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Housing First Viljo wohnt wieder In Finnland werden Obdachlose bedingungslos mit Wohnraum versorgt. Seite 8 Strassenmagazin Nr. 533 9. bis 22. September 2022 Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass davon gehen CHF 3.–an die Verkäufer*innenCHF 6.–

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Erwünschtes Gegengewicht

Gar nicht so selten erreichen uns Bitten nach leichteren Themen und etwas weniger tragischen Geschichten im Surprise. Wir können die Sehn sucht nach Herzenswärme und Seelentrost nach vollziehen: In Zeiten von «doomscrolling», Krieg und Klimawandel möchte man zeitweise mal entlastet werden von all den Schreckensmeldungen. Auch wenn diese bei der Mehrheit unserer Leser*innen wohl in einer Diskrepanz stehen zur Idylle um sie herum – was sie vielleicht noch schwerer auszuhalten macht.

Nun können wir in dieser Ausgabe zwar nicht mit «good news» aufwarten, jedoch mit grossen Lösungsansätzen für ebenso grosse Probleme. Keine Zauberformeln, sondern seriöse Ansätze, die bei sinnvoller Anwendung das Leben für viele Armutsbetroffene signifikant verbessern (würden).

Zunächst geht es um die in der EU propagierte Abschaffung der Obdachlosigkeit: «Housing First» ist der Begriff für die derzeit hilfreichste Massnahme. Wir schauen nach Finnland, wo mittels grosser staatlicher Investitionen das Problem Obdachlosigkeit für viele heute der

Vergangenheit angehört. Und in die Schweiz, wo die ersten Housing-First-Projekte bereits ange laufen sind, es mit der Schaffung von günstigem Wohnraum allerdings noch hapert.

Und dann geht es um das Ende der ewigen Verschuldung: Ein Entwurf für ein sogenanntes Restschuldbefreiungsverfahren befindet sich derzeit in der Vernehmlassung. Je nach Ausge staltung könnte dies Menschen in der Schweiz nachhaltig aus der Verschuldung befreien. Mit einem solchen Verfahren würde den Gläubi gern de facto nur wenig Geld verloren gehen, aber vielen Betroffenen eine Chance auf Neu anfang und damit auch wieder mehr Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht.

Beide Konzepte könnten im Laufe der Zeit eine Menge «good news» produzieren, vorausgesetzt, wir wenden diese als Gesellschaft im Sinne der Schwachen an – und verwässern sie nicht zugunsten der Privilegierten.

Editorial
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4 Aufgelesen 5 Vor Gericht Bedrohte Inseln 6 Verkäufer*innenkolumne Das Wetter 7 Moumouni … … im Sommerloch 8 Housing First Das System auf den Kopf stellen 12 Weg von der Strasse 14 Eine Lösung, aber nicht für alle 18 Schulden «Viele werden die zweite Chance nutzen» 24 Kino «Wo die Welt dys–funktional wird» 26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse Pörtner in Seon 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt «Die Schweiz ist Heimat geworden» TITELBILD: KATJA TÄHJÄ

Auf g elesen News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Die Fotografin Habiba Alizada wohnt in München. Sie hat Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban verlassen. Sie hat in Deutschland um Asyl ersucht und bisher keinen Aufenthaltstitel erhalten. Sie versucht über YouTube Deutsch zu lernen und arbeitet an ihren künstlerischen Ideen.

Mehr Freiheit

«Ich durfte selbst für mein Leben nur aus einem einzigen Grund keine Entscheidung treffen: Der Grund war, dass ich eine Frau bin. In einer Gesellschaft mit patriarchalen Strukturen und religiösem Fundamentalismus hat eine Frau keinen Wert. Eine Frau dient nur als eine Gebärma schine, eine Sklavin und ein sexuelles Werkzeug für Männer. Eine Frau und Gleichheit, eine Frau und Freiheit, eine Frau und Sicherheit, eine Frau und Selbstbestimmung – diese Begriffskombinationen sind den Männern unbekannt.

Meine Bilder sind ein flüchtiger Blick auf die Situation der Frauen in Afghanistan. Sie zeigen Frauen in einer patriarchalen Community, die Hoffnung haben. Sie kämpfen um ihr Leben und ihre Rechte. Sie versuchen ihre Weiblichkeit, Stärke und Unabhängigkeit zu zeigen. Ich sehne mich nach dem Tag, an dem alle Frauen ihr natürliches Recht auf Gleichberechtigung erreichen.»

FOTOS: HABIBA ALIZADA MEGAPHON, GRAZ
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Weniger Wohnungen 1

Alle 19 Minuten verliert Deutschland eine Sozialwohnung: 2021 gab es bundesweit noch 1,1 Millionen Wohnungen mit Sozialbindung –27 369 weniger als im Jahr zuvor. 21 468 Sozialmietwohnungen wur den 2021 neu gebaut. Das geht aus einer Antwort der Bundesregie rung auf eine parlamentarische Anfrage der SPD hervor. 1980 gab es noch rund 4 Millionen Sozial wohnungen – allein im Westen. Durch den Umbau von Büros, die wegen Homeoffice unnötig wurden, könnten 1,9 Millionen neue Woh nungen entstehen, so die Gewerk schaft IG Bau, weitere 1,5 Millionen durch Dachaufstockung.

Vor Gericht

Bedrohte Inseln

Weniger Wohnungen 2

Mindestens 13 000 Haushalte in Not warten in Hamburg auf eine passende Wohnung – Tendenz stei gend. Darauf hat das Hamburger Bündnis für eine soziale Wohnungspolitik hingewiesen. Zu den Be troffenen gehören Wohnungslose, alleinerziehende Frauen, Menschen mit Mietschulden oder mit Assis tenzbedarf. Sie sind nicht nur arm, sie können auch die Wohnungs suche nicht allein meistern. Deshalb erhalten sie einen Dringlichkeits schein, damit ihnen die Ämter eine Wohnung vermitteln. Zum wieder holten Male hat der Hamburger Senat vergangenes Jahr sein selbst gestecktes Ziel von 300 neuen Wohnungen für diese Personen gruppe verpasst. Lediglich 101 Sozialwohnungen mit entsprechender Bindung wurden fertiggestellt.

Kennen Sie Vanuatu, das Land aus 83 In seln, weit abgelegen im Pazifik? Längst soll ten die Porträts der rund 300 000 Ni-Va nuatu, wie sich die Bewohner*innen des Inselstaats nennen, auf Flugtickets und Steak-Verpackungen gedruckt werden, wie die Bilder schwarzer Lungen auf Zigaret tenschachteln. Denn diese Menschen ste hen an vorderster Front der Klimakrise. Vanuatu ist, da sind sich Versicherungen, NGOs und die UNO in ihren Risikoerhebun gen einig, das am stärksten von Naturkata strophen bedrohte Land. Inselstaaten sind ohnehin exponiert. Durch den Klimawandel werden Wirbelstürme noch heftiger, Regen fälle extremer. 2015 vernichtete Zyklon Pam über 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts, etwa 450 Millionen Dollar. 90 Prozent der Gebäude der Hauptstadt Port Vila lagen in Trümmern. 2020 brachte Zyklon Harold Tod und Verwüstung. Auch der Anstieg des Mee resspiegels trifft Vanuatu hart. Die flachsten Eilande werden verschwinden. Auf den an deren versalzen erst das Grundwasser, dann die Böden – die Äcker werden unfruchtbar, die Inseln unbewohnbar. Laut Weltklimarat droht dies schon in diesem Jahrhundert. Passend, dass sich der Weltgebetstag 2021 Vanuatu widmete. Das Motto: «Worauf bauen wir?»

Diese Frage stellten sich 27 vanuatuische Jus-Student*innen der University of South Pacific schon 2019. Und fassten einen Plan: Sie wollen ein Rechtsgutachten des Inter nationalen Gerichtshofs IGH zum Klima wandel erwirken. Als oberstes Gericht der

UNO ist der IGH in Den Haag auch das höchste Weltgericht, und Rechtsgutachten zu völkerrechtlichen Fragen zählen zu sei nen Hauptaufgaben. Diese sind zwar nicht bindend, jedoch prägend fürs internationale Recht. Es ist unbestritten, dass bezüglich des Klimawandels Klärungsbedarf besteht: Wie kann Klimaschutz juristisch mit der Achtung der Menschenrechte verknüpft werden? Und ganz konkret: Wie sind vulne rable Staaten wie Vanuatu geschützt? Wie werden sie entschädigt dafür, dass der Kli mawandel ihre Volkswirtschaften bedroht, die auf Landwirtschaft und Tourismus be ruhen? Wer kommt für die Kosten auf? Jetzt, nicht 2040. Zumal sie selbst nichts für ihre missliche Lage können: Alle Inselstaaten zu sammen verursachen nur 0,26 Prozent aller CO2-Emissionen.

Damit aber der IGH ein Rechtsgutachten zum Thema ausarbeitet, muss die Mehrheit der UNO-Generalversammlung einem ent sprechenden Antrag zustimmen. Bezüglich Klima drängte Palau schon 2012 auf eine Klärung durch den IGH. Doch schon vor der Abstimmung zeichnete sich ab, dass das An liegen keine Chance hat. Jetzt darf man ge spannt sein, wie es Vanuatu mit demselben Anliegen ergeht. So weit sind die pazifischen Student*innen mit ihrem Plan nämlich ge kommen. Sie haben ihre Regierung dazu gebracht, die Initiative zur Einholung eines IGH-Rechtsgutachtens zum Klimawandel einzubringen. Die UNO-Vollversammlung wird am 13. September 2022 eröffnet. Dau men drücken!

YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
ASPHALT, HANNOVER HINZ & KUNZT, HAMBURG

Verkäufer*innenkolumne

Das Wetter

Wie werden wir mit gruseligem Wetter unserm bösen Vetter fertig?

Wenn’s regnet, denk ich: Der Regen will mir Gutes – auch meine Mutter dachte positiv: «Iss den Weisskohl, den Rotkohl, den Blumenkohl auf Deinem Teller!» Ich hasste das.

