PREVIEW "FORTSCHRITTE" (02/2012)

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6,80 Euro

7. Jahrgang | Ausgabe 2/2012

Das studentische Journal fĂźr Politik und Gesellschaft

Fortschritte definieren & kritisieren Ratlos: Was passiert in Nordkorea? weitblicken & wegweisen Kopflos: Sind Maschinen verantwortlich fĂźr ihr Tun? innehalten & gestalten Endlos: Wie organisieren wir die Energiewende?

www.journal360.de


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Editorial Wohin wollen wir? Der Begriff Fortschritt wird im Allgemeinen mit einer stetigen Weiterentwicklung und damit verbunden einer Verbesserung der Lebensumstände assoziiert. Weiter, höher, schneller, besser – Konnotationen, die in Verbindung mit Fortschritt stehen und die das übergreifende Narrativ insbesondere unserer westlichen Gesellschaften stellen. Wir wollen fortschreiten! Doch die Frage ist: wohin? Kann es wirklich immer weiter gehen? Zeigen die Finanz- und Wirtschaftskrise, die ökologischen Grenzen von Wachstum und die ungleichen Entwicklungen innerhalb und zwischen Gesellschaften nicht genau das Gegenteil? Dass ein ungezügeltes Verlangen nach einem Mehr seine Grenzen hat und haben muss, dass Geschichte nicht als lineare Weiterentwicklung gesehen werden kann, sondern als eine zyklische Abfolge von Höhen und Tiefen, Erfolgen und Krisen? Die letzten Jahre haben noch einmal deutlich gemacht, dass es nötig ist, innezuhalten und über die Richtung, das Tempo und die Möglichkeiten von Fortschritten nachzudenken.

Lisa-Marie Althaus und Anja Bippus

Unser Journal versteht sich als Ort für Reflexionen solcher Art. Dabei hat 360° – wie der Name bereits impliziert – das Ziel, sich einem bestimmten Themenkomplex aus verschiedensten Disziplinen anzunähern, nicht jedoch eine vollständige Definition oder Begriffseingrenzung zu geben. Herausgekommen ist ein Heft, das in Form von Artikeln, Essays, Interviews und weiteren Formaten ungewohnte Blicke auf Fortschritt wirft. Tendenziell erreichen uns eher Einsendungen aus dem Bereich der Gesellschaftswissenschaften, deshalb sind wir dieses Mal besonders erfreut über Beiträge aus den Ingenieurs- und Naturwissenschaften. Der in vielen Texten kritisierte Fortschrittsglaube und -optimismus schlägt aber nicht ins andere Extrem, den Fortschrittspessimismus, um. Es geht eher darum, zu bestimmen, wie ein Fortschreiten möglich sein kann, ohne über die damit verbundenen Konsequenzen hinwegzusehen, aber auch aufzuzeigen, welche neuen Möglichkeiten sich durch technologische Weiterentwicklungen eröffnen, und um die Frage, wie wir mit diesen umgehen sollten. Wir für uns können bestimmen, wohin es mit 360° gehen soll: Wir wollen weiterhin eine Plattform bieten, in der Meinungen geäußert und hinterfragt werden können. Denn – davon sind wir überzeugt – hinter Ideen, die Gesellschaften voranbringen, steckt immer eine Neugierde, eine Offenheit für andere (vielleicht erst einmal fremd erscheinende) Gedanken und ein differenzierter Umgang mit und Austausch von Wissen. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen! Lisa-Marie Althaus und Anja Bippus

Die nächste Ausgabe von 360° erscheint im April/Mai zum Thema Das Böse. Die Ausschreibung für unsere übernächste Ausgabe zum Thema Glauben // Wissen findet Ihr auf Seite 120.

Das Titelbild dieser Ausgabe hat Ann-Christine Voss gestaltet.


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Inhalt 3 6 8

Editorial Abstracts Aufschlag

120 122 124

Nachschlag Call for Student Papers Impressum

definieren & kritisieren 15 Artikel

Gefangen im Korsett der Moderne Kann ein Green New Deal unseren Fortschritt retten?

22 Rezension

Der Tag des nicht-zu Byung-Chul Han tritt für eine inspirierende Müdigkeit ein

24 Essay

Die dunkle Seite der europäischen Zivilisation Abgründe zwischen Ideal und Realität der modernen westlichen Gesellschaft

33 Artikel

Die Fortschrittswilligen Blinder Glaube oder reflektiertes Paradigma?

