PREVIEW "1001 ORIENT" (01/2011)

Page 1

6. Jahrgang | Ausgabe 1/2011

1001 Orient Leben Wie Europa den Orient erfindet Regieren Wie die Briten in den Jemen vordrangen Kollaborieren Warum Psychologie den Nahostkonflikt sch端rt Anders denken Amir Cheheltan 端ber Zensur im Iran

www.journal360.de

6,80 Euro


2


3

Editorial Fremdes verstehen Während wir in der Redaktion gerade um die letzten Formulierungen ringen, lässt der libysche Staatschef Muammar Abu Minyar al-Gaddafi protestierende Bürger seines Landes beschießen. Wann die Proteste in anderen Staaten eskalieren, ist ungewiss. Der Nahe und Mittlere Osten bebt. Bereits vor einem Jahr haben wir entschieden, die im Westen als Orient bezeichnete Region näher zu beleuchten. Seither haben wir Gastautoren eingeladen, redaktionelle Beiträge recherchiert, vor allem aber studentische Beiträge ausgewählt und lektoriert. Dann kam der 17. Dezember 2010, an dem sich ein junger Gemüsehändler in Tunesien aus Verzweiflung über seine Lage selbst anzündete. Nahezu täglich dringen nun Berichte über Demonstrationen zu uns. Mit derart umfassenden Umwälzungen hat wohl niemand gerechnet. Alte Staatschefs, neue Anwärter und internationale Gemeinschaften bangen um die Frage: Was wird nun werden?

Aletta Diefenbach und Christina Schmidt

Was nun werden soll, haben auch wir uns in der Redaktion gefragt. Wer von uns hätte vor einem Jahr gedacht, dass die Region derart überraschend ihr Gesicht wandelt? Als wissenschaftliches Journal mit langen Vorlaufzeiten können wir es uns nicht leisten, das aktuelle Geschehen zu kommentieren. Wollen wir aber auch nicht. Stattdessen liefern wir Einblicke in verborgene Kulturen und verworrene Beziehungen. Uns interessieren die Hintergründe der Geschehnisse. Wir zeigen, wie es um die Monarchie in Marokko steht, und wagen eine Erklärung, warum Husni Mubarak so lange im Amt bleiben konnte. Um zu verstehen, dass die Konflikte weit mehr sind als politische Eitelkeiten, hilft ein genauerer Blick auf die Region. Was ist von der einstigen Hochkultur Ägyptens geblieben, wie positionieren sich israelische Wehrpflichtige im Konflikt mit Palästina, welche Rolle spielen die USA in Afghanistan oder dem Iran? Und überhaupt: Okzident, Orient, was ist das schon? Die metaphorische westliche Brille verklärt, was wir sehen. Dieser Herausforderung sind wir uns bewusst. Immer wieder haben wir in der Entstehungsphase des Heftes darum gerungen, uns auf die fremden Kulturen, Lebens- und Denkweisen einzulassen. Kein leichtes Unterfangen, besteht doch für viele unserer Redakteure die Verbindung zu dieser fernen Welt größtenteils nur über mediale Kontakte. Sicherlich gelang es uns nicht immer, europäische Maßstäbe und unsere westliche Sozialisation abzulegen. Trotzdem ist ein Heft entstanden, das der Vielfältigkeit des Nahen und Mittleren Ostens gerecht wird, nicht zuletzt auch, weil wir mit zahlreichen Menschen aus der Region zusammenarbeiten konnten: Im Interview spricht der Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan über Literatur in seinem Heimatland Iran und schließlich beantworten uns im Nachschlag Menschen, die in verschiedenen Ländern der Region leben und arbeiten, die Frage nach Orient und Okzident. Aus dem einen Orient werden so 1001 ORIENT.

Die nächste Ausgabe von 360° erscheint im Oktober zum Thema Beziehungsweise. Die Ausschreibung für unsere übernächste Ausgabe findet ihr auf Seite 120.


4

Stellen Sie sich vor, Sie hätten

fördern können.

F

ür die Curies von morgen und andere starke Forscherinnen machen sich im Stifterverband 3.000 Unternehmen und Privatpersonen stark. Der Stifterverband engagiert sich für die Erneuerung des

Wissen schaftssystems und stärkt den Austausch zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Fördern Sie mit Ihrer Spende die wegweisenden Ideen der Curies von morgen. Mehr unter www.stifterverband.de


5

Inhalt

03 06 114

Editorial Abstracts Glossar

118 120 122

Nachschlag Call for Student Papers Impressum

Leben 9 Aufschlag

Es werde Orient! Eine europäische Schöpfungsgeschichte

16 Infografik

Hadsch Pilgerfahrt nach Mekka

18 Rezension

Und wie halten Sie es mit der Individualität? Auf Spurensuche in der Literatur des Nahen und Mittleren Ostens

20 Artikel

Shibam in Wadi Hadramawt Eine Reise ins Chicago der jemenitischen Wüste

Regieren 29 Artikel

Reformen ja, Demokratie nein! Strategien der Herrschaftssicherung im System Mubarak

40 Artikel

Colonial Power An Inquiry into the British Colonisation of Southern Yemen

49 Artikel

Land oder Frieden? Befehls- und Kriegsdienstverweigerung von Rechten und Linken in Israel

Kollaborieren 61 Artikel

Ins Grab der Supermächte Warum sich in Afghanistan Geschichte wiederholt

72 Artikel

Wandel durch Annäherung? Zur Notwendigkeit eines Umdenkens im Weißen Haus

81 Artikel

Freu(n)d und Feind Die psychologische Dimension des Nahostkonflikts

Anders denken 96 Fotostrecke

Beirut Walls Von der Wirklichkeit auf den zweiten Blick

96 Interview

“I Don’t Surrender to the Censors” An Interview with Iranian Author Amir Hassan Cheheltan

