PREVIEW "BILDEN" (02/2010)

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5. Jahrgang | Ausgabe 2/2010

Bilden Wissen Von der Verantwortung der Hochschulen Wollen Wie unser Gehirn Informationen verarbeitet Wandeln Wann Studiengeb체hren gerecht sind Wachsen Jutta Allmendinger im Gespr채ch

www.journal360.de

6,80 Euro1


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Editorial Vom Erwachsenwerden Vor fünf Jahren begann alles an einem WG-Küchentisch in Münster: Ein paar Studentinnen und Studenten heckten einen Plan aus. Die Frustration darüber, dass Hausarbeiten eigentlich nur für die Schubladen von diversen Professoren und Dozenten geschrieben werden, sollte ein Ende haben. Die Idee: Ein studentisches Wissenschaftsjournal – nicht nur von Studenten gemacht, sondern vor allem mit studentischen Beiträgen. Es wäre vermessen, am fünften Geburtstag davon zu sprechen, 360° wäre schon erwachsen. Flügge geworden ist das Projekt aber auf jeden Fall. Aus vielen Kindersachen sind wir inzwischen herausgewachsen. Reichte für die Besprechungen damals noch der Küchentisch, so brauchen wir dafür jetzt Seminarräume. War es damals noch eine Handvoll Münsteraner, so ist unser Team inzwischen auf etwa siebzig ehrenamtlich Engagierte in ganz Deutschland und der Schweiz angewachsen. In manchen Dingen sind wir aber auch jung geblieben. Wir diskutieren leidenschaftlich und kreativ über das Heft. Dabei geht es oft ziemlich hoch her. Dennoch haben wir nicht verlernt, auch Spaß zu haben ‒ die Feiern an unseren Treffen sind inzwischen legendär. Bei aller Professionalität und allem Erfolg, auf die wir stolz sind, sind und bleiben wir doch immer noch Studentinnen und Studenten.

Johannes Uhl und Philipp Alvares de Souza Soares

Zum Geburtstag haben wir uns nun selbst ein Geschenk gemacht. Ein neues Design, ein neues Format, eine neue Website. Natürlich gab es auch darüber viele Diskussionen und es hat lange gebraucht, bis das, was Ihr jetzt in Händen haltet, in trockenen Tüchern war. Aber Veränderungen brauchen Zeit, denn sie müssen sorgfältig überlegt sein. Erst dann kann man von Fortschritt sprechen. Und wir glauben, dass wir eine weitere Etappe erfolgreich gemeistert haben. Was meint Ihr? Was für uns als Journal gilt, trifft genauso auf jeden und jede Einzelne und sogar die Gesellschaft als Ganze zu. Deshalb ist Veränderung auch ein Leitmotiv dieser Ausgabe. Bilden heißt verändern, bilden muss sorgfältig geschehen, denn bilden passiert nicht im Handumdrehen. Was dabei alles geschehen kann, was nicht geschieht und welche Perspektiven sich bieten, haben wir auf den folgenden 111 Seiten an einigen Beispielen dargestellt. Wie immer ist das natürlich nicht der Weisheit letzter Schluss. Bilden heißt schließlich auch immer infrage stellen, bilden heißt in einen Dialog miteinander treten. Wir wollen wissen, was Ihr über unser Heft denkt. Einspruch ist explizit erwünscht. Weiterhin seid Ihr natürlich eingeladen, Euch aktiv am Journal zu beteiligen und uns Eure Texte zu schicken. Ohne Euch, liebe Leserinnen und Leser, könnte das Journal nicht bestehen. Gerade neue Projekte brauchen einen Vertrauensvorschuss, der Ihnen die Chance gibt, sich zu entwickeln und auch mal Fehler zu machen. Sich bilden und Erwachsenwerden ist schließlich nichts für Einzelkämpfer. Es braucht Unterstützung und Begleitung. Danke dafür!

Die nächste Ausgabe von 360° erscheint im April zum Thema Der Nahe und Mittlere Osten

Die Ausschreibung für unsere übernächste Ausgabe findet Ihr auf Seite 108.


