am puls 4-2016

Page 1

04/2016

20348

Jahrgang 13 5,00 Euro

MAGAZIN FÜR

POLITIK UND GESUNDHEIT Christiane Groß Ärztinnen heute

GESUNDHEIT AM TROPF? Neue Impulse erforderlich!

S. 6

Christian Lindner NRW-Landtagswahl 2017 S. 12

Jan Heinisch Einsatz für Kommunen

S. 14


Caring and Curing Leben retten und Gesundheit verbessern – das ist unser Ziel Die Entwicklung bahnbrechender neuer Medikamente steht für Novartis an erster Stelle. Sie schaffen neue Behandlungsmöglichkeiten für bislang unerfüllte medizinische Bedürfnisse der Patienten. Patienten und ihre Bedürfnisse können jedoch sehr unterschiedlich sein. Deshalb bietet Novartis neben innovativen Medikamenten auch Möglichkeiten zur Krankheitsvorbeugung sowie Generika an und verbessert den Zugang zu medizinischer Versorgung.

Novartis Pharma GmbH · Roonstraße 25 · 90429 Nürnberg · www.novartis.de


EDITORIAL INHALT

Liebe Leserinnen und Leser, kennen Sie die Frage: „Was machst Du eigentlich Silvester?“ Anfang November möchte ich mir da noch gar keine Gedanken über das Jahresende machen. Denn mit dem Ende ist ja dann auch schon das neue Jahr unweigerlich verbunden. Und doch: 2017 wird sicher ein – zumindest – politisch spannendes Jahr. Im bevölkerungsreichsten Land NRW stehen im Mai Landtagswahlen an. Diese Wahl gilt als Fingerzeig für die Bundestagswahl im September. Es bleibt zu hoffen, dass nicht schon zu Beginn des Jahres politischer Stillstand eintritt. Viel zu drängend sind die Herausforderungen, die noch bis zur Bundestagswahl zu lösen sind. Allein bei der Gesundheitspolitik muss dringend eine Antwort auf das Urteil des EuGHs zum Wegfall der Preisbindung bei verschreibungspflichtigen Medikamenten gefunden werden. Auch das gemeinsame europäische Haus bleibt eine Dauerbaustelle. Nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten wird es auch eine Neuordnung der amerikanisch-deutschen Beziehungen geben. Ein beliebter Brauch zu Silvester ist das Bleigießen. Der Schatten des unförmigen Objekts wird dabei ausgedeutet. Doch Schatten gibt es nicht, wenn es nicht auch Licht gibt. Deshalb sollten wir sicher optimistisch in die Zukunft sehen und unser Glück selbst in die Hand nehmen. Ich wünsche Ihnen jetzt schon eine besinnliche Adventszeit und alles Gute für 2017. Denken Sie immer daran: es warten 365 Tage darauf, von Ihnen gestaltet zu werden. Ihr

Tim A. Küsters Chefredakteur

4

Arzneimittel-Forschung Von Arzneimitteln und Produkten von Novartis profitierte 2015 weltweit eine Milliarde Menschen, darunter 60 Millionen Deutsche, bilanziert Ute Simon

6

Ärztinnen heute Unsere Autorin Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, stellt ihren Verband vor und plädiert für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie

10 Top-Versorgung Uwe Laue, VV der Debeka, lobt das hohe Gut der medizinischen Top-Versorgung in Deutschland, die selbstverständlich auch ihren Preis hat 12 NRW-Landtagswahl Nordrhein-Westfalen, so meint unser Autor und FDP-Politiker Christian Lindner, stiehlt seinen Bürgern besonders viel Lebenszeit durch Bürokratie und Verkehrsstau 14 Die kleine Republik Als solche bezeichnet unser Autor, der Heiligenhauser Bürgermeister Jan Heinisch, die Kommune, die jeweilige Stadt oder Gemeinde, die örtliche Lebenswelt 16 Modellprojekt PAUSE Unser Autor Heiner Beckmann berichtet von einer Studie, nach der das Projekt PAUSE die Gesundheit von pflegenden Angehörigen nachweislich verbessert 18 Europa erneuern Durch eine Rückbesinnung auf die Ideen des Europäers der ersten Stunde, Robert Schumann, könnte die EU erneuert werden, meint Roland Theis 20 What a beautiful time Wir leben in einer wunderbaren Zeit, in der es sich lohnt zu leben, meint die junge Bundestagsabgeordnete Ronja Kemmer 22 Versorgungslücken Unser Autor Uwe Schroeder-Wildberg berichtet von einer Studie des Instituts Allensbach zur Zufriedenheit mit der deutschen Gesundheitsversorgung 24 Apotheke der Zukunft Über die öffentlichen Apotheken in der gegenwärtigen tiefgreifenden Umbruchphase unseres Gesundheitswesens schreibt unser Autor Thomas Preis 26 Kolumne Hier schreibt unser Kolumnist Gottfried Ludewig 26 Impressum

Am Puls

4 | 2016

3


KLINISCHE FORSCHUNG

Von Arzneimitteln und Produkten von Novartis profitierten 2015 weltweit ~1 Milliarde Patienten, davon ~60 Millionen in Deutschland. Kein anderes Pharmaunternehmen investiert in Deutschland so viel in klinische Studien. Das macht Novartis zum „Deutschen Meister“ der klinischen Forschung – und das seit mittlerweile acht Jahren in Folge. Allein in Deutschland nahmen im Jahr 2015 über 32.000 Patienten an 191 Studien der Novartis Pharma teil. Davon sind 50 Studien so genannte TM (Translational Medicine)-Studien – also solche in der frühen klinischen Phase. Deutschland war im Übrigen wesentlich an der Zulassung für die jüngsten medizinischen Errungenschaften bei der Behandlung der chronischen Herzinsuffizienz und der Schuppenflechte beteiligt. Quelle: Novartis Unternehmenspräsentation

Novartis:

„Meister der klinischen Forschung“ Das Herz der Medizin schlägt in der Klinischen Forschung Die Mitarbeiter der Medizin wirken maßgeblich an der Entwicklung internationaler Entwicklungsprogramme und klinischer Studien der Phasen I-IV mit. Darüber hinaus sind sie für alle nationalen Studien verantwortlich: von der Idee über die Konzeption, Durchführung und Auswertung bis zur Publikation. Sie geben internationalen und nationalen Arbeitsgruppen sowie Entscheidungsgremien wissenschaftlichen Input, erstellen klinische Dossiers und stehen im engen Austausch mit Ärzten und weiteren Partnern im Gesundheitswesen. Die Klinische Forschung arbeitet eng mit der Novartis-Zentrale in Basel und mit anderen Abteilungen in Nürnberg – wie z. B. Arzneimittelzulassung und -sicherheit, Biometrie, International Clinical Research

4

Am Puls

4 | 2016

Operations (ICRO), Medical Competence Center (MCC) & Scientific Operations (SciOps) und Market Access - zusammen.

Bei allen Forschungstätigkeiten steht der Nutzen für den Patienten im Mittelpunkt mit zwei wichtigen Fragen 1. Stellt die Krankheit ein bedeutendes ungelöstes medizinisches Problem dar? 2. Besitzen wir ausreichende Kenntnisse über die Ursache der Erkrankung bzw. die ihr zugrunde liegenden Mechanismen oder können wir uns diese verschaffen? Wenn das der Fall ist, startet ein Entwicklungsmarathon in Etappen: In mehreren Phasen klinischer Studien werden neue Wirkstoffe gegen Erkrankungen aller Art getestet - aber auch etablierte Medikamente für neue Einsatzgebiete. Voraussetzung

für jegliche Innovation ist die angewandte Grundlagenforschung. Im Idealfall klären Forscher zunächst die molekularen Defekte einer Krankheit auf. Dann suchen sie nach Substanzen, die möglichst passgenau die gestörten Vorgänge „reparieren“. Haben sie entsprechende „Kandidaten“ gefunden, testen sie deren Wirkungen - und potenziellen Nebenwirkungen - zunächst im Labor in isolierten einzelnen Zellen und in Tierversuchen. Verläuft diese vorklinische Phase der Medikamentenentwicklung erfolgreich, folgen drei, oft viele Jahre dauernde Phasen der klinischen Erprobung eines Wirkstoffes am Menschen. Nur eine von 1.000 in Frage kommenden Substanzen schafft es in die klinische Studienphase, und von 3.000 bis 5.000 Substanzen wird nur aus einer einzigen Substanz ein zugelassenes Medikament. Die Entwicklung eines neuen Wirk-


KLINISCHE FORSCHUNG orientiert. Je qualitativ hochwertiger und je näher das Design der Studie an der klinischen Praxis in Deutschland ist, desto aussagekräftiger wird das neue Medikament für Ärzte und die Kostenträger im Gesundheitssystem in Deutschland. Für Studien am Menschen gelten zum Schutz der teilnehmenden Probanden und Patienten naturgemäß strenge Richtlinien – hierzulande zuallererst das Arzneimittelgesetz. Außerdem ist Quelle:clinicaltrials.gov, Novartis/date: 16-Dec-2015/Filter Criteria: Interdie Einhaltung der ventional, Open Studies, Germany ethischen Grundstoffs zur klinischen Reife kostet nicht nur sätze der Deklaration von Helsinki zwinviele Jahre Zeit, sondern auch viel Geld – je gend wie auch die „gute klinische Praxis“ nach Aufwand bis zu 1,5 Milliarden Euro. bei der Durchführung von klinischen PrüIn den klinischen Studien der Phasen 1, 2 fungen zur Anwendung am Menschen. Das und 3 testet ein Hersteller wie Novartis zugesamte Regelwerk schreibt beispielsweise sammen mit Ärzten an Universitäts- und detailliert vor, wie die Patienten im Rahanderen Kliniken, aber auch mit niedergemen von klinischen Studien zu behandeln lassenen Ärzten, wie gut eine neue Subssind. Weiterhin wird auch hier die besontanz gegen eine bestimmte Krankheit beim dere Qualifikation der Ärzte beschrieben, Menschen wirkt und wie sicher und verdie ihre Patienten im Rahmen von kliniträglich sie ist. In klinischen Studien kann schen Studien behandeln möchten. ebenfalls ermittelt werden, ob sich ein bereits im Einsatz befindliches Medikament Wichtigste Voraussetzung für jede kliniaufgrund des Wirkmechanismus auch bei sche Studie ist eine exakte, wissenschaftlich anderen Krankheiten anwenden lässt. Solsaubere Fragestellung. Die Zielparameter che Studien für den Zweit- oder gar Drittmüssen quantitativ erfassbar, methodisch einsatz eines Medikaments sind gar nicht auswertbar und vergleichbar sein. Bevor so selten. eine klinische Prüfung durchgeführt werden darf, muss immer eine Genehmigung Auch hier sind die Projektleiter der Klinibei der zuständigen Bundesoberhörde schen Forschung von Novartis Deutsch(BOB) eingeholt werden. Die zuständige land eingebunden: Sie regen wissenschaftEthikkommission überprüft, ob der Nutliche Verbesserungen an und sorgen dafür, zen einer klinischen Studie größer ist als dass in den Studien nationale Belange ausderen Risiko und beurteilt berufsrechtliche reichend Berücksichtigung finden. Dosieund -ethische Aspekte. Novartis genießt in rungsschemata und Wirkstoffkombinader medizinisch wissenschaftlichen Comtionen unterscheiden sich bisweilen von munity große Anerkennung für die ihre Land zu Land. Die Standardtherapie kann wissenschaftliche Tätigkeit. unterschiedlich sein und somit die am Die Teilnahme an internationalen Stubesten geeignete Vergleichstherapie, die dien ist über eine Art interne Ausschreisich im Idealfall an der Standardtherapie bung der Zentrale in Basel geregelt. Jedes

der gefragten Länder kann eine Einschätzung über Anzahl der Patienten und Prüfzentren in seinem Land abgeben; wichtige Auswahlkriterien sind hier die Verlässlichkeit, die Kosten und ganz wichtig die Qualität der Daten. Deutschland gilt als sehr verlässlicher Partner mit einer hohen wissenschaftlichen Expertise und hervorragender Infrastruktur. Auch nach der Zulassung gilt es, weitere Erkenntnisse über das Präparat zu gewinnen. Komorbiditäten und andere Risikofaktoren sowie Spätwirkungen können im Anschluss vor allem im Rahmen von nichtinterventionellen Studien erfasst werden. Die Qualität der Daten in klinischen Prüfungen aller Phasen werden von klinischen Monitoren überwacht; sie sind das Bindeglied zwischen Prüfzentrum und Pharmaunternehmen und somit der direkte Ansprechpartner für die Prüfärzte bei allen Studienfragen. Novartis hat sich freiwillig verpflichtet, alle Studiendaten innerhalb eines Jahres in ein öffentliches Register zu stellen. Bei Novartis erfolgt dies in der US-amerikanischen Datenbank ClinicalTrials.gov, die über das Internet frei zugänglich ist. Außerdem gibt es im Internet eine frei zugängliche Übersicht über die Ergebnisse von Novartis-Studien unter www.novctrd.com.