41 Essay

The Significance of Details Progress in North Korea is hard to get – and maybe even harder to see

weitblicken & wegweisen 49 Essay

Das neue Gesicht des Krieges Wie der militärisch-technologische Fortschritt das Wesen des Krieges verändert

57 Interview

„Wir müssten schon über ein alternatives Universum reden, damit der Einsatz autonomer Kriegsroboter vertretbar ist.“ Andreas Matthias im Gespräch

67 Essay

Gender+ Das Internet kann dabei helfen, traditionelle Geschlechteridentitäten zu überwinden

74 Rezension

Unterwegs zur Liquid Democracy Die Piraten zwischen politischer Revolution und Online-Konformismus

77 Essay

Marsroboter und Gottesteilchen Ein Plädoyer für die Grundlagenforschung

innehalten & gestalten 85 Interview

„Woran es uns fehlt, ist das Verhältnis der Menschheit zum Erdsystem zu definieren“ Dirk Messner im Gespräch

92 Fotostrecke

Neue Gärtner braucht die Stadt! Zwischen Gartenzwerg und urbaner Sehnsucht

102 Infografik

Offshore-Windenergieanlagen Warum werden leistungsstarke Offshore-Windenergieanlagen (OWEA) für die zuküftige Energieversorgung benötigt?

104 Debatte

Mitbestimmung versus Machbarkeit Brauchen wir mehr demokratische Beteiligung beim Stromnetzausbau?

106 Artikel

Alles reiner Zufall? Eine Auseinandersetzung mit der Co-Evolution von Mensch und Gesellschaft bei Niklas Luhmann


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Abstracts 15

Gefangen im Korsett der Moderne Kann ein Green New Deal unseren Fortschritt retten?

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Gastartikel Michael Lühmann Illustration Janine Hinrichs

Die dunkle Seite der europäischen Zivilisation Abgründe zwischen Ideal und Realität der modernen westlichen Gesellschaft Essay Jana Groth Illustration Jasmin Schreiber

Fortschritt entwickelte sich als Phänomen der Moderne zur Leitkategorie des 19. und 20. Jahrhunderts und verlor dabei jeglichen negativen Gegenbegriff. Insbesondere für die Geschichte der Bundesrepublik bildet er die Leiterzählung. Die Irrationalität dieses rein positiven Fortschrittsparadigmas ohne den Gegenpart des Niedergangs wird an Umweltfragen allzu deutlich. Der jüngere Erfolg der Grünen ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Verlangens nach einem anderen, nunmehr nachhaltigen Fortschritt. Jedoch ist ein Herausmodernisieren aus der Nachhaltigkeitskrise ohne echten Rückschritt und Verzicht undenkbar.

Trotz der Erfahrung des Holocaust erscheint die europäische Zivilisation dem gesellschaftlichen Selbstverständnis noch immer als Sinnbild einer erfolgreichen Einhegung und Zivilisierung von Gewalt. Gewalt ist das Andere, das Fremde, das es zu überwinden gilt. Es hat mit der eigenen Gesellschaft wenig zu tun. Die Vernichtung der europäischen Juden steht aber den Prinzipien der westlichen Moderne keineswegs fundamental entgegen. Sie ist vielmehr eine direkte Folge derselben. Der Holocaust wäre ohne die moderne europäische Zivilisation nicht möglich gewesen.

Green New Deal,

Holocaust, Gewalt,

Fortschrittsparadigma, Moderne, Nachhaltigkeit

Aufklärung, Modernisierungsprozess

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Die Fortschrittswilligen Blinder Glaube oder reflektiertes Paradigma? Artikel Ina Radtke, Anne Klinnert Illustration Martina Pankow

Seit der Industrialisierung ist Fortschritt eines der sinnstiftenden Konzepte. Doch wie wird es heute verstanden und verwendet? Um diese Frage im Hinblick auf die etablierten Parteien in Deutschland zu beantworten, werden ihre Wahlprogramme und Koalitionsverträge seit 1998 untersucht. Entlang der wissenschaftlich-technischen, gesellschaftlichen und kulturell-moralischen Dimensionen von Fortschritt werden Divergenz und Konsens hinsichtlich der Fortschrittsidee in der heutigen Parteienlandschaft Deutschlands herausgearbeitet und dabei ermittelt, inwieweit Fortschritt als Problem, Chance oder Ziel gesehen wird. Im Ergebnis liefern die politischen Parteien bruchstückhafte und widersprüchliche, jedoch überwiegend positiv besetzte Konzeptionen von Fortschritt.