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Inhalt

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Editorial Abstracts Glossar

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Nachschlag Call for Student Papers Impressum

Wissen 9 Aufschlag

Offene Türen Was Bildung leisten soll, kann und darf

15 Essay

Der akademische Imperativ Von der Verantwortung der Hochschulen

22 Artikel

Wenden verboten! Alte Wege bestimmen den Kurs der Bildungspolitik

Wollen 33 Artikel

Wehret der Halbbildung! Was Theodor Adorno zum Bildungsstreik sagen würde

40 Infografik

Wieder was gelernt Wie unser Gehirn Informationen verarbeitet

43 Rezension

Morgens zwei, mittags drei… Hirndoping als Schrittmacher einer beschleunigten Welt

Wandeln 46 Artikel

Zahltag an der Hochschule Wann Studiengebühren gerecht sind

54 Essay

Wissenschaft reloaded Die Exzellenzinitiative als Symptom des Modus 2

61 Gastartikel

In diesem Hörsaal wird gebloggt Web 2.0 unterstützt Lehren und Lernen an der Universität

Wachsen 69 Interview

„Wir arbeiten jeden Tag, ohne an Morgen oder Übermorgen zu denken“ Jutta Allmendinger im Gespräch

76 Fotostrecke

melden Erst zeigen, dann sprechen

82 Artikel

Integration: mangelhaft Sprache lässt Zuwanderer im Bildungssystem scheitern

90 Rezension

Aus Kriegen lernen Deutsche und japanische Geschichtsvermittlung im Vergleich

92 Artikel

Herkunft entscheidet Wie Elternhaus und soziales Kapital den Bildungserfolg bestimmen


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Abstracts 15

Der akademische Imperativ Von der Verantwortung der Hochschulen Essay Martha Marisa Wanat

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Wenden verboten! Alte Wege bestimmen den Kurs der Bildungspolitik Artikel Marian Schreier

Illustration Sonja Deffner

Illustration Wilm Lindenblatt

Die fortschreitende Ökonomisierung und Beschleunigung unseres Lebens macht auch vor den Hochschulen nicht halt. Sie passen sich den Erwartungen und Werten der sie umgebenden Gesellschaft an. Hochschulen sollten sich jedoch nicht an den Mainstream angleichen, sondern ihr Handeln an Grundsätzen einer unabhängigen, an der Wahrheitsfindung interessierten Wissenschaft ausrichten. Statt utilitaristische Absolventen zu produzieren, sollten sie die Herausbildung kritischer Persönlichkeiten befördern. Sie sollten den Mut zu unzeitgemäßen Beobachtungen aufbringen und versuchen, dem Zeitgeist voraus zu sein. Nur so können sie der Gesellschaft wirklich von Nutzen sein.

Tiefgreifende Reformen im Bildungssektor haben in Deutschland meist geringe Chancen auf Erfolg. Zu festgefahren sind die Strukturen und zu viele Akteure sind beteiligt. Sozialwissenschaftler sprechen in einem solchen Fall von Pfadabhängigkeit. Den einmal beschrittenen Weg zu verlassen, ist nur mit hohem Aufwand möglich. Das Gymnasium ist ein Beispiel für diese Entwicklung. Reformen der über 200 Jahre alten Institution sind, wenn überhaupt, nur in kleinen Schritten möglich. Ein weiteres Beispiel ist die > Exzellenzinitiative. Gefördert werden die Hochschulen, die sowieso schon gute Leistungen zeigen

Bildung,

Bildung, Bildungspolitik, Pfadabhängigkeit, Gymnasium,

institutionelle

Verantwortung,

Postmoderne,

Systemtheorie, Wahrheit

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Wehret der Halbbildung! Was Theodor Adorno zum Bildungsstreik sagen würde Artikel Michael Metzger

Exzellenzinitiative

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Zahltag an der Hochschule Wann Studiengebühren gerecht sind Artikel Raffaele Nostitz Fotografie Manuel Siebe

Illustration Johannes Mundinger

Die Kritik an den Verhältnissen im Bildungssystem reißt nicht ab. Im Rahmen des Bildungsstreiks protestierten Studenten jüngst deutschlandweit für bessere Studienbedingungen. Bei genauem Hinsehen bleibt es jedoch fraglich, ob die Kritik wirklich tief genug geht und nicht bloß in Oberflächlichkeit verharrt. Das Bildungsverständnis des Soziologen Theodor W. Adorno bietet hierfür einen Analyserahmen. Er beklagte, dass Bildung der Verwertbarkeit untergeordnet wird. Die um sich greifende > Halbbildung verewigt dann die gesellschaftlichen Verhältnisse, die aber viel mehr in Frage gestellt werden müssen.

