhalten und gestärkt werden! Das erreichen wir nur, wenn wir die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens nachhaltig sichern. Unsere leistungsstarke Gesetzliche Krankenversicherung ist finanziell solide aufgestellt. In der Jahresmitte 2015 verfügen die Gesetzliche Krankenversicherung und der Gesundheitsfonds über Reserven von rund 24 Milliarden Euro. Das ist auch Ergebnis einer sorgsam abwägenden Gesundheitspolitik, die Einnahmen und Ausgaben gleichermaßen im Blick hat. Das gibt uns die Möglichkeit, lange notwendige Reformen zur Verbesserung der Versorgung jetzt auf den Weg zu bringen. Damit Leistungsauswei-

tungen im Sinne der Patienten möglich sind, müssen die Mittel gleichzeitig umsichtig eingesetzt werden. Schon zu Beginn der Wahlperiode haben wir beispielweise das Preismoratorium bei den Arzneimitteln verlängert und den Herstellerabschlag erhöht. Mit diesen Maßnahmen haben wir die Gesetzliche Krankenversicherung um jährlich 650 Millionen Euro entlastet.

Menschlichkeit und Wirtschaftlichkeit keine Gegensätze Ein leistungsstarkes solidarisches Gesundheitswesen braucht eine starke Wirtschaft und eine gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. In Deutschland haben wir derzeit Rekordbeschäftigung, die Arbeitslosigkeit geht weiter zurück. Viele beneiden uns um diese Situation. Sie ist aber auch das Ergebnis einer starken Wettbewerbsfähigkeit mit zukunftsweisenden Produkten, hoher Produktivität und international wettbewerbsfähigen Löhnen. Deshalb war es richtig, den Arbeitgeberbeitrag einzufrieren. Mit einer Politik für sichere und gut bezahlte Arbeitsplätze stärken wir die Grundlagen unserer sozialen Sicherungssysteme.

Menschlichkeit und Wirtschaftlichkeit sind keine Gegensätze. Derzeit beschäftigt uns die Versorgung der vielen von Krieg und Terror gezeichneten Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchen. Die Männer, Frauen und Kinder brauchen unseren Schutz und unsere Hilfe. Natürlich ist das eine große Herausforderung für die ganze Gesellschaft, zugleich ist unser Land leistungsfähig genug, um diese Aufgabe gut zu bewältigen. Die vielen ehrenamtlichen Helfer – darunter Ärzte und Pflegekräfte - die mit anpacken und wichtige Hilfe leisten, stehen für die Menschlichkeit, die unsere Gesellschaft so stark macht. Gesundheitspolitische Aufwendungen sind immer zugleich Nutzen für den Einzelnen und Investitionen in die Zukunft: Prävention kann Patientinnen und Patienten eine spätere kostspielige Behandlung ersparen; Rehabilitation auch im hohen Alter kann eine Pflegebedürftigkeit hinauszögern; und sektorübergreifende Zusammenarbeit zwischen Hausärzten, Fachärzten und Krankenhäusern kann belastende Mehrfachuntersuchungen im Behandlungsverlauf überflüssig machen. All dies verbessert die Qualität der Patientenversorgung und sichert gleichzeitig die wirtschaftlich nachhaltige Ausgestaltung unseres Gesundheitswesens.

HERMANN GRÖHE Foto: Bundesregierung/ Steffen Kugler

Foto: Bundesregierung/ Stephan Klonk

GESUNDHEITSPOLITIK

Hermann Gröhe (51), MdB, ist seit 2013 Bundesminister für Gesundheit

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Foto: Vista/ pixelio.de

RIESTER-RENTE

13 Jahre Riester-Rente – THEORIE, PRAXIS UND MÄRCHEN Von Roland Weber

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hatte sich vor Wochen wieder einmal auf die Riester-Rente eingeschossen, und viele Medien haben kritiklos darüber berichtet. Das ist für Roland Weber, Mitglied der Vorstände der Debeka Versicherungen und streitbarer Vertreter der Deutschen Aktuarvereinigung, Anlass, genauer hinzuschauen. Er stellt fest: die Ergebnisse der Studie sind fragwürdig. Und Zahlen aus der Praxis belegen, dass die Riester-Förderung dort ankommt, wo sie gebraucht wird: bei den Geringverdienern. Ein Doktorand schreibt an der Freien Universität (FU) Berlin an seiner Dissertation. Es geht um die Auswirkungen

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der Riester-Rente auf die Einkommensverteilung. Bei 16 Millionen Riester-Verträgen in Deutschland sicherlich ein interessantes Thema. Der zuständige Doktorvater verfügt über einen Wikipedia-Eintrag, demzufolge er den Kapitalismus an sich für „ineffizient, ungerecht und entfremdend“ hält. Er trete eher für einen „Aktienmarktsozialismus“ ein, in dem das eigentliche Prinzip der Marktwirtschaft erhalten bliebe, das Privateigentum an Produktionsmitteln jedoch stark beschnitten würde. Man kann daher schon ahnen, zu welchem Ergebnis die Doktorarbeit kommen wird: Die Riester-Rente ist ineffizient, sorgt für zusätzliche Gewinne bei den ohnehin schon gut Betuchten und

führt zu einer Zunahme des Anteils der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt. Nun bewegt eine Doktorarbeit selten die Republik, es sei denn, sie stammt von einem prominenten Politiker und entpuppt sich im Nachhinein zumindest stellenweise als Plagiat. Aber in Berlin ist alles möglich. Dort gibt es bekanntlich das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das sich schon in der Vergangenheit in Sachen Riester-Rente hervorgetan hat.