102 Artikel

Investieren mit Gottes Segen Zwischen Anspruch und Wirklichkeit eines alternativen Finanzsystems

110 Rezension

Orientalische Moderne Auf der Suche nach den arabischen Cultural Studies


6

Abstracts

20

Shibam in Wadi Hadramawt Eine Reise ins Chicago der jemenitischen Wüste

29

Reformen ja, Demokratie nein! Strategien der Herrschaftssicherung im System Mubarak

Gastartikel und Fotos

Autorin Jessica Noll

Katarzyna A. Meyer-Hubbert

Illustration Anna Wenning

Auf der Reise von der größten Sandwüste der Welt, der Rub‘ al-Khali („Viertel der Leere“), zu der jemenitischen Ostküste am Indischen Ozean erwartet einen Reisenden eine Stadt, die schon für die Karawanen der berühmten Weihrauchstraße ein wichtiger Treffpunkt war: Shibam. Ihre sieben- bis neunstöckigen Wolkenkratzer beeindrucken jeden, der die Chance hat, in diese Gegend zu kommen. Seit 1984 Weltkulturerbe, gehört Shibam zu den schönsten und gefährlichsten Städten im Jemen. Seine ruhigen Gassen laden zu einem Spaziergang ein, der durch keinen Geschichtsunterricht ersetzt werden kann. Die Präsenz der al-Qaida-Kämpfer in der Region schreckt jedoch potentielle Touristen ab.

Andauernde Massenproteste führten am 11. Februar 2011 zum Ende der Ära Mubarak. Die miserable wirtschaftliche Situation vieler Ägypter und die massiven Einschränkungen freiheitlicher Rechte ließen das Volk aufbegehren. Nach der fast dreißigjährigen Regierungszeit des Machtinhabers stellt sich nun die Frage nach den Gründen für die außerordentliche Persistenz des ägyptischen Regimes. Durch einen gezielten Balanceakt zwischen repressiven und legitimationsstiftenden Strategien konnte Mubarak seine Herrschaft lange Zeit sichern. Die Geschichte einer Herrschaftsorganisation – und ihres Untergangs.

Jemen, Wüstenstadt, Weltkulturerbe

Ägypten, Macht, Demokratie, Persistenz

40

Colonial Power An Inquiry into the British Colonisation of Southern Yemen

49

Land oder Frieden? Befehls- und Kriegsdienstverweigerung von Rechten und Linken in Israel

Artikel Sibille Merz

Artikel Vinzenz Hokema

Illustration Clara Roethe

Illustration Martin Kaumanns

To some extent, the British colonisation of southern Yemen was made possible by employing similar strategies of collecting knowledge about the indigenous population that have been used during the colonisation of India. This article outlines the connection between the different forms of collecting information about the Yemeni population, the rituals and practices through which the British interacted with them, and the stabilisation of colonial rule.

Der Nahostkonflikt dauert an und in der israelischen Gesellschaft herrscht nachhaltige Uneinigkeit über einzuschlagende Lösungswege. Dieser Konflikt spiegelt sich auch in den israelischen Streitkräften wider, wo Soldaten verschiedener politischer Lager ihre Ansichten in Form von Befehls- und Kriegsdienstverweigerung zum Ausdruck bringen. Im Zentrum stehen hierbei der Verweis auf die Menschenrechte der Palästinenser einerseits und der Anspruch auf israelische Siedlungen in den Palästinensergebieten andererseits. Weder Staat noch Armee haben bislang eine klare Strategie, wie diesem Phänomen zu begegnen ist.

Jemen, Großbritannien, Kolonialismus, postkoloniale

Nahostkonflikt, Kriegsdienstverweigerer, Israel, rechts,

Theorie

links


7

61

Ins Grab der Supermächte Warum sich in Afghanistan Geschichte wiederholt

72

Wandel durch Annäherung? Zur Notwendigkeit eines Umdenkens im Weißen Haus

Artikel Anton Friesen

Essay Isabella Hermann

Illustration Anna Wenning

Illustration Alexander Harder

Vor nunmehr knapp zehn Jahren begann die Mission der Nato in Afghanistan. Ein unrühmliches Jubiläum, welches zum Nachdenken über das bisherige Vorgehen nötigt. Ein Blick in die nahe Vergangenheit ist in diesem Zusammenhang hilfreich: So zeigt sich, dass die Nato heute dieselben Fehler begeht wie damals die Sowjetunion. Vor allem die fehlende Unterstützung der externen Streitkräfte in der afghanischen Zivilbevölkerung macht eine dauerhafte Befriedung des Landes nahezu unmöglich und die militärische Überlegenheit der Nato-Truppen nutzlos.

Einer dauerhaften Stabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens steht unter anderem der seit 1979 schwelende Konflikt zwischen den USA und dem Iran im Weg. Beide Mächte konkurrieren um Einfluss in der Region und verweigern sich der Zusammenarbeit. Sanktionen und militärische Drohgebärden scheinen eine dauerhafte Lösung zu erschweren, statt zu befördern. Insbesondere die USA sollten den Iran als strategischen Partner und nicht länger als zu bekämpfenden Feind wahrnehmen.