Ein Studium nützt den Studierenden, aber auch der gesamten Gesellschaft. Der unstrittige gesellschaftliche Bedarf an Akademikern ist Rechtfertigungsgrundlage für eine weitgehend staatliche Finanzierung der Hochschulen. Aus makroökonomischer Perspektive kann es jedoch durchaus gerecht sein, zusätzlich Studiengebühren zu erheben. Durch sie kann eine ungleichmäßige Verteilung der Kosten auf Nichtakademiker vermieden werden. Die Einkommensvorteile von Hochschulabgängern bevorteilen Akademiker nämlich nicht unerheblich. Die Gebühren müssen dabei allerdings so gestaltet sein, dass sie der sozialen Selektion beim Hochschulzugang entgegenwirken.

Bildung, Bildungsstreik, Halbbildung, Kritische Theorie

Bildung, Bildungsfinanzierung, Studiengebühren, Umverteilung


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Wissenschaft reloaded Die Exzellenzinitiative als Symptom des Modus 2

61

In diesem Hörsaal wird gebloggt Web 2.0 unterstützt Lehren und Lernen an der Universität

Essay Philipp Poppitz

Gastartikel Sandra Hofhues

Illustration Clara Roethe

Illustration Paul Kirschmann

Die Beziehung zwischen Gesellschaft und Wissenschaft hat sich gewandelt. Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft ist zunehmend anwendungsbezogene Forschung gefragt. Politik und Wirtschaft stellen konkrete Anforderungen an die Universitäten. In der Wissenssoziologie wird diese Entwicklung als Modus 2 bezeichnet. Die Exzellenzinitiative der Bundesregierung ist ein Beispiel für diese neue Entwicklung. Massen- und Spitzenforschung werden bewusst getrennt und die Hochschulen geraten zu Wissensproduzenten, die nach den Gesetzen des Marktes arbeiten. Die unkritische Übertragung von ökonomischen Prinzipien auf die akademische Welt gefährdet die Unabhängigkeit der Wissenschaft.

Die Hochschulwelt wird durch digitale Medien nachhaltig verändert. Oft beschränkt sich die Entwicklung aber auf Bibliothekssysteme oder Online-Semesterapparate. Soziale Netzwerke, Blogs und Wikis, sogenannte Web-2.0-Werkzeuge, finden nur langsam ihren Weg in die Hörsäle. Für einen ergänzenden Einsatz in der Hochschullehre sind sie jedoch zum Teil wie geschaffen. Sie fördern den Dialog zwischen Lernenden und Lehrenden. Dem Einsatz dieser neuen Hilfsmittel muss jedoch eine Veränderung der didaktischen Paradigma hin zu einem konstruktivistischen Modell vorausgehen.

Bildung, Exzellenzinitiative, managerial revolution, Modus 2

Bildung, E-Learning, Hochschuldidaktik, Lernmittel, Web 2.0

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Integration: mangelhaft Sprache lässt Zuwanderer im Bildungssystem scheitern

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Herkunft entscheidet Wie Elternhaus und soziales Kapital den Bildungserfolg bestimmen

Artikel Stina Preuß

Artikel Anne Wallisch

Illustration Peter Bröcker

Illustration Martin Kaumanns

Eine der Schwächen des deutschen Bildungssystems ist die Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund. Studien bescheinigen ihnen schwache Leistungen und machen hierfür unter anderem ihre geringere Sprachkompetenz verantwortlich. Gemäß Pierre Bourdieu reproduziert das Bildungssystem so bestehende soziale Ungleichheiten, anstatt diese auszugleichen. Bislang fehlen in Deutschland integrative Unterstützungsmaßnahmen, um hier Abhilfe zu schaffen. Zudem wird das Potential der Muttersprache im Bildungssystem kaum genutzt. Bisherige Veränderungen und Absichtserklärungen reichen nicht aus.

Die Pisa-Studien belegen, dass die Bildungschancen eines Kindes noch immer stark durch die Sozialschichtzugehörigkeit seiner Herkunftsfamilie determiniert werden. In Deutschland ist dieser Zusammenhang besonders deutlich. Bildungsentscheidungen sind immer auch Kosten/Nutzen-Abwägungen und das nicht bloß im ökonomischen Sinn. Der persönliche Nutzen ist je nach gesellschaftlichem Status unterschiedlich. Ein sozialer Abstieg ist schmerzhafter als das Verharren in der gleichen sozialen Schicht. Akademikereltern kennen sich zudem besser im Bildungssystem aus, was ihrem Nachwuchs zu Vorteilen verhilft..