Wenn’s schneit, sag ich mir: Jetzt hat Gott alle Farben ausgelöscht! Damit ich den Pinsel nehme und die Welt ausmale. Ich male fürs Leben gern!

Wenn’s hagelt, fäustedick, meine ich: Sowas soll nie wieder sein.

Ich bau mir jetzt eine Welt mit Dach. Mein Leitbild ist das Gute, und der erste Stein gehört mir allein.

Wenn des Sommers Sonne meine Haut durchsticht und aus allen Poren der Körper weint, dann weiss ich:

Ich steck den Kopf in kühles Nass. Die Hände halt ich sauber.

Ich benetze auch die Arme, und setze zuletzt die Füsse in der Schöpfung wundersamen Quell.

Jetzt wird es Nacht. Der Himmel legt sich zur Ruh. Mir ist jetzt wohl.

Das Wetter, mein Vetter, wird morgen viel netter.

NICOLAS GABRIEL, 58, verkauft Surprise an der Uraniastrasse in Zürich. Die Zeit beim Warten auf Kundschaft sei für ihn kostbar –welcher Beruf gewähre (dem Geist) so viel Freiheit?

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

ILLUSTRATION: JULIA DEMIERRE

… im Sommerloch

Ich sitze in einem Kaffeehaus in Wien und versuche mich daran zu erinnern, wie man hier nochmal Kaffee bestellt. Heisst ja alles anders hier. Melange oder sowas. Ein paar Seiten in dem Buch, das ich schon lang lesen wollte, und dann vielleicht nochmal einen Espresso? «Kleiner Brauner» heisst das hier –so sehr bin ich wohl doch noch nicht in den Ferien angekommen, dass ich das über die Lippen bekomme und auf original Wienerisch bestellen kann. Ich muss entweder an Nazis oder an un angebrachte weisse Kosenamen für Schwarze Liebhaber*innen oder Kinder denken. Dieses zwanghafte «Ich bin Vanille, du bist Schoko», aus dem man ein Leben lang nicht rauskommt. Bis man dann einfach mal auf den Tisch haut und sagt: «Wieso muss ich dein Schokobär sein? Kann ich nicht auch ein Schatz, Honig oder sogar eine Erdbeere sein,

kannst du nicht einmal aufhören meine Hautfarbe immer so komisch eklig ins Zentrum zu rücken?» Ich schweife ab. Ich wollte ja Ferien machen. Es ist egal, wie viel Uhr es ist. Endlich. Eine automatische Mailantwort, eine Person, die für mich im Notfall antwortet oder mich benachrichtigt, all das: Luxus. Und einen Marillenknödel, was will man mehr?

Nach drei Tagen Österreich ist das Fake Bayrisch aus meiner Jugend wieder zurück. Noch nicht so konsequent, ab und zu rutscht mir was Schweizerdeut sches mit diffus österreichisch bayrischer Melodie heraus. Aber des is wurscht, ich bin im Urlaub, woast, endlich Ferien vom ständig Überlegen, was ich wie sage.

Meine Mama ruft an, einer der Onkel habe die 1. August Rede, die auf der SRF Seite erschienen ist, megaschlimm

gefunden. Ich hatte den Text kurz vor den Ferien noch abgeschickt und war dann abgedüst, sodass ich weder die Kommentare noch den 1. August selbst mitbekam. Der Onkel erreiche mich nicht, um mir gehörig die Meinung zu sagen. Zum Glück habe ich mein Handy erst verlegt und dann verloren. In der Rede steht etwas Nebensätzliches zu Frauenmorden in der Schweiz, ich finde es einfach so krass, dass die Schweiz im europäischen Vergleich so schlecht dasteht, deshalb muss ich das so oft überall wiederholen, ob man es hören will oder nicht. Der Onkel wollte es nicht hören und sagt meiner Mama, Aus länder seien die wahren Mörder, und zitiert dann wohl irgendeine AfD Statistik, die weder stimmt noch Sinn macht. Ich rege mich auf und wieder ab. Habe ja Ferien, also mache ich es wie das Meer.

Als ich kurz darauf tatsächlich am Meer bin, kreisen meine Gedanken darum, wieso ich in meinen Ferien keine Inter views über die Haare von weissen Reggae künstler*innen geben muss. Oder ob ich nicht doch sollte. Müde Journis mit faulen Fragen. Kommen weisse Rastas durchs Nadelöhr? Dürfen Weisse dies und dürfen sie das? Ist das nicht Rassismus? Wir haben uns in der Redaktion gefragt, ob sie uns erklären könnten, um was es geht, Frau Mamouni? Frau Mamoudi, haben Sie Lust, Ihre Urlaubszeit zu opfern, um über eine Band nachzudenken, die der Kritik wegen kultureller Aneignung zum Trotz oder aus weiterer Ignoranz beim Sommerfest der Weltwoche auftritt? Ich beschliesse, dass ich bei 32 Grad und schmelzender Ferienzeit lieber schweige und mir vorstelle, wie unglaublich witzig es wäre, wenn sich SVPler Dreadlocks als Widerstandssymbol gegen die sogenannte «political correctness» aneignen würden. Nur zu! ONE LOVE!

FATIMA MOUMOUNI kann allen empfehlen, ihr Handy in den Ferien zu verlieren.

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ILLUSTRATION: CHRISTINA BAERISWYL

Housing First Obdachlose zuallererst und bedingungslos mit einer Wohnung zu versorgen, gilt derzeit als effektivste Massnahme ge gen Wohnungslosigkeit. Denn Wohnen ist ein Menschenrecht. Zwei Persp ektiven darauf, wie Housing First umgesetzt wird.

Das System auf den Kopf stellen

Finnland macht dem Rest der Welt vor, wie Obdachlosigkeit beendet werden kann – unter bestimmten Bedingungen. Ortsbesuch in Helsinki.

Helsinki FINN LA ND
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Viljo ist erschöpft. Gerade erst ist der schlanke 40-Jährige, der sein grünes Basecap tief ins Gesicht gezogen trägt, von einem Ausflug zurückgekommen. Weil er Mieter bei der Blue Ribbon Foundation ist, darf er hier auf einer In sel vor der Küste Helsinkis ein Haus mit Sauna, Grillplatz und Booten mitbenutzen – wie auch alle anderen Mie ter*innen der Stiftung. Davon machen sie auch rege Ge brauch, vor allem während des lange herbeigesehnten finnischen Sommers.

Früher war Viljo obdachlos. Nun macht er es sich in seiner Zweizimmerwohnung gemütlich, wo gerade eine US-amerikanische Sitcom über den Fernseher flimmert.

Er ist einer von rund tausend ehemals Wohnungslosen, die ein Zuhause in einer der Wohnungen der Stiftung ge funden haben. Seit 2007 bietet die Organisation Wohnun gen für Menschen ohne Zuhause an und ist damit wichti ger Teil der finnischen Housing-First-Strategie. Die simple Idee dahinter: Wohnungslose brauchen als Erstes eine ei gene Wohnung – weil Wohnen ein Menschenrecht ist, aber auch, weil sich viele Probleme erst in den eigenen vier Wän den lösen lassen. Hilfe mit Ämtern, vielleicht auch bei der Bewältigung von Suchterkrankungen: All das kommt nach dem Einzug. Und nur wenn die Betroffenen das wollen.

Das Prinzip stellt das lange auch in Finnland prakti zierte altbekannte Stufenmodell auf den Kopf. Danach müs sen Obdachlose zunächst in verschiedenen Arten von Un terkünften ihre sogenannte Wohnfähigkeit unter Beweis stellen. Erst auf der letzten Stufe wartet ein eigenes Zu hause. Seit mehr als einem Jahrzehnt beginnt in Finnland das neue Leben nun mit dem eigenen Dach über dem Kopf.

«Eine eigene Wohnung zu haben – das ist essenziell! Wir alle brauchen einen Rückzugsort», erklärt Onni den Kerngedanken. Der 33-Jährige ist einer der Ansprechpart ner für Viljo und die anderen Bewohner*innen des weit läufigen, mehrstöckigen Baus. Und auch für Gäste der angegliederten Tagesaufenthaltsstätte, die sich mit Bil lardtisch, Sofaecke und Kaffeetresen atmosphärisch zwi schen Wohnzimmer und Jugendzentrum bewegt. Eine Notunterkunft könne in akuten Krisensituationen sicher lich auch hilfreich sein, sagt Onni: «Aber wie sollst du dein Leben organisieren, wenn du nur von Tag zu Tag lebst und dir ständig Gedanken darüber machen musst, wo du als Nächstes schläfst?»

Die Zahlen geben Onni und seinen Mitstreiter*innen recht: Finnland ist der einzige EU-Staat, in dem die Zahl obdach- und wohnungsloser Menschen Jahr für Jahr zu rückgeht. Ende der 1980er-Jahre zählte das Land mit sei nen gut fünf Millionen Einwohner*innen noch 20 000 Wohnungslose; heute haben weniger als 4000 Menschen keine eigene Wohnung. Die meisten von ihnen schlafen bei Bekannten oder der Familie. Die Zahl derjenigen, die tatsächlich auf der Strasse oder in Notunterkünften über nachten, wird für das ganze Land auf 655 geschätzt. Zum Vergleich: Allein in Hamburg leben laut offizieller Zäh lung 2000 Menschen auf der Strasse, Tendenz steigend.

Die öffentlichen Unterkünfte sind in der Hansestadt zu dem oft eine Sackgasse: Mehr als 10 000 Personen sind hier seit mehr als fünf Jahren untergebracht und finden keine Wohnung.

Der Unterschied zum Elend in fast allen grossen Metropo len der EU, wo der Anblick von oftmals kranken Menschen, die in Hauseingängen schlafen, mittlerweile zum Stadtbild gehört, ist in Helsinki sofort zu erkennen. Wer im Sommer durch die belebten Strassen geht, an den charakteristischen Felsen vorbei, auf denen junge Menschen bis mitten in die nicht dunkel werdende Nacht zusammensitzen, durch den Hafen oder rund um den Bahnhof, der stellt fest: Es sind keine offensichtlich Obdachlosen zu entdecken.