Afghanistan, Sowjetunion, Nato, Guerillakrieg, Mujahideen

Iran, USA, Machtverhältnis, Konflikt, Strategien

81

Freu(n)d und Feind Die psychologische Dimension des Nahostkonflikts

102

Investieren mit Gottes Segen Zwischen Anspruch und Wirklichkeit eines alternativen Finanzsystems

Artikel Lukas Herrmann

Artikel Pia-Dorothee Haars

Illustration Alexander Harder

Illustration Clara Roethe

Trotz fortwährender Präsenz des Nahostkonflikts in den Medien und einer Vielzahl von Analysen dessen ist die sozialpsychologische Dimension der Auseinandersetzung bislang wenig beleuchtet. Dabei ist es die gegenseitige Wahrnehmung der Streitparteien, die eine Lösung so schwierig macht. Dies zeigt sich am Beispiel einer israelischpalästinensischen Friedensinitiative, die sich darum bemüht, Annäherung zu schaffen. Eine Filmanalyse verfolgt die Verhandlungsrunden.

Nach der einschneidenden Krise 2007 wuchs die Kritik am bis dahin vorherrschenden Finanzsystem. Seither weisen verschiedene Akteure auf das durch die sharîaa geprägte Islamic Finance als mögliche Alternative hin. Dieses gewährleiste durch das Verbot bestimmter risikoreicher Praktiken mehr Stabilität, so die These. Eine politökonomische Analyse zeigt, dass dieser Schluss nur bedingt berechtigt ist: Anspruch und Wirklichkeit des Islamischen Finanzwesens klaffen oft weit auseinander.

Nahostkonflikt, Genfer Initiative, Konfliktlösung

Islamic Finance, Sharia, alternatives Finanzsystem

Sozialpsychologie


8

Leben

In Staaten, Klassen, Kulturen oder Religionen organisiert, sind es doch die einzelnen Menschen, die sich hinter den Strukturen verbergen. Was Politiker lenken und Wissenschaftler beobachten, sind Individuen, die sich innerhalb der Strukturen zu entfalten versuchen. Wahrhaftige Menschen leben im Krisengebiet, wirken in Oasen oder pilgern zu Heiligt端mern.


Leben

9

Aufschlag Carolin Maertens und Annika Schmeding Illustration Peter Bröcker

Es werde Orient! Eine europäische Schöpfungsgeschichte In Kairo werden Diktatoren gestürzt, hier Gewissheiten. Der Orient ist nicht mehr das, was er einmal war. Was heißt hier eigentlich der Orient? Und was haben wir damit zu tun? Ein Beitrag über Orientalisten. Ein Bericht über uns.


10

Sagenumwoben, verzaubernd, konstruiert. Ein Märchen aus tausend und einem Missverständnis. Dort, wo die Sonne zwischen Marokko und China aufgeht, wo die Orientalen träge neben Transistorradios ihre Handys bedienen, liegt unsere Verwirrung beheimatet. Im Orient. Wo fängt er an und wo hört er auf? Ist er das Gleiche wie der Nahe und Mittlere Osten, nur anders benannt? Ist er bloß ein Märchen, wie wir ihn in den Geschichten von Aladin und der Wunderlampe, Sheherazade und Ali Baba finden? So eigentümlich und fern, dass er uns nichts angeht, oder doch so nah, dass er mit Terrorwarnungen, unterdrückten Frauen und Revolutionen in der morgendlichen Zeitung zu uns spricht? Von jeher hat der Orient Reisende, Abenteurer, Wissenschaftler, Modernisierer und Künstler angelockt und fasziniert. Als vager geographischer Begriff bewegt er sich zwischen Nahem und Mittlerem Osten. Im Englischen wird der Orient gleichnamig sogar auf ostasiatische Länder wie Japan und China oder Südasien mit Indien und Pakistan verwendet. Der heutige Nahe Osten ist auch keine fest abgrenzbare Größe und schließt, je nach Definition, die Türkei, Ägypten, Israel und den Iran sowie die Arabische Halbinsel mit den Staaten Jemen, Quatar, Kuwait, Oman, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate mit ein. Auch der Irak, Jordanien und Syrien werden oft hinzugezählt. Der Mittlere Osten verortet sich dabei noch uneindeutiger in den Gebieten zwischen Iran und Myanmar, wobei er nicht mit dem englischen Begriff des Middle East deckungsgleich ist. Mittlerweile wird der Orient allerdings weniger als eine geographische Einheit verstanden, sondern eher als soziales und kulturelles Gefüge von Traditionen, einer bestimmten Geschichte und Religion, in dem es von Marokko bis nach Indien bestimmte Merkmale gibt, die den dort lebenden Menschen zugeschrieben werden. Doch wo liegt der Orient denn nun wirklich? Dem Literaturwissenschaftler Edward Said zufolge ist er nicht auf einer Landkarte, sondern vor allem in den Köpfen und Imaginationen derjenigen Menschen zu finden, die über ihn sprechen. In seinem 1978 erschienenen Buch Orientalismus zeigt er auf, wie eine westliche Identität in Abgrenzung zum Fremden geschaffen wurde. Dabei wird der Orient im Hinblick auf seine Unterschiede zum Abendland beschrieben und zu etwas Andersartigem gemacht. Je nach Kontext finden sich Schilderungen über seine angeblich barbarischen Bewohner, die mit unerbittlicher Härte gegen