Bildung, Integration, Migration, Sprache

Akademiker, Bildung, Pisa-Studie, soziale Schicht


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Wissen

Bildung ist ein vielf채ltiger Begriff. Bildung ist gepr채gt von den Personen, die sie in Anspruch nehmen und denen, die sie vermitteln. Bildung ist gepr채gt von den Institutionen, in denen sie zusammenfinden.


Information °Wissen

Aufschlag Adrian Luncke und Friederike Schruhl

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Fotografie Andreas Chudowski

Offene Türen Was Bildung leisten soll, kann und darf Bildung – der Begriff ist in aller Munde. Was soll Bildung leisten, was kann sie erreichen? Und was heißt es eigentlich, gebildet zu sein? Was heißt es, zu bilden? Viele verschiedene Antworten auf diese Fragen lassen sich in Schulen, in der Wissenschaft und Politik finden. Aber letztendlich bleiben es gesellschaftliche Fragen, die nur gemeinsam beantwortet werden können.


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Es herrscht wieder ein revolutionärer Geist an den Schulen und Universitäten. Schätzungsweise zweihunderttausend junge Leute trieb es im Sommer vergangenen Jahres auf die Straßen. Doch sie protestieren nicht gegen Umweltzerstörung oder Kriegseinsätze. Die missglückten Reformen des Bildungssystems machten sie wütend und ließen sie so zu einer lautstarken Bewegung werden. Der Bildungsstreik war dabei nur ein Höhepunkt andauernder Auseinandersetzungen: Lehrerverbände, Wissenschaftler und Wirtschaftsvertreter verkünden einen klugen Ratschlag nach dem anderen, um die Debatte über die Bildung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Denn zu entscheiden gibt es derzeit viel: Studiengebühren, Turbo-Abi und Ganztagsschulen – auf der politischen Agenda stehen Bildungsthemen ganz oben. Bildung ist ein vielfältiger Begriff Was gute Bildung ist, darüber streiten sich freilich die Geister. Die einen fordern mehr Ingenieure, um im technologischen Wettbewerb gegen China und Indien bestehen zu können, die anderen befürchten den Niedergang der Geisteswissenschaften. Das Einzige, auf das sich alle einigen können: So wie bisher kann es nicht weitergehen. Es ist kein Wunder, dass die Vorstellungen so weit auseinander liegen. Denn die Frage nach der richtigen Bildung ist keine einfache. Letztendlich hängt die Antwort von weit tiefer liegenden Fragen ab: Welche Ziele sollen sich Menschen und ganze Gesellschaften überhaupt setzen? Soll der Mensch vornehmlich nach Wohlstandsmehrung und materieller Sicherheit streben? Soll er ein angepasster Staatsbürger sein oder ein revolutionärer Denker, der jedes System prinzipiell infrage stellt? Wer die Bildung verbessern will, muss sich deswegen erst einmal vor Augen führen, was Bildung ist – und was sie nutzen soll. Der Blick zurück zeigt, dass viele große Denker diese Frage ganz unterschiedlich beantworteten. Wer die altehrwürdige Humboldt-Universität zu Berlin betritt, der wird erst einmal mit Karl Marx‘ Sicht der Dinge konfrontiert: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern“, steht in goldenen Lettern an die Wand geschrieben. Dass dieser Gedanke gerade in einer Universität zu lesen ist, einer Bildungseinrichtung, in der zuvorderst Texte, Werte oder Daten interpretiert werden, scheint paradox. Und doch erinnert er die Studierenden täglich daran, dass Bildung kein Selbstzweck ist, sondern ein Instrument zur Veränderung. Oder um es pathetischer zu formulieren: eine Waffe im Kampf für