UTE SIMON

Dr. Ute Simon ist Leiterin der klinischen Forschung bei der Novartis Pharma GmbH. Sie ist seit 2004 für Novartis tätig und hat unterschiedliche Positionen bekleidet. Ute Simon hat an der TU Berlin studiert und dort ihre Doktorarbeit im Bereich Molekularbiologie begonnen und sie dann in Halle an der Saale an der Martin Luther Universität beendet

Am Puls

4 | 2016

5


Foto: Tim Reckmann/ pixelio.de

ÄRZTINNENBUND

Die Medizin wird weiblich“, ein Schlagwort, welches Emotionen ganz unterschiedlicher Art geweckt hat, aber auch Unverständnis

Ärztinnen heute –

zwischen Spitzenpositionen und eigener Praxis? 6

Am Puls

4 | 2016

Von Christiane Groß, M.A. Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes e.V.

Der Deutsche Ärztinnenbund e.V. (DÄB) beschäftigt sich seit über 90 Jahren mit den beruflichen Belangen von Ärztinnen. Bei einem Anteil von aktuell über 46 Prozent Ärztinnen im ärztlichen Beruf und bei einer noch höheren Studienanfängerinnenquote (63 Prozent), könnte man denken, dass der Deutsche Ärztinnenbund vielleicht überflüssig werden könnte. Mit dem Argument müssen wir uns als Vertreterinnen des DÄB tatsächlich häufiger auseinandersetzen. Es gibt sogar ernst zunehmende männliche Kollegen, die meinen, heute sei ein Ärztebund notwendig und bei den neuen Studierenden sind unumwunden Forderungen nach einer Männerquote hörbar. All diese Argumente greifen meiner Ansicht unzulässig zu kurz. Der Deutsche Ärztinnenbund ist damals wie heute notwendig, um die berufliche Situation von Ärztinnen kurz-, mittel und langfristig zu verbessern. Heute profitieren auch junge Ärzte von den Aktivitäten des DÄB und nicht nur ihre weiblichen Kolleginnen. Hier möchte ich nur zwei Beispiele nennen, bei denen der DÄB seit Jahren Verbesserungen erkämpft hat. 1. Die bessere Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf betrifft auch junge Väter oder auch Ärzte, die private Zeiten höher bewerten als viele Arztgenerationen vorher. 2. Die Umsetzung von Erkenntnissen der Gendermedizin dient Ärztinnen wie Ärzten, als grundlegende Erkenntnis von unterschiedlichen Symptomen, Behandlungen und Medikationen von Frauen und Männern. Schauen wir uns die aktuelle berufliche Situation von Ärztinnen an und beginnen mit einem Slogan der letzten Jahre: „Die Medizin wird weiblich“, ein Schlagwort, welches Emotionen ganz unterschiedlicher Art geweckt hat, aber auch Unverständnis, weil „die Medizin“ – abgesehen von der Ärzteschaft- schon seit Jahrzehnten weiblich ist: Pflegerinnen, Physiotherapeutinnen, Psychologische Psychothera-


ÄRZTINNENBUND peutinnen – alle deutlich in der Mehrzahl. Es war seit langem absehbar, dass es immer mehr Ärztinnen geben wird. Und es war auch absehbar, dass es deutliche Ängste geben würde, dass männliche Ärzte nicht mehr die geplante Stelle bekommen und sich im Konkurrenzkampf mit der Übermacht der Frauen nicht mehr behaupten können. Wie aber sieht die Wirklichkeit aus? Die Steigerung von 130 Prozent bei der Zahl der berufstätigen Ärztinnen in den letzten 35 Jahren ist beindruckend: von 20 Prozent im Jahr 1970 auf 46 Prozent im Jahr 2015. Sind aber die Chancen für die Frauen tatsächlich gestiegen? Wie stehen die Chancen auf Spitzenpositionen im Medizinbetrieb der Krankenhäuser, in den Verwaltungen von Gesundheitseinrichtungen, bei medizinischen Lehrstühlen? Und wie sieht es in der Niederlassung aus? Wer ist angestellt, wer Praxisinhaberin oder -inhaber, MVZ-Akteurin oder -Akteur, Initiator oder Initiatorin von überörtlichen Gemeinschaftspraxen? Schauen wir stellvertretend für den stationären Bereich auf die Studie zu 16 repräsentativen medizinischen Fächern bei 34 Universitätskliniken1, die Anfang dieses Jahres durch den DÄB in Kooperation mit dem BMFSJF durchgeführt wurde, sehen wir, dass sich bei den Oberärztinnen mit 30 Prozent Beteiligung schon durchaus Veränderungen gezeigt haben. Bei den Lehrstühlen sieht es aber noch sehr düster aus. Nur zehn Prozent der Lehrstühle sind weiblich besetzt und es gibt drei Universitäten (Greifswald, Homburg und Mannheim) die in keinem der 16 Fächern eine Frau auf den Lehrstuhl berufen haben.

Die Gründe sind vielfältig. Gute männliche Netzwerke, interne Nachfolgeregelungen und männlich dominierte Berufungskommissionen auf der einen, aber auch die vielzitierte weibliche Zurückhaltung auf der anderen Seite. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Die Männer sensibilisieren und die Frauen motivieren und - wie uns der Blick auf Österreich2 lehrt - Berufungskommissionen genderparitätisch besetzen. Aber auch die Schaffung von mehr Teilzeitstellen für Chefärztinnen wäre hilfreich. Die stationäre Medizin ist sicher besser zu beurteilen und zu durchschauen. Tarifverträge in Kliniken regeln einen großen Teil der Honorierungen. Sobald aber die Verhandlungen im außertariflichen Bereich beginnen, sind die Frauen wieder schlechter gestellt3. Oft wissen sie nicht, wie hoch die Forderungen sein können. Der männliche Bewerber hat häufig neben den guten Verbindungen seines Tutors auch noch den guten Rat des älteren Kollegen in Sachen Honorarforderung im Rucksack. Hierfür benötigen die Frauen dringend Mentorinnen. Der DÄB bietet daher seit Jahren ein Mentorinnen-Netzwerk gerade auch für medizinische Wissenschaftlerinnen an. Die berufliche Situation bei den niedergelassenen Ärztinnen ist komplexer. Wie schon aus der Studie im stationären Bereich sichtbar, wählen die Frauen häufig ein Fach, welches mit zeitintensiveren Patientenkontakten korreliert. Die technischen Fächer werden häufiger von den Männern gewählt. Bedauerlicherweise haben wir noch heute mit einer Fehlverteilung zu kämpfen, die aus den 70er Jah-

ren resultiert, durch die Laborleistungen und andere technische Untersuchungsmethoden in einer Zeit der Technikgläubigkeit überbewertet wurden. Gesprächszeiten und Hinwendung zu Patient oder Patientin wurden in den darauffolgenden Jahren als immer weniger wichtig bewertet. Erst seit ein paar Jahren werden Forderungen - und auch hier aus den Reihen des DÄB – laut, die sprechende Medizin als eine der wichtigsten Grundlagen der Arzt-Patienten-Beziehung besser zu bewerten. Die Tätigkeit gerade in den Fächern der sprechenden Medizin bedeutet aber für Ärztinnen häufig auch ein geringeres Einkommen. Aber auch in anderen Fachbereichen ist das Honorar der Ärztinnen meist niedriger, weil sie einzelnen Patienten oder Patientinnen mehr Zeit widmen und diese ganzheitlich betrachten und daher nicht die Scheinzahl der männlichen Kollegen erreichen4. Die Rolle der Ärztin als Mutter hat ebenso einen großen Einfluss auf die weitere Wahl der Arbeitsstelle. Seit es möglich geworden ist, auch im niedergelassenen Bereich angestellt tätig zu sein, wird diese Möglichkeit immer häufiger von jungen Frauen gewählt. Haben sie so doch eine Gewissheit, dass das Einkommen auch bei Erkrankung der Kinder oder auch bei eigenen Ausfallzeiten gezahlt wird. Auch wenn sich gerade die Zahlen für weibliche Praxisgründungen positiv verändern5, scheuen Frauen die hohen Investitionskosten für eine eigene Praxis offensichtlich mehr als Männer. Und es scheint auch so zu sein, dass die Gesellschaft inzwischen der Meinung ist, dass die Ärztinnen generell eher die angestellte Tätigkeit bevorzugen. Vielleicht aber

SI N TE ! RA NE BE ER IR G

W

GESUNDHEITSBERATUNG

E

ANTI-STRESS-TRAINING ERNÄHRUNGSBERATUNG BEWEGUNGSTRAINING PERSONAL COACHING ARBEITSPLATZBERATUNG UND VIELES MEHR

BETRIEBLICHES GESUNDHEITSMANAGEMENT

INVESTIEREN SIE IN DIE GESUNDHEIT IHRER MITARBEITER! medicoreha Welsink Rehabilitation GmbH

Über Ü ber 25 Jah Jahre re

TELEFONAm(02131) 890 0 Puls 4 | 2016 WWW.MEDICOREHA.DE

7


ÄRZTINNENBUND einer gewandelten Sichtweise der jungen Generation zu mehr Zeit für ihre Kinder durchringen. Bleibt noch die Gefahr, die der Selbständigkeit der Ärztinnen ganz allgemein droht: In geraumer Zeit werden zum Beispiel keine Einzel-Praxen mehr verkauft, weil ein großer Teil der freiwerdenden Fachpraxen schon heute von Die stationäre Medizin ist besser zu beurteilen und zu durchschauen. Medizinischen-VerTarifverträge in Kliniken regeln einen großen Teil der Honorierungen sorgungs-Zentren hat das mit den immer wieder zitierten (MVZ) aufgekauft werden. Eine weitere angeblichen finanziellen Gefahren einer Methode, die Selbstständigkeit auf DauPraxisgründung zu tun. er zu gefährden, ist der Aufbau von immer weiter um sich greifenden überörtliDa wir aber nicht ernsthaft die Frage stelchen Gemeinschaftspraxen. Hier werden len müssen, ob Männer weniger gefährkleine Praxen aufgekauft und zu großen det sind, insolvent zu werden, weil wir Institutionen zusammengeschlossen. Eigwissen, dass Männer mehr wagen, müsner sind meistens erfahrene (männliche) sen wir einen Blick darauf werfen, ob und Ärzte aus dem jeweiligen Fachgebiet, die wie wir Frauen motivieren können, den dann wiederum ganz traditionell hauptSchritt in die Selbständigkeit zu wagen. sächlich weibliche Angestellte beschäftiAuch hier ist die Vereinbarkeit von ärztgen. Dramatisch ist die Situation deshalb, licher Praxis und der Versorgung der Faweil junge Ärztinnen und Ärzte teilweimilie ein entscheidender Faktor. Entsprese heute schon keine Option mehr haben, chend dem üblichen Rollenklischee bleibt einen Praxissitz zu kaufen, weil die MVZs es immer noch die Hauptaufgabe der Frau, und die großen Praxen deutlich bessere die Kinder und den Haushalt – zuminPreise zahlen und sogar mit „on top Zahdest mehr als die Hälfte – zu organisielungen“ die Einzelbewerber ausbooten. ren. Hier müsste ein generelles Umdenken ansetzen. Erste Ansätze zeigen, dass einiFazit: ge junge Väter sich dank Elternzeit und Solange die Vereinbarkeit von Familie, Be-

ruf und Privatleben nicht so ausgestaltet ist, dass Mütter und Väter ihren ärztlichen Beruf so ausüben können, wie sie es wollen und solange Ärztinnen immer noch den Hauptanteil der Doppelbelastung in den Familien tragen, kann von Chancengleichheit in der Medizin nicht die Rede sein. Solange noch irgendwo die Meinung herrscht, dass Ärztinnen in bestimmten Fächern nicht oder nur schlechter arbeiten können, solange Teilzeitstellen bei Oberärztinnen oder gar Chefärztinnen als problematisch angesehen werden und solange Ärztinnen in den außertariflichen Verträgen – ebenso wie in der Wirtschaft – geringere Gehälter haben als gleich qualifizierte männliche Kollegen, wurde nicht begriffen, was gleiche oder gleichwertige Arbeit bedeutet. Solange Führungspositionen – sowohl in der Krankenhauslandschaft als auch in den Gremien – immer noch hauptsächlich männlich besetzt sind, solange es Ärztinnen eingeredet wird, dass die angestellte Tätigkeit die bessere ist und die männlichen Kollegen gleichzeitig MVZs und Großpraxen aufbauen - solange hat der Deutsche Ärztinnenbund noch sehr zahlreiche Herausforderungen zu bewältigen: Damit weibliches Denken auf allen Ebenen, Kliniken und Praxen Einzug hält.