Kapitalismus-Kritiker schlagen zu Mangels eigener Kompetenz hatte man vor vier Jahren den Lobbyisten und Ver-


RIESTER-RENTE

Jetzt übernahm das DIW zusammen mit der FU das Patronat über die Dissertation, und ihre Presseveröffentlichung vom 7. Juli schlug erneut ein wie eine Bombe. „Wer hat, dem wird gegeben – die Riester-Rente nützt vor allem den Wohlhabenden“, textete die Süddeutsche, „Studie: Riester-Rente nutzt vor allem Besserverdienenden“ das Handelsblatt. Die Stuttgarter Zeitung schrieb vornehm „Wohlhabende profitieren am meisten von Riester-Rente“, die taz knapp und klar „Riestern nützt nur Reichen“. Die Reaktion aus dem oppositionellen Lager kam sofort. Besonders scharf schoss erwartungsgemäß die Linke: „Linken-Chefin Katja Kipping kritisierte die Riester-Rente als ‚sozialpolitisch unsinnig‘. Das Modell sei eine Verschwendung von Steuergeld. Sie forderte, ausschließlich auf die gesetzliche Rentenversicherung zu setzen und deren Niveau wieder anzuheben.“ (Die Welt, 08.07.). Nicht ganz so hart die Grünen: „Der rentenpolitische Sprecher der Grünen, Markus Kurth, nannte die Riester-Rente in ihrer bisherigen Form gescheitert … Kurth forderte, die private Altersversorgung zu vereinfachen. Die Grünen wollen ein öffentlich-rechtlich verwaltetes Basisprodukt.“ (Die Welt, 08.07.). Die FAZ fasste zusammen: „Opposition hält Riester für gescheitert.“ Klappe zu, Affe tot.

Als Erstes stellt man fest, dass weder der Doktorand noch die FU oder das DIW eigene Daten über Riester-Sparer haben. Also griffen sie auf die Panelstudie „Private Haushalte und ihre Finanzen“ (PHF) der Deutschen Bundesbank zurück. Dieses Panel umfasste im vergangenen Jahr immerhin 4.500 zufällig ausgewählte Haushalte, bei seiner ersten Erhebung in den Jahren 2010/2011, die der Doktorand in seiner Studie offensichtlich verwandte, waren es 3.565. Die Bundesbank sagt selbst über das Panel: „Wohlhabendere Haushalte sind überproportional erfasst worden, um die Vermögenszusammensetzung und -verteilung besser analysieren zu können“ (Deutsche Bundesbank, Pressenotiz vom 31.03.2013) – inwiefern diesem Aspekt in der Dissertation Rechnung getragen wird, ist unklar. In einem Teil dieser Haushalte gab es Riester-Sparer, die angaben, wie hoch ihr Einkommen ist und welchen Beitrag sie für die Riester-Rente aufbringen. In einem Teil dieser Haushalte gab es aber auch Riester-Sparer, die nichts darüber angaben. Für diese Personen versuchte der Doktorand entsprechende Werte annäherungsweise durch das recht komplexe Verfahren der Multiplen Imputation zu ermitteln, er erhielt also hypothetische Werte.

Daten der mehr oder weniger repräsentativen Teilmenge der Riester-Sparer simulierte der Doktorand dann die Höhe der Steuerlast dieser Haushalte – und die Höhe ihrer Entlastung durch die Abzugsfähigkeit der Beiträge zur Riester-Rente. Zunächst stellt er fest, dass 61,3 % der Haushalte seines Panels Riester-berechtigt sind. Nur in 17 % aller Haushalte des Panels gibt es Personen, die Riester-Förderung in Anspruch nehmen. Jetzt sind wir offensichtlich bei nur noch 600 Haushalten angekommen.

Auf der Basis dieser teils durch Befragungen, teils durch Hypothesen ermittelten

Der Doktorand kommt dann zu dem Schluss, dass die Riester-Rente Haushalte

Harte Landung in der realen Welt In der realen Welt sind 40 % der Riester-Berechtigten auch tatsächlich Riester-Sparer, beim PHF nur 27 %. Die reale Welt spielt aber im Modell keine Rolle. Aus der Vergleichsmenge des PHF wurden jetzt noch Haushalte eliminiert, die für die Riester-Förderung angeblich nicht infrage kommen, im Wesentlichen Haushalte mit Personen über 63 Jahren; dadurch steigt das Durchschnittseinkommen der verbleibenden Gruppe. Anschließend analysiert der Doktorand die Verteilungseffekte der Riester-Förderung, die aus Zulagen und Steuerentlastung besteht, im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, genauer gesagt: der Gesamtmenge des PHF.

