PREVIEW "WOVON LEBEN WIR?" (01/2010)

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5. Jahrgang | Ausgabe 1/2010 6,80 Euro ISBN 978-3-9-3845627-9

WOVON LEBEN WIR? journal360.de


Editorial°

No risk, no fun Nicht, dass wir als ehrenamtliche Initiative nicht schon mit genügend Herausforderungen und Unwägbarkeiten zurechtkommen müssen. Beileibe nicht. Trotzdem haben wir etwas gewagt. Frei nach dem Motto No risk, no fun haben wir das Thema dieser Ausgabe mit Wovon leben wir? sehr offen gehalten. Unser Call for Student Papers war damit ein Ruf in den Nebel. Das Echo aber war vielstimmig und facettenreich. Natürlich hatten wir uns auf bestimmte Themen eingestellt. Doch die Einsendungen waren weit abwechslungsreicher und haben uns damit in mehrfacher Hinsicht positiv überrascht. Wir freuen uns besonders, endlich einen Beitrag aus den Naturwissenschaften abzudrucken. Damit werden wir endlich zu dem, was wir sein wollen: ein wirklich interdisziplinäres Journal. Die enorme Bandbreite der Texte hat uns aber auch Kopfschmerzen bereitet. Wie verknüpft man dieses große Spektrum auf hundertdreißig Seiten? Wo lassen sich Zusammenhänge bilden? Beim zweiten Blick sahen wir viele Verbindungen, die alles andere als offensichtlich sind. Bewusst offen geblieben ist die Frage nach dem Wir in unserem Titel. Zum Zeitpunkt der Themenwahl wollten wir uns nicht eindeutig festlegen. So findet Ihr im Heft eine Fülle verschiedener Definitionen. Eine gute Gelegenheit, darüber nachzudenken, wo unser scheinbar selbstverständliches Wir-Bild an seine Grenzen stößt. Auch diese Erkenntnis kann Spaß machen. No risk, no fun!

Johannes Uhl und Marius Hildebrand chefredaktion@journal360.de

Im Laufe unserer Redaktionsarbeit kam auch einige Male die Frage auf, wovon wir als Team von 360° leben. Klar: Verkäufe, Anzeigen, Engagement. Aber auch: Anerkennung. Wir wurden im Dezember 2009 als Ausgewählter Ort im Rahmen des Wettbewerbs Land der Ideen ausgezeichnet. Außerdem dürfen auch wir gratulieren: Anna Jockisch erhielt für ihre Fotostrecke Jugend in d-Moll in unserer Ausgabe 2/2008 Deutschland! eine ehrenvolle Erwähnung beim Wettbewerb Unicef Foto des Jahres 2009. Diese Wertschätzung der Arbeit unseres Vereins und unserer Autoren freut uns und spornt uns an. Schließlich und vor allem leben wir aber von Euch, unseren Lesern. Was haltet Ihr von unserem Heft? Was vermisst Ihr? Stimmt Ihr den Beiträgen zu? Wir freuen uns über einen aktiven und regen Austausch. Schreibt uns eure Meinung. Und nicht zuletzt: Sendet uns weiterhin so zahlreiche und interessante Texte. Auch wenn es Euch erst einmal als Wagnis erscheint. Ihr wisst ja: No risk, no fun! Die nächste Ausgabe von 360° erscheint im Oktober zum Thema „Bildung“. Die Ausschreibung für unsere übernächste Ausgabe findet Ihr auf Seite 124.

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Editorial°

Editorial

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Abstracts

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Nachschlag 122

CALL FOR STUDENT PAPERS

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R Glossar

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Impressum

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GRUNDLEGEN

GESTALTEN

DARSTELLEN

ANSCHAFFEN

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28

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98

Vita macchiata Ein Blick auf das, wovon wir leben // Aufschlag: Katharina Lipowsky und Johannes Pernack

16

Zu Staub sollst Du werden Die biologischen Grundlagen für Leben und Sterben // Essay: Frederik Köpper, Birgit Manno und Broder Schmidt

Die lautlose Revolution Wie die Substanz des Menschen politisch wird // Essay: Markus Rackow

36

Genieße Dich schön! Wellness als spirituelle Selbstdisziplinierung // Essay: Agnieszka Roguski

46

Nachwachsende Rohstoffe, nachwachsende Probleme Die Brennstoffe der Zukunft zünden Konflikte // Gastartikel: André Wüste

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Auf dem Weg in die solare Moderne Elmar Altvater im Gespräch // Interview: Tine Scheffelmeier und Johannes Uhl