DR. MED. CHRISTIANE GROSS

1 MEDICAL WOMEN ON TOP - Dokumentation des Anteils von Frauen in Führungspositionen in 16 Fächern der Deutschen Universitätsmedizin / Ausgabe Mai 2016 (Stand Januar 2016), Deutscher Ärztinnenbund e.V. gefördert durch das Ministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend (BMFSFJ) 2 Frauen und Männer in Österreich: Gender Index 2014, https://www.bmb.gv.at/ frauen/gender/gender_index_2014.pdf?5lidoj 3 Kienbaum-Studie zur Vergütung in Krankenhäusern, November 2015, http:// www.kienbaum.de/desktopdefault.aspx/tabid-16/149_read-3139/ 4 Umfrage Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) 2015 5 Existenzgründungsanalyse Ärzte 2014/2015 der Apo-Bank, http://m.aerzteblatt. de/news/70967.htm 6 Persönliche Berichte von jungen Kolleginnen

8

Am Puls

4 | 2016

Dr. med. Christiane Groß, M.A., Wuppertal, Fachärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapie, ärztliches Qualitätsmanagement, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes e.V., Vorsitzende des Ausschusses „eHealth“ der Ärztekammer Nordrhein


BUCHBESPRECHUNG

Jens Spahn/Markus Müschenich/ Jörg F. Debatin:

App vom Arzt. Bessere Gesundheit durch digitale Medizin, Herder-Verlag, 16,99 €

Die drei Autoren - einer langjähriger Gesundheitspolitiker, einer Medizinprofessor und einer Gründer von Startups im Gesundheitsbereich – stellen eine steile These auf: Datenschutz ist was für Gesunde. Wer auf Hilfe angewiesen ist, etwa bei der Suche nach der besten Krebstherapie, wer Mehrfachuntersuchungen sowie lange Wege zu Ärzten und Wartezeiten vermeiden will, der stellt den Datenschutz hintenan. Nichts Geringeres als die nächste Revolution in der Medizin sagen die Autoren voraus an deren Ende mehr Menschen länger gesund leben werden. Anhand von anschaulichen Beispielen zeigen sie, wie der Patient immer mehr zum Konsument wird, der die Hoheit über seine Daten hat. Und wie sich die Rolle des Arztes wandelt, weg vom allwissenden

Halbgott in Weiß hin zu einem mitfühlenden Berater, der seine Diagnosen mithilfe einer weltweiten Analyse von Krankheitsdaten stellt.

tienten sich dann bereit erklären, ihre Daten anonymisiert zur Verfügung zu stellen, wenn sie einen konkreten Nutzen erkennen. So wie es auch bei anderen Angeboten wie beispielsweise Bonusprogrammen der Fall sei.

Vieles ist schon heute möglich, wird aber durch strenge Datenschutzgesetze behindert. Und gleichzeitig geben Nutzer den großen Unternehmen des Internets freiwillig ihre Daten – vollkommen ungesichert. Die Autoren wollen laut eigener Aussage bewusst die Möglichkeiten und Chancen der digitalen Medizin beleuchten, da ihrer Meinung nach die Diskussion in Deutschland zu einseitig geführt wird.

Diese These wird gestützt von einer aktuellen YouGov-Umfrage, nach der fast zwei Drittel der Deutschen eine Lockerung des Datenschutzes für Gesundheitsdaten befürworten würden. Von den Befragten stimmten 72% der Befragten der Aussage zu, dass chronisch Erkrankte besser medizinisch versorgt werden können, wenn ihre Gesundheitsdaten einfach für alle Ärzte zugänglich wären. Befragte, die bereits schon einmal sehr schwer und langwierig beziehungsweise chronisch erkrankt waren oder es aktuell sind, stimmten sogar zu 79% dieser Aussage zu. Über 70% der Befragten würden es in Kauf nehmen, wenn bei der Behandlung einer schweren Erkrankung der Schutz ihrer Gesundheitsdaten nicht beachtet wird, sofern sich dadurch die Heilungschancen verbessern.

So liest sich auch das Buch. Es hat nicht den Anspruch der Ausgewogenheit, sondern will provozieren und fordert den Leser auf, sich mit den neuen Behandlungsmethoden offen auseinanderzusetzen und die Digitalisierung der Medizin nicht zu verhindern, sondern sie zu gestalten. Dabei sind die Autoren überzeugt, dass Pa-

Am Puls

4 | 2016

9


GESUNDHEITSKOSTEN

Gesundheit ist unser höchstes Gut –

eine medizinische Top-Versorgung hat ihren Preis Das deutsche Gesundheitswesen gehört zu den besten der Welt und alle Bürger profitieren von einem hohen medizinischen Fortschritt. Nicht zuletzt dadurch werden die Menschen hierzulande auch immer älter. Heute geborene Kinder haben die reelle Chance, über 100 Jahre alt zu werden. Dieses hohe Gut einer medizinischen Top-Versorgung hat aber seinen Preis und führt dazu, dass zwangsläufig die Kosten für Behandlungen nach oben klettern. Damit steigen auch die Beiträge – sowohl in der gesetzlichen als auch in der privaten Krankenversicherung. Privatversicherte belasten Staatshaushalt nicht Während in der gesetzlichen Krankenversicherung für 2017 noch von einer

10

Am Puls

4 | 2016

Erhöhung des Zusatzbeitrags ausgegangen worden war, wurde die Erhöhung zum Jahreswechsel kürzlich abgesagt, denn der Bund zahlt den Kassen einen zusätzlichen Zuschuss von 1,5 Milliarden Euro. Und das neben einem ohnehin schon üblichen jährlichen Bonus von 14 Milliarden Euro. Über solche Geschenke würde sich die private Krankenversicherung auch freuen. Hier spart aber jeder Versicherte für sein Alter und Beitragserhöhungen unterliegen einem bestimmten Regelwerk, das gesetzlich vorgegeben ist. Die Folge: Statt jährlicher kleinerer Anpassungen (wie in der GKV üblich) kann es nach Jahren eine sprunghafte Anpassung geben, weil erst jetzt eine bestimmte Schwelle überschritten wurde. Außerdem haben privat Kranken-

versicherte eine Garantie auf die bei Abschluss der Versicherung vereinbarten Leistungen – ein Leben lang. Anders als in der gesetzlichen Krankenversicherung können hier also Leistungen nicht gekürzt werden, um Kostensteigerungen aufzufangen. Deshalb kommt es zum Jahreswechsel in der privaten Krankenversicherung zu Anpassungen, die über dem gewohnten Maß liegen können. Für viele Versicherte ist das aber die erste Erhöhung seit langer Zeit – so auch bei der Debeka, die zum Teil seit sechs Jahren stabile Beiträge geboten hat.

Kein Ende der Niedrigzinsen in Sicht Ende September stellte sich Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank, im Deutschen Bundes-


GESUNDHEITSKOSTEN tag den Fragen der Abgeordneten zum dauerhaft niedrigen Zinsniveau. Dabei deutete er an, dass mit einem Ende der Niedrigzinsen so schnell nicht zu rechnen sein wird. Das stellt Sparer, Versicherer und Versicherte vor große Herausforderungen – auch in der privaten Krankenversicherung. Wie erwähnt, haben Privatversicherte einen lebenslangen Anspruch auf hervorragende Leistungen und die Teilhabe am medizinischen Fortschritt. Um das gewährleisten zu können, legen die privaten Krankenversicherer einen Teil der Beiträge verzinslich an. Bis zuletzt waren sie dabei überaus erfolgreich: So erzielte die private Krankenversicherung im Branchendurchschnitt 2015 für ihre Versicherten eine Verzinsung von immerhin noch 3,7 Prozent. Weil die anhaltende Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank solche Erträge aber nicht dauerhaft ermöglicht, müssen die Anbieter ihre Zinserwartungen nun zurückschrauben. Der der Kalkulation zugrunde liegende Rechnungszins kann aktuell nicht erwirtschaftet werden und muss daher abgesenkt werden, sobald eine Beitragsanpassung aufgrund gestiegener Leistungsausgaben erfolgt. Zusätzlich zum Beitragsmehrbedarf aufgrund gestiegener Versicherungsleistungen und längerer Lebenserwartung ist dies eine weitere Komponente, die zu steigenden Beiträgen führt. Von der andauernden Niedrigzinspolitik sind Privatversicherte jetzt also ebenso betroffen wie andere Sparer. Hinzu kommen bei vielen Versicherern gestiegene Aufwendungen für medizinische Leistungen. Beide Effekte zusammen werden in einigen Tarifen zu untypisch starken Beitragserhöhungen führen. Sehr gutes Preis-Leistungs-Verhältnis Grundsätzlich bietet die private Krankenversicherung der Debeka aber auch nach der aktuellen Beitragsanpassung ein sehr gutes Preis-Leistungs-Verhältnis. Umfragen ergeben, dass die Menschen kleine, regelmäßigere Beitragsanpassungen eher akzeptieren würden als seltene, dann aber deutlich größere Sprünge. Bei einer derart gleichmäßi-

gen Anpassung wäre die Beitragsentwicklung in den vergangenen Jahren absolut unauffällig gewesen und hätte sogar unter der Steigerung in der GKV gelegen. Im Einklang mit Verbraucherschützern hat der Verband der Privaten Krankenversicherer daher dem Gesetzgeber schon vor längerer Zeit Vorschläge gemacht, wie sich eine solche Verstetigung rechtlich ermöglichen ließe – bislang erfolglos. Die Medien berichteten in der Vergangenheit über steigende Beiträge. Dabei kann beim Leser der Eindruck entstehen, dass private Krankenversicherungen selbst aus reiner Willkür entschieden haben, höhere Beiträge zu verlangen. Vergleicht man aber die Beiträge mit denen der gesetzlichen Krankenkassen, stellt man fest, dass auch hier in den letzten Jahren die Beiträge gestiegen sind. Nur sind hier die Leistungen nicht, wie in der privaten Krankenversicherung, festgelegt, sondern können bei Bedarf zudem noch gekürzt werden. Wichtig ist, dass der Höchstbeitrag in der gesetzlichen Krankenversicherung jährlich steigt. Das sehen aber die Wenigsten, denn in den Medien wird in aller Regel nur über die Erhöhung der Zusatzbeiträge gesprochen. Beitragsentwicklung im Alter Doch wie entwickeln sich die Beiträge im Alter? Konkrete Aussagen dazu kann niemand treffen. Aber die PKVUnternehmen haben in den vergangenen Jahren Maßnahmen getroffen, um die Beitragsentwicklung im Alter stabil zu halten. Neben der nachhaltigen Tarifkalkulation (also durch Bildung von Alterungsrückstellungen) beugen die Unternehmen aktiv vor, um die Beiträge stabil zu halten. In der unten stehenden Grafik ist am Beispiel der Debeka, dem Marktführer in der PKV, die durchschnittliche Beitragshöhe im Alter zu sehen. Es wird deutlich, dass ältere Versicherte nicht mit einer Überforderung rechnen müssen.

Drei Fragen an Uwe Laue, den Vorstandsvorsitzenden der Debeka, der größten privaten Krankenversicherung in Deutschland Viele Unternehmen in der PKV müssen zum Jahreswechsel die Beiträge anpassen. Wie erklären Sie Ihren Mitgliedern die Veränderung zum 1. Januar 2017? Laue: Die Beitragsanpassung und ihre Folgen würden wir unseren Mitgliedern gerne ersparen. Aber die auslösenden Faktoren haben angeschlagen und wir haben keine Wahl, da wir an die gesetzlichen Vorschriften gebunden sind. Wieso gibt es jetzt für viele Versicherte zum Teil sprunghafte Veränderungen? Laue: In der PKV dürfen Beitragsanpassungen nur dann erfolgen, wenn die tatsächlichen Versicherungsleistungen die den Beiträgen zugrunde liegenden Versicherungsleistungen um einen bestimmten Schwellenwert übersteigen. Das ist gesetzlich so festgelegt und führt dazu, dass es über einige Jahre hinweg oft keine Anpassungen gibt und sie dann in einem Schritt nachgeholt werden müssen. Auf jedes Jahr gerechnet liegen unsere Beitragssteigerungen durchschnittlich bei moderaten zwei Prozent und damit unter denen der GKV von 3,8 Prozent. Warum lohnt sich eine private Krankenversicherung weiterhin? Laue: Zum Beispiel bei der Debeka bieten wir einen enormen Mehrwert: weitaus höhere Leistungen als in der gesetzlichen Krankenversicherung. Außerdem liegen die PKV-Beiträge bei fast allen Versicherten unter dem, was ein freiwillig gesetzlich Versicherter ab 2017 zahlen muss. Hier liegt der Höchstbeitrag inklusive der Pflegeversicherung bei rund 800 Euro im Monat – den zahlt bei der Debeka kaum ein Mitglied.