Die Betroffenen entscheiden

Wer obdachlos wird, kann Einrichtungen zur Wohnun terstützung aufsuchen, die eng mit sozialen Orga nisationen wie der Blue Ribbon Foundation zusammen arbeiten. Dort besprechen die Betroffenen mit So zialarbeiter*innen, welche Art der Unterbringung für sie

«Ich würde gerne mit meinen Kindern in einer Wohnung hier in Finnland leben. Sie hier in die Schule gehen lassen.»
LAMÎIA
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geeignet ist. Im Regelfall ist das eine eigene Wohnung mit eigenem unbefristetem Mietvertrag, ohne angegliederte Unterstützungsangebote.

Mehr als 7000 Wohnungen stellt allein der grösste fin nische Housing-First-Anbieter, die Y-Foundation, übers Land verteilt für Wohnungslose bereit. Die Stiftung, die einst von einem Bündnis finnischer Städte und Organisa tionen wie dem Roten Kreuz ins Leben gerufen wurde, war von Beginn an zentral mit Housing First verbunden und ist mittlerweile der viertgrösste Vermieter im Land. Hinzu kommen Wohnungen von anderen Organisationen wie der Blue Ribbon Foundation oder der finnischen Diakonie.

Die Alternative ist ebenfalls eine eigene Wohnung mit eigenem unbefristetem Mietvertrag, aber verknüpft mit Hilfsangeboten und oft in grösseren Einheiten. Welche

Art Wohnung passend ist, entscheiden die Betroffenen. Von letzteren Angeboten machen insbesondere Menschen mit Suchtproblemen oder psychischen Erkrankungen Gebrauch. Menschen wie Viljo. Als er seine Wohnung zum ersten Mal verlor, habe ihn das völlig aus der Bahn gewor fen, sagt Viljo. Schon vorher hatte er Probleme mit Drogen, doch auf der Strasse seien die immer schlimmer gewor den. «Eine eigene Wohnung zu haben, ist wichtig für mich, um klarzukommen.»

Viljo hat sich für eine Wohnung innerhalb einer grös seren Wohngruppe entschieden. Sogenannte Wohnbeglei ter*innen, in der Regel Personal mit medizinischer Ausbil dung, sind hier rund um die Uhr erreichbar. Sie helfen bei alltäglichen Problemen oder wenn es Konflikte zwischen den Bewohner*innen gibt. Seit fünf Jahren wohnt Viljo mittlerweile in dem Wohnkomplex im Viertel Vallila im Norden Helsinkis. Seine Sozialhilfe stockt er mit Hausmeis terjobs im Haus auf. Auf dem breiten Balkon, den er sich mit den anderen Mieter*innen auf der Etage teilt, pflanzt er Tomaten, Zucchini und Basilikum an. «Eine richtige kleine Farm», sagt er und lächelt zufrieden.

Der finnische Weg gibt Menschen aber nicht nur ein Stück ihrer Würde zurück, weil sie wieder selbst bestimmen können, wann sie sich der Umwelt aussetzen und wann nicht. Der Weg rechnet sich auch, wie es vonseiten der Stadt Helsinki heisst. Der Staat stellt zwar Geld für die vielfälti gen Hilfsangebote bereit, um neue Wohnungen zu akqui rieren oder um neue Wohnanlagen zu bauen. Doch berück sichtige man die Ausgaben für medizinische Behandlungen oder Polizeieinsätze, spare der finnische Staat durch seinen Housing-First-Ansatz 15 000 Euro pro Jahr und Person. Die zuständige Umweltministerin Maria Ohisalo formuliert es so: «Es ist in Ordnung, wenn die Beseitigung von Armut und Obdachlosigkeit zunächst teuer ist. Nicht nur weil die Anstrengungen menschlich richtig sind, sondern auch weil sie sich langfristig finanziell lohnen.»

Kein Ansatz für alle Fünfzehn Gehminuten von Viljos Wohnung entfernt, mit ten im ehemaligen Arbeiter*innen- und heutigen Szene quartier Sörnäinen, bietet Janne Hukka frischen Kaffee an. Der Journalist, blaues Businesshemd, die dunklen Haare seitlich ausrasiert, ist Gründer und Geschäftsführer des Strassenmagazins Iso Numero. Er beobachtet die fin nische Sozialpolitik seit Jahren. Housing First, das sei eine sehr zielgerichtete Politik, die sich auf ein bestimmtes Phänomen von Wohnungslosigkeit konzentriere: die Langzeitwohnungslosigkeit. «Housing First wurde ein geführt und so ausgestaltet, um dieses Problem zu lösen. Und damit ist Housing First sehr erfolgreich. Das ist über alle Parteigrenzen hinweg unumstritten.» Deshalb bleibe der Ansatz selbst bei Regierungswechseln unverändert bestehen. Es gebe aber auch Probleme, die Housing First nicht lösen könne. Denn: Um Anspruch auf eine Wohnung zu haben, muss man finnische*r Staatsbürger*in oder zumindest ins Sozialsystem integriert sein.

«Wir arbeiten bei Iso Numero fast nur mit Menschen, die nicht in das Housing-First-System integriert werden. Und dabei sehen wir, dass deren Probleme eben nicht

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«Die Probleme der Menschen, die nicht in das Housing-FirstSystem integriert werden, sind nicht gelöst.» JANNE HUKKA, ISO NUMERO

nachhaltig gelöst werden», sagt Hukka. «Diese Menschen können zwar in einer Notunterkunft schlafen. Aber das verbessert ihre Situation nicht nachhaltig. Ihre Probleme bleiben bestehen.»

Lamîia gehört zu denjenigen, die bislang nicht vom finnischen Erfolgsmodell profitieren. Vor acht Jahren kam die 42-Jährige aus Bukarest nach Finnland. Nach dem Tod ihres ersten Mannes sah die Rumänin sich gezwungen, im Ausland Geld für den Lebensunterhalt ihrer Kinder zu verdienen. Die ersten Jahre habe sie entweder auf der Strasse oder im Wald geschlafen und tagsüber gebettelt. Heute verkauft sie das Iso Numero und schläft in einem Mehr bettzimmer in einer ganzjährig geöffneten Unterkunft speziell für Osteuropäer*innen. Aussicht auf einen Job oder auf eine Wohnung nach dem Housing-First-Modell hat sie nicht. «Ich würde gerne mit meinen Kindern in einer Wohnung hier in Finnland leben. Sie hier in die Schule gehen lassen. Das ist mein grosser Traum», sagt sie mit einem Lächeln. Hoffnung, dass das Wirklichkeit wird, hat sie nicht. Stattdessen wechselt sie sich mit ihrem Ehemann ab: Eine*r von beiden ist in Rumänien und küm mert sich um die Kinder, eine*r ist in Finnland. Wie genau die Situation von Zugewanderten wie Lamîia verbessert werden soll, dazu äussert sich das zuständige Ministerium nicht. Nur so viel: Die Beendigung von Wohnungslosigkeit sei für die finnische Regierung ein Schlüsselziel. Niemand sei von diesem Ziel ausgenommen.

Als Housing First in den 2000er-Jahren eingeführt wurde, sei die Ausgangslage noch eine andere gewesen, erklärt Janne Hukka. Doch Fluchtbewegungen und insbe sondere die EU-Osterweiterung hätten die Situation ver ändert. Auf diese Art der Obdachlosigkeit reagiere die fin nische Gesellschaft bislang nicht. Hukkas Sorge ist, dass der Erfolg von Housing First viele Finn*innen blind für beste hende Probleme macht. Um die Erfolgsgeschichte fortzu schreiben, müsse das Modell weiterentwickelt werden.

Zurück in der Blue Ribbon Foundation führt Paula Aho nen in ihr helles Büro. Sie leitet den Wohnkomplex, in dem auch Viljo wohnt, und macht auf ein weiteres Problem auf merksam: Bis zu zwei Jahre müssen manche auf eine Woh nung warten, weil es insbesondere in Helsinki schlicht nicht genügend Wohnraum gibt. Während dieser Wartezeit schlie fen die Menschen meist bei Bekannten oder der Familie, teilweise in Notunterkünften. Ausserdem betont sie: «Es ist wichtig, ausreichende Unterstützungsangebote zu schaffen. Einfach nur die Wohnung bereitzustellen, funktioniert nicht für alle.» Die Unterstützungsangebote der Stiftung be schränken sich nicht auf die eigenen Mieter*innen. Sie gel ten auch für andere Ex-Obdachlose, die über die Stadt ver teilt in Wohnungen leben. Zudem sei es insbesondere bei grösseren Wohnanlagen wichtig, die Nachbarschaft mit ins Boot zu holen, sagt Ahonen. Aufzuklären, Sorgen ernst zu nehmen und den Nachbar*innen die Möglichkeit zu geben, Wohnanlagen und Bewohner*innen kennenzulernen.

Viljo geht jetzt den nächsten Schritt. Er zieht um in eine neue Wohnung. An diesem Nachmittag packt er sein Hab und Gut zusammen. Die neue Wohnung ist nicht mehr Teil eines grösseren Komplexes, er wird dort ohne Wohnbegleiter*innen leben. Fast zwei Jahre hat er darauf

gewartet, entsprechend gross ist seine Vorfreude. «Viljos Weg ist unser Ziel», sagt Paula Ahonen: «Es geht darum, unsere Angebote überflüssig zu machen.» Allerdings gebe es auch Mieter*innen, die das Wohnen in grösseren Wohn komplexen und die Gemeinschaft mit anderen Ex-Woh nungslosen auf Dauer schätzen. Niemand werde gedrängt, seine Wohnung zu verlassen.

Lässt sich das Modell auf andere Länder übertragen? Wenn der politische Wille da ist, auf jeden Fall, ist sich Ahonen sicher. Juha Kaakinen, langjähriger Chef der Y-Foundation, ohne dessen Wirken der finnische Erfolg kaum vorstellbar wäre, fasste es auf einer europäischen Housing-First-Konferenz im März so zusammen: «Wenn ihr den Plan hattet, hundert Housing-First-Wohnungen bereitzustellen, dann hängt als Erstes eine Null dran. Macht tausend daraus. Wenn ihr einen Zeitplan von acht Jahren hattet, macht vier Jahre daraus und sagt nicht, dass es unmöglich wäre. Es ist schwierig, und das soll es auch sein, aber es ist möglich.»