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Just where do you draw the line? Vom feinen Unterschied zwischen Kunstmarkt und Marktkunst // Rezension: Adrian Luncke

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Weil Du es mir wert bin Beziehungen zu anderen beeinflussen, wie wir uns selbst sehen // Artikel: Kaja Ann-Christin Tippenhauer

72

Wer im Glashaus sitzt Arbeitsplatzsuche und Bewerbung im Theater des Cyberzeitalters // Artikel: Thomas Neubner

Die im Lichte stehen Sozialwissenschaftler haben Vermögende als Forschungsobjekt entdeckt // Rezension: Cora Theobalt

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Wenn sie doch schritten Seit‘ an Seit‘ Europäische Gewerkschaften zwischen Standortwettbewerb und Integration // Artikel: Melanie Kryst

112

Was der Sozialstaat übrig lässt Mit Hartz IV wird der Kampf gegen Arbeitslosigkeit zur Isolation der Betroffenen // Artikel: Christian Weber

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Schöne heile Fetischwelt // Fotostrecke: Florian Müller

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Abstracts°

Abstracts S. 16

Zu Staub sollst Du werden Die biologischen Grundlagen für Leben und Sterben

S. 28

S. 36

Die lautlose Revolution Wie die Substanz des Menschen politisch wird

Genieße Dich schön! Wellness als spirituelle Selbstdisziplinierung

// Essay: Markus Rackow

// Essay: Agnieszka Roguski

// Essay: Frederik Köpper, Birgit Manno und Broder Schmidt

Nachwachsende Rohstoffe, nachwachsende Probleme Die Brennstoffe der Zukunft zünden Konflikte // Gastartikel: André Wüste

Die Zelle, Grundeinheit des Lebens, ist ein sich selbst reproduzierendes, feinreguliertes System, das sich im Laufe der Evolution stetig weiterentwickelt. Alleinstellungsmerkmale des zellulären Lebens sind die auf DNA basierende Reproduktion, der durch Enzyme regulierte Stoffwechsel und die Sauerstoff-abhängige Zellatmung. Diese biochemischen Vorgänge zählen somit per se zu den fundamentalen Prozessen des Lebens, stellen gleichzeitig aber auch Quellen potentieller Gefahr dar. Sauerstoffradikale, Mutationen, fehlerhafte Proteine – dies ist die Kehrseite dessen, was das Leben ausmacht. Leben ist daher ein Kompromiss zwischen Kosten und Nutzen.

Die Frage nach der Natur des Menschen ist essentiell für die Kultur, steht aber heute in einem vermeintlich unideologischen Diskurs zur Disposition. Der schützende Körper wird mehr und mehr durchdrungen. Diese Entwicklung wird unterstützt durch die technische Reproduzierbarkeit kultureller Ideen in der Postmoderne, den Klimadiskurs, die demografische Entwicklung mit ihrer Fixierung auf eine bessere Qualität des Menschen, biopolitisches Risikomanagement und den Erklärungsprimat der Naturwissenschaften. Der Körper als Substanz wird zum Atomhaufen und damit aufgelöst. Der Mensch soll systemkompatibel sein. Die Biopolitik verwirft Vernunft, freien Willen und Aufklärung.

Der Gedanke von Wellness ist wichtiger Bestandteil der sozialen wie auch der subjektiven Wahrnehmung. Er ist inzwischen mehr als eine rein milieuspezifische Mode. Seine Leitsprüche wie Gesund leben mit Genuss durchziehen mit ihrer appellhaften Wirkung die gesamte Gesellschaft. Sie disziplinieren gleichsam die Individuen. Damit wird der gesunde Körper zum sichtbaren Messwert eines glücklichen Selbst, dessen Erfolgspotential maximal ausgeschöpft werden soll. Gleichzeitig soll dem Menschen das Gefühl von Genuss vermittelt werden. Die Wirksamkeit des Wellness-Gedankens reicht dabei von Selbstverwirklichung bis in die Wirtschaft.