Am Puls

4 | 2016

11


LANDTAGSWAHL NRW

Mehr Zeit und Lebensfreude

Nordrhein-Westfalen stiehlt seinen Bürgerinnen und Bürgern besonders viel Lebenszeit

Ist die Zeit das Kostbarste unter allem, so ist die Zeitverschwendung die allergrößte Verschwendung. Was schon Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der USA, im 18. Jahrhundert feststellte, hat unvermindert Aktualität. Aber: Zeitverlust ist leider sogar ein fester Bestandteil unseres täglichen Lebens. Ausgerechnet heutzutage, im Zeitalter der Digitalisierung, wo vieles schneller, einfacher und unkomplizierter erfolgen kann. Doch häufig scheint das genaue Gegenteil der Fall. Dem Einzelnen steht nicht mehr, sondern sogar weniger Zeit zur Verfügung. Wir leiden an regelrechter Zeitknappheit. Und einer der größten Zeiträuber ist dabei der Staat.

rechnen. Laut ADAC wurde im Jahr 2015 jede dritte bundesweit registrierte Staumeldung in der Rhein-Ruhr-Region verzeichnet. Handwerksbetriebe in NRW beklagen wegen des desolaten Straßenzustands und der permanenten Überlastung des Straßennetzes einen Zeitverlust von 8 Stunden wöchentlich – also einen kompletten Arbeitstag pro Woche. Auch beim Bahnfahren setzt sich der Zeitraub fort. Im Jahr 2015 kam die Bahn bundesweit 7974 Stunden pro Tag im Personen- und Güterverkehr zu spät! Eines der Schlusslichter in Sachen Pünktlichkeit ist übrigens einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte in NRW, der Kölner Hauptbahnhof. Lediglich 52,8 Prozent der Züge fuhren hier Stand April 2016 pünktlich los. In 2015 waren es sogar nur 46 Prozent.

In Nordrhein-Westfalen stiehlt er seinen Bürgerinnen und Bürgern besonders viel Lebenszeit. Etwa durch die unzähligen Staus, in denen die Menschen tagtäglich feststecken. NRW trägt nicht grundlos den unrühmlichen Titel Stauland Nr. 1. Am häufigsten müssen Autofahrer an Rhein und Ruhr mit Stillstand

In NRW sind oft höhere Standards vorgeschrieben als in anderen Bundesländern. Statt Bürokratie abzubauen, hat die rot-grüne Landesregierung sie in vielen Bereichen ausgedehnt. Lebenszeit geht deshalb z. B. für die Erfüllung aufwändiger Bürokratiepflichten verloren. Die deutsche Bürokratie dämpft die

Von Christian Lindner

12

Am Puls

4 | 2016

wirtschaftliche Produktivität. Die Folgen: die wirtschaftliche Entwicklung erlahmt. 2015 lag das Wirtschaftswachstum in NRW als einzigem Bundesland sogar gänzlich brach. Das ist schlecht für die Menschen in NRW, für Jobs und Zukunftschancen. Überbordende Bürokratie ist ein Bremsklotz für die Entwicklung unseres Landes – vor allem aber raubt sie Lebenszeit. Denn es empfinden vermutlich nur die wenigsten als Genuss beim Amt eine Nummer zu ziehen, um dann in der Schlange im kargen Flur auf den Aufruf zu warten. Wenn man sich allein vergegenwärtigt, wofür man hierzulande noch Papier und persönliche Präsenz im Behördenkontakt braucht: Fast 21 Millionen Mal im Jahr werden in Deutschland z.B. Autos an- oder umgemeldet. In 67 von 68 vom Fraunhofer-Institut im Auftrag des Nationalen Normenkontrollrats untersuchten Kommunen musste man 2015 dafür beim Amt erscheinen. Das sind Millionen Behördengänge, die den einzelnen Bürger wertvolle Zeit kosten. Ausgedruckt mitzubringen sind übrigens jeweils der ausgefüllte Zulassungsantrag, der Fahrzeugschein, der Nachweis einer gültigen Hauptuntersuchung, der HU-Prüfbericht, der Fahrzeugbrief, der Personalausweis, der Auszug aus dem Handelsregister (bei Firmen) oder der Auszug aus dem Vereinsregister (bei Vereinen). Kein Wunder, dass Deutschland so viel Papier verbraucht wie Afrika und Südamerika zusammen: fast 250 Kilogramm pro Jahr und Kopf. Dieses verstaubte An- und Ummeldeverfahren kostet Bürger und Wirtschaft 728 Millionen Euro pro Jahr, schätzt das Fraunhofer-Institut. Die Behörden werden mit ungefähr 198 Millionen Euro im Jahr belastet – allein bei der Kfz-Meldung. Mehrere Stunden Wartezeiten sind keine Seltenheit, deshalb hat sich in einigen Behörden im Ruhrgebiet ein regelrechter „Schwarzmarkt“ für Wartemarken entwickelt: 15 Euro für etwas weniger Zeitverschwendung. Unfassbar! Auch andere Behördengänge sind häufig Zeitfresser: Melderegisterauskünfte zum Beispiel werden in Deutschland 14 Millionen Mal im Jahr erteilt. Fast acht Millionen Briefe werden dafür per Post verschickt, weil dieser Vorgang laut Fraunhofer-Institut nur in 28 von 68 untersuchten Kommunen per Email oder online möglich ist. Aber selbst wo es


LANDTAGSWAHL NRW elektronischen Rechtsverkehr schon gibt, gilt dieser häufig nur „bis zur Pforte“. In vielen Gerichten etwa werden die elektronisch eingegangenen Schriftstücke dann ausgedruckt und in den hausinternen Papierumlauf gegeben. Auch das kostet eines: Zeit. Dabei geht‘s auch anders. In Estland ist der Beruf des Steuerberaters weitgehend unbekannt – jeder Bürger kann seine Steuererklärung digital selbst erledigen. Im Durchschnitt dauert das Ganze drei Minuten. So schnell kann man nicht mal einen Bierdeckel beschriften. Nach fünf Tagen bekommt der Bürger seinen Steuerbescheid. In NRW dauert die Bearbeitung zwischen 5 Wochen und 6 Monaten. Das Beispiel Estland zeigt, was möglich ist, wenn wir handeln. Erstens brauchen wir endlich ein einfacheres Steuerrecht. Wolfgang Schäuble hat bisher nicht nur jede Steuerentlastung verhindert, sondern auch Vereinfachungen im Steuerrecht blockiert. Zweitens brauchen wir eine Modernisierung der Verwaltung. Die Bürger sind informierter, gebildeter und selbstbestimmter denn je. Das muss sich in der Verwaltung spiegeln: Wir brauchen einen Staat, der es uns einfach macht. Alle Gesetze sollten darauf durchforstet werden, wo Bürger ohne Not zur Behördenpräsenz gezwungen werden. Wohngeldanträge, Baugenehmigungen oder Wohnungsanmeldungen sind Beispiele für Behördengänge, die künftig bequem und schnell von zu Hause aus zu erledigen sein

sollten. Deshalb brauchen wir einen Bürokratiedeckel. Für jede neue Vorschrift muss eine alte abgeschafft werden. Darüber hinaus ist ein Bürokratie-TÜV überfällig. Vorschriften müssen regelmäßig auf Sinn, Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit geprüft werden. Für Gesetze, Erlasse und Verordnungen müssen Fristen festgesetzt werden.

tur einzahlen. Denn Kommunen und Länder können den riesigen Sanierungsstau nicht allein beheben – das ist eine gesamtstaatliche Herausforderung. Es wäre ein Irrtum zu glauben, die Modernisierung unseres Landes und seiner Verwaltungsstrukturen sei primär eine ökonomische Frage. Ein moderner Staat mit moderner Infrastruktur und Verwaltung klaut uns allen weniger Zeit. Zeit für Familie, für ehrenamtliches Engagement oder beruflichen Erfolg. Oder für pure Lebensfreude und damit auch für mehr Wohlbefinden.

Besonders Gründer leiden unter bürokratischen Hürden. 15 Tage braucht eine gewerbliche Gründung in Deutschland, neun behördliche Anmeldeprozeduren sind dabei zu durchlaufen. Zum Vergleich: in Kanada reicht eine Onlineanmeldung. Für Gründer sollte ein bürokratiefreies Start-Jahr gelten. Dadurch hätten sie mehr Zeit, an ihrer Geschäftsidee zu feilen. Ein Gewerbe anzumelden sollte künftig zudem so schnell gehen, wie ein Auto zu mieten; statt 15 Tagen müssten 15 Minuten wie in Estland reichen. Drittens müssen wir in unsere Infrastruktur investieren. Glasfaser und Straßen müssen Vorrang haben vor Umverteilung und Bürokratie. Die flächendeckende Verfügbarkeit von breitbandigem Internet ist nicht nur eine wesentliche Voraussetzung für einen modernen Staat – schnelles Internet spart vor allem Zeit. Angesichts des Verfalls von Straßen, Brücken und Bahnen und des dadurch entstehenden Lebenszeitverlusts für Betriebe und Bürger sollte der Bund zudem 20 Jahre lang jeweils zwei Milliarden Euro in einen Fonds zur Sanierung der Verkehrsinfrastruk-

CHRISTIAN LINDNER

Christian Lindner MdL, Bundesvorsitzender der Freien Demokraten und Vorsitzender der FDP-Landtagsfraktion NRW

Düsseldorf . Duisburg . Essen . Krefeld . Dortmund . Aachen

Prüfet alles, und das Beste behaltet. J. W. v. Goethe

C3 Kliniken . Violstraße 92 . 47800 Krefeld . Telefon (0 2151) 80 60 50

Gynäkologische OP-Zentren und Tageskliniken

Stationsersetzende endoskopische / mikroinvasive Operationen

Partner aller gesetzlichen und privaten Kassen

www.c3kliniken.de

C3 Kliniken Anzeige_Motiv3_179x88mm_RZ.indd 1

06.05.15 12:25

Am Puls

4 | 2016

13


KOMMUNALPOLITIK

Die kleine Republik braucht Hilfe

Die Verschuldung der Kommunen in Nordrhein-Westfalen ist exorbitant – auch und gerade im Vergleich zu so gut wie allen anderen Bundesländern

Von Jan Heinisch „Und woher kommen Sie?“ Als Antwort wird jeder seine Heimatstadt nennen – mal stolz, mal melancholisch, mal schmunzelnd. Hans Dieter Hüsch schrieb einst eine „altmodische Pastorale“ über das Leben in seiner „kleinen Republik“. Er berichtet von den großen und kleinen Ereignissen im Dorf, vom Friedhof mit kleiner Kapelle, von der Krankenschwester Margarete, deren Fahrrad ständig kaputt ist, und vom Dirigenten, der des Abends beschwipst aus dem „Goldenen Löwen“ torkelt. „Spaßig, traurig und schön“ soll es sein – so wünschen sich die Bewohner das Leben in ihrer kleinen Republik.

Stadt und Gemeinde sind ein Stück Heimat und Heimeligkeit. Ab hier beginnt leider schon viel Verklärung. Denn was von all den Dingen, die uns unsere Heimatstadt anbietet, ist wirklich entscheidend für unser gutes Lebensgefühl? Natürlich gehören Angebote wie die

14

Am Puls

4 | 2016

Stadtbücherei, das Jugendzentrum und die Musikschule dazu. Dennoch wird die örtliche Lebenswelt mindestens genauso sehr durch den Supermarkt, das Straßencafé, die Hausarztpraxis, das Denkmal auf dem Rathausplatz, die Busanbindung in die Nachbarstadt oder den Stadtpark bestimmt – eben all das, was Menschen in ihrem Umfeld brauchen und häufig noch deutlich mehr wahrnehmen und nutzen als die unmittelbar städtische Einrichtung. Natürlich ist die Kommunalpolitik nicht für den Einzelhandelsmix vor Ort verantwortlich. Auch kann sie nur sehr begrenzt auf die Ansiedlung der allseits herbeigesehnten Arztpraxis Einfluss nehmen. Und doch gestaltet sie weit mehr Dinge und Themen, als es auf den ersten Blick der Fall sein mag und als es bei stundenlangen Diskussionen im Stadtrat über ein einzelnes Halteverbotsschild zu vermuten wäre. Ist das viel allgemeine Vorrede für das konkrete Themenfeld „Kommunalpolitik“? Schnell neigt man sonst bei der Fra-

ge, worin die Probleme unserer Kommunen liegen, zur endlosen Aufzählung von Daten. Natürlich ist die Verschuldung der Kommunen in Nordrhein-Westfalen exorbitant – auch und gerade im Vergleich zu so gut wie allen anderen Bundesländern, und das hat Gründe; natürlich sind die Hebesätze der kommunalen Steuern (Grundsteuer, Gewerbesteuer) in unserem Bundesland extrem; natürlich sind die Sozialkosten, die aus den kommunalen Haushalten bestritten werden, in den vergangenen Jahren explodiert. An all diesen Feldern muss man arbeiten. Im Kern geht es dabei aber zunächst um eine Rückbesinnung auf das Wesentliche. Das besteht vor allem darin, dass Kommunen frei entscheiden können, was sie in ihrem Wirkungskreis tun und lassen wollen. Ansonsten ist kommunale Selbstverwaltung durch die Bürger ad absurdum geführt. Bis heute fällt es natürlich schwer, an (Haushalts-) Zahlen verfassungsrechtlich zu belegen, dass die Kommunen end-