Mit freundlicher Genehmigung von HINZ&KUNZT/INSP.NGO

«Eine eigene Wohnung zu haben, ist wichtig für mich, um klarzukommen.»
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Weg von der Strasse

Seit 30 Jahren engagieren sich weltweit Organisationen für das Menschenrecht auf Wohnen. Festgeschrieben ist es in Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Wenn eine geeignete Unterkunft fehlt, sind auch viele andere Menschenrechte bedroht, wie das Recht auf Gesundheit und Leben, das Recht auf Teilhabe und das Recht auf Familie.

2011 Frankreich: 15  000 Euro weniger

In vier Städten, darunter Paris, beginnt ein Housing-First-Projekt mit dem Namen «Un chez-soi d’abord». Nach vier Jahren wohnen 85 Prozent der Teilnehmenden in eigenen Wohnungen. Es wird geschätzt, dass dem Staat pro Jahr und Person etwa 15 000 Euro weniger Kosten entstehen als bei normaler Betreuung.

2012 Österreich: 15  951 Quadratmeter Zuhause

In Wien startet die soziale Organisation Neunerhaus eine Housing-First-Initiative. 2017 wird «neunerimmo» zur Akquise von Wohnungen und Betreuung von Vermieter*innen gegründet. 2021 wurden schon 341 Wohnungen vermittelt, mit 15 951 Quadratmetern Wohnraum.

2010 Schweden: 84 Prozent stabil

Die ersten beiden Projekte starten in Stockholm und Helsingborg; die Wohnsta bilität über drei Jahre wird mit 84 Prozent angegeben und das Projekt bleibt dauerhafter Bestandteil des sozialen Wohnprogramms.

Fünf Jahre später bieten 14 Gemeinden im Land Housing First an.

2013 141 Teilnehmer*innen in Belgien

Eine dreijährige Testphase von Housing First startet in Belgien in acht Städten mit 141 Teilnehmenden.

2010 658 Wege nach Hause in Australien

In Sydney startet «Way2Home». Bis 2020 können dadurch in der Stadt 658 Menschen eine Wohnung finden.

2022 Start in Nürnberg

Im August startet «Housing First Nürnberg», getragen von vier Nürnberger Vereinen. Schon vor dem offiziellen Start haben sich private Vermieter*innen gemeldet – so konnten bislang acht Wohnungen vermittelt werden.

2021 Deutschland:

25 Mal die Wahl haben

Das Modellprojekt «Eigene Wohnung» in Leipzig startet. 35 Wohnungen stehen für zunächst 25 Teilnehmer*innen bereit, sodass jede und jeder aus mehreren Wohnungen eine auswählen kann. Insgesamt sind bis 2024 für das Projekt 1,2 Millionen Euro eingeplant.

2014 Irland: Verdreifachung in drei Jahren

2014 wird in Dublin ein Housing-First-Pro gramm mit 100 Plätzen umgesetzt, das bis 2017 auf 300 Teilnehmende erweitert wird.

2020 Schweiz: Wenig Wohnraum

In Basel startet ein Housing-First-Projekt, das von der Heilsarmee betreut wird. Anfang 2021 konnten acht Personen vermittelt werden. Es fehlt jedoch an geeignetem Wohnraum.

Stand: August 2022. Die Chronik erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und konzentriert sich auf die Entwicklung in Europa.

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1992 Start in New York City

Der Psychologe Sam Tsemberis gründet «Pathways to Housing». Die Non-ProfitOrganisation entwickelt Housing First für Obdachlose mit schweren psychiatrischen Erkrankungen – der Grundgedanke: zuerst die Wohnung, dann unterstützende Hilfe je nach Bedarf. Nach vier Jahren lebten 88 Prozent der Teilnehmenden noch in ihrer Wohnung.

2006 Entdeckung in Europa

In Amsterdam startet «Discus Housing First» – die Erfolgsrate bei einer Evaluation 2013: 97 Prozent. 2014 gibt es schon in 14 Städten in den Niederlanden Housing-First-Angebote.

2008 Nationale Strategie in Kanada

Die kanadische Regierung startet in fünf Städten das Housing-First-Projekt «At Home/Chez Soi». Wissenschaftler*innen weisen nach, dass Housing First bei der Bekämpfung von Obdachlosigkeit erfolgreicher ist als traditionelle Ansätze. Fünf Jahre später wird Housing First zur nationalen Politik gegen Obdachlosigkeit.

2009 Dänemark: über 1000 Wohnungen

Dänemark ernennt Housing First zum Grundprinzip für die nationale Strategie gegen Obdachlosigkeit.

In 17 Gemeinden werden über 1000 Plätze zur Verfügung gestellt.

2009 Erfolge in Portugal

In Lissabon startet «Casas Primeiro».

Das Ergebnis für die Teilnehmer*innen: 87 Prozent weniger Besuche in Notauf nahmen, 90 Prozent weniger psychiatrische Einweisungen. Das Projekt muss wegen fehlender öffentlicher Gelder im Jahr 2012 reduziert werden.

2008 Finnland startet

«Paavo I» heisst das Programm: Obdach losenunterkünfte werden zu Housing-FirstAngeboten umgebaut. Die Regierung möchte damit die Wohnungslosigkeit im Land ganz beenden. Bis 2011 kann die Langzeitwohnungslosigkeit um 28 Prozent gesenkt werden.

2014 38 Chancen in Spanien

In drei spanischen Grossstädten werden durch «Hábitat Housing First» 38 Plätze geschaffen. Neben Personen mit psychischen Erkrankungen und Suchtproblemen werden auch Menschen mit einschränkender Krankheit oder Behinderung aufgenommen.

2015 Family first in Italien

In Bologna können im Projekt «Tutti a Casa Famiglie» 42 Familien eine Wohnung nach den Grundsätzen von Housing First beziehen.

2017 Kunst für Wohnraum in Deutschland

In Nordrhein-Westfalen startet der Housing-First-Fonds. Der Fonds fördert den Ankauf und Umbau von HousingFirst-Wohnungen. Bislang konnten 22 Organisationen der Wohnungslosenhilfe Geld daraus beziehen. Das Geld stammt aus dem Verkauf von gespendeten Kunstwerken des Malers Gerhard Richter und anderen Kunstspenden.

2018 Deutschland: Sieben mehr als geplant

In Berlin startet «Housing First für Frauen» des Sozialdiensts katholischer Frauen. Im Mai 2021 lebten bereits 37 Frauen in durch das Projekt vermittelten Wohnungen.

2018 Ein Zuhause in Hannover

Die Stiftung «Ein Zuhause» in Hannover wird gegründet. Sie baut auf einem Erbpachtgrundstück der Stadt Hannover ein Haus mit 15 Wohnungen für HousingFirst-Klient*innen.

2017 Deutschland: Ein Haus, 12 Wohnungen

Die Strassenzeitung Hempels in Schles wig-Holstein startet das Projekt «Hempels hilft wohnen»: Darüber wird ein Mehr familienhaus mit zwölf Wohnungen gekauft, die als Housing-First-Wohnungen vermietet werden. Ein zusätzlicher Neubau ist geplant.

Mit freundlicher Genehmigung von STRASSENKREUZER, NÜRNBERG/INSP.NGO

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Eine Lösung, aber nicht für alle

Das Housing-First-Projekt der Heilsarmee in Basel funktioniert gut, erreicht aber nicht alle Betroffenen. Sans-Papiers bleiben aussen vor, auch gibt es zu wenige Wohnungen.

«Das Beste, was mir passieren konnte. Hier habe ich meine Ruhe, hier kann ich tun und lassen, was ich will.» Andreas L.*, Mitte 50, sitzt am Tisch seiner Einzimmerwohnung und schenkt Mineralwasser ein. Seit exakt eineinhalb Jah ren lebt er hier, mitten in der Stadt Basel, nahe dem Rhein, er hat einen eigenen Schlüssel, eigene Möbel, einen eige nen Mietvertrag. Was nicht selbstverständlich sei für einen wie ihn, sagt Andreas L., der es, als ihm vieles zu viel wurde, hat «schleifen lassen» und auf der Strasse landete: ohne Arbeit, ohne Geld und ohne Wohnung, dafür mit dunklen Gedanken zuhauf. Tagsüber war Andreas L. an Orten, wo er einkehren durfte, ohne konsumieren zu müs sen, die Nächte verbrachte er erst in der Notschlafstelle, dann im Männerwohnhaus der Heilsarmee Basel. Dort hörte er von einem Projekt, das Wohnungen an Obdach lose vergibt, unkompliziert und quasi bedingungslos. Sein Betreuer aus dem Männerwohnhaus schlug ihn für das Projekt vor, bald darauf hielt Andreas L. den Wohnungs schlüssel in seiner Hand.

«Housing First» ist der Name für dieses Projekt und die Idee dahinter bestechend einfach: Wohnen ist ein Menschenrecht, das muss man sich nicht erst durch Leis tung, Integration, Teilnahme an Sozialberatungen oder Therapiemassnahmen verdienen. Vielmehr sollen geord nete Wohnverhältnisse die Basis sein, um andere Schwie rigkeiten anzugehen, die womöglich zur Obdachlosigkeit geführt haben: Schulden etwa, der Konkurs der eigenen Firma, der Tod des Partners, Krankheit oder Drogen. Also Wohnen zuerst, und dann der ganze andere Rest. Die Idee stammt aus den USA, inzwischen haben sie auch europäische Länder übernommen (siehe Chronik ab Seite 12). In Basel wurde Housing First 2020 lanciert, nachdem

der Kanton Basel-Stadt 2018 die Initiative «Recht auf Wohnen» angenommen und die Sozialhilfe von Ba sel-Stadt eine Ausschreibung für «Housing First» ge macht hatte. Den Zuschlag erhielt die Heilsarmee, die dieses Pilotprojekt bis vorerst Ende 2023 umsetzt und mit der Beratung sowie Betreuung der Housing-First-Nut zer*innen beauftragt ist. Vermietet werden die Wohnun gen von der Stadt und Privaten, die Mietkosten bezahlt die Sozialhilfe oder sie werden durch Ergänzungsleis tungen gedeckt.