Foto: Rainer Sturm/ pixelio.de

sicherungskritiker Axel Kleinlein als Experten verpflichtet und kam nach zehn Jahren Riester-Rente zu der wissenschaftlichen Erkenntnis: „Riestern ist oft nicht besser, als das Geld in den Sparstrumpf zu stecken.“ Kleinlein und das DIW kamen damit in den Medien groß raus, es folgten heftige Diskussionen und harsche Kritik. Schließlich rief das DIW die Beteiligten zu einem als „Krisengipfel“ (manager magazin) hochstilisierten Workshop zusammen, der natürlich auch keine Einigung brachte. Doch das DIW und Kleinlein hatten erreicht, was sie wollten: Das Riester-Neugeschäft kam fast zum Erliegen.

Ein Modell mit Hypothesen, Imputationen und Simulationen Allen, die so schnell urteilen, sei ein Blick in die Studie empfohlen – und nicht nur auf die Schlagzeilen.

Wir haben erlebt, wie eine kleine Studie ein großes Medienecho fand

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M. Großmann/ pixelio.de

RIESTER-RENTE dienen. Ähnliche Ergebnisse liefert die Zulagenstatistik der gesetzlichen Rentenversicherung, die der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft ausgewertet hat. Anhand dieser Werte wird deutlich, dass die staatlich geförderte Riester-Rente insbesondere von förderberechtigten Personen der unteren Einkommensgruppen genutzt wird. Förderberechtigte mit einem jährlichen Bruttoeinkommen zwischen 10.000 und 30.000 Euro erhalten aktuell im Debeka-Bestand eine durchschnittliche staatliche Zulage von über 300 Euro p. a. Bei Mitgliedern mit einem Einkommen von mehr als 50.000 Euro p. a. fällt die durchschnittliche Zulage nicht höher, sondern um 17 % geringer aus − und das trotz höherer Eigenbeiträge. Soweit die echten Zahlen. Die Versicherer wissen jedoch nichts über die Zusammensetzung und das Gesamteinkommen des Haushaltes, in dem der Förderberechtigte aktuell lebt.

Über 35 Prozent ihrer Riester-Versicherten verfügen über ein Jahresbruttoeinkommen von maximal 10.000 Euro

mit hohem Einkommen stärker als Geringverdiener bezuschusst. Immerhin kommt er dann auch zu dem Ergebnis, dass die Riester-Förderung keinen relevanten negativen Einfluss auf die Einkommensverteilung hat. Diese Erkenntnis ging an den Journalisten, die über die Studie berichteten, allerdings völlig vorbei.

Fakten statt Hypothesen Wir haben also erlebt, wie eine kleine Studie ein großes Medienecho fand. Und wie die auf Schlagzeilen verkürzten, durchaus fragwürdigen Ergebnisse der Studie instinktiv von interessierter Seite benutzt wurden, eine Kehrtwende in der Rentenpolitik zu fordern. Und das alles auf der Basis von Stichprobenbefragungen, Simulationsrechnungen und Hypothesen. Warum nicht auf der Basis von echten Zahlen?

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Weder der Doktorand noch sein Doktorvater noch die FU noch das DIW hat die Versicherer gefragt. Warum nicht? Aus Angst vor der Realität, wo es sich doch so viel besser in Hypothesen lebt? Die Versicherer verfügen zumindest über einige Fakten. Sie wissen, wer Riesterversichert ist, welche Zulage er bekommt, welches Einkommen er hat – und müssen das nicht simulieren. So ist z. B. die Debeka mit mehr als 800.000 RiesterRentenverträgen einer der größten Anbieter am Markt. Über 35 Prozent ihrer Riester-Versicherten verfügen über ein Jahresbruttoeinkommen von maximal 10.000 Euro. Fast ebenso viele verdienen zwischen 10.000 und 30.000 Euro brutto im Jahr. Das ergibt zusammen 70 Prozent der Riester-Sparer, deren Einkommen unter 30.000 Euro brutto liegt. Nur knapp 11 Prozent geben an, mehr als 50.000 Euro brutto jährlich zu ver-

Doch wer gerade in welchem Haushalt lebt – das ist heutzutage eine Momentaufnahme. Und die taugt nicht als Prognose, wem im Alter die Riester-Rente nützt. Wenn eine teilzeitbeschäftigte, weil Kinder erziehende Frau riestert, hat sie aktuell vielleicht einen Ehepartner, der überdurchschnittlich verdient. Wenn die Ehe auseinandergeht – was in der Hälfte aller Fälle geschieht −, lebt sie wahrscheinlich nicht mehr in einem Haushalt, den das DIW zu den „Besserverdienenden“ zählt. Die Zulage und die daraus fließende Rente bleiben ihr jedoch ein Leben lang erhalten. Ja, die steuerliche Absetzbarkeit der Riester-Beiträge nützt (in der Einzahlungsphase) Besserverdienenden mehr als Geringverdienern. Doch Wir haben also erlebt, wie eine das hat mit der kleine Studie ein großes MedienRiester-Rente echo fand. Und wie die durchaus nichts zu tun, fragwürdigen Ergebnisse der Studas ist funda- die von interessierter Seite bementaler Be- nutzt wurden, eine Kehrtwende in standteil jedes der Rentenpolitik zu fordern auf progressiven der Basis von StichprobenbefraSteuersystems. gungen, Simulationsrechnungen Wer mehr ver- und Hypothesen. Warum nicht

auf der Basis von echten Zahlen?