KOMMUNALPOLITIK gültig von Entscheidungsspielräumen abgeschnitten sind. Genommen ist durch die finanziellen Rahmenbedingungen aber ein großes Stück Freiheit. Ein Beispiel: Kurz vor der NRW-Landtagswahl 2017 wird ein milliardenschweres Programm „Gute Schule“ aufgelegt, mit dem Investitionen in die Schulinfrastruktur (Gebäude etc.) öffentlichkeitswirksam unterstützt werden. Verteilt wird nach dem Prinzip „Gießkanne“. Landesweit wird man indes realistisch keine Stadt finden, die bei ausreichender Finanzkraft nicht selbst auf die Idee gekommen wäre, solche Investitionen in ihre Schulen vorzunehmen. Rot-Grün hätte daher zum Beispiel nur die „Bildungspauschale“, die jede Kommune bekommt, in den vergangenen Jahren auch angepasst erhöhen müssen. Wer genau hinschaut, der bemerkt: Die Kommunen haben selbst für ihre Kernaufgaben (Schaffung geeigneter Schulgebäude) nicht ausreichend Mittel, von Sondervorhaben wie dem Vorantreiben digitaler Medien ganz zu schweigen. Technisch formuliert lässt sich dies in einem spröden, aber in der Realität dramatischen Satz zusammenfassen: Die nordrhein-westfälischen Kommunen sind strukturell unterfinanziert. Das ist das wahre Problem, das angegangen werden muss. Nicht umsonst entfallen bundesweit deutlich mehr als die Hälfte der kommunalen Kassenkredite auf Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen. Hierin offenbart sich der maßgebliche Unterschied von rot-grüner zu christlich-demokratischer Kommunalpolitik. Ziel muss sein, dass die Kommunen aus eigener Kraft und eigenen Mitteln frei ihre örtlichen Entscheidungen treffen können – auch ohne Not-Förderprogramme. Dazu hat leider auch der so genannte „Stärkungspakt Stadtfinanzen“ der Landesregierung nichts beigetragen. Zwar wird die Öffentlichkeit dieser Tage mit zahllosen Erfolgsmeldungen konfrontiert, dass zum Beispiel die Ruhrgebietskommunen wieder aus eigener Kraft wirtschaften könnten. Aber das ist weniger als die halbe Wahrheit.

Tatsächlich hat der so genannte „Stärkungspakt“ vor allem dazu geführt, dass die Kommunen kräftig an der Steuerschraube gedreht haben und auch drehen mussten. Der Rest hat sich nicht zuletzt über die gute allgemeine Situation bei den Steuereinnahmen und die Niedrigzinsphase erledigt. Und die Zuwendungen, die das Land aus anderen Städten in die Stärkungspaktkommunen zwischenzeitlich umverteilt hatte, werden nun wieder versiegen. Wirklich strukturell saniert oder gar Richtung Entschuldung hat sich indes wenig bis gar nichts getan, geschweige denn dass das Land seine Finanzierung der Kommunen überarbeitet hätte. Dies werden wir alsbald nach der Landtagswahl zu lesen und zu spüren bekommen. Die vielen ehrenamtlichen Kommunalpolitiker landesweit sind es aus den vergangenen Jahren daher hauptsächlich gewohnt, sich durch einschneidende Spardiskussionen zu kämpfen. Doch bräuchten unsere Städte und Gemeinden auch viele andere strategische Entscheidungen. Wohnungsbau müsste vorangetrieben werden, Einzelhandelsentwicklung in den Innenstädten mutig gefördert werden, Infrastruktur erneuert und teilweise auch neu geschaffen werden, zum Beispiel die Breitbandanbindung.

als bewusster und kämpferischer Gegenentwurf zum Stadtrat ausgestaltet sein muss. Eigentlich gehört ja beides eng zusammen. Klassisches Beispiel für diesen Demokratiekonflikt ist das Bürgerbegehren, mit dem eine rechtmäßig und häufig nur aus Sachzwängen heraus getroffene Ratsentscheidung (Schwimmbadschließung, Bau einer neuen Umgehungsstraße und Ähnliches) gegen den Willen vermeintlich unfähiger oder entfremdeter Ratspolitiker wieder gekippt wird. Zudem sind Zusammenhänge ja leider auch häufig so komplex und vielschichtig, dass sie sich eigentlich einer einfachen „Ja/Nein“Frage eines Bürgerentscheides entziehen.

Abgesehen vom Geld sind solch wegweisende Entscheidungen aktuell auch politisch schwer zu treffen und durchzusetzen. Einerseits ist zum Beispiel im Bereich des Bauplanungsrechts ein rot-grüner Vorschriften- und Beteiligungsdschungel übergeordneter Behörden geschaffen worden, der Projekte endlos verzögert, verteuert und erschwert.

JAN HEINISCH

Andererseits wird Entscheidungsmut eines Stadtrates auch nicht belohnt. Denn durch die ewige Senkung der benötigten Unterschriftenquoren für Bürgerbegehren und ähnliche Instrumente sind auch kleinste Minderheiten aus der Bevölkerung in der Lage, Entscheidungen zu kippen oder zumindest für einen erheblichen Zeitraum zu suspendieren. Die Mitwirkung der Bürger in einer Kommune ist natürlich in höchster Form zu begrüßen. Allerdings stellt sich die Frage, warum diese direkte Demokratie immer

Eine neue Phase direkter Demokratie einzuläuten, wäre daher zumindest eine Diskussion wert. Wenn die Trennlinien klarer herausgearbeitet würden und Bürgermitbestimmung in verschiedensten Formen verpflichtend wird, ist auch niemand mehr gezwungen, mit Bürgerbegehren und Bürgerentscheid gegen vermeintlich falsche Entscheidungen der realitätsfernen „politischen Klasse“ zu kämpfen. Vielleicht bereitet den ehrenamtlichen Ratsmitgliedern ihre Tätigkeit dann auch wieder mehr Freude.

Dr. Jan Heinisch, Jurist, ist seit 2012 stellvertretender Vorsitzender der CDU NRW und seit 12 Jahren Bürgermeister seiner Heimatstadt Heiligenhaus. Schon von Jugend an in der Freiwilligen Feuerwehr aktiv, übernahm er im Jahr 2010 den Vorsitz des Verbandes der Feuerwehren in NRW. Im Mai 2017 kandidiert er für den Landtag

Am Puls

4 | 2016

15


Foto: BARMER GEK

PFLEGENDE ANGEHÖRIGE

PAUSE wirkte sich nicht nur nachhaltig positiv auf die Gesundheit der Teilnehmer aus, sondern konnte auch Depressionen vorbeugen

Ergebnisse Modellprojekt PAUSE

Programm zur Unterstützung pflegender Angehöriger kann Versorgungslücke schließen Das Programm PAUSE kann die Gesundheit von pflegenden Angehörigen nachweislich verbessern. Mehr als 300 Pflegende aus Nordrhein-Westfalen erhielten 2014 bis 2016 Unterstützung beim Modellprojekt, das vom NRW-Gesundheitsministerium und der BARMER GEK gefördert wurde. Die Ergebnisse zeigen: PAUSE wirkte sich nicht nur nachhaltig positiv auf die Gesundheit der Teilnehmer aus, sondern konnte auch Depressionen vorbeugen. Dadurch stabilisierte sich auch die häusliche

16

Am Puls

4 | 2016

Pflegesituation. Von speziellen mehrtägigen Kompaktseminaren können Angehörige jedes Alters und in verschiedenen Lebenssituationen, darunter auch Langzeit-Pflegende, profitieren.

betont Juliane Diekmann, Pflegewissenschaftlerin bei der BARMER GEK. Bei PAUSE erarbeiteten die Teilnehmer daher individuelle Bewältigungsstrategien für ihren Alltag.

Risiko für Depressionen sinkt „Pflege ist eine Mehrfachbelastung, die für viele gesundheitliche Einbußen birgt. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich Angehörige – oft neben dem Beruf – um ein Elternteil, den Partner oder ihr behindertes Kind kümmern“,

„Zwei von fünf Teilnehmern hatten zu Beginn Symptome einer Depression. Angehörige, die sich um Lebenspartner oder Demenzkranke kümmerten, waren besonders oft betroffen“, berichtet Dr. Christian Hetzel, Projektleiter am Institut für Qualitätssicherung in


PFLEGENDE ANGEHÖRIGE

Flächendeckende Strukturen Nicht nur das Erlernte aus dem Kompaktseminar wirkte stabilisierend auf die Gesundheit der Angehörigen. Auch ihr Pflegeverhalten änderte sich nachhaltig. „Im Gegensatz zu den Pflegenden aus der Vergleichsgruppe nutzten die PAUSE-Teilnehmer später deutlich häufiger Pflegekurse, häusliche Schulungen oder weitere Maßnahmen zu ihrer Unterstützung“, sagt Diekmann. Zudem tauschten sich diese Angehörigen häufiger mit anderen Pflegenden aus. Auch ihre Freizeitaktivitäten nahmen zu. „Gleichzeitig nahmen die Teilnehmer ihre persönlichen Einschränkungen als geringer wahr. Sie konnten ihre Pflegesituation besser akzeptieren“, erklärt Hetzel. Aus einer Gesellschaft mit einer zunehmenden Anzahl an Pflegebedürftigen sind Angehörige nicht wegzudenken. Mehrtägige Entlastungsprogramme können diese, das legen die PAUSEErgebnisse nahe, als wichtige Säule bei der Pflege stärken.

„Höchste Zeit für flächendeckende Unterstützung pflegender Angehöriger“ Interview mit Heiner Beckmann, Landesgeschäftsführer der BARMER GEK in NordrheinWestfalen, über die Lücke bei der Entlastung von pflegenden Angehörigen Mit der Pflegereform hat die Politik bereits die Leistungen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen ausgeweitet. Warum plädiert die BARMER GEK für noch mehr Unterstützung von Angehörigen? Heiner Beckmann: Pflegenden Angehörigen kommt durch das neue Pflegestärkungsgesetz deutlich mehr Unterstützung zu, dies begrüßen wir als Pflegekasse. Die Ergebnisse des Modellprojekts PAUSE führen jedoch vor Augen, dass Angehörigenpflege ohne gezielte Entlastung und mehr Anerkennung dauerhaft nicht funktionieren kann. Wenn ein Angehöriger im Schnitt rund 37 Stunden pro Woche ein Familienmitglied pflegt, häufig neben dem Beruf und anderen familiären Aufgaben, geht dies ohne entsprechende Unterstützung zu Lasten seiner eigenen Gesundheit. Inwiefern kann ein Kompaktseminar allein langfristig Unterstützung bieten? Beckmann: Spezielle Kompaktseminare wie PAUSE können die Versorgungslücke bei der Entlastung der Pflegenden schließen, weil sie die Angehörigen zur Selbstsorge anregen. Die Ergebnisse belegen, dass PAUSE nachhaltig etwas am Pflegealltag der Teilnehmer verändern konnte. Es ist daher höchs-

te Zeit, dass solche Programme Teil der Regelversorgung werden. Das Modellprojekt ist im September dieses Jahres beendet worden. Wie geht es nun weiter? Beckmann: Wir führen das Kompaktseminar seit Abschluss der Pilotphase fort. Leider als einzige Pflegekasse. Allein in NRW gibt es mehr als 500.000 Menschen, die Angehörige betreuen. Um möglichst viele pflegende Angehörige zu entlasten, bedarf es flächendeckender Strukturen und eines gemeinsamen Engagements aller Kostenträger. Mehr Informationen zum aktuellen Kompaktseminar „Ich pflege – auch mich“ unter

www.barmer-gek.de/s050126

HEINER BECKMANN Foto: BARMER GEK

Prävention und Rehabilitation an der Deutschen Sporthochschule in Köln (iqpr). Neun Monate nach PAUSE hat das iqpr den Gesundheitszustand der weiterhin pflegenden Teilnehmer erfragt. Die Ergebnisse wurden mit pflegenden Angehörigen aus NRW, die nicht am Kompaktseminar teilgenommen hatten, verglichen. „Bei knapp 40 Prozent der ursprünglich betroffenen PAUSE-Teilnehmer gab es deutlich weniger Anzeichen für eine Depression. In der gesamten Vergleichsgruppe waren es lediglich 24 Prozent“, erläutert Hetzel. Darüber hinaus konnten die PAUSE-Teilnehmer im Vergleich zu den anderen Pflegenden besser mit Belastungen umgehen. Die persönliche Einschätzung ihres Gesundheitszustands fiel deutlich positiver aus. In der Wissenschaft hat sich die subjektive Gesundheit bei der Vorhersage von Krankheiten bewährt.