«Housing First ist einzigartig, weil niederschwellig», sagt Mauro Trombini, Mitarbeiter von Housing First bei der Heilsarmee. «Anders als bei herkömmlichen sozialen Wohnprojekten beruhen Betreuung und Beratung auf Freiwilligkeit; man kann sie in Anspruch nehmen oder aber ablehnen. Auch ist Abstinenz bei Housing First keine Bedingung.» Gleichwohl gibt es Auflagen, wer dafür in frage kommt. Am Projekt teilnehmen darf nur, wer min destens 18 Jahre alt ist, seinen Wohnsitz im Kanton Ba sel-Stadt hat, seit einigen Jahren obdachlos ist oder zumindest wohnungslos (also über keine feste eigene Adresse verfügt), wer durch andere bestehende Angebote wie betreutes Wohnen nicht erreicht wird sowie süchtig oder psychisch krank ist.

Auf Andreas L. trifft das meiste zu. Wobei Drogen, wie er sagt, nie ein Thema waren. Auch der Alkohol sei ihm bisher nicht zum Problem geworden. Wohl aber diese Depressionen. Zweimal war Andreas L. bereits in der Kli nik, nachdem er sich über Tage und Wochen zurückge zogen und all seine Kontakte abgebrochen hatte. «Das ist mein Ding, das ist typisch für mich, leider: Gibt’s Pro bleme, verkrieche ich mich.» Einmal habe die Polizei vor

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«Ich bleibe lieber für mich. Immer unter Leuten, das ist nichts für mich.»

seiner Tür gestanden, die Nachbar*innen hätten sich Sor gen gemacht, als sie tagelang nichts von ihm gesehen und gehört hatten. «Die meinten wohl, ich sei tot.»

Prekär gelebt hatte der gelernte Maurer schon Jahre vorher. Die Firma, für die er lange arbeitete, ging Konkurs, dann hatte er Jobs hier und dort. Bis Andreas L. und seine damalige Freundin mit dem Erbe des Vaters 2003 eine Firma gründeten, mit der sie allerlei Waren übers Internet verkauften. Was nicht rentierte. «Da war plötzlich das Geld weg und bald darauf auch die Frau.» Also meldete sich Andreas L. auf dem Sozialamt an. Sein ohnehin schon kleiner Freundeskreis wurde noch enger, er zog sich, ein mal mehr, zurück. Dann, 2016, hatte Andreas L. einen Herzinfarkt und musste nach dem Spital für einige Zeit in die Reha. Die Krankenkasse zahlte ihm rückwirkend das Krankentaggeld, was er dem Sozialamt hätte melden

müssen, aber versäumte. «Da war nicht einmal Absicht dahinter, mir war einfach alles zu viel. Ich ging nicht mehr an die Termine, nahm weder das Telefon ab noch öffnete ich die Briefe des Sozialamts.» So wurden ihm die Sozi albeiträge gestrichen.

Als das Geld der Krankenkasse aufgebraucht war, stand Andreas L., damals fast 50, vor dem Nichts. Die Not schlafstelle wurde sein neues Zuhause, Kontakt zu ande ren Obdachlosen suchte er nicht. «Ich bleibe lieber für mich. Immer unter Leuten, das ist nichts für mich.» Auch als er eine Zeit lang im Männerwohnhaus der Heilsarmee unterkam, war dies das grösste Problem für Andreas L. «Man teilt das Zimmer mit jemandem, den man nicht kennt, man hat kaum Privatsphäre, kann sich nicht zu rückziehen. Zum Glück ist das hier anders.»

Hier, das ist die Einzimmerwohnung, in der Andreas L. jetzt im Rahmen von Housing First lebt: etwa 25 Qua dratmeter, ein kleines WC, ein Raum mit Bett, Tisch, Schrank, Regal und Fernseher, an den Wänden ein paar Poster hinter Glas, eine offene Küche, die Fensterfront zeigt zum Innenhof. Ein Teil der Möbel stammt noch aus seiner früheren Wohnung, den Rest hat er sich mit dem Geld der Sozialhilfe, wo er inzwischen wieder angemeldet ist, hinzugekauft.

Zu wenig Wohnungen

Gemäss Zahlen von 2018 waren in Basel rund 100 Men schen obdachlos; weitere 200 hatten keine eigene Woh nung, sie waren in Notwohnungen der Sozialhilfe unter gebracht oder schliefen bei Freund*innen oder Bekannten. Schweizweit sind derzeit rund 2200 Menschen obdachoder wohnungslos, weitere 8000 «von Wohnungsverlust

Man muss mindestens 18 Jahre alt sein und seinen Wohnsitz im Kanton Basel-Stadt haben: Das sind zwei der Bedingungen, um am Projekt teilnehmen zu können.
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Bald schweizweit?

Housing First als Ansatz zur Minderung von Obdachlosigkeit gibt es in der Schweiz nicht allein in Basel. In Lausanne läuft bereits seit einigen Jahren ein Versuch mit einer dezentralen Wohnbetreuung von Personen mit einer Suchterkrankung, und 2019 wurde ein Housing-First-Projekt der Suchthilfe Perspektive Region Solothurn Grenchen lanciert. Auch in Luzern gibt es Vorstösse, und zwar auf politischer Ebene; diesen Sommer hat die SP Stadt Luzern ein entsprechendes Postulat eingereicht. Anders als bei bisher gängigen Unterstützungsformen gehe es darum, obdachlosen Menschen bedingungslos Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Die Umsetzung obliege der Stadt sowie Fachinstitutionen, so die SP in ihrem Postulat. Ähnliche Vorstösse gibt es in Zürich und Bern. – Eine Übersicht über die sozialen und politischen Dimensionen des Themas bietet das Buch «Housing first. Ein (fast) neues Konzept gegen Obdachlosigkeit» (2020), unter schwarzerpeter.ch/ mediadesk/housingfirst kann es heruntergeladen werden.

KP

bedroht», schätzt die Studie «Obdachlosigkeit in der Schweiz» der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW. Im Projekt «Housing First» der Heilsarmee sind derzeit 23 Personen im Alter von 24 bis 72 Jahren angemeldet, davon 12 Frauen. Zwar sind 11 Personen schon mindestens zehn Jahre obdachlos. Davon sind jedoch nur wenige «rough sleepers», wie jene Obdachlosen genannt werden, die per manent draussen leben und übernachten.

Solange diese «rough sleepers» nicht erreicht werden –in Basel sind es etwa 50 Personen –, dürfte der Anspruch, die Obdachlosigkeit mit Housing First zu beenden, wohl überrissen sein. Für Eva Gammenthaler von der Kirchlichen Gassenarbeit Bern muss das Vertrauen der Betroffenen gewonnen werden: «Um Menschen in prekären Lebenssi tuationen zu erreichen, muss Housing First über nieder schwellige Institutionen oder Anlaufstellen laufen, die bereits bekannt sind und bestenfalls langjährige Bezie hungsarbeit geleistet haben, wie die Aufsuchende Soziale Arbeit.» Gammenthaler nennt den Verein Schwarzen Peter, der in Basel Gassenarbeit leistet. Tatsächlich hatte sich der Verein dagegen entschieden, sich ebenfalls für die Betreu ung des Housing-First-Projekts zu bewerben. «Wohnbe gleitung bringt früher oder später Konflikte mit den Nut zenden, also unseren Klient*innen, mit sich, und das kann unser gegenseitiges Vertrauen gefährden – was wir nicht wollen», sagt Michel Steiner, Co-Geschäftsleiter von Schwarzer Peter. Auch Trombini von der Heilsarmee ist sich des Problems bewusst, zumal gerade für «rough slee pers» Vertrauen und Autonomie sehr wichtig seien. Oft gebe es auch Missverständnisse, was Housing First genau bedeutet. Wer darin nur eine weitere Spielart des betreuten Wohnens sieht, würde das Angebot eher ablehnen, so Trombini. «Deshalb ist Aufklärungsarbeit so wichtig.»

Mit den Nachbar*innen hat Andreas L. nicht viel Kontakt.

Für andere Obdachlose ist Housing First, jedenfalls in der bisherigen Form, keine Option. Von ihnen ist in der Öffentlichkeit nur wenig die Rede, obwohl sie gemäss der erwähnten FHNW-Studie 61 Prozent aller Obdachlosen in der Schweiz ausmachen: die Sans-Papiers (siehe Surprise Nr. 526). Wer keine gültigen Aufenthaltspapiere besitzt, kann von Gesetzes wegen keine Sozialhilfe beziehen und keinen eigenen Mietvertrag abschliessen, was für Housing First aber unerlässlich ist. Solange diese Rahmenbedin

«Wir brauchen mehr Vermieter und Vermieterinnen, die ihre soziale Verantwortung wahrnehmen.»
RENÉ THOMA, GENOSSENSCHAFTLER
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gungen gelten und Housing-First-Projekte durch Stadt und Kantone finanziert werden, werden Sans-Papiers mit dem Angebot auch weiterhin nicht erreicht werden können.

Dies zeigt, wie sehr Housing First von strukturellen Bedingungen abhängt. Dazu gehört auch der Wohnungs markt gerade in Grossstädten. Wie in anderen namentlich westeuropäischen Ländern fehlt es auch hierzulande zu nehmend an bezahlbarem Wohnraum. Kommt in Basel hinzu, dass Stadt und Kanton infolge jahrelanger Priva tisierungsmassnahmen kaum noch über eigenen Wohn raum verfügen, den man gezielt für soziale Projekte wie Housing First nutzen könnte. Auch Bern und Zürich haben die Umsetzung städteplanerischer Projekte mehr oder weniger dem freien Markt überlassen.