Krankheit • Lebensgrundlagen • Reproduktion • Tod • Zelle

Anthropologie • Biopolitik • Kulturindustrie Lebensgrundlagen • Postmoderne

Genuss • Gesundheit • Lebensgrundlagen soziale Disziplinierung • Wellness

S. 64

S. 46

S. 72

S. 100

Die zukünftige Energieversorgung wird auf der Nutzung erneuerbarer Energieträger beruhen. Dabei hat besonders die Nutzung von Biomasse in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen. Dieser verstärkte Ausbau der Bioenergienutzung geht allerdings nicht immer konfliktfrei vonstatten. Die meist fehlende Aufklärung und Einbindung der Bevölkerung beim Bau von Bioenergieanlagen lässt Befürchtungen und Ängste entstehen, die zu Widerstand führen können. Jedoch ist eine nachhaltige Energieversorgung unter Einbindung der Bevölkerung möglich. Wie das Konzept des Bioenergiedorfes zeigt, hat eine partizipative Form der Bioenergieerzeugung ein hohes Akzeptanz- und Identifikationspotential. Bioenergiedorf • Biogas • Energieversorgung Lebensgrundlagen • nachwachsende Rohstoffe

S. 112

Weil Du es mir wert bin Beziehungen zu anderen beeinflussen, wie wir uns selbst sehen

Wer im Glashaus sitzt Arbeitsplatzsuche und Bewerbung im Theater des Cyberzeitalters

Wenn sie doch schritten Seit‘ an Seit‘ Europäische Gewerkschaften zwischen Standortwettbewerb und Integration

Was der Sozialstaat übrig lässt Mit Hartz IV wird der Kampf gegen Arbeitslosigkeit zur Isolation der Betroffenen

// Artikel: Kaja Ann-Christin Tippenhauer

// Artikel: Thomas Neubner

// Artikel: Melanie Kryst

// Artikel: Christian Weber

Dem Soziologen Norbert Elias zufolge streben Menschen danach, etwas für sich und andere wert zu sein. Dieser Wert wird in Beziehungen erfahren, denn Beziehungen sind gekennzeichnet durch verschiedene Balancen der Anerkennung und Steuerung, die unterschiedliche Selbstbewertungen ermöglichen. Gleichzeitig werden in Beziehungen die Kriterien der Bewertung definiert. Menschliches Verhalten und Empfinden ist demnach maßgeblich durch das Streben nach selbstwertdienlichen Beziehungen motiviert. Diese Selbstwertbeziehungen können, ebenso wie die ihnen eigene emotionale Logik, mit einem Blick auf Kommunikationsprozesse besser verstanden werden.

Bewerbungsprozesse sind kompliziert und die Spielregeln nicht immer bekannt. Wohlbekannt ist aber, dass Personalverantwortliche zunehmend auch das Internet nutzen, um sich über potentielle neue Mitarbeiter zu informieren. Insbesondere Soziale Netzwerke, in denen die Nutzer ein virtuelles Profil erstellen und dort interaktiv Informationen austauschen, verraten oft mehr über den Bewerber, als er beabsichtigt. Seine realweltliche Präsentation im Bewerbungsgespräch kann dadurch unglaubwürdig werden. Der Bewerber sollte folglich bemüht sein, seine Online-Reputation präventiv zu schützen, um negativen Überraschungen vorzubeugen und sein Bild vor dem Personaler konsistent zu halten.

Der Versuch der rot-grünen Bundesregierung, mit den HartzReformen die Arbeitslosigkeit drastisch zu reduzieren, ist gescheitert. Durch die Betonung der Eigenverantwortung des Arbeitslosen wird die Arbeitslosigkeit nun jedoch als individuelles Verschulden dargestellt und den Erwerbslosen selbst angelastet. Darüber hinaus wird deutlich, dass die Arbeitslosigkeit nur die offensichtlichste Manifestation einer allgemeinen Prekarisierung der Lebens- und Beschäftigungsverhältnisse ist, die durch die neoliberale Beschäftigungspolitik der letzten drei Jahrzehnte politisch vorangetrieben wurde. Nur eine staatliche Regulierung des Arbeitsmarktes kann verhindern, dass immer größere Bevölkerungsteile ausgegrenzt werden.

Anerkennung • Kommunikation • Lebensgrundlagen Selbstwert • sozialer Habitus

Bewerbung • Lebensgrundlagen • Soziale Netzwerke Theater • Web 2.0

Erwerbsarbeit in Europa verändert sich und gerät unter Druck. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Lohneinbußen nehmen zu. Wachsende Standortkonkurrenz zwischen den Ländern gefährdet die früher erkämpften Arbeitnehmerrechte. Es droht ein europaweites Lohn- und Sozialdumping. Die wirtschaftliche Krise unterstützt diese Entwicklung. Dies gefährdet die Ziele der Gewerkschaften in Europa, die arbeitnehmerfreundliche Arbeitsund Lebensbedingungen erreichen und sichern wollen. Vielfach haben sie sich zur länderübergreifenden Zusammenarbeit zusammengeschlossen. Eine Analyse dieser Kooperationen zeigt aber, dass die Bemühungen noch selten von Erfolg gekrönt sind. Eine europaweite Vereinheitlichung der Tarifpolitik ist derzeit nicht möglich. Erwerbsarbeit • europäische Integration • Gewerkschaften Lebensgrundlagen • Tarifpolitik

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Arbeitslosigkeit • Beschäftigungspolitik • Hartz-Gesetze Lebensgrundlagen • Prekarisierung

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Wir leben von der Substanz. Grundlegen° TExt°

GRUNDLEGEN°

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Verbrauch ist die Grundlage des Lebens. Das schränkt ein: Andere, die Umwelt und sogar unsere eigene Lebensfähigkeit. So ist und bleibt das Leben endlich.