ihre Feinde vorgehen, bis hin zu Darstellungen der sinnlichen Haremsfrauen, deren temperamentvolle Leidenschaft aus ihren dunklen Augen hinter dem Schleier hervorblitzt. Das Morgenland wird dabei als das Gegenbild zum zivilisierten, modernen, rational denkenden und handelnden Westen charakterisiert. Die Beschreibungen des Orients verweisen zurück auf ihren Urheber, den Westen. Nach Said sagen sie damit mehr über die Gesellschaften aus, die diese Vorstellungen produzieren, als über diejenigen, auf die sie sich beziehen. Der Orient ist dabei jedoch kein rein imaginärer Raum, in dem sich westliche Identität konstituiert. Saids Theorie folgend ist er ein integraler Bestandteil europäischer materieller Zivilisation und Kultur. Nicht ohne Grund entstand die moderne Orientwissenschaft gleichzeitig mit der französischen und britischen imperialen Ausdehnung: Die geographische und kulturelle Unterscheidung wurde durch wissenschaftliche Untersuchungen, ökonomische, historische, politische und literarische Texte sowie Bilder geschaffen und aufrechterhalten. Diese Abgrenzung verbreitete damit aber auch ein geopolitisches Bewusstsein, das die sozio-ökonomische Wirklichkeit der Menschen im Orient im Zuge von Kolonialismus, Imperialismus und der Realpolitik ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts manifestiert hat. Diese Auseinandersetzungen spiegeln ein klares Machtgefälle zwischen Orient und Okzident wider. Die unterschwellig orientalistische Sichtweise korrespondiert jedoch weniger mit einer konkreten politischen Macht, etwa einem Staat oder dem westlich-europäischen Staatenbund, sondern nimmt vielmehr die Gestalt eines europäischen Diskurses an, der im ständigen Austausch und mit Anklängen an ein kulturelles Gedächtnis geschaffen wird. Dieser Diskurs bestimmt auch, wer in politischen, intellektuellen sowie kulturellen und moralischen Fragen zu sprechen legitimiert ist. Wem diese Autorität zuerkannt wird, kann beispielsweise an dem Konglomerat von Auslandskorrespondenten, Islamwissenschaftlern und Nahost-Spezialisten abgelesen werden, die berufen sind, zu erklären und zu kommentieren, was in bestimmten Konflikten zu tun ist. Diese Experten werden ob ihres Wissens und ihres unterstellten Einblicks in das Innere dieser Region zur scheinbar objektiven Einschätzung herangezogen, bewegen sich jedoch auch in Interpretationsgemeinschaften. Das heißt, auch die Experten sind sozialisiert, die Welt in einer bestimmten Art und Weise wahrzu-


Leben

nehmen und zu bewerten. Ihre Beschreibungen der anderen sind daher keine universell gültigen Wahrheiten, sondern kulturell spezifische Vorstellungen und Deutungen. Mit Weber gesprochen: Wissen ist nie wertneutral – und somit nie unpolitisch. Geschichte und Geschichten Das wesentliche Merkmal des Orientalismus ist die Gegenüberstellung von Okzident und Orient, und die ist älter als die Erfindung einer europäischen Identität oder etwa die Offenbarung des Korans. Dennoch hat sich eine bestimmte Gegenüberstellung verfestigt: Europa versus Islam. Eine säkulare, politische Entität, zuweilen eine spezifische Kulturlandschaft auf der einen Seite; andererseits eine Religion, in der sich verschiedene Gesellschaften, Kulturen und Lebenswirklichkeiten aufzulösen scheinen. Die Geschichtsschreibung aus westlicher Sicht gibt einige Hinweise darüber, wie sich diese Gegenüberstellung formiert hat, und erlaubt die Rekonstruktion orientalistischer Denkweisen: Unter welchen Umständen und in welchem Zeitgeist entstanden Elemente, die sich im Laufe der Zeit zu bestimmten Vorstellungen über den Orient zusammenfügten? Wie und wann entstanden inhaltliche Versatzstücke, die den Orient zu einer dem Westen unterlegenen geografischen und kulturellen Einheit erklären? Wesentlich ist, dass die Formierung orientalistischer Vorstellungswelten mit der Herausbildung einer europäischen Identität eng verknüpft ist. Die Idee eines christlichen Europas, in Abgrenzung zu einer Imagination und einem Ort namens Orient und nicht zuletzt zum Islam, ist dabei zentral. Diese Entwicklung kann nicht als ein kohärentes und strategisches Unterfangen gedeutet werden, sondern als Effekt eines Prozesses, in dem verschiedene Ereignisse, deren Interpretation und Re-Interpretation und nicht zuletzt machtpolitische, militärische Tatsachen wie auch Zufälle zusammenwirkten. Die nachfolgenden geschichtlichen Auszüge zeigen exemplarisch, wie sich bestimmte Sichtweisen unter konkreten historischen Gegebenheiten entwickelt und verfestigt haben. Europa entdeckt sich selbst Eine wichtige Episode in der Konsolidierung eines christlichen Europas begann mit der Eroberung der Iberischen Halbinsel im Zuge der islamischen Expansion. Im Jahr 711 überquerten die ersten Mauren, also islamisierte Berber, die Straße von Gibraltar. Bis auf die spanische Nordküste, wo