eine bessere Welt. Die Philosophiegeschichte verbindet mit Bildung noch eine Reihe anderer Ziele: So geht es Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) um die Ausbildung reiner menschlicher Weisheit; Immanuel Kant (1724-1804) erklärt Bildung zur Voraussetzung von Mündigkeit und rief damit die geistige Revolution aus. Laut Wilhelm von Humboldt (1767-1835) soll zweckfreie Bildung den Menschen zu einem vollständig entwickelten, selbstbestimmten Individuum machen. „Der wahre Zweck des Menschen […] ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“, erklärt er. Bildung ist nach Humboldt ein umfassendes Projekt. Unmöglich kann es vom Einzelnen betrieben werden. Vielmehr bedarf es unterschiedlicher Bildungseinrichtungen. In ihnen sollen alle Wissenschaftsbereiche erkundet und ihre Verbindungen aufgedeckt werden. Hier sollen junge Menschen in einen lebendigen Austausch miteinander treten und sich für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn begeistern lernen. In den Erziehungswissenschaften wird, wie zum Beispiel von Karin Bock, konstatiert, dass es in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft keine eindeutige Begriffsbestimmung von Bildung gibt. Die Philosophin und Pädagogin Yvonne Ehrenspeck spricht sogar davon, dass der Bildungsbegriff streng genommen gar kein wissenschaftlicher Begriff ist, sondern vielmehr als Deutungsmuster zu verstehen ist. Bildung ist demnach nichts Bestimmtes, sondern etwas sozial, kulturell und institutionell Wandelbares. Bologna als neues Bildungsideal? Seit 1999 vollzieht sich im deutschen Studiensystem die „größte Hochschulreform seit Jahrzehnten“, stellt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fest. Die Eingliederung in einen europäischen Hochschulraum soll dazu genutzt werden, „die Qualität von Studienangeboten zu verbessern, mehr Beschäftigungsfähigkeit zu vermitteln und die Studiendauer zu verkürzen.“ Viele Politiker begreifen dies als Chance – Kritiker halten den sogenannten > Bologna-Prozess jedoch für ein bildungspolitisches Desaster. Entweder lehnen sie die gesamte Reform ab, kritisieren einzelne Bestandteile oder stellen fest: Ihre Umsetzung verläuft mangelhaft. Die Kritik betrifft vor allem den Bachelor. Zentraler Kritikpunkt ist dabei die für die meisten Fächer geltende Regelstudienzeit von sechs Semestern. Diese ist viel zu kurz, um Studierenden die Möglichkeit zu geben, eigene Interessen auszubilden und Talente zu fördern. Auch für den Einstieg


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in eigene Forschungsfelder reicht diese Zeit nicht aus. Sollte der Abschluss für die Berufsvorbereitung konzipiert sein, so wird er auch dieser Aufgabe nicht gerecht. Denn der Zeitplan ist zu eng geschnürt, um Raum für berufsbezogene Veranstaltungen oder wichtige Praktika zu lassen. So wird an manchen Universitäten der Lehrstoff eines vierjährigen Magister-Abschlusses in einen dreijährigen Bachelor komprimiert, was zu Arbeitsüberlastung, Stress und Frust führt. Freiheitliches Nachdenken und selbstbestimmtes Lernen haben hier dann keinen Platz mehr. Wissenschaftliche Grundausbildung, Berufsvorbereitung und Förderung wissenschaftlicher Talente – ohne dafür genügend Zeit zu lassen – all das sind die Forderungen des BMBF an die neuen Abschlüsse. Geht es um die Vernetzung der Hochschulen, so steht die Qualität der Wissenschaft im Vordergrund. Mittlerweile ist die neue Studienstruktur in gut vierzig europäischen Ländern eingeführt. Studienleistungen werden nach Punkten im European Credit Transfer System (ECTS) bemessen. Ein länderübergreifendes Qualitätsmanagement soll weiter dafür sorgen, dass überall dieselben Standards herrschen. Denn erst so werden die Abschlüsse auf nationaler und europäischer Ebene vergleichbar. Ziel dieser Vergleichbarkeit ist die Steigerung der Mobilität von Studierenden. Ihre Wahlmöglichkeiten sind enorm gestiegen. Je nach Interessenlage ist es nun möglich, Meeresbiologie in Kiel, Textildesign in Lahti oder Archäologie in Thessaloniki studieren. Auf die Anerkennung seiner Leistungen im Heimatland soll man angeblich nicht verzichten müssen. Die Praxis sieht jedoch häufig anders aus: Komplizierte Anrechnungsverfahren oder zu eng formulierte Studienordnungen schränken die Wahlfreiheit ein. Nicht Praktische Philosophie muss im achten Modul im sechsten Semester absolviert werden, sondern Ethik, Glaube und Verantwortung. Da bleibt dann nur noch zu hoffen, dass zum Beispiel in Paris ein Tutorium, ein Seminar und eine Vorlesung in dem jeweiligen Semester angeboten wird. Die Reform legt Steine in den Weg Zwar können heute Auslandsaufenthalte relativ einfach organisiert und durchgeführt werden, doch wird diese neue Mobilität nur von wenigen Studierenden genutzt. Laut dem Unternehmen Hochschul-Informations-System (HIS) verbringen nur 15 Prozent der Bachelorstudierenden ein Semester im Ausland. Im Diplomstudium sind es hingegen 24, im Magisterstudium sogar 34 Prozent. Schlicht deshalb, weil die neuen Studiengän-