Für Trombini von der Heilsarmee wäre es ebenfalls wünschenswert, wenn für Housing First günstiger Wohn raum geschaffen würde. Bisher gibt es Plätze nur dann, wenn irgendwo eine Wohnung frei wird. Entsprechend sind Projekte wie dieses auch vom freiwilligen Engagement Privater abhängig. «Wir brauchen mehr Vermieter und Ver mieterinnen, die ihre soziale Verantwortung wahrnehmen», sagt René Thoma. Er ist Geschäftsleiter der Wohnbau-Ge nossenschaft Nordwest sowie Präsident der Wohngenos senschaft Im Vogelsang in Basel und vermietet Wohnungen an Menschen, die am Housing-First-Projekt teilnehmen. Neben Engagement brauche es auch Toleranz. Nicht immer gestalte sich das Mietverhältnis einfach mit Menschen, die längere Zeit keine eigene Wohnung hatten, so Thoma. Er berichtet von einem Fall, wo er wegen Konflikten mit einer Betroffenen das Mietverhältnis auflösen wollte, sich dann aber die anderen Mieter*innen im Haus für den Verbleib der Frau eingesetzt hatten.

Über die Stadt verteilt Gerade bei einem dezentralen Wohnprojekt wie dem Bas ler Housing First kann dies eine besondere Herausforde rung darstellen. Anders als etwa bei entsprechenden Pro jekten in Finnland sind in Basel die Wohnungen über die ganze Stadt verteilt, und nicht immer ist die Nähe zu ehe maligen Obdachlosen bei Nachbar*innen erwünscht. Auch dürfte im Fall von Konflikten die Wohnbegleitung im de

Den eigenen Rückzugsraum gestalten können, ist eine Voraussetzung für vieles.

zentralen Modell aufwendiger sein, als wenn sich das Housing-First-Projekt nur an einem Ort befindet. Diese Gefahr sieht auch Michel Steiner vom Schwarzen Peter: «Menschen, die lange nicht gewohnt haben, werden wo möglich Mühe haben mit der neuen Situation, es kann Kon flikte und Probleme mit Nachbar*innen geben, die bei über die Stadt verteilten Wohnungen schwerer zu lösen sind.»

Eva Gammenthaler von der Kirchlichen Gassenarbeit Bern ist optimistischer. «Grundsätzlich spreche ich mich für Durchmischung aus, auch wenn es um günstige Wohn formen oder Housing-First-Projekte geht. Dies fördert sowohl die Integration der Bewohnenden als auch die Akzeptanz der Mitmenschen.» Für Trombini fällt die bis herige Bilanz ebenfalls positiv aus. «Wir wollen den Men schen eine möglichst normale Wohnsituation bieten, in mitten von anderen. Probleme mit Nachbar*innen gab es zwar immer wieder mal, nach drei Monaten aber gelingt das Zusammenleben in der Regel.»

Auch Andreas L. fühlt sich wohl in seiner Umgebung. Die Wohnung biete ihm Stabilität, grosse Sprünge werde er keine mehr machen. Einzig Ferien vermisst er. «Noch einmal nach Thailand, das wär’s.» Er hat das Land früher schon bereist, es ist ihm zu einem Sehnsuchtsort gewor den. Ansonsten geniesst Andreas L. die Ruhe in seinen eigenen vier Wänden. Einmal in diesen eineinhalb Jahren hat er seine Dartfreunde bei sich auf ein Znacht eingela den, sie haben ein paar Bierchen getrunken und Musik gehört. Daran gestört hat sich von den Nachbar*innen niemand. Er hat ohnehin kaum Kontakt mit ihnen. Andreas L. fällt nicht auf, und das ist ihm recht so.

* Name geändert

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«Viele werden die zweite Chance nutzen»

Schulden Ein neues Gesetz soll verschuldeten Menschen einen Neuanfang ermöglichen. Schuldenberater Pascal Pfister hält es für einen wichtigen Schritt in der Bekämpfung von Armut.

Es kann jede*n treffen: Untersuchungen zeigen, dass am Anfang der Schulden meis tens ein Schicksalsschlag wie Arbeitslosig keit, Trennung, Wohnungsverlust, Krank heit oder Unfall steht. Und wer einmal hohe Schulden angehäuft hat, wird sie kaum wie der los. Denn der Schuldenberg wächst we gen Zinsen und Gebühren laufend an. In kassobüros, Krankenkassen und sogar Betreibungsämter schöpfen ab, was sie nur können, und halten damit den Druck ein Leben lang aufrecht.

Die viel zitierte Schuldenspirale ist auch darum problematisch, weil Betrei bungen für handfeste Nachteile im Alltag von Betroffenen sorgen: So wird beispiels weise die Job- und Wohnungssuche mas siv erschwert, was es wiederum schwieri ger macht, aus der Misere herauszufinden.

Einen Ausweg aus der Schuldenfalle gibt es in der Schweiz bislang nur für Men schen, die über Einkommen oder Vermö gen verfügen und damit ihren Gläubi ger*innen etwas anbieten können. Deren Einverständnis vorausgesetzt, können sie sich etwa mit einem Privatkonkurs von ih ren Schulden befreien. Armutsbetroffene Menschen jedoch bleiben ohne Perspektive in der Schuldenfalle gefangen.

Das soll sich nun ändern. Im Juni hat der Bundesrat eine Änderung des Bundes gesetzes über Schuldbetreibung und Kon kurs (SchKG) vorgeschlagen. Diese sieht die Schaffung eines sogenannten Rest schuldbefreiungsverfahrens vor: Wer wäh rend vier Jahren mit dem Existenzmini mum lebt und alles tut, um seine Schulden zu tilgen, soll danach schuldenfrei sein –und zwar unabhängig davon, ob und wie viel er oder sie zurückzahlen konnte. Vor aussetzung ist, dass sich die Schuldner*in nen in diesen vier Jahren nicht neu ver schulden und dass sie sich nachweislich um Einkommen bemühen. Um Missbrauch zu vermeiden, soll nach Abschluss des Ver fahrens eine Sperrfrist von fünfzehn Jah ren gelten, ehe eine weitere Restschuldbe

freiung möglich wird. Anmelden müssen sich die Betroffenen selbst. Die vorgese hene Gesetzesänderung geht auf zwei im Jahr 2018 vom Parlament angenommene Motionen von Claude Hêche (SP) und Beat Rieder (GLP) zurück.

In den meisten europäischen Ländern ist das Restschuldbefreiungsverfahren be reits gängige Praxis. Basierend auf Erfah rungen aus Österreich und Deutschland geht der Bund von jährlich 2500 bis 8000 solcher Verfahren aus. Etwa in 30 Prozent der Fälle käme das Verfahren zum Zug, in 70 Prozent andere Sanierungsverfahren, die sich an Menschen richten, die über ein Einkommen verfügen. Diese sollen im Zuge der Reform ebenfalls vereinfacht werden.

Ausgestaltung entscheidend Ende September endet nun die Vernehm lassung für den vom Bundesrat vorge schlagenen Entwurf. Abschliessend wird das Parlament über die Vorlage befinden. Schulden-Fachleute betonen, dass die Aus gestaltung des Gesetzes zentral ist, damit das Verfahren in der Realität tatsächlich funktioniert. So wird beispielsweise um die Anzahl Jahre gerungen, die das Verfahren dauern soll. Einige Expert*innen fordern eine kürzere Frist, damit Schuldner*innen die für sie mit grossen Einschränkungen verbundene Zeit auch wirklich durchstehen. Gläubiger*innen dagegen dürften für ein längeres Verfahren lobbyieren, um allfällige Mittel möglichst lange abschöpfen zu kön nen. Gebeten um eine Einschätzung zum Entwurf, reagierte der Inkasso-Dachver band vsi nicht. Vom Krankenversicherungs verband Santésuisse hiess es mit Verweis auf die laufende Vernehmlassung, für eine Einschätzung sei es noch zu früh.

Surprise hat dazu mit Pascal Pfister gesprochen. Der 46-Jährige ist Geschäfts führer des Dachverbands Schuldenbera tungen Schweiz sowie SP-Grossrat im Kanton Basel-Stadt.

Pascal Pfister, in der Schweiz sind nicht nur Goldbarren versteckt, es stapeln sich auch Verlustscheine in der Höhe von 20 Milliarden Franken: Rechnungen, die nie bezahlt wurden. Handelt es sich um einen ungehobenen Schatz oder eher um Altpapier?

Pascal Pfister: Das meiste davon ist Altpa pier. Viel Wert haben solche Scheine nicht mehr, wenn sie jahrelang rumliegen. Trotz dem stellen solche verstaubten Papiere für jene, die Schulden haben, eine grosse Be lastung dar. Sie verhindern, dass sich diese Personen aus schwierigen Lebenssitua tionen befreien können.

Warum gibt es dennoch Inkassoleute, die ganze Aktenschränke mit solchen Dokumenten füllen? Es gehört bei einigen Inkassounternehmen zum Geschäftsmodell, auch aus sehr alten Verlustscheinen noch Geld herauszuholen. Mein Coiffeur beispielsweise hat mich kürzlich um Rat gefragt. Er wollte sich von einer alten Schuld befreien, er habe ein gu tes Angebot gekriegt. Es ging um eine pri vate Forderung, als er zwanzig Jahre alt war. Er hatte sie nie bezahlt, weil er sie für ungerechtfertigt hielt. Heute ist er über fünfzig. Einen Rechtsstreit war es ihm nie wert, aber nun wollte er die ständige Be lastung loswerden.

Bisher ist die Schweiz mit ihren Schuld ner*innen unnachgiebig. Schulden bestehen praktisch ein Leben lang, ja sogar darüber hinaus, weil sie vererbt werden können. Welche konkreten Folgen hat das für die betroffenen Menschen?

Sie kommen auf keinen grünen Zweig, sind in einer Negativspirale gefangen. Wegen der Betreibungsregisterauszüge finden sie we der Wohnung noch Job. Ausserdem schaden Schulden der Gesundheit. Eine Studie belegt, dass jede*r Vierte mit Schulden schwere Depressionen hat. In der restlichen Bevölkerung sind es nur zwei Prozent.

