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«Das ganze Leben ist ein Genesungsweg»

«Ich bin Hans Rhyner, Schlosser von Beruf und ein Frühaufsteher. Meine Eltern hatten einen Bauernhof in Elm, und so wurde meine innere Uhr schon als Kind auf sehr früh gestellt. Meine fünf Geschwister und ich mussten im Stall helfen, bevor wir zur Schule gingen. Auch heute noch wache ich um halb fünf auf und bin hellwach. Anders als früher nehme ich mir Zeit, um langsam in den Tag zu starten. Mein hektisches Leben hat mich gelehrt, dass dies Wunder bewirken kann.

Mein Vater starb am Geburtstag meiner Schwester – am 31. Januar 1971. Ich hatte gerade meine Lehre als Schlosser begonnen. Sein Tod warf mich total aus der Bahn. Ich habe fest an ihm gehangen. Meinen Schmerz versuchte ich mit Alkohol zu verdrängen. Ich begann regelmässig Schnaps zu trinken. Immer wenn ich die Fahne von anderen Personen roch, dachte ich, dass ich ‹dieses Zeugs› eigentlich nicht brauche. Und dennoch kam ich nicht davon los.

Mit 18 Jahren besuchte ich auf Wunsch meiner Mutter einen ‹Alkohol-Fürsorge-Treff›. So kriegte ich gerade noch die Kurve und konnte meine Lehre abschliessen. Auf Rat meines Onkels zog ich nach Zürich, dort gab es mehr anonyme Angebote als im Dorf, wo jeder jeden kennt, wo niemand und doch jeder irgendwie alkoholabhängig ist. In meinem Umfeld war es jedenfalls so.

Die Stadt tat mir gut. Ich hatte eine gute Schlosserstelle, einen guten Lohn und lernte beim Tanzen meine erste grosse Liebe kennen. Mit dieser Frau lebte ich viele Jahre zusammen. Wir hatten eine sehr schöne Beziehung. Sie ermutigte mich immer wieder, regelmässig an die Treffen der Anonymen Alkoholiker zu gehen. An diesen ‹Meetings› hörte ich zum ersten Mal, dass Alkoholsucht eine Krankheit ist, die behandelt werden kann, und dass das ganze Leben ein Genesungsweg sein wird.

Auch ich hatte Rückfälle – zwar nicht viele, dafür umso schlimmere. Vor gut 37 Jahren hätte ich mir beinahe das Leben genommen. Ich wurde mit 4,4 Promille ins Spital eingeliefert. Ab 3,5 Promille besteht die Gefahr einer Lähmung des Atemzentrums und somit Lebensgefahr. Ich hatte grosses Glück. Der Auslöser für meinen Absturz war die Trennung von meiner langjährigen Partnerin. Für sie wurde meine Krankheit eine zu grosse Belastung. Ich war zwar grundsätzlich trocken. Doch wenn ich trank, musste sie mich jeweils aus der Ausnüchterungszelle holen oder ich verschwand für einige Zeit. Die Ungewissheit, wann es das nächste Mal passieren wird, wurde für sie unerträglich. Ich kann das verstehe – oftmals gehen die Leute, die helfen, zuerst daran kaputt. Das ist nicht fair.

Zum Glück konnte ich trotz einem sechsmonatigen Aufenthalt in einer Entzugsklinik meine Stelle und Wohnung behalten. Als ich ‹raus› kam, dachte ich, dass mir sowas nie mehr passieren wird. Ich ging regelmässig an meine ‹Meetings›, trieb Sport und wechselte mit 38 Jahren nochmals die Stelle. 2008 lernte ich erneut eine Frau kennen. Es war eine schöne, aber gefährliche Beziehung. Zwei nasse Pflaumen geben leider keine trockene Pflaume. Nach einem Jahr stürzten wir gemeinsam ab und wurden eingeliefert. Dieses Mal verlor ich meinen spannenden Job. Ich hatte Mühe, eine feste Stelle zu finden, und arbeitete lange temporär.

2014 begann ich mit dem Surprise-Verkauf. Seit einigen Jahren mache ich auch Soziale Stadtrundgänge durch Zürich. Diese halten mir immer wieder einen Spiegel vor. Es berührt mich, wenn ich Leute sehe, die zur Flasche greifen. Dann bin ich froh, dass ich ehrlich zu mir geworden bin und dadurch gelernt habe, ‹NEIN› zu sagen – zur Flasche und zum gesellschaftlichen Druck. Wenn dennoch Gefühle von Unsicherheit und Selbstmitleid aufkommen, muss ich weg von den Leuten. Dann gehe ich ‹z Berg›, begehe wortwörtlich meinen ‹Genesungsweg› auf dem Uetliberg oder dem Säntis.»