11

sich schon bald der Widerstand von Christen formierte, nahmen Araber und Berber in wenigen Jahren die Iberische Halbinsel ein. Das widerständige Königreich Asturien im Nordwesten des heutigen Spaniens war Ausgangspunkt für die schon elf Jahre später einsetzende Reconquista, die Rückeroberung der Iberischen Halbinsel durch die Christen. Ein bemerkenswerter Auszug dieser jahrhundertelangen Geschichte zeitigte Folgen, die weit über ihre unmittelbare Zeit hinaus wirken sollten. Ausgangspunkt war ein sensationeller Reliquienfund am Anfang des neunten Jahrhunderts im Nordwesten der Halbinsel, den die asturischen Christen als die Gebeine des Apostels Jakobus, einer der zwölf Apostel Jesu, identifizierten. Er galt ihnen als Missionar der Iberischen Halbinsel, was bereits damals Kontroversen zwischen rivalisierenden Kirchenprovinzen auslöste. Das Grab einer heiligen Autorität verleiht Machtpotential, vor allem, wenn es sich in der eigenen Kathedrale befindet. Seine Gebeine wurden fortan in der Kathedrale von Santiago de Compostela als wundertätig verehrt. Der Kult um das Grab des Heiligen zog Pilgerreisende von weit jenseits der Pyrenäen aus ganz Europa an und begründete den Jakobsweg. Ende des zehnten Jahrhunderts verlief eine relativ feste Grenze zwischen Muslimen und rebellierenden Christen entlang des Flusses Duero. Kriegerische Auseinandersetzungen und gegenseitige Eroberungsversuche hielten jedoch an, was das Kalifat in Córdoba dazu bewegte, in den Jahren 996/997 eine militärische Offensive gegen Christen zu unternehmen. Deren Höhepunkt bildete der Angriff auf die Stadt Santiago de Compostela und die dortige Kathedrale, die geplündert und zum Teil zerstört wurden. Die Reliquien des Apostels Jakobus wurden nicht beschädigt, dennoch provozierte die Offensive einen unerwarteten Aufschrei, der in der gesamten europäischen Christenheit widerhallte und sich in Empörung wie auch religiöser Begeisterung entlud. Der Militärschlag wurde als Angriff auf Christen, ja auf den christlichen Glauben selbst interpretiert. Hierin liegt die große symbolische und mobilisierende Bedeutung, die in folgenden Jahrhunderten von dem Wallfahrtsort Santiago de Compostela ausging und zugleich ein willkommenes Mittel war, kirchliche Macht zu stärken. So nahmen in der Folge Pilgerreisen zu, neue Jakobswege samt Infrastruktur wurden angelegt. In ihrer Konvergenz führten die vielen Jakobswege Europa nicht nur wörtlich auf einen gemeinsamen Pilgerpfad nach Santiago, sondern verbanden es


12

auch in einem neuartigen geistigen Klima. Ende des elften Jahrhunderts entwickelte sich Santiago de Compostela neben Rom und Jerusalem zum wichtigsten Wallfahrtsort im Mittelalter und somit zu einem Kristallisationspunkt europäischer Identität. Hier entstand europäisches Selbst-Bewusstsein im Zuge des notwendigen Kampfes gegen Muslime. Man pilgerte nun nicht nur zum Heiligen Apostel, sondern auch gegen die nunmehr muslimische Bedrohung, der man sich als christliche Gemeinschaft im Ganzen ausgeliefert wähnte. Militärische Erfolge gegen die Mauren, die mit dem Eingreifen des Jakobus in Verbindung gebracht wurden, bestärkten die Christen in ihrer Verehrung des Apostels, dessen Bedeutung seit dem elften Jahrhundert um eine kriegerische Funktion erweitert wurde. In diesem Zusammenhang zeichnete sich bereits ein Element der nachfolgenden Deutung des Kampfes gegen sogenannte Ungläubige als heiliger Krieg ab, der in Form der Kreuzzüge explizit betrieben wurde. Und sie pilgern noch immer… Santiago de Compostela bewahrt bis heute seine Bedeutung als Bezugspunkt christlicher Identität. Dahinter steht vor allem die Beschwörung der Gemeinschaft und das tradierte Narrativ der Verteidigung des christlichen Glaubens. Diese Anliegen erhalten Gewicht und Legitimation durch die geschichtliche Bedeutung und das hohe Alter des Ortes. Am 6. November 2010 wurde Papst Benedikt XVI. in Spanien vom spanischen Prinzenpaar empfangen. Prinz Felipe ist auch Fürst von Asturien, ein Titel, der seit 1388 mit ausdrücklichem Bezug zum asturischen Königreich des achten Jahrhunderts als Geburtsort der Reconquista vererbt wird. Dieser Titel wurde nach der Franco-Diktatur 1977 erneut eingeführt, was zeigt, dass auch der Entwurf einer spanischen Nationalidentität mit dem Kampf gegen die muslimischen Mauren verknüpft ist und in dieser Art bewusst erinnert wird. Das erste Ziel der Papstreise war die Kathedrale in Santiago de Compostela, die er als Pilger aufsuchte. In verschiedenen Reden sprach sich Benedikt XVI. für eine Erneuerung des Glaubens und die Rückbesinnung auf christliche Wurzeln aus. Damit wendet er sich zwar nicht gegen Muslime, aber seine Mahnung erfolgt zu einer Zeit, in der im öffentlichen Diskurs die christlich-jüdischen Wurzeln des Abendlandes sogenannten islamischen Werten unversöhnlich gegenüber gestellt werden. Die Worte des Papstes werden

somit Teil dieser Debatten – ohne, dass ihm eine entsprechende Aussage unterstellt werden kann. Viel eher bezog er sich wohl auf die Bedrohung christlicher, zumindest katholischer, Werte durch säkulare Politik, die er in der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Eheschließungen und in gelockerten Bestimmungen zu Scheidung und Abtreibung vermutet. Diese Gesetzesänderungen sind in Spanien unter Ministerpräsident Zapatero, der sich dem Papsttreffen entzog, umgesetzt und von der katholischen Kirche heftig kritisiert worden. Guter Muslim, schlechter Muslim Durch die Geschichte hindurch war die europäische Sicht auf muslimische Nachbarn, Mitbürger, Regenten oder Widersacher höchst wechselhaft und immer ambivalent. Wie Said feststellte, korrespondierten entsprechende Vorstellungen vor allem mit der Situation der Urheber. So begegnen sich im spanischen Ritterroman des ausgehenden fünfzehnten Jahrhunderts der christliche Held und sein maurischer Gegner in gegenseitiger Achtung; hinsichtlich Edelmut und Großzügigkeit sind sie sich ebenbürtig - zu dieser Zeit waren die Christen auf dem Siegeszug. Die Reconquista endete nach fast achthundert Jahren muslimischer Präsenz in Spanien mit der Eroberung Granadas 1492. Die Verteidigung Europas als Motiv der Kreuzzüge konzentrierte sich indessen auf die Türken. Unter dem Eindruck der osmanischen Expansion und der Eroberung des byzantinischen Konstantinopels 1453 versuchte Papst Pius II. die Abstammung der Türken von den räuberischen Skythen nachzuweisen, die die Griechen abfällig als barbarische Reiternomaden bezeichneten. Hierdurch erklärte der Papst die Osmanen zu Erbfeinden der byzantinischen Griechen, der griechischen Kultur überhaupt und somit auch der Christen. Zugleich griff Papst Pius II. damit eine Interpretation auf, die bereits in den antiken Schriften des Herodot und Aischylos auftaucht. Demnach ist der Konflikt zwischen Griechen beziehungsweise Römern einerseits und den grausamen Persern andererseits ein Konflikt zwischen Europa und Asien, Zivilisation und Barbarei. In dieser Tradition verkündete der Pontifex eine These, die vertraut erscheint: Europa sei Zentrum der christlichen Gemeinschaft und gleichzusetzen mit der christlichen Religion. Es sei der Ort der Zivilisation, der sich deutlich unterscheide von Asien, einem Ort der Barbarei und des Heidentums – damit waren Muslime, Ungläubige in den Augen der