dient, zahlt mehr Steuern und kann auch höhere Beträge steuerlich absetzen. In der Rentenphase müssen die „Reichen“ allerdings auch mehr Steuern auf ihre Riester-Rente zahlen als Menschen, die weniger verdienen. Die Alternative, die flat tax, ist mit Sicherheit nicht im Interesse des DIW. Wie wäre es mit dem nächsten Aufschrei des DIW nach dem Motto: „Skandal! Lohnsteuerjahresausgleich nützt vor allem den Reichen – Geringverdiener gehen leer aus!“

Foto: K.-U. Gerhardt/ pixelio.de

RIESTER-RENTE

Die Realität auf den Kopf gestellt Zusammenfassend kann festgestellt werden: Die DIW-Studie beruht auf der Befragung einer kleinen Zahl von Haushalten, vielen hypothetischen Annahmen und komplexen Simulationsrechnungen, die die Wirklichkeit nur unvollständig abbilden. Die der Presse präsentierten Ergebnisse stellen die Realität sogar auf den Kopf. Die Studie ist zudem eine Momentaufnahme, eine Querschnittsbetrachtung, und lässt die Längsschnittanalyse (oder -prognose) völlig außen vor: inwieweit es gelingt, das politische Ziel der Riester-Rente zu erreichen, nämlich den Menschen im Alter eine zusätzliche Rente zur Verfügung zu stellen. Hierzu schreibt der Doktorand: Seine Analysen auf einen lebenslangen Gesamtrahmen auszuweiten, sei eine vielversprechende Aufgabe für künftige Forschungen. Für eine Doktorarbeit ist das sicherlich angemessen, für einen politischen Rundumschlag aber völlig ungeeignet. Wieder einmal hat beim DIW die ideologische Voreingenommenheit über die wissenschaftliche Seriosität gesiegt. Interessanterweise war es die gesetzliche Rentenversicherung, die eine Woche nach der DIW-Propaganda ihr Pressefachseminar nutzte, um den überraschten Journalisten Positives über die Riester-Rente zu berichten: „Geringverdiener sowie Versicherte mit mehreren Kindern bekommen für ihre Beitragszahlungen später überdurchschnittlich viel heraus“, meldete dann am 15. Juli die FAZ, „Riester-Vertrag kann sich doch lohnen“ die Süddeutsche.

Die passende Antwort zum wiederholten Riester-Bashing durch das DIW lieferte Walter Riester selbst

Die passende Antwort zum wiederholten Riester-Bashing durch das DIW lieferte Walter Riester selbst, wie das Versicherungsjournal am 13. Juli über eine Diskussionsveranstaltung des Deutschen Instituts für Altersvorsorge berichtete: „In keinem anderen Land würden die Menschen, die Rücklagen für ihr Alter bilden wollen, so verunsichert, sagte Riester. Er sei entsetzt, wenn über eine sogenannte Riester-Falle gesprochen werde. Millionen Menschen würden verunsichert. Und die Riester-Rente sei eben kein Produkt der Kapitalanlage, sondern im Endergebnis ein Versicherungsprodukt, da auch bei Bank- und Fondssparplänen die Ersparnisse ab dem 85. Lebensjahr in eine Rentenversicherung umgewandelt würden.“ Einmal in Fahrt gekommen, stellte Riester auch sinnvolle Verbesserungen „seiner“ Rente vor: Der Kreis der Förderberechtigten solle um die Selbstständigen erweitert werden, die komplizierte zentrale Zulagenverwaltung auf die Finanzämter übertragen und die Förderhöchstgrenze dynamisiert werden. So klar und sachlich hätte ich das auch gerne mal von einem um seine Reputation bemühten Wirtschaftsforschungsinstitut gehört.

ROLAND WEBER

Roland Weber ist seit 2002 Mitglied der Vorstände der Debeka Versicherungen. Dort ist er verantwortlich für die Bereiche Krankenversicherung, Lebensversicherung und Pensionskasse. Außerdem ist er u. a. Mitglied im Ausschuss Kranken- und Lebensversicherung der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) sowie im Ausschuss für Mathematik und Statistik des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Beim Verband der privaten Krankenversicherung e.V. (PKV) ist er Mitglied im mathematisch-statistischen Ausschuss und Mitglied im Ausschuss für Betriebstechnik.