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Grundlegen°

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es noch ein paar Stunden bis zu meinem Vorstellungsgespräch zu überbrücken gilt. Das nasskalte Wetter spricht in jedem Fall dagegen, die Zeit für einen kleinen Spaziergang durch das offensichtlich eher schickere, mir aber vollkommen unbekannte Viertel der Stadt zu verwenden. Wegen meines wichtigen Termins habe ich mir heute einen besonders frühen Zug ausgesucht und suche nun nach Möglichkeiten, die verbleibende Zeit so angenehm wie möglich zu verbringen. Da es wirklich ungemütlich kalt ist, entscheide ich mich, nach einem Café zu suchen, in dem ich mich ein wenig ablenken und aufwärmen kann. Außerdem hat ein Kommilitone, der sich vor einiger Zeit auch auf genau diese Stelle beworben hatte, erwähnt, dass ich mich auf ungewöhnliche Fragen einstellen soll. Er wurde damals neben anderen persönlichen Dingen auch danach gefragt, was für ihn in seinem Leben der Begriff Nachhaltigkeit bedeute und was für ihn ein glückliches Leben sei. Mit etwas Glück finde ich dann auch schnell ein kleines, von außen sehr gemütlich aussehendes Café und trete ein.

Augenaufschlag

Vita macchiata

Ein Blick auf das, wovon wir leben Wovon leben wir? Auf den ersten Blick wirkt die Frage so einfach und selbsterklärend. Auf den zweiten Blick fällt dann aber schnell auf, dass ein verzweigtes System an Fragen und Antworten entsteht. Folgen wir unserem Erzähler auf seiner Suche nach Antworten und lassen uns damit zum Neu- und Selberdenken einladen. Artikel: Katharina Lipowsky und Johannes Pernack // Illustration: Johannes Mundinger

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Es fällt mir auf, dass dieser Laden einen eher szenigen und trendigen Touch hat. Die Espressomaschinen sind auf Hochglanz poliert, die Kundschaft wirkt alternativ, ist beim näheren Hinsehen aber auffallend teuer gekleidet. Ich stelle mich an den Baristatresen und lese mir die mit Kreide beschriebene Tafel durch, auf der sämtliche Kaffeespezialitäten aufgelistet sind. Vor mir bestellt gerade eine junge Frau in einem schwarzen Parka und sehr engen Leopardenleggins, dazu trägt sie Stiefel mit mindestens sieben Zentimeter langen Absätzen und eine braune Tasche in Krokodillederoptik, aus der mich zu allem Überfluss ein kleiner Chihuahua ankläfft. „Einen French Vanilla Nut Cappuccino mit fettarmer Milch zum Mitnehmen bitte“. Bei ihrer Bestellung wippt sie unruhig mit der Spitze ihres Schuhs auf und ab. Hinter ihr überlege ich, was ich wohl wählen könne und werde mir schnell darüber bewusst, dass ich sie an Exklusivität wohl schwerlich ausstechen werde. Nachdem die Leopardendame ihr Getränk erhalten hat, verschwindet sie klackernd aus dem Café, aber nicht, ohne sich noch in einem der Spiegel im Eingangsbereich zu betrachten und sich ein wohlwollendes Lächeln zuzuwerfen. Auch eine Art, sich den Tag zu verschönern, denke ich, bestelle

mir eine Latte macchiato und schaue mich suchend nach einem Platz um. Im hinteren Teil des Cafés sehe ich einen noch freien, gemütlich aussehenden Ohrensessel.