gen keinen Raum für Praxissemester, Praktika und Auslandaufenthalte lassen. Auslandsaufenthalte steigern jedoch nicht nur den Marktwert von Berufseinsteigern, sondern sind auch elementare Bildungserfahrungen. Überall dort, wo Menschen zusammenkommen, kann man etwas lernen. Vor allem, wenn diese Menschen unterschiedlich in ihrer Herkunft, in ihrem Glauben und in ihrer Sprache sind. In einer interkulturellen Gesellschaft avanciert Bildung so zu weitaus mehr als dem Lesen-, Schreiben- und Rechnen-Lernen. Anerkennungsprozesse zwischen unterschiedlichen Menschen bedürfen der Bereitschaft, die Welt mit anderen Augen zu sehen. „Die Fähigkeit zur Empathie“, so der Bildungswissenschaftler und ehemalige Unternehmensberater Jürgen Kluge, wird zu „einer zentralen Herausforderung künftiger Bildungsanstrengungen werden.“ Interkulturelle Kompetenzen, Mehrsprachigkeit und ein toleranter Umgang miteinander sind Herausforderungen, denen man sich in einer globalisierten Welt stellen muss. Deshalb ist es heute zu kurz gegriffen, Bildung als das Bewahren und Tradieren des eigenen kulturellen Erbes zu verstehen. Die eigene, europäische Identität zu begreifen, ist wichtig für einen interkulturellen Dialog, doch muss sie auch über das Wissen um die eigene Geschichte hinausgehen. Heutzutage kann es nicht die Aufgabe von Bildungsinstitutionen sein, eine Welt von gestern zu vermitteln, die es heute nicht mehr gibt. Chancen sind ungleich verteilt Das Bildungssystem wird also reformiert, Leistungsfähigkeit wird gefordert. Aber wessen Leistungen? Wer darf eigentlich etwas leisten? Und wer nicht? Die sozialen Auswirkungen der neuen Bildungsreformen, insbesondere auf die Chancengleichheit der verschiedenen sozialen Gruppen, sind zu wenig berücksichtigt worden. Von hundert Kindern akademisch gebildeter Eltern erhalten 83 eine Hochschulzugangsberechtigung, von hundert Kindern aus nicht-akademischen Elternhäusern sind es nur 23. „Die Hälfte der Kinder aus Migrantenfamilien besucht lediglich die Hauptschule. Ein Viertel der Migrantenfamilien erlangt gar keinen Schulabschluss“, konstatiert etwa der SPD-Politiker Karl Lauterbach in seinem Buch über die Zweiklassengesellschaft. Dieser Zustand verdeutlicht die strukturellen Defizite im deutschen Bildungssystem. Anstatt Ungerechtigkeiten auszugleichen, werden sie durch Studiengebühren, Elitenförderung und Sparmaßnahmen im sozialen Sektor erhöht.