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Foto: Berggeist/ pixelio.de

KNAPPSCHAFT

Die knappschaftlich Versicherten sind im Durchschnitt 57 Jahre alt und nehmen rund 750.000-mal im Jahr Hilfe in Akutkrankenhäusern in Anspruch

Knappschaft setzt auf mehr Behandlungssicherheit: eBI. Von Bettina am Orde Die knappschaftlich Versicherten sind im Durchschnitt 57 Jahre alt und liegen damit 13 Jahre über dem Durchschnitt der Versichertenstruktur der gesetzlichen Krankenversicherung insgesamt. Damit einhergehend nehmen sie rund 750.000-mal im Jahr Hilfe in Akutkrankenhäusern in Anspruch. Neben der stationären Versorgung wird der Einzelne im Durchschnitt von sieben niedergelassenen Ärzten betreut und nimmt ca. neun Wirkstoffe gleichzeitig ein. Multimorbidität und Behandlung durch mehrere Ärzte bergen bei diesen Patienten ein hohes Risiko für Informationsverluste, die zu einer signifikanten Gefährdung bei der Behandlung führen können.

Aus den Abrechnungsdaten der Krankenversicherungen können mit intelligenten Algorithmen behandlungsrelevante Infor-

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mationen extrahiert werden. Damit kann ein Beitrag geleistet werden, wichtige Informationen des Patienten auf Knopfdruck zur Verfügung zu stellen. So können Abrechnungsdaten zukünftig den Notfalldatensatz und einen behandlerübergreifenden Medikationsplan füllen und auf diese Weise den Aufwand bei Ärzten und Versicherten minimieren. Als erste Krankenkasse Deutschlands bietet die Knappschaft daher einen einzigartigen Service: die elektronische Behandlungsinformation – kurz eBI. Ärzte und Patienten profitieren durch eine deutliche Zunahme an Qualität und Sicherheit. Über 190.000 Versicherte der Knappschaft haben sich bereits für eBI entschieden. An der Behandlung beteiligte Ärzte in Akutkrankenhäusern, zukünftig aber

auch in Praxen, haben mittels eBI einen minimalen Aufwand, um auf Informationen zuzugreifen, die für die Anamnese wichtig sind (wie z.B. aktuelle und historische Medikation, vergangene Krankenhausaufenthalte und gestellte Diagnosen). Die Daten werden von der Knappschaft aufbereitet übermittelt und stehen faktisch beim ersten Arzt-Patienten-Kontakt im Anamnesegespräch zur Verfügung. Versicherte der Knappschaft, die der stationären Behandlung bedürfen, nehmen altersbedingt mehr als doppelt so viele Arzneimittel wie der Durchschnitt aller Versicherten zu sich. Daher bietet eBI zusätzlich zu den Anamneseinformationen auch einen darauf aufbauenden Risikocheck der bestehenden Medikation an. „Durch die Verabschiedung des Kabinettsentwurfes zum eHealth-Gesetz flammte die Diskussion um den Nutzen von IT im


KNAPPSCHAFT Gesundheitswesen zuletzt wieder auf. Die Sorgen um Transparenz, Datensicherheit und eine mögliche Entpersonalisierung der Medizin sind dabei ernstzunehmende Beiträge“, erklärt Bettina am Orde, Geschäftsführerin der Knappschaft. „Umso bedeutender ist es, alle Anwendungen auf den tatsächlichen Nutzen für Patienten und Behandler zu prüfen.“

Voraussetzungen Für knappschaftlich Versicherte (ca. 1,7 Mio.) besteht die Möglichkeit, sich in einem an der elektronischen Behandlungsinformation teilnehmenden Qualitätspartner-Krankenhäuser einzuschreiben. Aber nicht nur dort. Alle knappschaftlich Versicherten im Umfeld eines teilnehmenden Krankenhauses werden aktiv von der Knappschaft informiert und können ihre Teilnahme erklären. Dabei ist eBI keines der klassischen Aktenprojekte, bei denen Leistungserbringer medizinische Daten aus ihren Primärsystemen mühevoll selektieren und redundant in einer zentralen Infrastruktur ablegen müssen. Die in eBI vorhandenen Abrechnungsdaten von sämtlichen Leistungserbringern und medizinischen Institutionen bilden die Basis der Mehrwertanwendungen.

Patienten zusammenzutragen. Oft hat ein Facharzt, anders als ein Hausarzt, keinen regelmäßigen Kontakt zu seinen Patienten. Der Aufwand, alle nötigen medizinischen Informationen durch Nachfrage bei Hausärzten, bei anderen Fachärzten, in Kliniken oder bei Angehörigen zusammenzutragen, ist oft sehr hoch. Und leider ist diese zeitintensive Recherche auch nicht unbedingt vollständig, da mir als Facharzt nicht immer alle notwendigen Informationen der behandelnden Kollegen zur Beurteilung des Falles zur Verfügung stehen. Durch eBI findet nicht nur eine sinnvolle Überprüfung der Gesamtmedikation statt, sondern diese Lösung ermöglicht uns darüber hinaus eine interdisziplinär enger abgestimmte medizinische Behandlung.“

Nicht nur bei Krankenhäusern ist eBI bislang auf großes Interesse gestoßen, sondern auch niedergelassene Ärzte fordern eine Lösung, um Informationsdefizite und damit Risikofaktoren zu minimieren. Auch den engagiertesten Hausärzten liegen nicht alle aktuellen Informationen zu ihren Patienten zeitgerecht vor. Vor dem Hintergrund der Versorgungsnotwendigkeit durch Fachärzte anderer Fachrichtungen und den Krankenhausaufenthalten stellt es viele Ärzte vor die unlösbare Herausforderung, auf alle relevanten Informationen zum Zeitpunkt einer notwendigen Therapieentscheidung zugreifen zu können.