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Surprise 533/22 19 29 % 29 % 29 % 28 % 27 % 17 % 15 % 15 % 14 % 11 % 11 % 10 % 10 % 9 % 8 % 7 % 6 % Gesundheit/Unfall Arbeitslosigkeit Trennung/Scheidung Adm./kogn. Überforderung Kühne Geldplanung Working Poor Aufgabe Selbständigkeit Geburt/Adoption Auszug Elternhaus Diverse Süchte Schulden von Dritten Heirat/Haushaltgründung Unterstützung an Dritte Hohe Fixkosten Spielsucht Kaufsucht Pensionierung Ursachen der Schulden Es kann jede*n treffen: Gründe für eine Verschuldung sind meistens kritische Lebensereignisse wie Gesundheitsprobleme, Arbeitslosigkeit oder Trennung.

Die eine Hälfte hat mehr als rund 40 000 CHF Schulden, die andere Hälfte weniger (Medianwert). Die durchschnittliche Verschuldung ist um einiges höher. Das bedeutet: Es gibt einige Ausreisser mit massiv höheren Schulden.

Nun diskutiert die Politik über eine sogenannte Restschuldbefreiung, die Schuldner*innen nach einigen Jahren Lohnpfändung von ihren Schulden befreien soll. Wäre das ein Ausweg?

Auf jeden Fall. Denn problematisch ist ins besondere die Perspektivlosigkeit, in der sich Menschen mit Schulden befinden. Das Verfahren bietet einen Ausweg, ermöglicht einen Neustart. Alleine durch diese Per spektive verbessert sich beispielsweise der Gesundheitszustand, wie Erfahrungen aus Deutschland und Österreich zeigen.

Wenn diese Aktenberge in der Höhe von 20 Milliarden Franken auf einmal vernichtet werden: Geht der Schweizer Wirtschaft nicht viel Geld verloren?

Nein, im Gegenteil. Der Staat und die Wirt schaft werden profitieren. Viele werden die zweite Chance nutzen. Das heisst, dass sie wieder konsumieren und Steuern zahlen sowie vermutlich weniger Gesundheits kosten verursachen werden.

Doch was ist mit den Gläubigern, die das Geld zugute hätten?

Die meisten Unternehmen kalkulieren Zahlungsausfälle von Beginn weg in ihre Preise mit ein. Selbst die Inkassofirmen, welche die Forderungen derzeit bewirt schaften, verlieren nur wenig Geld. Auch für sie ist der Ausfall verkraftbar. Verlust scheine sind auch für sie ein wenig einträgliches Geschäft. Das grosse Geld machen sie anderswo. Trotzdem: Für In kassofirmen sind es Papiere, aus denen sie vielleicht irgendwann noch etwas he rauspressen können. Für die Menschen dahinter stellen die Verlustscheine aber eine tägliche Belastung dar.

Wer ist denn der typische Schuldner oder die typische Schuldnerin?

Tendenziell sind es Menschen mit eher tie fen, unsicheren Einkommen. Die Schulden entstehen häufig im Kontext eines ein schneidenden Lebensereignisses: Arbeits losigkeit, Trennung, Wohnungsverlust, Krankheit oder Unfall. Es kann jede und je den treffen. Solche Ereignisse treffen auch Menschen, die zuvor ein hohes Einkommen hatten, und führen in die Schuldenfalle. Da durch geht die Stabilität verloren, die Fix kosten werden zur Herausforderung und je nachdem, was passiert ist, steht weniger Geld zur Verfügung. Natürlich gibt es auch Menschen, die auf zu hohem Fuss gelebt haben. Sie sind aber die Ausnahme.

Aber könnte man nicht auf die Idee kommen, erst recht Schulden anzuhäufen, wenn man weiss, dass einem die Schulden irgendwann sowieso erlassen werden? Und wer soll denn eine zweite Chance erhalten?

Alle, die diesen Weg freiwillig einschlagen. Die Betreibungsämter sind ja kein morali sches Gericht. Das Verfahren ist ohnehin nicht attraktiv für jemanden, der einfach sehr viel Geld ausgeben will und sagt, dann mache ich halt eine Restschuldbefreiung. Auf der einen Seite sind im Verfahren Hür den festgelegt, um derartige Tricksereien zu verunmöglichen. Es gibt zum Beispiel eine Sperrfrist, wodurch das Verfahren wahrscheinlich nur einmal im Leben, ma ximal zweimal, durchlaufen werden kann. Ausserdem dauert das Verfahren mehrere Jahre, die sehr unangenehm sein können. Das will sich keine*r freiwillig antun.

Warum nicht?

Sie müssen sich vorstellen, dass Ihr Lohn während vier Jahren auf das betreibungs rechtliche Existenzminimum gepfändet wird. Da haben Sie vielleicht 1200 Franken

PASCAL PFISTER, 46 , ist Geschäftsführer des Dachverbands Schuldenberatungen Schweiz. Als Politiker engagiert er sich unter anderem für Themen wie Selbsthilfe und Gewerkschaftsarbeit

Rat des

Höhe der Schulden Median Durchschnitt
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41 596 CHF 70 617 CHF
FOTO: ZVG «Problematisch ist die Perspektivlosigkeit, in der sich Menschen mit Schulden befinden. Das Verfahren bietet einen Ausweg.»
und sitzt für die SP im Grossen
Kantons Basel-Stadt.

Grundbetrag zur Verfügung plus Miete und Krankenkasse. Da müssen Sie ein rigides Budget einhalten und sehr diszipliniert sein. Ausserdem dürfen Sie sich in dieser Zeit nicht neu verschulden und müssen nachweisen, dass Sie sich bemüht haben, ein Einkommen zu erzielen.

Das Parlament hat grundsätzlich bereits zugestimmt. Nun hat der Bundes rat einen konkreten Vorschlag vorgelegt, der derzeit in der Vernehmlassung ist. Im Vorfeld schrieben Sie auf Ihrer Webseite, das Verfahren könne ein grosser Wurf oder aber ein Papiertiger werden. Was erwarten Sie?

Es ist eine Chance, ein Verfahren zu schaf fen, das einen Unterschied machen, eine Win-win-Situation für Betroffene und die Allgemeinheit schaffen kann. Natürlich gibt es auch ein paar Dinge, die wir verbes sern möchten.

Zunächst: Was daran ist positiv?

Zentral ist, dass das Verfahren auf Frei willigkeit beruht. Schuldner*innen müs sen sich selber anmelden; zu einem Zeit

punkt, der für sie stimmt. Aus Erfahrung ist das die Bedingung, damit es erfolgreich sein kann. Es braucht intrinsische Moti vation, dass das jemand mehrere Jahre lang durchhält. Ausserdem sieht der Ent wurf glücklicherweise nicht viele Ausnah men vor. Einzig, dass Sozialhilfeschulden nicht gestrichen werden sollen, ist bedau erlich. Weiter ist positiv, dass die laufen den Steuern im Abschöpfungsverfahren berücksichtigt werden. Damit wird ver hindert, dass strukturell neue Schulden geschaffen werden.

Und wo muss aus Ihrer Sicht nachgebessert werden?

Zum einen muss im Gesetz abgebildet sein, dass Menschen im Fokus stehen, die null Einkommen und Vermögen haben. Der entsprechende Vorstoss hatte diese Ziel gruppe im Blick, und auch der Bundesrat betonte das. Doch im Gesetzesentwurf steht das nirgends. Damit besteht die Ge fahr, dass das Bundesgericht das Gesetz dereinst anders auslegt. So geschehen beim Privatkonkurs. Dort hat das Bundes gericht den Zugang erschwert bzw. verun

Lebenslange Schuld

560 000 Menschen in der Schweiz sind in problematischem Ausmass verschuldet, rund 6 Prozent der Bevölkerung haben mindestens einen Verlustschein – ein solcher wird ausgestellt, falls eine Betreibung erfolglos war.

Verlustscheine sind häufig eine lebenslange Schuld. Sie verjähren zwar nach zwanzig Jahren, werden von den Gläubiger*innen aber meistens durch eine weitere Betreibung verlängert. Schliesslich gehen sie an die Nachkommen – sofern diese das Erbe nicht ausschlagen.

Das Volumen der Verlustscheine beträgt schweizweit total etwa 20 Milliarden Franken – vieles davon sind Schulden bei Steuern und Krankenkassen. Gemäss Zahlen des Inkasso-Dachverbands werden im Schnitt rund 17 Prozent der offenen Forderungen zurückgezahlt. Mit der vorgeschlagenen Gesetzesänderung würden sie wertlos.   EBA

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21 % 23 % 23 % 8 % 13 % 5 % 3 % 2 % 1 % 1 % 1 % 0 % 0 – 2999 3000 – 3999 4000 – 4999 5000 – 5999 6000 – 6999 7000 – 7999 8000 – 8999 9000 – 9999 10 000 – 10 999 11 000 – 11 999 12 000 – 12 999 13 000 und mehr
Haushaltseinkommen von Schuldner*innen Es trifft die Ärmsten: 80 Prozent haben weniger als 6000 Franken monatlich zur Verfügung.

Arten von Schulden

In eigener Sache: Beteiligung von Surprise

Der Verein arbeitet mit verschiedenen Surprise-Stadtführer*innen als Direktbetroffene an der Stellungnahme zur Vernehmlassung des neuen Gesetzes aktiv mit. Unsere Erfahrung zeigt, wie schwierig der Umgang mit Schulden für Menschen ist, die nichts in die Konkurs masse einbringen können. Diesen Menschen soll das neue Sanierungsverfahren einen Ausweg eröffnen. Sie haben bei entsprechenden Bemühungen eine zweite Chance und eine Entlastung verdient. Zentral in dem Prozess ist aus unserer Perspektive die sozialarbeiteri sche Begleitung. ANDREAS JAHN, KOMMUNIKATION SURPRISE

möglicht für solche, die gar nichts haben und ihren Gläubiger*innen darum auch nichts anbieten können. Das war nicht im Sinne des Gesetzgebers.