Ein Lidschlag später Ich lehne mich in dem mit gedeckten Farben bestickten Sessel zurück und schaue mit meinem dampfenden Kaffeeglas in der Hand aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite ist ein Stand einer Initiative für Umweltschutz aufgebaut. Drei junge Freiwillige springen vorbeihastenden Passanten entgegen, während diese erschrocken auszuweichen versuchen und anschließend mit einem leichten Kopfschütteln weiterlaufen. Auch die Leopardendame zieht an ihnen vorbei, hebt aber schon von weitem abwehrend ihre Hand. Einer der Drei geht dennoch direkt auf sie zu und will sie aufhalten. Ihr Gesicht verzieht sich und sie macht einen besonders großen Bogen um den Stand. Ich muss über den Enthusiasmus der Drei schmunzeln, mit dem sie uns über die Schäden, die wir unserem Planeten zufügen, informieren wollen. Dabei kommen mir plötzlich die Bilder vor Augen, die während und nach der R UN-Klimakonferenz in Kopenhagen im Dezember 2009 so zahlreich in den Medien zu sehen waren.

Wo bleibt die klare Sicht? Klimawandel, Energiekrise, Erziehung zur Nachhaltigkeit, R ökologischer Fußabdruck. Die Schlagwörter und Zeitungsaufmacher sind doch griffig genug, es geht bei allen Umweltthemen schließlich um wirklich Grundlegendes für unser Leben. Wir leben von und mit unserer Umwelt; mit ihren Veränderungen verändern sich auch unweigerlich unsere Lebensumstände, war das denn den Politikern nicht deutlich genug? Und wenn doch, warum gab es kein populäreres Ergebnis des Gipfels? Die Hoffnungen, die in Kopenhagen gesetzt wurden, sind nicht erfüllt worden, soviel ist mir noch in Erinnerung geblieben. Dennoch sind die großen Klimagipfel immer ein Symbol, eine Mahnung an unsere Konsumgesellschaft. Und diese Mahnung wird uns dann, zumindest für die Gipfeldauer, durch die große Medienpräsenz klar vor Augen geführt. Die Auswirkungen des Klimawandels sind nicht mehr zu übersehen und sie werden sich den Prognosen nach noch viel drastischer zeigen, wenn sich in Zukunft 11


Grundlegen°

Einblicke

nichts ändert. Wir sind uns eigentlich darüber bewusst und jeder Einzelne sollte sich verpflichtet fühlen, etwas zu einer Veränderung beizutragen. Doch, denke ich bei einem Blick auf die vorbeiziehenden Menschen und die nur noch als kleinen Punkt zu sehende Leopardendame draußen auf der Straße, diese Themen sind für uns trotz allem viel zu weit von der täglichen Lebensrealität entfernt. Uns geht es doch oft nur darum, unsere alltäglichen, akuten Bedürfnisse zu befriedigen. Und das ist häufig schon eine sehr einnehmende Aufgabe, vor allem, weil wir in einer Konkurrenzgesellschaft leben. Dabei denke ich besonders an die Berufswelt und die Veränderungen an Schulen und Universitäten. Nur durch einen pausenlos andauernden Prozess, in dem wir uns ständig weiterentwickeln und verbessern, haben wir die Möglichkeit, unsere Ziele zu erreichen und uns von anderen abzuheben oder einfach nur auf gleicher Höhe zu bleiben. Versperrt uns diese ständige Leistungsorientierung in manchen Dingen die Sicht? Und dabei ist das ja nicht das Einzige, was unser tägliches Denken bestimmt. Neben der Zeit, die wir in die Umsetzung unserer beruflichen Auf12

gaben und Ziele investieren, bestehen noch viele weitere alltägliche Bedürfnisse. Zum Beispiel unsere Freunde und Familie, um die wir uns kümmern, vielfältige soziale Kontakte, die wir pflegen wollen. Ich rutsche tiefer in meinen Ohrensessel. Natürlich sind all diese Dinge in unserem Leben wichtig. Wir leben von dem Lohn der Arbeit, den beruflichen Aufgaben und bestimmt von den Beziehungen zu unseren Mitmenschen. Aber trotzdem stellt sich mir immer noch die Frage: Versperren uns diese naheliegenden Bedürfnisse und Anforderungen manchmal den Blick auf andere, sehr grundlegende Dinge, die wir zum Leben brauchen, die uns aber nicht immer direkt spürbar oder bewusst sind? Die Umweltaktivisten da draußen, setzen sie sich nicht für eine solche Grundlage ein, von der wir alle leben, die aber bedroht ist? Warum lässt uns dies häufig so kalt, warum springen wir gerne vor diesem Thema weg wie die Passanten auf der Straße? Warum winken wir wie die Leopardenlady ab, weichen aus? Ist uns denn nicht klar, wovon wir eigentlich leben? Ist mir eigentlich bewusst, wovon ich lebe?