BETTINA AM ORDE

„Von eBI versprechen wir uns einen enormen Informationsgewinn und mehr Transparenz“, erhofft sich Oliver Merse, Facharzt für Neurologie in Recklinghausen. „Insbesondere für den Facharzt ist es oft schwer, alle Informationen über einen Foto: flown/ pixelio.de

Weiterentwicklung Die Arzneimitteltherapie und deren Optimierung ist Auftrag der Krankenhäuser, genauso wie ein Entlassmanagement, das insbesondere die Informationsweitergabe an nachstationäre Behandler fokussiert.

„Die Defizite in der intersektoralen Kommunikation bestärken die Knappschaft darin, die elektronische Behandlungsinformation weiterzuentwickeln“, erläutert am Orde. „So werden die Schnittstellenprobleme am Übergang aus dem stationären Sektor in die ambulante Weiterversorgung mit der Entwicklungsstufe eBI 2.0 aufgegriffen. Sie unterstützt das Entlassmanagement mit der Option, die weiterzuführende Arzneimitteltherapie begründet und strukturiert sowie unter Berücksichtigung von Wirtschaftlichkeitsaspekten an den niedergelassenen Arzt weiterzugeben.“

Nicht nur bei Krankenhäusern ist eBI bislang auf großes Interesse gestoßen, sondern auch niedergelassene Ärzte fordern eine Lösung, um Informationsdefizite und damit Risikofaktoren zu minimieren

Bettina am Orde, geboren 1962 in Essen, studierte an der der Ruhr-Universität Bochum Sozialwissenschaften. Ihre berufliche Laufbahn begann sie 1987 als Referentin für Grundsatzfragen in der Stabsstelle „Verbandspolitische Planung“ des AOKBundesverbandes in Bonn. 1991 wechselte sie als Referatsleiterin „Gesundheitspolitik und Krankenversicherung“ in die Abteilung Sozialpolitik des DGB-Bundesvorstands in Düsseldorf. Seit Mai 1999 war Bettina am Orde Referentin für Grundsatzfragen beim IKK-Bundesverband in Bergisch Gladbach, bevor sie 2004 die Leitung des Bereichs „GKV und Vertragsarztrecht“ im nordrhein-westfälischen Gesundheitsministerium übernahm. Seit Juli 2012 ist Bettina am Orde Mitglied der Geschäftsführung der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See (KBS). Seit dem 1. November 2015 führt sie den Sozialversicherungsträger als Erste Direktorin. Am Orde ist Mutter von zwei Söhnen.

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Foto: Polizei/ Zoll/ pixelio.de

SCHNELLES BREITBAND

Die geringe Bereitschaft für schnellere Anschlüsse zu zahlen, wird sich wahrscheinlich erst mit der weiteren Verbreitung von Anwendungen für schnelle Anschlüsse erhöhen

Schnelles Breitband für alle? Eine Bestandsaufnahme Von Thomas Jarzombek, MdB Für das Jahr 2004 hat die Bundesnetzagentur für den Verkehr über breitbandige Internetanschlüsse (insbesondere DSL) 536 Mio. Gigabyte ausgewiesen. Die gerade erst veröffentlichte TK-Marktanalyse des VATM hat ein Verkehrsvolumen von 9,3 Mrd. Gigabyte festgestellt. Angesichts dieser Zahlen wird deutlich, welchen Herausforderungen sich der Ausbau digitaler Infrastrukturen stellen muss.

Ziel der Bundesregierung ist es, im Jahr 2018 eine flächendeckende Breitbandversorgung mit 50 Mbit/ zu erreichen. Schon jetzt monieren Kritiker, das Ziel würde verfehlt werden. Ziel der Politik muss es aber sein, dass jeder an den Chancen der Informationsgesellschaft teilhaben kann. Natürlich ist das Breitbandziel auch ein politisches Signal. Zur

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Verabschiedung des Koalitionsvertrages gab es immer noch Diskussionen um einen notwendigen Breitbanduniversaldienst. Dieser hätte am Ende private Investitionen bis auf weiteres abgewürgt. Ich habe mich aber dafür eingesetzt, dass dort, wo der Ausbau leistungsfähiger Breitbandnetze ausbleibt, weil der Ausbau durch den Markt unwirtschaftlich ist, staatliche Förderprogramme einspringen müssen.