Leben

Christen, gemeint. Diese eindeutige Sichtweise hielt Papst Pius II. allerdings nicht davon ab, in einem polemischen Brief die Überlegenheit des osmanischen Sultans Mehmed II. gegen die in seinen Augen unfähigen und feigen christlichen Könige ins Feld zu führen, die er mit diesem Vergleich völlig bloßstellte. Pius II. verzichtete in diesem Brief auch nicht auf bekannte Vorurteile gegenüber dem Islam, sondern kam vielmehr zu dem Schluss, dem Sultan die Kaiserwürde und sogar ganz Europa anzubieten – sofern dieser bereit sei, zum Christentum zu konvertieren. Von den gastfreundlichen Barbaren Die Bedrohung durch das mächtige Osmanische Reich beeindruckte Europa zutiefst und hinterließ nicht nur Spuren bei zeitgenössischen Reformatoren und Papstgetreuen, die sich die Türken und ihre militärischen Erfolge gegenseitig zum Vorwurf machten. Handelt es sich um die Strafe Gottes – wahlweise für Ketzerei oder Verfehlungen des Personals der Römischen Kirche? Oder sind es die Vorboten des Antichristen und der Apokalypse? Oder doch göttlicher Zorn für das Lutherische Bekenntnis? All diese Deutungen sind letztlich auch Mechanismen, um sich das Fremde anzueignen, es in vertraute, eigene Kategorien und Sinnwelten zu überführen, um schließlich handeln zu können. Denn keine Furcht ist größer als die vor dem gänzlich Unbekannten – dann doch lieber der Teufel persönlich! Die Vorstellungen über die Türken, die von Reisenden, Diplomaten, Kaufleuten und Gläubigen verbreitet wurden, blieben mehrdeutig und widersprüchlich: Einerseits seien sie unerbittlich im Kampf, streng im Recht und der Unterdrückung, andererseits jedoch, im alltäglichen Leben, ehrenhaft, aufrichtig, bescheiden und gastfreundlich. Diese Ambivalenz erinnert an die aktuelle europäische Unbehaglichkeit in Bezug auf den EU-Beitritt der Türkei und eine davon unberührte Reisekatalogromantik. Die Türken kommen Die große Türkenfurcht in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts bis Mitte des sechzehnten Jahrhunderts scheint tief im kollektiven europäischen Gedächtnis eingearbeitet und ebenso schnell abrufbar zu sein. Darauf lassen rezente Merkwürdigkeiten schließen, etwa wenn die WELT online an die Belagerungen Wiens 1529 und 1683 erinnert, denn „jetzt sind sie wieder da“ (WELT online 2008), die Türken vor Wien. Um genau zu sein: um 20:45 Uhr am 20. Juni 2008 - nach

13

Christus! – im Wiener Ernst-Happel-Stadion. Anlass der historischen Rückblende und Gegenstand der ernsten geschichtlichen Einordnung ist ein Fußballspiel der türkischen Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft 2008. Es wird zwar nicht deutlich weshalb – der Gegner heißt Kroatien – aber hierbei „geht es auch um Geschichte, große sogar“. Jahrhundertealte „Erinnerungen“ an „die beängstigenden Horden […], deren Zahl nur noch von ihrer Brutalität übertroffen zu werden schien“ (WELT Online 2008), werden beschworen. Aber irgendwie gleitet der Artikel aus der Vergangenheit unmerklich in die Gegenwart über, irgendwie vermengen sich „Erinnerung“ und zeitgenössische Debatten, wenn es weiter heißt „jetzt sind sie wieder da, nicht nur mit dem Fußball“ (ebd.). Wer ist wieder da? Die Türken des Osmanischen Reichs? Was bedeutet es, wenn ein Artikel auf historische Ereignisse des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts verweist, um auf aktuelle Themen wie Migration und Integration anzuspielen? Natürlich geht es nicht darum, der Türkei oder türkischen Migranten Eroberungsabsichten zu unterstellen, zumindest nicht direkt. Gleichwohl gibt es Kontinuitäten in der Wahrnehmung und Deutung unserer außereuropäischen und inländischen Nachbarn, auch wenn sich Inhalte verschoben und transformiert haben. Nun sind es nicht mehr die kriegerischen Horden, die das Land mit Gewalt überziehen, wohl aber Migrationsfluten, die eine jüdisch-christlich geprägte, europäische Kultur hinwegzuspülen drohen. Bemerkenswert ist hierbei die Wortwahl: Migration wird in die semantische Nähe von Naturkatastrophen gerückt. In Presse und Politik kursieren viele solcher Verknüpfungen in unbedarfter, aber keinesfalls wirkungsloser Weise. Solche Begriffe sind nicht wertneutral, sondern stellen suggestiv Zusammenhänge her. Es ist auch nicht mehr die Angst vor militärischer Zerstörung, wohl aber vor kultureller Besatzung, mit Minaretten zum Beispiel, oder dem Kopftuch. Nicht mehr Brandschatzungen und Plünderungen werden befürchtet, aber die Ausbeutung von Wohlstand und Sozialpolitik. Sogenannte Experten warnen vor einer intellektuellen Degeneration durch die falschen Migranten, vor Islamisierung im Zuge massenhafter Einwanderung von Menschen, die auch Muslime sind. Und bei alldem bleibt vorausgesetzt, wenn auch nicht näher bestimmt, dass Türken oder türkische Migranten – aber eigentlich die Muslime – anders sind als wir. Große Vergleiche werden bemüht, um diese