Meine Gedanken kreisen um diese Frage und ich versuche, sie mir zu beantworten. Mir fallen sofort eine Menge Dinge ein, von denen ich mir sicher bin, dass ich von ihnen lebe: Sauerstoff, Wasser, Nahrung, Liebe, Zuneigung, Geld, Aufgaben, die meinem Leben Sinn geben, Glauben, Bewegung, Erholung, Gesundheit, den Genen meiner Eltern und Vorfahren, den sozialen Verhältnissen, in die ich hineingeboren bin. Gleiches gilt für das politische System, die Kultur, die Gesellschaft, die Religion. Natürlich lebe ich auch von der Geschichte, von dem, was mir andere Generationen hinterlassen, überlassen, übergeben, mitgegeben haben. Mir fällt so viel ein. Es gibt sicher nicht die Antwort, sondern verschiedene, mitunter entgegengesetzte. Ich lebe von sehr vielen Dingen. Könnte ich auf einige davon verzichten? Das kann ich nicht genau sagen. Ein paar Dinge scheinen mir aber existenzieller als andere zu sein. Ohne sie kann ich definitiv nicht leben, zum Beispiel ohne die Luft zum Atmen. Aber wie ist es mit Arbeit? Ich stelle es mir momentan schön vor, einmal richtig lange Urlaub machen zu können, ohne den Stress und Druck meiner Arbeit, den Prüfungen, den Bewerbungen, aber kann ich auf Dauer ohne leben? Unabhängig vom Geld, wie sehr brauche ich die Aufgaben, die Anforderungen, die Erfüllung, die mir eine Arbeit gibt? Ich ahne an dieser Stelle, dass es wahrscheinlich noch sehr viel schwieriger und komplexer sein wird, wenn ich den Antworten auf die Frage nachgehen will, wovon wir, wir als Gesellschaft leben. In einer Gesellschaft, die sich zwar aus vielen Einzelnen zusammensetzt, sich aber scheinbar mehr und mehr individualisiert und fragmentiert (ich muss an den Vanilla Nut Cappuccino mit fettarmer Milch denken), werden definitiv nicht alle Menschen diese Frage gleich beantworten. Zudem leben wir in einem regelrechten kulturellen Melting-Pot, der sich außerdem noch im demografischen Wandel befindet. Eine Beantwortung scheint dann, wahrscheinlich noch mehr als bei anderen Fragen, vollkommen von der gewählten Perspektive abzuhängen. Gut, einige Dinge, von denen wir leben, werden übereinstimmen, denn unser Organismus braucht nun einmal den Sauerstoff, das Wasser und die verschiedensten Bestandteile unserer Nahrung. Gleichermaßen werden viele auch ein bestimmtes Mindestmaß an Geld nennen, das nötig erscheint, um sich viele grundlegende Dinge des Lebens überhaupt leisten zu können. Neben solchen gemeinsamen Grundlagen werden sich aber et13


Grundlegen°

liche Unterschiede ergeben. Was ist zum Beispiel mit religiösen und philosophischen Themen? Was ist mit der Frage nach Gott, einem Gott, nach einem übergeordneten Sinn? Selbst wenn wir in einem Land leben und eine gemeinsame Sprache sprechen, werden wir diese Frage schon unterschiedlich beantworten. Kann man dann aber als Gesellschaft sagen, dass man den Glauben zum Leben braucht? Dass er auch etwas ist, von dem wir leben? Ganz egal, welcher Religion man angehört? Wenn ja, von was lebt dann der Atheist in unserer Gesellschaft? Hat er kein Bedürfnis an etwas oder jemand zu glauben? Unweigerlich bleibe ich hier an dem Wort Bedürfnis kleben. Ich habe zu wenig Wissen über die theologischen und philosophischen Erklärungen hinsichtlich der Notwendigkeit eines Glaubens und kann diese Frage deshalb nicht eindeutig beantworten. Daher versuche ich in eine andere Richtung zu denken. Sind es denn vielleicht die verschiedenen Bedürfnisse, von denen wir leben? Sind es die Dinge, auf die sich unsere Bedürfnisse richten? Und wenn ja, trifft dies für uns alle zu? Mir kommt Abraham H. Maslow, ein amerikanischer Professor für Psychologie, in den Sinn. Er hat in seinem Werk Psychologie des Seins anschaulich dargestellt, wie Menschen ihre Bedürfnisse entwickeln. Er geht dabei von dem Grundgedanken aus, dass die menschliche Bedürfnisbefriedigung ein immer andauernder Prozess ist, da sich nie ein Zustand der vollkommenden Befriedigung einstellt. Er entwickelt in diesem Zusammenhang seine Bedürfnispyramide, die aus fünf Stufen besteht. Nach seiner Theorie werden die Bedürfnisse einer höheren Stufe angestrebt, wenn jene einer niedrigeren erfüllt sind. Ausgehend von Grundbedürfnissen wie Schlaf, Nahrungsaufnahme und Sexualität gibt er den Bedürfnissen eine aufeinander aufbauende Rangordnung. Auf die Grundbedürfnisse der ersten Stufe folgen Sicherheitsund Schutzbedürfnisse (wie materielle Sicherheit, Stabilität, Ordnung, Gesetze, Gesundheit, Risikovorsorge). Hierauf folgt die Stufe der sozialen Bedürfnisse (Information, Kommunikation, Partnerschaft, Liebe, Freundschaft, Gruppenzugehörigkeit) und darauf die Stufe der Geltungsbedürfnisse (Anerkennung, Macht, Selbstachtung, Selbstbestätigung, Wertschätzung und Respekt durch andere, Prestige, Status, Image). Die 14