Investition in die Zukunft Deshalb haben die Bundesregierung und die Länder verbredet, dass die Erlöse aus der Versteigerung von neuen Frequenzen für schnelles mobiles Internet in den Breitbandausbau investiert werden sollen. Ich habe mich lange für die sog. Digitale Dividende II eingesetzt. Damit werden jetzt zielgerichtete Förderprogramme auf den Weg gebracht. Neben

den Versteigerungserlösen werden 1,1 Milliarden Euro werden zusätzlich ab dem Jahr 2016 aus dem Investitionspaket der Bundesregierung in den Breitbandausbau fließen. Angesichts des Ziels eines ausgeglichenen Haushalts ist das ein deutliches politisches Signal. Die jetzt im Kabinett beschlossene Förderrichtlinie für den Breitbandausbau soll den flächendeckenden Ausbau von schnellem Internet in bislang unterversorgten Gebieten mit 50 Mbit pro Sekunde und mehr ermöglichen. Eine Förderung können Kommunen und Landkreise beantragen, verschiedene Modelle für den Ausbau vor Ort sind förderungswürdig. Mir war immer wichtig, dass eine echte Wahlfreiheit besteht, diese hat die Richtlinie geschaffen. Entweder kann die Wirtschaftlichkeitslücke bei Investitionen geschlossen


SCHNELLES BREITBAND werden, wenn Telekommunikationsunternehmen ausbauen wollen (Wirtschaftlichkeitslückenmodell) oder die Kommunen werden durch die Förderung in ihren eigenen Ausbauplänen unterstützt, wenn sie passive Infrastrukturen wie z. B. Glasfaserstrecken bauen wollen, die dann an einen Netzbetreibern verpachtet werden (Betreibermodell). Darüber hinaus sind die Kommunen vor Ort gefragt, weiter gute Rahmenbedingungen zu schaffen. Eine Ausweisung von Gewerbegebieten ohne schnellem Breitband-Internet über Glasfaser darf es nicht mehr geben. Das schnelle Netz ist ebenso wichtig wie Strom und Wasser. Gerade die Unternehmen in Deutschland müssen über schnelles Internet verfügen können, sonst besteht die Gefahr, dass der deutsche Mittelstand in der Fläche den Anschluss verliert.

delle haben die Kommunen die Möglichkeit jetzt signifikant in FTTB und FTTH zu investieren, also Glasfaser bis an den Gehweg oder ins Haus zu bringen. Außerdem wird für viele Haushalte die drahtlose Nutzung immer wichtiger. Der mobile Datenverkehr soll in diesem Jahr in Deutschland ein Verkehrsvolumen von mehr als 500 Mio. Gigabyte erreichen und läge somit gleichauf mit dem Verkehrsvolumen von DSL-Anschlüssen im Jahr 2004. Selbst wenn die Prognose der Entwicklung schwierig ist, wird es aber weiterhin eine signifikante Steigerung geben, man denke nur an Einsatzszenarien wie Connected Car und autonomes Fahren. Deshalb ist es jetzt entscheidend Glasfaser an jeden Sender zu bringen, der Aufbau einer 5G-Mobilfunkinfrastruktur bis 2020 ist zwingend darauf angewiesen.

Glasfaser als Kern der digitalen Infrastruktur Außerdem müssen Investitionshemmnisse und Wirtschaftlichkeitslücken in infrastrukturschwachen Regionen schnellstmöglich abgebaut werden. Der Bundestag berät deshalb derzeit einen Entwurf aus dem Verkehrsministerium zur Umsetzung der Kostensenkungsrichtlinie der EU, um neben den Förderungen auch Kosteneinsparungen beim Netzausbau zu realisieren. Das heißt unter anderem, Telekommunikationsanbieter sollen beim Ausbau bestehende Netzinfrastrukturen mitnutzen können. So wie es bei der letzten großen Änderung des TKG zur Mitnutzung z.B. von Bahninfrastruktur, sollen jetzt Möglichkeiten zur Mitnutzung von Strom-, Gas, Fernwärme- und Abwassernetzen eröffnet werden.

Geringe Bereitschaft, für schnelle Anschlüsse zu zahlen Bei allen notwendigen Schritten und Maßnahmen müssen wir berücksichtigen, dass die „politische Nachfrage“ nach Glasfaseranschlüssen nicht der Nachfrage am Markt entspricht. Laut VATMMarktstudie 2015 hat sich die Zahl der per FTTB/H angeschlossenen Haushalte in fünf Jahren verdoppelt. Die Zahl der erreichbaren aber nicht angeschlossenen Haushalte hat sich hingegen vervierfacht. Nur knapp ein Viertel der erreichbaren Haushalte hat einen Anschluss gebucht. Die- se sogenannte Take-up-Rate ist in meinen Augen eines

Glasfaser ist auf lange Sicht der Kern der digitalen Infrastruktur der Zukunft. Szenarien wie der Einsatz Vectoring können allenfalls eine Übergangslösung sein. Insbesondere durch Betreibermo-