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The Significance of Details Progress in North Korea is hard to get – and maybe even harder to see Essay Philipp Olbrich Illustration Vera Kovaleva

North Korea is considered one of the most isolated countries, while its population has been suffering under misguided policies, widespread malnutrition and an arbitrary punishment system. The difficulty to extract reliable data from the hermit kingdom causes scholars to fall back on inventive methods to provide glimpses of the North Korean reality. This scarcity of information entails the danger of over-interpreting tiny details. Too often such pseudo-progress ignores the resilient regime that has successfully held on to power for more than 60 years and is unlikely to change either through outside influence, an Arab Spring-like revolution or a top-down political reform

Parteienforschung, Deutschland, Fortschritt, Dokumentenanalyse

North Korea, progress, information gap


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Das neue Gesicht des Krieges Wie der militärisch-technologische Fortschritt das Wesen des Krieges verändert

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Essay Ulrike Esther Franke Illustration Ann-Christine Voss

Die Einführung neuer Technologien verändert in unregelmäßigen Abständen die Art und Weise, wie Krieg geführt wird. Derzeit vollzieht sich eine solche „Revolution in militärischen Angelegenheiten“ in den technologisch wegweisenden Ländern der Welt. Der Einsatz von neuem Kriegsgerät, insbesondere von unbemannten, ferngesteuerten Flugzeugen und Robotik, beeinflusst Strategie und Militärdoktrin und erlaubt es, die Zahl der Soldaten auf dem Schlachtfeld zu reduzieren. Dank der neuen Technologien ist die angreifende Partei nicht mehr gezwungen, Krieg als psychologische oder physische Grenzerfahrung zu erleben – eine Entwicklung mit kaum einschätzbaren Auswirkungen auf zukünftige Kriege.

Gender+ Das Internet kann dabei helfen, traditionelle Geschlechteridentitäten zu überwinden Essay Anja Jahnel Illustration Till Lassmann

Post-Gender ist ein Konzept, das bisher vor allem in der Wissenschaft diskutiert wurde. Im Zuge der ständig zunehmenden Sozialisierung durch das Internet könnte es in Zukunft auch für größere Teile der Bevölkerung relevant werden und damit in Konkurrenz zu der vorherrschenden Geschlechterordnung treten. Der Essay erläutert die Idee von sich zersetzenden Geschlechterordnungen und verdeutlicht die Möglichkeiten aktiver Identitätspolitik im Internet.

Militär, Ethik, technologischer Fortschritt, Entgrenzung

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Marsroboter und Gottesteilchen Ein Plädoyer für die Grundlagenforschung Essay Paul Kallnbach Illustration Andreas Jürgens

Geschlechteridentität, Postmoderne, Internet

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Alles reiner Zufall? Eine Auseinandersetzung mit der Co-Evolution von Mensch und Gesellschaft bei Niklas Luhmann Artikel Nathalie Pfeiffer Illustration Jana Bonsignore

Das Bild der Grundlagenforschung ist außerhalb der akademischen Selbstwahrnehmung dominiert von hohen Kosten und Verständnislosigkeit. Bei näherer Betrachtung zeigen sich nicht nur ernsthafte Definitionsschwächen der gewählten Begriffe, sondern es wird auch ein unglückliches Selbstverständnis der Wissenschaft deutlich. Ein vorherrschendes Schuldgefühl aufgrund der hohen Kosten der Forschung zieht wirtschaftliche Unterwerfungsversuche nach sich, die ein effizientes Forschen unterminieren und der Bedeutung der Wissenschaft für die Gesellschaft nicht gerecht werden.

Stellt sich die Frage, wie gesellschaftliche Veränderung möglich ist, lohnt sich ein Blick in die funktional-strukturelle Systemtheorie Niklas Luhmanns. Er hat ein klares Konzept der gesellschaftlichen Evolution entwickelt, das allerdings vornehmlich auf Zufall basiert. Es erklärt jedoch nicht, wie Evolution überhaupt zustande kommt. Kann gesellschaftlicher Wandel vom Menschen ausgehen? Es wird ein Konzept des Menschen herausgearbeitet, das ihn sowohl als reale als auch als sozial konstruierte Einheit bestimmt, welche die gesellschaftliche Entwicklung begrenzt. Die Richtung der Evolution bleibt aber dem Zufall überlassen.

Wissenschaft,

Systemtheorie,

Wirtschaftlichkeit, Forschungslegitimation

Luhmann, gesellschaftliche Evolution, Zufall


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