letzte Stufe nennt Maslow das Bedürfnis nach Selbsterfüllung, wozu er Individualität, Güte, Gerechtigkeit, Selbstlosigkeit, Selbstfindung und Selbstentfaltung zählt. Später ergänzte Maslow diese Struktur noch um eine Stufe der Transzendenz, wozu auch die Suche nach Gott gehört. All diese Bedürfnisse werden von ihm als Weg zur allgemeinen Selbstverwirklichung gesehen, unter die sich alle Grundbedürfnisse ordnen lassen. Seiner Ansicht nach muss jeder seiner Eignung folgen und die Eigenschaften, die ihn auszeichnen, weiter ausbauen und verfeinern. Dies erzeugt immer neue Bedürfnisse, die erfüllt werden müssen, um dieser Aufgabe nachzukommen. Maslow sieht diese verschiedenen Bedürfnisse gleichzeitig in einem ständigen Wandel. Sie hängen zum Beispiel ab von der jeweiligen Lebenssituation und dem jeweiligen Lebensalter des Betroffenen. Selbstverwirklichung wird daher auf ganz unterschiedlichen Ebenen ganz individuell praktiziert, auch wenn wir als Teil einer Gesellschaft gemeinsame Ziele und Grundlagen haben. Ist es deswegen so schwierig, die Frage danach zu beantworten, wovon wir leben? Weil sie zu individuell zu beantworten ist?

Einsichten Ich versuche etwas zu finden, was für möglichst viele von uns gilt. Was noch etwas Grundlegendes ist, das wir alle auf die Frage nennen, wovon wir leben. Mir kommen meine ersten Gedanken in den Sinn. Was ist mit der Arbeit? Neben dem Lohn, mit dem wir unser Leben finanzieren, ist es auch eine Möglichkeit, andere lebenswichtige Dinge zu erlangen. Maslow nennt die Selbstverwirklichung und Bedürfnisse nach Prestige, Macht, Sicherheit und sozialer Anerkennung. Findet eine gesellschaftliche Anerkennung nicht schon allein durch das Innehaben eines Arbeitsplatzes statt? Und sind hohe Arbeitslosenzahlen deshalb auch ein so großes Problem, weil Arbeit über Geld hinaus einfach etwas ist, das wir zum Leben brauchen? Ich muss an meine Eltern denken, die beide berufstätig waren und nun im Ruhestand sind. Sie betonen immer, wie wichtig es ist, dass ich mich ständig für eine gute Arbeitsstelle ins Zeug lege. Nicht nur, weil ich Geld verdienen möchte, sondern weil die Arbeit

mich auch erfüllen soll. Aber wovon leben meine Eltern heute, nach ihrer Pensionierung? Natürlich von der Rente und den Ersparnissen, die ihnen ihre Arbeit ermöglicht hat. Aber wovon leben sie nun, außer vom Geld, wenn die Arbeit so wichtig für eine Selbstverwirklichung ist? Die vielen Berichte und Meldungen über die gegenwärtige Bevölkerungsentwicklung fallen mir ein. Mit längerer Lebenserwartung und demografischem Wandel ändert sich unsere Bevölkerungsstruktur. In einem Artikel, den ich letzte Woche im Internet gelesen habe, sprach ein Soziologe von einer Verschiebung der Lebensphasen. Nahm die Zeit der Erwerbstätigkeit früher einen Großteil der Lebenszeit ein, soll dieser Lebensphase heute eine neue, deutlich verlängerte und eigenständige Nachberufliche Lebensphase gegenüberstehen. Für sie gilt es, eine neue Aufgabe, einen Sinn, eine Erfüllung zu finden. So wohl auch für meine Eltern, sie haben eine Menge an Ehrenämtern und Enkelkinder-Umsorgungsaufgaben übernommen. So haben beide heute wirklich nicht weniger zu tun als im Beruf. Hier entstehen dann anscheinend unweigerlich neue und andere Bedürfnisse und damit wahrscheinlich auch wieder andere Antworten auf die Frage, wovon wir leben.

