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Lindenholz

Früher stand an jedem Dorfplatz eine Dorflinde. Wie Sie schon wissen, war unter ihr der Platz an dem Recht gesprochen, Kirchtage getanzt, Hochzeiten, Taufen und Begräbnisse gefeiert wurden. Aber die Linde trug auch viele Geheimnisse unter ihrem Laubdach. Kinderschätze wurden an ihren Wurzeln vergraben, in der Hoffnung, sie würden sich vermehren. Herzen wurden in ihre Rinde geschnitzt, mit Liebesschwüren versiegelt und die ersten Küsse im Blätterdach gut versteckt. Hin und wieder rieselte Asche der ersten Zigarette von den Ästen weiter oben. Unten wurde derweilen Dorftratsch ausgetauscht, dass es im Blätterwald nur so rauschte. Junge wurden älter und Alte wieder jung und noch immer war unter der Dorflinde Platz für alle. Neben dem Gasthaus und der Kirche stand auch die Dorfschule im Schatten der Linde. Unter ihren weit verzweigten Ästen spielten und jausneten Generationen von Schulkindern. Federbälle, Mützen und Handschuhe verfingen sich in ihrem Geäst. Mit Kletterkünsten und Mutproben wurden die weiblichen Zuschauer beeindruckt, - die Rollenverteilung wurde selten hinterfragt-, und hin und wieder gaben abgebrochene Äste, Anlass für heiße Gefechte unter den Buben. Manche schnitten sich Steinschleudern aus ihren Astgabeln, versahen sie mit einem alten Fahrradschlauch und übten ihre Treffsicherheit an den Fensterscheiben der Schule. Dann rannte der Lehrer heraus und drohte mit seinem Zeigestock, den er sich auch von der Linde geliehen hatte. Wurde gegrillt, was hin und wieder vorkam, konnte man sich aus einer Astgabel eine Stütze und den Würstelstecken schnitzen. Zu Großvaters Geburtstag wurde Lindenholz auch im Werkunterricht zum Schnitzen des neuen, viel zu dünnen Wandersteckens genutzt, aber es war der Wille und der gute Gedanke der zählte - und ein bisschen Blut war auch daran. Die kleine Moiza vom Nachbarhof verzierte ihren neuen „Wegweiser“ für ihre störrischen Ziegen mit einem unverwechselbaren Muster. Im Turnunterricht wurde meist, das aus einem Lindenast geschnittene Staffelholz, der Siegermannschaft hinterher geworfen und verschwand somit im hohen Gras der Wiese. Der Bauer fluchte, wenn er es in seinem neuen Mähwerk wieder fand. Dass der Pfarrer verliebt in die Augen der geschnitzten Muttergottes aus Lindenholz sah, bemerkte nur die Messnerin, die ihren hölzernen Kochlöffel selten aus der Hand gab. Auch der Reindling wurde in einer Lindenholzschüssel gereicht und die „Saure Suppn“ mit einem hölzernen Schöpfer ausgeteilt, nachdem dem anderen Schöpfer im Herrgottswinkel gedankt worden war. Und wenn jemand von Ihnen behauptet, „Sie wären aus demselben Holz geschnitzt“, dann „stellen Sie sich in ihren Schatten“, -bescheiden -, denn das hat sich die gute, alte Linde verdient. …zurück zu www.ziegenkaese-gailtal.at


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