Heiner Beckmann ist seit mehr als 30 Jahren in unterschiedlichen Führungsaufgaben bei der BARMER bzw. BARMER GEK tätig; 1990 bis 2002 Bezirks- und Regionalgeschäftsführer in Witten, Bergisch-Gladbach, Düsseldorf und Essen; 2002 bis 2006 Landesgeschäftsführer in Westfalen-Lippe; 2006 bis 2009 Hauptabteilungsleiter Marketing und Vertrieb in der Hauptverwaltung Wuppertal; 2010 bis 2012 Hauptabteilungsleiter Marketing in der Hauptverwaltung Wuppertal. Seit April 2012 Landesgeschäftsführer in Nordrhein-Westfalen

Am Puls

4 | 2016

17


Mehr SCHUMAN wagen –

warum wir die europäische Demokratie jetzt neu erfinden müssen

Damit die europäische Idee keine Episode bleibt, sondern auch für künftige Generationen Frieden, Freiheit und Wohlstand sichert, muss sich die europäische Politik grundlegend ändern

Von Roland Theis

Robert Schuman ist in diesen Tagen und Wochen wieder in aller Munde. Viele berufen sich auf ihn und seine Gründungsideen, die viel dazu beigetragen haben, dass Europa in den vergangenen 70 Jahren eine noch nie gekannte Periode von Frieden, Freiheit und Wohlstand erlebt hat. Heute stellt sich die Frage, ob aus dieser Periode nicht doch eine Episode werden könnte. Die europäische Idee jedenfalls scheint auf dem Rückzug. Es scheint, die Völker Europas wenden sich – wieder einmal – von ihr ab und sehnen sich im Wunsch nach Kontrolle nach der Souveränität der alten Nationalstaaten zurück. Dabei führen heute viele die Ideen Schumans im Munde, wenn sie von

18

Am Puls

4 | 2016

Europa sprechen. Doch was würde denn die Übertragung der Gründungsideen Schumans, die der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl zugrunde lagen, in der Übertragung auf die Gegenwart bedeuten? Der Vergemeinschaftung von Kohle und Stahl nach dem 2. Weltkrieg lag eine so einfache wie bestechend richtige Idee zugrunde: Die europäischen Völker sollten künftig die Dinge, über die und mit denen man sich in der Vergangenheit kriegerisch auseinandergesetzt hatte, gemeinsam regeln und verwalten. Kohle, Energielieferant und Stahl, Basis jeder industriellen Produktion - nicht zuletzt von Waffen - wurden zur Gemeinschaftsaufgabe. Ein solch gewaltiger Schritt wenige Jahre nach dem Ende des Krieges mutet nicht nur im Rückblick revolutionär an.

Die Wiederbegründung Europas im Geiste Robert Schumans kann daher nicht in der Politik der kleinen Schritte und des minimalen gemeinsamen Nenners daher kommen. Die europäische Idee ist auch deshalb auf dem Rückzug, weil wir den Menschen keine Antwort auf die Frage der langfristigen Ausrichtung dieses Projekts geben können. Aber: Dies ist heute so wichtig wie noch nie. Denn ein wesentlicher Anteil der politischen Begründung der europäischen Integration ergibt sich aus dem Blick in die kommenden Jahrzehnte. Denn in einer Welt der bald zehn Milliarden Menschen, in der die europäischen Nationalstaaten demographisch, ökonomisch, kulturell und nicht zuletzt militärisch gegenüber aufsteigenden Weltregionen immer mehr an Einfluss verlieren werden , können wir Europäer unsere Werte und Interessen ent-

Foto: Wandersmann/ pixelio.de

EUROPA ERNEUERN


EUROPA ERNEUERN

weder gemeinsam oder gar nicht verteidigen. Ob Berlin, Paris, Prag oder Tallinn, Valletta und Luxemburg egal wie groß man sich in Europa fühlt: Das Streben nach nationaler Souveränität ohne die notwendige Macht, diese auch effektiv zu vertreten, ist mehr Folklore als Realpolitik. Was bedeutet also Schumans Grundgedanke - die Vergemeinschaftung aller „lebenswichtigen“ Politikbereiche und die gemeinsame Vertretung vitaler Interessen so wie es Kohle und Stahl in den 1950ern waren – für das Jahr 2016? Dazu zählen sicher die Fragen von Migration und Asyl: Gemeinsame Grenze, gemeinsame Regeln, gemeinsame Durchsetzung. Dazu zählt ebenso Energie- und Klimaschutz: Gemeinsame Ziele, gemeinsame Lösungen. Ohne Frage ist dies Verteidigung der äußeren Sicherheit gegen militärische und terroristische Bedrohung: Gemeinsame Armee, gemeinsamer Geheimdienst. Und schließlich – angesichts der ökonomischen Verwerfungen in weiten Teilen Europas – die Wirtschaftsund Finanzpolitik als dringend notwendige Vollendung der gemeinsamen Währung. Vergemeinschaftung heißt daher konkret ein Ende nationaler Alleingänge und des quälenden Einstimmigkeitsprinzips in den Verhandlungen im Europäischen Rat. Nicht möglich ohne eine Stärkung des europäischen Parlaments und die Installation einer europäischen Regierung, die vom direkt gewählten Europäischen Parlament im Sinne einer echten repräsentativen Demokratie kontrolliert wird. Nicht möglich ohne eine Stärkung des Gedankens der Subsidiarität, damit Europa sich nicht um alles kümmert sondern um alles, wozu Europa gebraucht wird. Nicht möglich ohne eine gemein-

same Wahrnehmung des französischen Sitzes im UN-Sicherheitsrat im Rahmen einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die ihren Namen verdient. Nicht möglich daher ohne eine wesentliche Übertragung weiterer Souveränität auf die europäische Ebene. Und daher eben auch nicht möglich ohne eine starke demokratische Legitimation einer grundlegenden neuen europäischen Verfassung. In Anbetracht der Traditionen in vielen europäischen Demokratien führt daher für diese Verfassung kein Weg an einem europaweiten Referendum vorbei. Doch hat ein solches Referendum überhaupt die Chance auf eine Mehrheit? Oder ist dies die programmierte Niederlage der europäischen Idee angesichts des Aufkommens der europafeindlichen Kräfte von Rechts- und Linkspopulisten? Doch die Alternative zu einem solch weitgehenden Schritt in Richtung eines föderalen Europas ist Stillstand. Und Stillstand – das haben die vergangenen zwei Jahrzehnte gezeigt – bedeutet Rückschritt, verbunden mit dem weiteren Verlust von Rückhalt in der Bevölkerung, der der europäischen Idee wie Sand aus der Hand zu gleiten scheint. Stillstand in einer Welt, die sich selbst täglich radikal verändert und in Bewegung ist. Der alte Kontinent steht vor der Frage, ob er sich noch neu erfinden kann oder ob er zur politischen Irrelevanz verdammt ist und nur noch zum Beobachter und Betroffenen von globalen Entwicklungen degradiert wird, auf die er dann immer geringeren Einfluss haben wird. Fromme Wünsche eines Föderalisten? Eine Utopie? Vielleicht. Aber an-

gesichts der visionären Kraft, des Muts und der Weitsicht eines Robert Schumans und der Gründungsidee Europas, die es schaffte auf den Gräbern des 2. Weltkriegs einen am Boden liegenden Kontinent zu einem Projekt von Frieden, Freiheit und Wohlstand über zwei Generationen zu machen, kein revolutionärer Vorschlag. Sicher ist: Wer will, dass die europäische Idee keine Episode bleibt, sondern auch für künftige Generationen Frieden, Freiheit und Wohlstand sichert, muss die europäische Politik grundlegend ändern. Mut und Weitsicht eines Robert Schuman müssen hierfür Vorbild sein! Die Entwicklung der Europäischen Union in den vergangenen Jahren sowie die Entscheidung im Vereinigten Königreich erfordern eine gesellschaftlich breit angelegte Debatte über die Zukunft der Institution EU, zu der dieser Artikel mit anregen und einen Beitrag leisten möchte.

ROLAND THEIS

Roland Theis, MdL, geboren am 17. März 1980 in Neunkirchen / Saar, Mitglied des saarländischen Landtages seit 2009, Generalsekretär der CDU Saar und Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Fraktion im saarländischen Landtag, Lehrbeauftragter an der Université de Lorraine in Nancy, Mitglied des Verwaltungsrates der Fondation d‘Entente Franco-Allemande (FEFA), Mitglied im Verwaltungsrat des Institute de la Grande Région (IGR), Vizepräsident des „Cercle Développement et Perspectives“ in Metz

Am Puls

4 | 2016

19


Grafik: Bernd Kasper/ pixelio.de

EUROPA

Man wird die Unabhängigkeitsbestrebungen von Schottland und Nordirland nicht länger mit dem Argument in Zaum halten können, dass die Einheit Großbritanniens in Vielfalt unter dem Dach der Europäischen Union für alle eine win-win-Situation darstellt

Wir leben in einer wunderbaren Zeit, in der es sich lohnt, politisch zu werden! Von Ronja Kemmer, MdB

Das Jahr 2016 ist noch nicht vorüber und man kann bereits jetzt sagen, dass in diesem Jahr einiges auf den Kopf gestellt wurde, was in den vorhergehenden Jahren und Jahrzehnten für uns von Gewissheit war. Wir befinden uns in einer Phase der Unordnung, die viele Menschen verunsichert. Kriege und militärische Auseinandersetzungen kennen meine Generation meist ja nur aus Erzählungen von Großeltern, aus dem Geschichtsunterricht, aus

20

Am Puls

4 | 2016

Büchern oder Filmen. Doch die Bedrohungen in der Welt, in Europa und auch in Deutschland sind realer geworden. Terroranschläge wie in Paris oder Nizza treffen Dutzende Unschuldige und gehen uns auch deswegen sehr nahe, weil wir viele Facetten des modernen Lebens und die unzähligen Möglichkeiten, die uns die globalisierte Welt bietet, nicht missen wollen: wir können innerhalb kürzester Zeit an vielen Stellen auf dieser Welt sein, sind Dank den sozialen Medien

immer mitten im Geschehen und setzen unterschwellig voraus, dass die Achtung von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten unverrückbare Grundpfeiler in modernen Gesellschaften sind. Diese Möglichkeiten implizieren aber auch, dass jeder Einzelne von uns am Abend der Terroranschläge von Paris im Musikclub „Bataclan“ und im „Stade de France“ hätte sein können - oder am französischen Unabhängigkeitstag einen zuerst sommerlich-leichten Abend auf der Uferpromenade von


EUROPA Nizza hätte verbringen können. Wir dürfen uns aber nicht einschüchtern lassen, sondern müssen immer wieder aufs Neue unsere Werte verteidigen, Tag für Tag! Auch die Ungewissheit, ob alle Errungenschaften der europäischen Nachkriegsjahrzehnte „natürlicherweise“ Bestand haben, treibt uns um. Als jüngste Bundestagsabgeordnete der 18. Wahlperiode und Mitglied im Europaausschuss bin ich täglich mit diesen Fragen konfrontiert, und es ist nicht leicht, Antworten darauf zu finden, was kommen wird. Großbritannien hat sich in diesem Juni in einem Volksreferendum dafür entschieden, aus der Europäischen Union auszuscheiden – ein Vorgang, der für viele unvorstellbar war und nun aber Realität geworden ist. Gerade an diesem Beispiel – und im Zusammenhang mit den anderen Unsicherheiten auf der Welt – lassen sich aber etliche Themen aufführen, mit denen wir uns als politisch Denkende und Handelnde auseinandersetzen müssen: Wir leben in einer Zeit, in der sich insbesondere Teile der jüngeren Generation mal Gedanken machen sollten, dass die Freiheiten, die wir in Europa haben, nicht vom Himmel gefallen sind – und ständig neu erarbeitet, begründet und verteidigt werden müssen: Reisefreiheit, Niederlassungsfreiheit, freier Warenverkehr, freier Dienstleistungsverkehr. Selbstverständlich ist gar nichts. Wir leben in einer Zeit, in der nach Lage der Dinge vor allem Ältere für den Brexit gestimmt haben – und die Jüngeren dagegen. Die Jüngeren haben aber auch nicht im gleichen Maße am Referendum teilgenommen wie die Älteren. Gottseidank haben wir einen medizinischen Fortschritt und dadurch ein längeres Leben. Aber es bleibt die Erkenntnis dass fast alle Gesellschaften in Europa überaltert sind – und dadurch auch politische Entscheidungen im Sinne dieser Mehrheit fallen. Das

