1 minute read

Rechtsstaat adieu

Indiens Premier Narendra Modi ist ein ausserordentlich populärer Politiker. Seine Zustimmungswerte stehen nach bald zehn Jahren an der Macht bei 76 Prozent. International wird Indien als grösste und dynamischste Demokratie gefeiert, Modi als glänzendes Beispiel eines erfolgreichen Staatslenkers. Kritiker*innen sehen darin eine Verkehrung der Tatsachen. Der Essayist und Schriftsteller Pankaj Mishra etwa sagte gegenüber dem britischen The Guardian, Indien befinde sich auf dem Weg von einer säkularen Demokratie zu einem autoritären Hindu-Staat. Er spricht von «Gewalt» gegen das soziale Gefüge des Landes und gegen die Institutionen. Die Unabhängigkeit der Medien und der Justiz sei nicht mehr gewährleistet.

Dazu passt der Verleumdungsprozess gegen den führenden Oppositionspolitiker Rahul Gandhi. Er habe den Premierminister anlässlich einer Wahlkampfrede 2019 in einem Atemzug mit mutmasslichen Kriminellen genannt: «Nirav Modi, Lalit Modi, Narendra Modi – warum heissen eigentlich alle Diebe mit Nachnamen Modi?» Eine provozierende, aber im Wahlkampf kaum aussergewöhnlich angriffige Frage – dennoch wurde Gandhi der Verleumdung schuldig gesprochen und zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt.

Vieles an dem Fall hat einen politischen Beigeschmack. Klage eingereicht hatte ein ranghoher Abgeordneter der Regierungspartei, der mit Nachnamen ebenfalls Modi heisst: Gandhis Aussagen seien für ihn, den

Premierminister sowie alle 130 Millionen Modis in Indien rufschädigend. Zunächst geschah nichts. In Indien stauen sich legendäre 14 Millionen Fälle. Nach einigen Monaten zog Purnesh Modi sein Begehren zurück.

Im Februar dann aber wandte er sich erneut an das Regionalgericht in Gujarat, dem Heimatstaat des Premierministers. Er habe neue Beweise, so der Geschädigte. Womöglich hat die Reaktivierung des Falls aber andere Gründe. Zum Beispiel, dass nun ein enger Verbündeter des Staatschefs an dem Gericht amtet. Aufsehenerregend ist auch das plötzliche Tempo, mit dem die Sache voranging: Kaum einen Monat später folgte die Verurteilung Gandhis, zu ausgerechnet zwei Jahren Freiheitsstrafe. Das ist einerseits das Maximum für den Straftatbestand der Verleumdung – andererseits das Minimum für den Entzug eines politischen Amts. Tatsächlich musste Rahul Gandhi am Tag nach dem Urteil seinen Parlamentssitz räumen – obwohl es noch gar nicht rechtskräftig und der Verurteilte bereits in Berufung gegangen ist. Verräterisch ist auch das Timing: Gerade rückte Gandhi, der gegen Modi kämpfte, diesem auf die Pelle. Es sah ganz so aus, als gelänge es ihm, eine Untersuchung wegen undurchsichtiger Geschäfte zwischen Modi und Gautam Adani zu erwirken – letzterer ist einer der Reichsten der Welt. Vermutet wird Korruption in grossem Stil, es geht um drei Milliarden Dollar. Nun wird gar nichts untersucht. Und sollte Gandhi auch von einem oberen Gericht verurteilt werden, wäre es ihm während acht Jahren verboten, ein politisches Amt auszuüben. Was hiesse: Narendra Modi wäre seinen ärgsten Rivalen bei den Wahlen 2024 bereits los.