Echter oder unechter Augenblick? Ich lasse meinen Blick nachdenklich durch das Café schweifen. Am Nachbartisch sitzt eine junge Frau mit ihrem aufgeklappten Notebook. Ich erkenne, dass sie die Internetseite eines sozialen Netzwerkes geöffnet hat. Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung. Ich muss wieder an Maslow denken. Zwei für ihn zentrale Begriffe, die durch die Kommunikationsform des Web 2.0 aber eine ganz neue Bedeutung bekommen. Chatten, Nachrichten austauschen, Statusnachrichten auf seinem Profil sichtbar machen. Der sogenannte R User Generated Content und die vielen Internetportale eröffnen uns eine ganz neue Form von sozialen Beziehungen. Den Bedürfnissen nach Zugehörigkeit und sozialer Anerkennung, die Maslow auf der dritten und vierten Stufe sieht, kann ganz anders nachgegangen werden. Durch ein selbst gestaltetes Profil können wir genau beeinflussen, was die anderen über uns erfahren und darauf basierend von uns denken sollen und was nicht. Wir stellen uns selbst mit ganz neuen Mitteln dar. Aber sind die so entstehenden Identitäten in sozialen Netzwerken denn noch ansatzweise vergleichbar mit wirklichen Gesprächen, dem realen Kontakt zum

anderen? Können sie etwas Grundlegendes sein, von dem wir leben? Trotz des virtuellen, nicht greifbaren Netz-Raumes sind die Auswirkungen auf unsere reale Lebenswelt unübersehbar. Ich muss an das Extrembeispiel des Japaners denken, der im letzten Jahr symbolisch eine virtuelle Spielfigur aus einem KonsolenSpiel geheiratet hat. Welche Rolle spielt das Internet also mit all seinen Variationen in meinem, in unserem Leben? Wie grundlegend ist diese Rolle? Können wir wirklich nicht mehr ohne leben? Oder gibt es einfach Dinge, die sich mit der Zeit, mit der Geschichte verändern, wandeln, durch andere ersetzt werden?

Blick nach vorn Ich staune darüber, wie weit mich meine Gedanken weggetragen haben. Ein erneuter Blick auf meine Uhr verrät mir, dass ich jetzt aufbrechen sollte, um noch früh genug zum Vorstellungsgespräch zu erscheinen. Während ich von dem gemütlichen Sessel aufstehe und meine Jacke anziehe, frage ich mich aber, was ich denn jetzt antworten würde. Welche Antworten habe ich auf die Frage, wovon ich lebe oder wovon wir leben? Neben klaren und naheliegenden Aspekten habe ich auch eine ganze Reihe von unklaren Dingen gefunden. Die für mich gelten können, aber bestimmt nicht für alle. Und die sich vielleicht, oder sogar wahrscheinlich, mit der Zeit für mich selbst verändern. Ich habe gemerkt, dass es anscheinend sehr unterschiedliche Antwortmöglichkeiten geben kann, die aber alle ihre Berechtigung haben. Ich sollte mir dann die Umstände genauer ansehen, die Lebenssituation, die Lebenslage, vor deren Hintergrund die Frage beantwortet werden soll. Aber würde ich so etwas auch in einem Vorstellungsgespräch antworten? Ich würde antworten, dass die Frage nach dem, wovon wir leben, für mich persönlich wichtig ist. Meine Antwort hängt aber auch davon ab, wie wir als Gesellschaft die Frage beantworten. Und dass es deshalb viele Antworten gibt, die ich nicht alle aufzählen kann. Dass ich es aber wichtig finde, sich diese Frage immer wieder neu zu stellen. Und dass das, wovon wir leben, auch der Weg zur eigenen Selbstverwirklichung ist. Ein Ziel zu haben und dieses zu verfolgen. Vielleicht ist das einer der wichtigsten Schlüsse, die ich heute im Zusammenhang mit der Frage geschlossen habe, denke ich, bringe mein Glas zurück zum Tresen und richte den Blick nach vorn. °Katharina Lipowsky und Johannes Pernack für die Redaktion

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