fängt bei Rentenlasten an und hört bei Chancenverweigerung auf. Viele Ältere wollen nur das Beste für die jüngere Generation – deswegen ist es auch so unverständlich, dass sich Jüngere nicht mit genau diesen Älteren verbünden, politisch werden, mitgestalten statt nur zu konsumieren. Nichts wird bleiben wie es ist, wenn man nicht selbst politisch wird. Wir leben in einer Zeit, in der wir zuschauen müssen, wie Großbritannien womöglich langfristig territorial zerfällt. Man wird die Unabhängigkeitsbestrebungen von Schottland und Nordirland nicht länger mit dem Argument in Zaum halten können, dass die Einheit Großbritanniens in Vielfalt unter dem Dach der Europäischen Union für alle eine win-win-Situation darstellt. Der Ausgang dieses Referendums wird Großbritannien und Europa verändern – in welcher Art und Weise, das wird sich zeigen. Wir leben in einer Zeit, in der man erkennen sollte, dass Dinge, die wunderbar auf unteren politischen Ebenen entschieden werden können, keiner Regulierung durch Eurozentrismus bedürfen. Mehr Stuttgart und Berlin statt mehr Straßburg und Brüssel. Die Europäische Union muss sich um die großen Fragen kümmern: als Friedens- und Wertegemeinschaft, um eine stabile Währung, Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand zu generieren – überbordende Bürokratie oder Normen für Olivenkännchen und Staubsauger braucht niemand. Daran sind neben den europäischen Institutionen auch die Mitgliedsstaaten, die solche Dinge einfordern, um ihre Interessen zu schützen, nicht unschuldig. Wir leben in einer Zeit, in der Populismus zu oft über Rationalität siegt. Schwache Argumente haben beim Brexit verfangen, die UKIPs, AfDs, Front Nationals dieser Welt jubilieren. Aber sie bieten keine durchdachte Lösung, sondern spielen

mit Ressentiments und Emotionen. Wenn man im gesellschaftlichen Wohlstand aufgewachsen ist, dann wird man manchmal blind für die Gefahren, die dieser Wohlstand mit sich bringt. Auch deswegen bin ich ein überzeugter Anhänger der repräsentativen Demokratie mit klaren Verantwortlichkeiten in Gemeinderäten und Parlamenten anstatt immer niedrigerer Hürden für Volksentscheide, bei denen man sich dann aus der Verantwortung stehlen kann. Wir leben in einer Zeit, in der zum ersten Mal in der jüngeren europäischen Geschichte eine Generation in einer gefestigten Demokratie die Gestaltungsspielräume ihrer Nachfolgegeneration massiv eingeschränkt hat, anstatt ihr bessere, größere, vielfältigere Chancen einzuräumen. Auch hier gilt: selbstverständlich ist gar nichts. Am Brexit kann man also sehen, dass nichts bleibt wie es ist, wenn man nichts macht. Deswegen leben wir in einer wunderbaren Zeit, in der es sich geradezu lohnt, politisch zu werden.

RONJA KEMMER

Ronja Kemmer, MdB, wurde am 3.05.89 als Ronja Schmitt in Esslingen geboren. Die Volkswirtin gehört dem Bundestag seit 12/2014 an

Am Puls

4 | 2016

21


GESUNDHEITSREPORT

MLP GESUNDHEITSREPORT 2016 Mehrleistungen reichen Bürgern nicht aus – Ärzte beklagen Versorgungslücken.

STATUS QUO UND AUSBLICK

POLITIK

82 % der Bürger und 93 % der Ärzte sind mit dem Gesund-

62 % der Ärzte stellen der Politik kein gutes Zeugnis aus. Mit 40 % sind erstmals mehr Bürger mit der Gesundheitspolitik zufrieden als unzufrieden.

heitssystem und der Versorgung aktuell zufrieden.

62 % der Ärzte rechnen mit einer Verschlechterung in den nächsten Jahren. 91 % der Ärzte sehen die künftige Versorgung im ländlichen Raum als kritisch. 81 % der Bürger fürchten steigende Kassenbeiträge. 67 % der Bürger haben Angst vor einer Zwei-Klassen-Medizin.

KOSTENDRUCK

LANGE WARTEZEITEN 45 % der Krankenhausärzte mussten aus Budgetgründen schon auf medizinisch angeratene Behandlungen verzichten. 40 % der Bürger hatten das Gefühl: Mir wurden Behandlungen oder Medikamente wegen der Kosten vorenthalten. 56 % der Bürger klagen über lange Wartezeiten – Terminvergabestellen sehen Patienten positiv, niedergelassene Ärzte lehnen diese ab.

QUALITÄT DER KRANKENHÄUSER

KRANKENHAUSREFORM

42 % der Ärzte an kleinen Krankenhäusern rechnen mit unterdurchschnittlichen Einstufungen durch das Qualitätsinstitut und deshalb mit Budgetkürzungen.

Die Qualität von Krankenhäusern schätzen die Bürger regional sehr unterschiedlich ein: 51 % gute Bewertungen kommen aus Hamburg, 29 % kommen von Schlusslicht Hessen.

MEHRLEISTUNGEN reichen Bürgern nicht aus – Ärzte beklagen VERSORGUNGSLÜCKEN 22

Am Puls

4 | 2016

Von Uwe Schroeder-Wildberg, Vorstandsvorsitzender der MLP AG

Spätestens wenn demnächst der Wahlkampf richtig beginnt, ist für diese Legislaturperiode Schluss mit konkretem Regierungshandeln – auch mit Reformen im Gesundheitssystem. Gesetzesentwürfe sind dann von der großen Koalition nicht mehr zu erwarten. Ein guter Zeitpunkt also für ein Resümee: Wie kommen die bisher umgesetzten Reformmaßnahmen bei Bürgern und Ärzten an? Und wie sehen sie die Zukunft des Gesundheitssystems? In der 9. Ausgabe des MLP Gesundheitsreports haben wir genau diese Fragen beantwortet. In unserem Auftrag hat das Institut für Demoskopie Allensbach rund 2.000 Bürger und 500 Ärzte nach ihrer Meinung zum deutschen Gesundheitssystem und der Gesundheitsversorgung gefragt. Bürger und Ärzte bewerten Gesundheitspolitik sehr unterschiedlich

Zu den jüngst umgesetzten Reformmaßnahmen sind Ärzte und Bürger mitunter deutlich unterschiedlicher Meinung: Anders als zwei Drittel der Ärzte zeigen sich 40 Prozent der Bevölkerung mit der Gesundheitspolitik insgesamt zufrieden. Wie lässt sich das erklären? Die Bürger erachten die Qualität der aktuellen Gesundheitsversorgung mehr denn je als sehr gut. Dazu passt: Die jüngsten Reformschritte waren fast ausschließlich Leistungsausweitungen. Die Kostenseite hingegen hat die Politik zu stark ausgeblendet. Das tun im Übrigen auch viele Bürger: Angesichts weiterhin langer Wartezeiten beim Arzt befürworten die Bürger die Einrichtung der Terminvergabestellen. Eine deutliche Mehrheit von ihnen will zudem das Recht auf Unterstützung durch die Terminvergabestellen – obwohl vom Gesetzgeber noch nicht einmal so vorgesehen – auch auf nicht dringliche Fälle ausdehnen. Kosten interessieren hier allenfalls eine Minderheit. Zum Vergleich: 81 Pro-


GESUNDHEITSREPORT

Das gleiche Bild zeigt sich beim Recht auf eine zweite Arztmeinung vor besonders häufig durchgeführten Operationen: Dies befürworten 75 Prozent in der Bevölkerung; 79 Prozent fordern darüber hinaus, dass dies vor jeder Operation möglich sein müsse. Dabei zusätzlich entstehende Kosten für das Gesundheitssystem sind aus Sicht der hier Befragten hinzunehmen. Die Ärzte befürworten zu 92 Prozent das Recht auf eine zweite Meinung – für die meisten von ihnen ist es ohnehin bereits gelebte Praxis. Kosten werden auch an anderer Stelle ausgeblendet. Beispiel E-Health-Gesetz: Den darin verankerten Ausbau der Telemedizin erachten 61 Prozent der Ärzte zwar als richtig. Ähnlich verbreitet sind aber die Stimmen, dass dafür die Voraussetzungen in punkto technischer Ausstattung und Ausbildung der Ärzte erst noch geschaffen werden müssen. Auch dies wird erst einmal zu weiteren Kosten im System führen.

Kostendruck führt zu Einschränkungen Der Kostendruck, der heute schon auf dem Gesundheitssystem lastet, wird an anderen Stellen bereits überaus deutlich – allen voran in den Krankenhäusern. Die Anzahl der dortigen Ärzte, die Patienten eine aus medizinischer Sicht angeratene Behandlung aufgrund von Kosten schon einmal vorenthalten mussten, ist deutlich angestiegen – von 29 Prozent 2014 auf heute 45 Prozent. Insgesamt sehen 77 Prozent der Ärzte das medizinisch Sinnvolle im Krankenhaus von Budgets, Pauschalen und Regressen dominiert. Der Kostendruck im Gesundheitswesen wird auch von der Bevölkerung wahrgenommen: Bereits 40 Prozent der Befragten hatten schon das Gefühl, dass ihnen aus Kostengründen eine Behandlung oder ein Medikament vorenthalten wurde. Insbesondere gesetzlich Versicherte ge-

ben dies an (42 Prozent). Deutlich gestiegen ist mit 32 Prozent der Anteil der Bürger, die mehrmals beim Arzt eine Behandlung oder ein Medikament selbst bezahlen mussten.

Bürger haben sehr unterschiedliche Eindrücke von Krankenhäusern Hinsichtlich des Krankenhausstrukturgesetzes – einer weiteren großen Reformmaßnahme aus dieser Legislaturperiode – sind die Ärzte gespalten: Nur eine knappe Mehrheit von 53 Prozent befürwortet Qualitätsmessungen, die veröffentlicht werden und Auswirkungen auf die Honorierung haben. Dabei fällt auf: Vor allem an kleinen Häusern rechnen Ärzte (42 Prozent) mit unterdurchschnittlichen Einstufungen durch das vorgesehene Qualitätsinstitut und mit einhergehenden Budgetkürzungen – an Einrichtungen mit mehr als 500 Betten sind es hingegen nur 18 Prozent.

medizinisch notwendiger Leistungen (84 Prozent). Mit einer Zwei-KlassenMedizin rechnen 70 Prozent der Ärzte als auch 67 Prozent der Bürger. Die Bevölkerung erwartet vor allem steigende Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung (81 Prozent) und befürchtet, dass verstärkt Kosten der medizinischen Versorgung selbst zu tragen sind (72 Prozent). Um auch in Zukunft eine sehr gute medizinische Versorgung für jeden Bürger zu bieten, muss sich die Politik an die strukturellen Probleme des Gesundheitssystems wagen – mehr Eigenverantwortung der Bürger – ähnlich wie bei der Rente – ist unumgänglich. Auch wenn damit kaum Wähler zu begeistern sind – noch weniger in einer Zeit, in der es eine sehr hohe Zufriedenheit mit der heutigen Gesundheitsversorgung gibt und andere Themen die Menschen im bald beginnenden Wahlkampf bewegen.

Auch wenn die Krankenhausärzte die Versorgungsqualität in den Krankenhäusern insgesamt weiterhin sehr positiv bewerten – eine der größten Herausforderungen ist der Personalmangel: 68 Prozent der Krankenhausärzte klagen darüber insbesondere mit Blick auf das Pflegepersonal. Die Bevölkerung zeigt sich zu großen Teilen zufrieden mit der Versorgung in den Krankenhäusern (41 Prozent), wenn auch mit langfristig rückläufigem Trend (1995: 50 Prozent). Zudem sind deutliche Unterschiede im Ländervergleich feststellbar: In Hamburg haben 51 Prozent einen guten Eindruck von den Krankenhäusern, in Hessen hingegen weniger als ein Drittel der Bürger.