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Zwischen den hervorragend geförderten, sozial privilegierten und den wirtschaftlich benachteiligten Studierenden entsteht eine immer breitere Kluft. Diese Entwicklung wird auch an der sogenannten > Exzellenzinitiative deutlich. Die > Exzellenzinitiative hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Qualität der Forschung in Deutschland zu fördern. Damit soll diese nicht nur nachhaltig gestärkt, sondern auch ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessert werden. Gefördert werden jedoch hauptsächlich die Universitäten, die ohnehin schon über großes Ansehen verfügten. Kleinere Hochschulen hatten hier kaum Chancen. Bundesund Landesregierungen lassen sich Spitzenförderung in den Wissenschaften jährlich eine Menge kosten: von 2009 bis 2017 genau 2,7 Milliarden Euro. Darüber könnte man sich eigentlich freuen. Jedoch argumentieren viele Kritiker, dass dies ein historischer Umbruch zugunsten eines Zwei-Klassen-Hochschulsystems sei. Materiell unterstützt würden hier nur noch einzelne, prestigeträchtige Spitzenuniversitäten, wohingegen die Mehrheit der Studierenden demnächst mit drastisch unterfinanzierten Studiensituationen konfrontiert würden. Das Mandat der Chancengleichheit und der Bildungsgerechtigkeit scheint mit diesem ZweiKlassen-Hochschulsystem verfehlt zu werden. Wer erhält heute eigentlich welche Bildung – und zu welchem Preis? Bildung für alle „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Karl Marx spricht in seinem berühmten Zitat von Philosophen. Doch heute ist klar, dass wir auch Philosophinnen brauchen. Die Geschlechterdifferenz im Bildungssystem hat eine lange Geschichte. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Gleichberechtigung erst 1958 gesetzlich abgesichert. Heute gibt es eine beunruhigende Diskrepanz: Einerseits sind Mädchen viel stärker an der Bildung beteiligt und auch leistungsstärker als die Jungen. Auf der anderen Seite werden Frauen im Beruf immer noch benachteiligt, wenn es um das Einkommen oder um die Arbeitsteilung innerhalb der Familie geht. Trotz guter Startchancen für Mädchen sind es Männer, die höhere Positionen im Beruf erlangen und auf gleichrangigen Positionen mehr verdienen als Frauen. Ursachen für dieses Verhältnis sind die traditionelle Rollenverteilung innerhalb der Familie sowie die geschlechtsspezifische Berufs- und Ausbildungswahl. Auch die Verringerung der Arbeitszeiten nach der Geburt des ersten Kindes – vor

allem auf Seiten der Frauen – und die damit zusammenhängenden negativen Auswirkungen auf das Einkommen sind in diesem Zusammenhang zu bedenken. Geschlechtsstereotype, traditionelle Familienvorstellungen und Erwartungen mithilfe einer genderorientierten Bildung aufzuzeigen und deutlich zu machen, sollte Teil der Aufgabe unserer Bildungsinstitutionen sein. Gezielte Förderprogramme, ausgewählte Literatur und gendersensible Bildungsvermittlung in allen Schulfächern und Studiengängen gehören hier dazu. Die geschlechtsspezifischen Diskriminierungen abzubauen, sollte eines der Ziele des Bildungssystems darstellen. Diskriminiert werden häufig auch behinderte Menschen. Sie haben immer noch mit einem erschwerten Zugang zu Bildung zu kämpfen. Dass etwa barrierefreie Universitäten genügend Dolmetscher für Gehörlose haben oder Menschen mit Behinderung problemlos eine Hochschulzugangsberechtigung erhalten – dies ist in der Bildungslandschaft noch längst nicht selbstverständlich. Solche Ungerechtigkeiten im Uni-Alltag haben leider schon eine längere Tradition: So wurde erst 2006 die international gültige UNBehindertenrechtskonvention verabschiedet, die die Bundesregierung 2009 rechtsverbindlich anerkannt hat. Diese richtet sich gegen Ausgrenzung und Diskriminierung und sieht die volle gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen vor. 1992 fand eine internationale Konferenz der Unesco unter dem Motto Bildung für alle statt. Hier wurde erstmals das Wort inclusion statt integration benutzt. Inklusion steht für einen Ansatz der Pädagogik, der für Vielfalt innerhalb der Bildung und Erziehung plädiert. „Inklusion [will] die Verschiedenheit im Gemeinsamen anerkennen, das heißt, der Individualität und den Bedürfnissen aller Menschen Rechnung tragen.“ Das bedeutet, davon auszugehen, dass alle Menschen unterschiedlich sind und dass jede Person die Gemeinschaft mitgestalten und mitbestimmen darf. Es soll nicht darum gehen, bestimmte Gruppen an die Gesellschaft anzupassen. Das Konzept der Inklusion ist bislang nur in wenigen Bundesländern umgesetzt worden. Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen, muss Anspruch eines guten Bildungssystems sein. Alle müssen sich bilden dürfen.