14

Naturgegebenheit zu belegen: Islamische Werte seien unvereinbar mit der jüdisch-christlichen Tradition; nicht etwa Religion, denn wir befinden uns im Zeitalter der säkularen Staatlichkeit, der Ethik und Menschenrechte – christlich-jüdisch fundiert und universal gültig. In all diesen Gedanken und Sichtweisen liegt etwas von dem, was Said in Orientalismus beschreibt. So sind implizite Vorannahmen, inhaltliche Versatzstücke, Stereotypen und Darstellungsweisen erkennbar, welche die orientalistischen Diskurse über Islam – und somit Vorstellungen über Muslime und uns selbst – gestalten. Im Badeanzug in die Oper? Auch die Feministin und Herausgeberin der Zeitschrift Emma, Alice Schwarzer, bemüht sich mit ihrem Buch Die große Verschleierung um einen Beitrag in der Diskussion über den Islam und Integration. Explizit fordert sie ein Kopftuchverbot für Schülerinnen an Schulen, da das Kopftuch als Symbol „die Flagge der Islamisten“ sei (Schwarzer 2010: 15). Diese Aussagen stehen in einem Zusammenhang mit den Debatten um ein Verbot des Kopftuchs und der Burka in Frankreich, Belgien und in einigen deutschen Bundesländern wie Hessen, wo das Tragen einer Burka im öffentlichen Dienst verboten wurde. Doch was sagt uns diese Diskussion um ein kleineres oder größeres Stück Stoff? Schließlich hat das Tragen von Schleiern und Kopftüchern auch im Christenund Judentum Tradition, unsere Großmütter trugen als Trümmerfrauen in der Nachkriegszeit Kopftücher, und bei Cabrio-Fahrerinnen gilt es als praktisch und schick. Muslimische Kopftücher werden in der europäischen Gesellschaft oft als ein Symbol der Unterordnung und Unterdrückung muslimischer Frauen gewertet. Die politische Bedeutung, die ihm zugeschrieben wird, zeichnet sich nicht nur in Schwarzers Befürchtungen vor „orthodoxen bis fundamentalistischen Familien“ ab (Schwarzer 2010: 27), die ihren Töchtern das Kopftuch aufdrängen würden, sondern auch in Stimmen, die in ihm eine Gefahr für die pluralistische Gesellschaft sehen. Demokratie sowie errungene Gleichstellungs- und Grundrechte scheinen bedroht. Die australische Politikwissenschaftlerin Katherine Bullock hat in ihrem Buch Rethinking Muslim Women and the Veil darauf hingewiesen, dass die Bedeutung, die Medien dem Kopftuch zuschreiben, vor allem eine negative sei, die der Perspektive der betroffenen Frauen selbst kaum

Beachtung schenke (Bullock 2007: 85ff.). Dabei verweist sie darauf, dass Erfahrungen von Frauen bezüglich der Verschleierung nicht einheitlich seien, sondern je nach Gesellschaft, sozialem Milieu oder auch historischer Situation variieren können. So entschieden sich Frauen im algerischen Unabhängigkeitskrieg aus politischem und revolutionärem Protest gegen Frankreich, sich zu verschleiern, um im urbanen Guerillakampf Nachrichten und Militärausrüstung unbehelligt transportieren zu können. Das Tragen eines Kopftuchs kann ebenso eine religiöse Motivation haben, ein Statement persönlicher Identität oder eine Tradition als auch durch ein Gesetz erzwungen sein. Bullocks Einschätzung nach sind im Westen vor allem Beispiele aus solchen Ländern bekannt, in denen Frauen sich unter Zwang verhüllen, wie im heutigen Iran oder in Afghanistan zur Zeit der Taliban. Andere Beispiele, in denen Frauen selbstbestimmt wählen, ein Kopftuch, einen Niqab oder eine Burka zu tragen, sind in unserer medialen Welt kaum präsent. Zudem wird diesen oft unterstellt, sie würden sich gesellschaftlichen und familiären Zwängen beugen und wären unfrei. Nur wüssten sie davon nichts. Was bedeutet aber Freiheit, wenn wir grundsätzlich annehmen, dass Menschen immer soziale Wesen sind, die in einem bestimmten soziokulturellen und historischen Kontext leben und zu einer bestimmten Gemeinschaft gehören, die ihre Bedürfnisse und ihr Weltverständnis mit formen? Menschen tragen diejenige Kleidung, die in der Gesellschaft angemessen ist, in der sie leben. Sie werden in ihrer Auswahl von sozialen Konventionen, religiösen Vorstellungen oder moralischen Idealen geleitet. Wir wissen genau, dass ein Badeanzug in der Oper nicht angebracht ist, was wir auf einer Hochzeit oder auf dem Arbeitsamt anziehen können und was nicht. Dabei trifft unser aufs Höchste gepriesene Wert der Freiheit auf subtile gesellschaftliche Zwänge und Erwartungen, denen wir uns nicht entziehen können. Im Solarium gebräunt, im Fitnesstudio gestählt und mit Diät- und Trennkost gesund und vorzeigbar gehalten, kann der schöne Körper im Bikini am Strand oder im perfekt sitzenden Kostüm im Büro vorgeführt werden – auch und gerade im Zeitalter der Emanzipation und Gleichstellung. Orientalism reloaded? Die Verschleierung ist ein begehrtes Argument, um den Islam seiner Grausamkeit zu überführen. Wie erwähnt, ist das Phänomen der Verschleierung kein genuin islamisches, sondern eine ver-