Kritische Perspektive für die Gesundheitsversorgung Knapp zwei Drittel der Ärzte rechnen in den nächsten zehn Jahren mit einer Verschlechterung der Gesundheitsversorgung. Besonders problematisch aus ihrer Sicht werden die medizinische Versorgung im ländlichen Raum (91 Prozent) und die Verordnung aller

© Albert-Schweitzer-Kinderdörfer

zent der niedergelassenen Ärzte lehnen die Einrichtung der Terminvergabestellen ab.

st ark – Ge m ei ns am r wi d un Si e

Wir sind für Kinder da Helfen Sie uns notleidenden Kindern in unseren Kinderdorffamilien Hoffnung zu schenken! IBAN: DE80 1002 0500 0003 3910 01, Fon +49 30 206491-17 www.albert-schweitzer-verband.de

Am Puls

4 | 2016

23


Foto: erysipel/ pixelio.de

APOTHEKE 2030

Gesundheitswesen im Umbruch – Den Wandel aktiv gestalten Die Apotheker in Deutschland sind die Experten für Arzneimittel

Von Thomas Preis

Ob Demografie, Digitalisierung, personalisierte Medizin oder Pharmazie - bereits wenige Stichworte machen deutlich: Das Gesundheitswesen befindet sich in einer tiefgreifenden Umbruchsphase. Politik und Akteure im Gesundheitswesen, zu denen öffentliche Apotheken in zentraler Funktion gehören, stehen vor neuen Herausforderungen. Apotheker haben mit richtungsweisenden Initiativen bereits deutlich gemacht, wie sie den Wandel aktiv mitgestalten wollen. Der vorliegende Bericht beleuchtet schlaglichtartig signifikante Herausforderungen und zeigt die wichtige Rolle der Apotheker in unserer Gesundheitsversorgung auf. Dabei werden zentrale Ergebnisse der vom

24

Am Puls

4 | 2016

Apothekerverband Nordrhein initiierten Trendanalyse zum Thema „Apotheken der Zukunft - Den Wandel aktiv gestalten!“ des Zukunftsforschungsinstitutes 2b AHEAD Think Tank mit Kernaussagen des ABDA-Perspektivpapiers „Apotheke 2030 – Perspektiven zur pharmazeutischen Versorgung in Deutschland“ verknüpft.

lungsmerkmal: Sie sind tagtäglich und auch an Sonn- und Feiertag wohnortnah erreichbar und bieten etwas, was in einer zunehmend virtuellen Welt von unschätzbaren Wert ist: persönliche Nähe, kompetente persönliche Beratung zu Gesundheit, Gesundheitsvorsorge und natürlich Arzneimitteln.

Die öffentlichen Apotheken haben täglich 3,6 Millionen Patientenkontakte und erzielen höchste Vertrauenswerte In einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft sind die Apotheken vor Ort eine unverzichtbare und gemessen an den täglichen Patientenkontakten die erste Anlaufstelle im Gesundheitswesen – in allen Fragen der Arzneimittel- und Gesundheitsversorgung der Menschen. Ihr Alleinstel-

„Die Apotheker in Deutschland sind die Experten für Arzneimittel. Basierend auf dieser Kernkompetenz leisten sie einen unverzichtbaren Beitrag zur Gesundheit des Patienten in der ambulanten Versorgung. Als freie Heilberufler erfüllen sie über öffentliche, inhabergeführte Apotheken den gesetzlichen Auftrag zur flächendeckenden Arzneimittelversorgung der deutschen Bevölkerung.“ (Präambel ABDA-Perspektivpapier „Apotheke 2030“)


APOTHEKE 2030 Rahmenbedingungen ändern sich, Erwartungen an die Akteure auch Im Zuge sich wandelnder Rahmenbedingungen ändern sich auch die Erwartungen an die Akteure im Gesundheitswesen. Die sich heute schon abzeichnende Allgegenwärtigkeit von mobilen Kommunikationsmitteln wird sich weiter verstärken. Durch die wachsende Anzahl an digitalen Möglichkeiten können Patienten ihren Gesundheitszustand zunehmend noch umfangreicher selbst vermessen und eigene Gesundheitsdaten generieren. In dem Maße wie die Datenmenge zunimmt wächst auch die Gefahr, durch die Menge an Daten überfordertet zu werden und die Orientierung zu verlieren. Gesundheitsexperten wie Apotheker werden daher künftig immer häufiger als Interpretatoren gefordert sein, um aus großen Datenmengen gemeinsam mit dem Patienten qualitativ richtige Schlussforderungen zu ziehen. „Voraussetzung für die vertrauensvolle Beziehung zwischen Patient und Apotheke ist, dass sich der Patient zu jeder Zeit auf die unabhängige Versorgung mit Arzneimitteln durch die Apotheke ebenso wie auf die pharmazeutische Kompetenz der Apotheker sowie der Mitarbeiter der öffentlichen Apotheke verlassen kann.“ „Im Interesse des Patientenwohls und der Vertrauensbeziehung berücksichtigen die öffentlichen Apotheken die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Patienten und beraten sie unmittelbar persönlich, individuell, umfassend, frei von Zwang und unabhängig von Interessen Dritter.“ (ABDA-Perspektivpapier „Apotheke 2030“)

Die Zukunftsforscher von 2b AHEAD Think Tank gehen auch davon aus, dass jedes Daten-Endgerät zu einer Schnittstelle mit dem Patienten, in Praxis und Apotheke, aber auch darüber hinaus wird. Die Schnittstelle zur medizinischen und pharmazeutischen Beratung wäre somit stets gegenwärtig. Die datengetriebene sektorenübergreifende Zusammenarbeit wird zum Standard. „Zum Wohle des Patienten und zur Verbesserung der Versorgungsqualität engagieren sich die öffentlichen Apotheken für ein heilberufliches Netzwerk. Die Apotheker arbeiten sowohl untereinander als auch mit an-

deren Gesundheitsberufen und Akteuren des Gesundheitswesens kollegial zusammen, um Prävention und Arzneimitteltherapie zu optimieren. Im Zuge der Vernetzung bieten die öffentlichen Apotheken niedrigschwellig Orientierung im Gesundheitswesen.“ (ABDAPerspektivpapier „Apotheke 2030“).

Eine der bedeutendsten Zukunftsaufgaben: Arzneimitteltherapiesicherheit verbessern Als Arzneimittelexperten haben Apotheker den Anspruch, im heilberuflichen Team mit den für die Therapie verantwortlichen Ärzten künftig eine strukturierende Führungsaufgabe zu übernehmen – vor allem um die Arzneimitteltherapiesicherheit zu verbessern. Die Apotheke als Ort der Abgabe von und persönlicher Beratung zu Arzneimitteln ist dafür prädestiniert, arzneimittelbezogene Probleme zu identifizieren und zu lösen. Der Bedarf an stärkerer apothekerlicher Einbindung beim vom Gesetzgeber zum 01. Oktober 2016 eingeführten Medikationsplan ist offenkundig: Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2015 haben 88 % der Patienten, die dauerhaft drei oder mehr rezeptpflichtige Arzneimittel brauchen, eine Stammapotheke. 29 % der Patienten mit Polymedikation nehmen zusätzlich rezeptfreie Arzneimittel ein und 54 % bekommen von mehr als einem Arzt Arzneimittel verordnet.

Medikationsplan 2018 – enge heilberufliche Kooperation unverzichtbar Um den Patientennutzen durch eine Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit zu steigern, bedarf es spätestens mit der Einführung des elektronischen Medikationsplans 2018 einer noch intensiveren heilberuflichen Kooperation von Apotheker und Arzt bei gleichzeitiger leistungsgerechter Vergütung der verantwortlichen Heilberufler. Wenn es Ärzten und Apothekern gemeinsam gelingt, den elektronischen Medikationsplan als effektives Instrument zur Herstellung und Verbesserung von Arzneimitteltherapiesicherheit zu konsolidieren, profitieren die Patienten davon und das GKV-System wird durch minimierte Falscheinnahmen bei der Arzneimitteltherapie entlastet.

Ausblick: Bewährte Strukturen flächendeckend sichern – patientenorientiertes Engagement stärker fördern Um die Herausforderungen im digitalen Zeitalter zu meistern, ist ein zuverlässiges Fundament unverzichtbar. Genauso wie die amtierende Bundesregierung an den bewährten Strukturen des Gesundheitswesens - insbesondere die Gesundheitsversorgung durch freiberuflich tätige Ärzte und Apotheker - nichts geändert und dies auch im Koalitionsvertrag festgelegt hat, kommt es jetzt darauf an, die Eckpfeiler der bewährten Struktur der flächendeckenden Arzneimittelversorgung durch öffentliche Apotheke im Gesundheitswesen auch künftig zu sichern. Dazu gehören insbesondere das Fremd- und Mehrbesitzverbot, der einheitliche Apothekenabgabepreis, gemeinsame und einheitliche Vertragsbeziehungen zu den Krankenkassen, die freie Apothekenwahl sowie die Apothekenpflicht für Arzneimittel. Vor diesem Hintergrund sollte auch heilberufliches Engagement, wie im Bereich Arzneimitteltherapiesicherheit, das Patienten dient und das GKV-System entlastet, stärker gefördert und leistungsgerecht honoriert werden.

THOMAS PREIS

Thomas Preis, geboren 1959, zwei erwachsene Kinder, studierte Pharmazie in Düsseldorf. Seit 1990 leitet er die AlphaApotheke in Köln. Berufsständig ist er seit 1995 engagiert, und dabei seit 1998 Vorsitzender des Apothekerverbandes Köln e.V. sowie seit 1999 Vorsitzender des Apothekerverbandes Nordrhein e.V. Er ist auch Mitglied im Gesamtvorstand der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) und darüber hinaus stv. Vorsitzender des Verbandes Freier Berufe im Land Nordrhein-Westfalen (VFB NW)

Am Puls

4 | 2016

25


KOLUMNE KOMMENTAR

Gesundheitswirtschaft 2020: Potenziale nutzen, Innovationstreiber werden Die Deutsche Gesundheitswirtschaft boomt. Seit 15 Jahren steigen die Beschäftigtenzahlen. Laut des Reports des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) stehen die Zeichen weiter auf Wachstum. Zu schön um wahr zu sein? Ein bisschen. Denn es fehlen Fachkräfte. Es ist an uns Antworten auf diese Herausforderung zu finden. Damit unsere Gesundheitswirtschaft auch in Zukunft wettbewerbsfähig bleibt. Wie schaffen wir das? In dem wir unsere Potenziale gezielt nutzen. Während viele Unternehmen aus der pharmazeutischen Industrie wie Novartis, Roche oder Pfizer in Bayern und Baden-Württemberg produzieren, bietet die Hauptstadt ideale Voraussetzungen, Botschafter, Impulsgeber und Auftragsmotor für die deutsche Gesundheitswirtschaft zu werden. Berlin ist heute schon Heimat der Firmenzentralen international etablierter Unternehmen aus Biotechnologie, Medizintechnik und der pharmazeutischen Industrie. Gleichzeitig gibt es kaum anderswo eine so hohe Dichte national und international renommierter Wissenschafts- und Forschungszentren im Gesundheitsbereich: die Charité, das Max-DelbrückZentrum oder Robert-Koch-Institut. Universitäten, Hochschulen, vergleichsweise immer noch günstige Mieten und eine „alles-ist-möglich“-Atmosphäre ziehen junge Menschen aus aller Welt an – potenzielle Fachkräfte. Hinzu kommt die Nähe zur Bundespolitik. Hier werden Entscheidungen getroffen. Neue Formate bei der Messe Berlin, besonders in den zukunftsweisenden Bereichen Telemedizin und E-Health könnten die Hauptstadt zu einem internationalen Aushängeschild für die Gesundheitswirtschaft machen, zu einem Innovations-Hub und einer Plattform für den Austausch weltweit führender Vertreter der Gesundheitswirtschaft. All das hät-

te Strahlkraft in die gesamte Republik. Denn Ideen müssen umgesetzt, Arzneimittel produziert und neue Geräte hergestellt werden. Die Infrastruktur dafür hat Deutschland bereits. Nutzen wir sie, um der Bundesrepublik die Chance zu geben, internationaler Innovationstreiber für die Gesundheitswirtschaft zu werden. Herzliche Grüße

Ihr Gottfried Ludewig

GOTTFRIED LUDEWIG

Dr. Gottfried Ludewig, MdA, ist seit 2011 gesundheitspolitischer Sprecher und stellvertretender Vorsitzender der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Als Koordinator der gesundheitspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Landtagsfraktionen organisiert er eine jährliche Tagung in Berlin

Impressum

26

Verlag: GK Mittelstands Magazin Verlag GmbH Günter F. Kohl Gärtnerkoppel 3 24259 Westensee/ Kiel Tel. 04305-992992 / Fax 04305-992993 E-Mail: gkprkiel@t-online.de

Herausgeber: Dr. Mathias Höschel, Frank Rudolph

Anzeigenverkauf: Über den Verlag

Satz und Layout: Walter Katofsky, Kiel

Anzeigenschluss: 15. Februar 2017

Druck: UBG Rheinbach

Am Puls

4 | 2016

Redaktion: Tim A. Küsters, redaktion-ampuls@gmx.de Internet: www.issuu.com/ampuls

Titelfoto: Maren Beßler/ pixelio.de Abonnement Einzelheft: 24,- Euro pro Jahr bei 4 Ausgaben Das Magazin am puls erscheint viermal im Jahr jeweils zur Mitte eines Quartals.



Die Privatabrechnung kommt von uns!

füR EIN ENTSPANNTES vERhÄLTNIS zWISchEN ARzT uND PATIENT Wir entlasten Ärzte von allen administrativen Arbeiten, die bei der Privatabrechnung entstehen. Dadurch versetzen wir sie in die Lage, sich ihren Patienten ungestört widmen zu können.

www.ihre-pvs.de

E-Mail: info@ihre-pvs.de

Telefon: 0208 4847-333


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.