Bei allen notwendigen Schritten und Maßnahmen müssen wir berücksichtigen, dass die „politische Nachfrage“ nach Glasfaseranschlüssen nicht der Nachfrage am Markt entspricht

der größten Hindernisse für den Glasfaserausbau, wenn sich der Aufbau für Unternehmen nicht rentiert. Zwar nutzt die große Mehrheit noch Anschlüsse mit Downstream-Geschwindigkeiten von 6 bis 16 Mbit/s, die Zahl von Anschlüssen über 16 Mbit/s steigt aber. Im Vergleich zum Ausland gibt es weitere Hemmnisse, wie zum Beispiel die geringere Urbanisierungsquote, also die Verteilung von Haushalten überwiegend im ländlichen Raum. Die unterirdische Verlegung der Kabel, im Endeffekt der Tiefbau, macht durchschnittlich 80% der Kosten eines Breitbandprojektes aus. Ungeachtet dessen ist es richtig, dass die Bundesregierung mit dem Förderpaket den Grundstein für den weiteren Ausbau von digitaler Infrastruktur legt. Die Anschlussrate an breitbandige Netze darf nicht Ausrede für einen Einstieg in die Henne-Ei-Diskussion sein. Die Zahlen oben zeigen, wie unvorhersehbar die Entwicklung des Verkehrsvolumens ist. Selbst für mobile Anwendungen wie die zukünftige Nutzung von Echtzeitinternet im 5G-Mobilfunkstandard ist eine flächendeckende Glasfaserabdeckung notwendig. Das von der Bundesregierung angestrebte ist deshalb nur als Zwischenschritt zu verstehen, mit der jetzt beschlossenen Förderrichtlinie bringen wir neuen Schwung in den Ausbau.

THOMAS JARZOMBEK

Thomas Jarzombek ist netzpolitischer Sprecher der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion

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KOLUMNE KOMMENTAR Liebe Leserinnen und Leser, als Kolumnist trete ich in die Fußstapfen von Jens Spahn. An dieser Stelle hat er sie in den vergangenen Jahren über Aktuelles aus der deutschen Gesundheitspolitik informiert. Als Koordinator der gesundheitspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Landtagsfraktionen möchte ich die Sichtweise der Bundesebene künftig um die Perspektive der Länder ergänzen. Aktuelles Beispiel: das Krankenhausstrukturgesetz (KHSG). Unsere Kliniken stehen vor zahlreichen Aufgaben. Wir werden immer älter. Gleichzeitig schrumpft unsere Bevölkerung insgesamt. Dieser Strukturwandel bleibt auch für die Krankenhäuser nicht folgenlos. Es mangelt an jungen Ärzten oder Pflegekräften. In dünner besiedelten Regionen fehlen zudem häufig Patienten, um ein Krankenhaus auszulasten. Das KHSG unterstützt Kliniken bei diesen Herausforderungen. Erste gute Schritte sind das Pflegestellen-Förderprogramm, die finanzielle Besserstellung von Notfallkrankenhäusern, die Stärkung der Qualität bei der Behandlung und der Strukturfonds.

zitäten sowie medizinischen Expertenteams profitieren. 50 Prozent der skandinavischen Kliniken nutzen dies, in Deutschland sind es lediglich 6 Prozent der Akut-Krankenhäuser. Dabei liegt in der IT-Infrastruktur ein Schlüssel für zukunftsfähige qualitativ hochwertige Versorgung. Der Strukturfonds kann ein erster Schritt sein, diese Chance zu nutzen. Herzliche Grüße,

Gottfried Ludewig

Um unsere Krankenhäuser fit für die Zukunft zu machen, bleibt dennoch viel zu tun. Wir müssen uns heute fragen, wie die Krankenhausstruktur 2030 aussehen soll. Die richtige Antwort liefern uns hierfür nicht die Strukturen der 1960er/1970er-Jahre. Wir müssen mutig sein, Neues wagen und die Chancen moderner Technologien nutzen. Heute schon können sich Krankenhäuser vernetzen und von weltweiten Analysekapa-

GOTTFRIED LUDEWIG

Dr. Gottfried Ludewig, MdA, ist seit 2011 gesundheitspolitischer Sprecher und stellvertretender Vorsitzender der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Als Koordinator der gesundheitspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Landtagsfraktionen organisiert er eine jährliche Tagung in Berlin

Impressum Herausgeber und Verlag GK Mittelstands Magazin Verlag GmbH Günter F. Kohl Gärtnerkoppel 3 24259 Westensee/ Kiel Tel. 04305-992992 / Fax 04305-992993 E-Mail: gkprkiel@t-online.de Anzeigenverkauf: Über den Verlag Anzeigenschluss: 1. Februar 2016

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Redaktion Tim A. Küsters redaktion-ampuls@gmx.de

Abonnement Einzelheft: 24,- Euro pro Jahr bei 4 Ausgaben

Internet: www.issuu.com/ampuls Satz und Layout: Walter Katofsky, Kiel Druck: UBG Rheinbach Titelfoto: Rainer Sturm, pixelio.de

Das Magazin am puls erscheint viermal im Jahr jeweils zur Mitte eines Quartals.


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