Leben

schiedenartig betriebene und divers ausgelegte kulturelle Praxis. Aber genau diese Reduktion auf ein einzelnes Merkmal, das dann kennzeichnend für unterschiedlichste Menschen und ihre komplexen Lebensweisen steht, ist ein wesentlicher Mechanismus des Phänomens Orientalismus. In der gegenwärtigen medialen Berichterstattung finden wir diesen Mechanismus in der Wahrnehmung und Deutung der Geschehnisse im Nahen Osten – selbstverständlich in Bezug zum Islam. In diesem Sinne fragt der Focus (Nr. 6/2011) anlässlich der ägyptischen Revolution „Kann der Islam Freiheit?“ Der Islam? Nein, aber Menschen, die eben auch Muslime sind und Demokratie einfordern. Der Begriff Islam selbst steht nicht für eine einheitliche Religion. Vielmehr umfasst er eine Vielzahl verschiedener Auslegungen, Strömungen und Praktiken, um deren Gültigkeit ihre Anhänger mitunter heftig streiten. Die orientalistische Methode, Aussagen über sogenannte muslimische Gesellschaften vor allem ausgehend vom Koran zu treffen, ist obsolet. Dahinter steht der reflexartige Mechanismus, Muslime auf ihre Religion als wesentliches Merkmal zu reduzieren, sie zu passiven Darstellern eines offenbarten Drehbuchs zu erklären, das seit 1400 Jahren die immer gleichen Menschen und Gesellschaften hervorbringt. Hier entsteht das Bild eines ahistorischen und homogenen Islams, was in der Folge zu einer Essentialisierung der Muslime als zu jeder Entwicklung unfähig führt. Dass es dabei um Entwicklung im Rahmen eines eurozentrischen Fortschrittsparadigmas geht, bleibt implizit und unreflektiert. In der direkten Benennung erscheinen diese Punkte vielleicht plakativ oder überzogen. Der Trick des Orientalismus aber ist, dass er hinter expliziten Aussagen steht, in Form von unreflektierten Vorannahmen und Perspektiven, die zu bestimmten Ansichten über Muslime, die arabische Welt und so weiter, führen. Sie sind es aber, die die Rhetorik, die Absichten und Legitimationen für Politik und Interventionen, für Kriege und Entwicklungshilfe liefern und westliche Außenpolitik immer wieder zum Handeln berufen. Said hinterfragt diese essentialisierende Perspektive durch einen humanistischen Ansatz. Wertevorstellungen sind komplex, sie beziehen ihre Legitimation aus dem Kontext, in dem sie wirken, und es gilt, kulturelle Unterschiede auszuhalten und nicht durch Dominanz auflösen zu wollen. Identität gleich welcher Größenordnung ist immer work in progress und als Prozess in der

15

Auseinandersetzung mit anderen – und nicht gegen sie – zu verstehen. Auch in diesem Sinn sind wir Teil dessen, was aktuell im Nahen Osten geschieht. Die dortigen Veränderungen werden auch uns verändern. Oder haben sie das vielleicht schon? Angesichts der kritischen Stellungnahme der hiesigen Presse scheinen die Revolutionen mehr ins Wanken gebracht zu haben als nur ihre „Pharaonen“ (so das ZDF). Nun wird der Widerspruch zwischen Rhetorik und realer Umsetzung westlicher Politik öffentlich diskutiert und kritisiert. Mehr noch: Wir sehen Demokratiebewegungen in der arabischen Welt! Friedlich erkämpfte Revolutionen, die anerkennend mit dem Fall der Mauer verglichen werden. Nun sehen wir nicht mehr nur korrupte Despoten, instabile Staaten, Fundamentalisten oder muslimische Massen, sondern auch Menschen, die wir verstehen können und die in solidarische Nähe rücken. Wir reiben uns die Augen und staunen. Vielleicht haben Tunesier, Ägypter, Libyer, Bahrainer und Chinesen das geschafft, wozu wir selbst nicht in der Lage waren: gegen „unsere Vorstellungen von Differenz, … unsere Konditionierung von der Weltsicht des imperialen Zeitalters“ (Trojanow 2007: 16) zu revoltieren. °Carolin Maertens und Annika Schmeding für die Redaktion

Quellenverzeichnis #

Bullock, Katherine, (2007): Rethinking Muslim Women

and the Veil. Challenging Historical & Modern Stereotypes, The International Institute of Islamic Thought, London #

Said, Edward, (1981): Covering Islam, Vintage Book

Edition, New York #

Said, Edward, (1978): Orientalism, Vintage Book Edition,

New York #

Schwarzer, Alice (2010): Die große Verschleierung. Für

Integration, gegen Islamismus, Kiepenheuer & Witsch, Köln #

Trojanow, Ilija (2007): Nomade auf vier Kontinenten. Auf

den Spuren von Sir Richard Francis Burton, Eichborn Verlag, Frankfurt/Main #

WELT online (2008): Die Türken vor Wien. 20.06.2008.

http://www.welt.de/welt_print/article2125980/Die_ Tuerken_vor_Wien.html (10.03.2011)


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.