Neues Lernen ist gefragt


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Bilden sollte man sich immer und in jeder Lebensphase. Lebenslang zu lernen – institutionell gebunden oder nicht – ist lebensnotwendig, um sich in einer sich immer schneller verändernden Lebenswelt zurechtzufinden. Geschlossene Welten sich selbst zu eröffnen, sich weiterzubilden und eigenständig zu lernen, setzt auf die Informationskompetenz des Einzelnen. „Verändern und Interpretieren beinhaltet zu wissen, auf welche Weise man sich den Gegenständen annähern kann“, meint eine Studentin der Kommunikationswissenschaft. „Eigentlich läuft bei mir alles nur noch mit dem PC. Das ist fast überall mein Zugangsund Vermittlungsmedium“ Digitale Medien sind inzwischen feste Bestandteile unseres Alltags. Sie dienen nicht nur der Information und Kommunikation, sondern gelten neben Familie, Schule und dem Freundes- und Bekanntenkreis als vierte Sozialisationsinstanz. Sie sind nicht nur Mittel, sondern zunehmend auch Gegenstand der Bildung, da ein kompetenter Umgang mit ihnen unerlässlich ist. Schon im Kindergarten wird heute der Umgang mit digitalen Medien spielerisch eingeübt. In der Schule werden dann immer mehr informationstechnische Fähigkeiten verlangt. Dies betrifft nicht nur das Erstellen einer Bildschirmpräsentation, sondern auch den Umgang mit persönlichen Informationen im Netz. Möglichkeiten wie auch Gefahren des Internet zu begreifen, erfordert das Wissen um Rechte und Grenzen des Einzelnen. Innerhalb der Hochschule werden beim Einsatz technischer Neuerungen immer wieder Grenzen überschritten – in einem positiven Sinn: Wer beispielsweise während einer Vorlesung eigene Ideen und Meinungen produziert und verbreitet, bricht die Deutungsmacht des Lehrenden. Im Vorlesungssaal ist nicht nur eine Meinung zu hören, sondern sind auch gleichzeitig viele zu lesen. So kann parallel zur Veranstaltung von modernen Kommunikationsmedien Gebrauch gemacht werden: Links können gesetzt, Gegenmeinungen recherchiert, Kontroversen angestoßen und auf Aufsätze hingewiesen werden. Dies sind Ansätze eines neuen technisch-demokratischen Bildungsverständnisses. Jeder kann jederzeit mithilfe der Technik an allem teilhaben. Demokratie pur? Doch jedes Medium braucht, genauso wie jedes Wissen, die richtige Anwendung. An deutschen Hochschulen versucht man die Kluft zwischen Wissen und Anwendung mithilfe sogenannter Career Center zu schließen. Als Schnittstelle zwischen der Universität und dem Arbeitsmarkt ist das Career Center für Unternehmen Ansprechpart-

ner und Vermittler von Nachwuchskräften. Doch an einigen Universitäten greift die Wirtschaft selbst auch in das Angebot der Universität ein. Private Finanz- und Unternehmensberater werben gezielt an mittlerweile fast vierzig Universitäten für ihre Dienstleistungen. Sie bieten Rhetorikkurse, Assessmentcenter-Trainings und Managementseminare an. Vielen Universitäten fehlt einfach das eigene Geld für eine intensive Karriereförderung ihrer Absolventen. In Münster kümmern sich beispielsweise nur drei Mitarbeiter darum, fast fünftausend Studierenden den Berufseinstieg zu erleichtern. Die Bemühung, an der Universität selbst für einen gelungenen Berufseinstieg zu sorgen, und sei es mit Hilfe von externen Dienstleistern, ist per se nichts Schlechtes. Sie verändert jedoch das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Statt einer umfassenden Bildung im Sinne Humboldts droht das Studium heutzutage auf rein marktwirtschaftliche und berufsbezogene Kriterien reduziert zu werden. Schneller, höher, weiter – aber wirklich auch besser? Wo ist hier das freiheitliche und zweckfreie Lernen und Lehren, das Humboldt betonte? Ist das das Verändern, auf das Marx hoffte? Wohl kaum. Ist der Weg das Ziel? Die Universität ist in der Bredouille. Wie soll gelernt werden? Kompetenz- oder zielorientiert? Und gibt es hier überhaupt einen Unterschied? „Aber nein! Bildung muss nicht verwertbar sein“, behauptet eine junge Mitarbeiterin am Lehrstuhl für politische Philosophie der Humboldt-Universität. „Viel wichtiger ist es doch, einen neuen Praxisbezug für das Denken herzustellen“. Eben nicht nur über das 18. Jahrhundert nachdenken, sondern vielmehr aus dem 18. Jahrhundert für heute etwas lernen. Das Vergangene und das Aktuelle politisch machen. Sich nicht in sichere Themen flüchten, sondern neue Thesen formulieren. Dafür brauchen wir Geduld, Mut und Zeit. Und die sollten wir uns auf jeden Fall nehmen, wenn wir sie schon nicht bekommen.

°Adrian Luncke und Friederike Schruhl für die Redaktion


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