Einer der zentralen Punkte der Vorlage ist die sogenannte Abschöpfungsphase, also die Zeit, in der Schuldner*innen per Lohnpfändung praktisch alles abgeben müssen, um ihre Schulden zu tilgen. Sie soll gemäss Bundesrat maximal vier Jahre betragen. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? Nein. Es hat sich bei den anderen Sanie rungsverfahren eine Frist von drei Jahren etabliert, auch unter Gläubiger*innen. Es gibt keinen Grund, von dieser etablierten Praxis abzuweichen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die anderen, einvernehmli chen Sanierungsverfahren für die Gläubi ger*innen nicht mehr attraktiv genug sind, weil sie bei der Restschuldbefreiung ein Jahr länger abschöpfen können. Jene Ver fahren, die auf einer Abmachung zwischen Schuldner*in und Gläubiger*in beruhen, braucht es aber weiterhin unbedingt. Denn sie sind für alle Beteiligten flexibler und damit auch erfolgversprechender. Aber sie kommen eben nur für all jene infrage, die etwas anzubieten haben – also ein genü gend hohes Einkommen erzielen.

Ist es überhaupt realistisch, dass Schuldner*innen bis vier Jahre durchhalten? Ja, weil es die Perspektive bietet, danach schuldenfrei zu sein. Aber es hängt schon auch stark davon ab, wie das Gesetz ausge staltet ist. Beispielsweise ist vorgesehen, dass das Verfahren bei einer Neuverschul dung abgebrochen wird. Da braucht es Ku lanz. Es darf nicht sein, dass jemand wegen einer Busse für eine Geschwindigkeitsüber tretung aus dem Verfahren fliegt. Man muss also explizit von «schwerwiegenden» Fällen sprechen. Zuletzt ist auch die soziale Be gleitung, also was wir hier bei den Schul denberatungsstellen machen, nicht festgeschrieben. Das ist noch Aufgabe der Kantone. Besser wäre es, der Bund würde das regeln.

Warum?

Erfahrungen aus dem Ausland zeigen, wie wichtig Begleitung ist. Für die Hälfte reicht ein Schuldenschnitt, um ihre Finanzen wieder in den Griff zu kriegen. Die andere Hälfte braucht vor, während und nach dem Verfahren Unterstützung, um es erfolg reich durchzustehen und ihre finanzielle

Verschuldet beim Staat: 80 Prozent der Schuldner*innen haben Ausstände bei den Steuern. Auch bei den Krankenkassen steht mehr als die Hälfte in der Kreide.
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Steuern Krankenkasse Gesundheitskosten Barkredite Kreditkarten Privatschulden Telekommunikation Bussen und Geldstrafen Mietzins / Hypotheken Gerichts/ Verfahrenskosten Unterhaltsbeiträge (Alimente) Kontoüberzüge Abzahlungskäufe Kundenkarten Leasing Geschäftsschulden (Selbständigerwerbende) Rückerstattung Sozialhilfe 80 % 60 % 30 % 27 % 24 % 19 % 18 % 17 % 13 % 9 % 7 % 6 % 6 % 6 % 5 % 4 % 4 %

INFOGRAFIK: BODARA; QUELLE: STATISTIK SCHULDENBERATUNG SCHWEIZ, 2021. HINWEIS : GRUNDLAGE DER DATEN SIND 5138 HAUSHALTE, DIE SICH IM JAHR 2021 NEU VERSCHULDET UND BEI EINER SCHWEIZER SCHULDENBERATUNGSSTELLE GEMELDET HABEN. REPRÄSENTATIVE DATEN ZU SCHULDNER*INNEN IN DER SCHWEIZ GIBT ES NICHT, DA NIRGENDS ERFASST WIRD, WER KEINEN RAT SUCHT.

Situation nachhaltig zu stabilisieren. Dass es Unterstützung in Form einer Schulden beratung braucht, erachtet auch der Bun desrat als wichtig. Allerdings sagt er leider nichts über die Finanzierung und über lässt dies den Kantonen. Dort wird es sehr unterschiedlich gehandhabt. Längst nicht alle Kantone unterstützen die Schulden beratungsstellen.

Nach Abschluss des Verfahrens sind die Menschen schuldenfrei. Aber was passiert danach?

Im Idealfall setzt eine positive Spirale ein. Natürlich besteht die Gefahr, dass sie von der Realität eingeholt werden. Denn das tiefe Einkommen, die prekären Arbeitsbe dingungen, sie bleiben ja bestehen. Da bleibt ein Risiko, dass die Menschen sich neu verschulden. Wir hoffen aber, dass die ser Fall mit den Verbesserungen, welche diese Perspektive bietet, möglichst selten eintritt – gerade ein verbesserter Gesund heitszustand kann viel dazu beitragen.

«Die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen werden die Probleme der Über schuldung und Armut nicht lösen kön nen», heisst es im erläuternden Bericht des Bundesrats. Bedeutet das, dass wir uns nicht allzu grosse Hoffnungen machen sollten?

Doch, das neue Verfahren wäre ein sehr grosser Schritt hin zu einer neuen Perspek tive für viele überschuldete Menschen. Das Thema Schulden ist in der Sozialpolitik bis lang zu wenig beachtet worden. Diese haben einen grossen Effekt bei der Armutsbe kämpfung. Beispielsweise haben 70 Prozent der Sozialhilfeempfänger*innen Schulden. Es ist Zeit, dass das Thema in der Schweiz angegangen wird. Auch klar ist: Solche viel schichtigen Probleme können nie mit einem einzigen Gesetz gelöst werden. Um Armut zu bekämpfen, braucht es auch andere Massnahmen, wie eine Steuerbefreiung des Existenzminimums, verbesserte Prämien verbilligung oder kostenlose Kinderbetreu ung für Armutsbetroffene.

Mehr erfahren

Das ganze Surprise-Dossier zu Schulden finden Sie online unter surprise.ngo/ schulden sowie in folgenden Ausgaben, die Sie einzeln bei uns bestellen können: Teil 1/Heft 500:

Das Geschäft mit den Schulden Teil 2 /Heft 502:

Rechnungen, die krank machen Teil 3/Heft 505:

Wohlstand dank Schulden Teil 4/Heft 507:

Weniger Schulden, weniger Armut

Hintergründe im Podcast: Radio macher Simon Berginz redet mit Andres Eberhard über die Hintergründe der Recherche. surprise.ngo/talk

Höhe der Schulden nach Ursache Geschäftsschulden z.B. nach einem Konkurs sind oft sehr hoch, ebenfalls solche im Zusammenhang mit Suchtkrankheiten und bei kühner Geldplanung.
Surprise 533/22 23 Aufgabe Selbständigkeit Kühne Geldplanung Spielsucht Andere Süchte Trennung/Scheidung Durchschnitt Gesundheit/Unfall Arbeitslosigkeit Kaufsucht Working Poor Pensionierung 131 718 CHF 84 470 CHF 82 914 CHF 80 513 CHF 75 899 CHF 69 219 CHF 68 505 CHF 68 495 CHF 67 665 CHF 60 765 CHF 46 400 CHF

«Wo die Welt dysfunktional wird»

Kino Der Regisseur Stéphane Brizé zeigt mit «Un autre monde» einen Spielfilm über den globalisierten Arbeitsmarkt. Er macht aus einem Manager einen Menschen, der sich selbst unsympathisch wird.

Philippe Lemesle (Vincent Lindon) ist einer von fünf französi schen Standortleitern eines US-amerikanischen Weltkonzerns. Seine Aufgabe: An seinem Standort 58 Menschen entlassen, um die Gesamtstrategie aus New York umzusetzen. Erreicht der Kon zern die Strategieziele nicht, droht das Szenario, dass die Pro duktion ins Ausland verlagert wird.

In all den Jahren, in denen Philippe mitgeholfen hat, den Kon zern aus den roten Zahlen herauszuhieven, ging es mit seinem Familienleben bergab. Das Scheidungsgespräch mit den An wält*innen sieht im ersten Moment nach Ehekrieg aus, aber der Eindruck trügt. Anne (Sandrine Kiberlain) und Philippe treffen sich kurz danach im Auto auf einem Parkplatz. Sie weint, weil sich bei den Anwält*innen alles nur noch ums Geld drehe, er ver sucht zu trösten. Der Niedergang dieser Ehe hat bereits stattge funden, bevor die Filmhandlung einsetzt. Wir sehen jetzt, was noch alles vorhanden wäre an Verbundenheit, Nähe, gegenseiti gem Verständnis. Es hat dem Arbeitsdruck nicht standgehalten. «Weisst du, an wie vielen Wochenenden wir in den letzten zwei Jahren gemeinsam etwas unternommen haben?», fragte Anne im Anwaltsgespräch. «Ich habe nicht gezählt», antwortet er. «Ich schon. Es waren sechs», sagt sie.

«Un autre monde» zeigt, wie sich Menschen in der Welt des Neoliberalismus verändern. Regisseur Stéphane Brizé geht es dabei um die Mechanismen in der Arbeitswelt. Um die Art und Weise, wie Druck aufgebaut wird. Um eine bestimmte Art von Diskurs, von Argumentation und Begrifflichkeiten. Worte und Werte werden kurzerhand neu definiert. Dabei fällt auffallend

oft das Wort Mut. «Der Begriff Mut ist sehr praktisch», sagt Stéphane Brizé im Gespräch an der Vorpremiere in Zürich. «Da mit bringt man Menschen dazu, Dinge zu tun, die sie selbst für falsch halten.» Der Chef in den USA redet vom Mut, den es brau che, die Gesamtstrategie durchzusetzen. Er meint damit die nö tige Kälte, um Leute zu entlassen.

Verantwortung wird weitergereicht. Brizé geht so weit, von der Banalität des Bösen zu sprechen. Die deutsche Denkerin Han nah Arendt hatte den Begriff nach der Shoah in Zusammenhang mit den Eichmann-Prozessen geprägt. Er beschreibt eine Dyna mik, die die Menschen über die Fragmentierung und Rationali sierung der Verantwortung dazu bringt, Unmenschliches zu tun. «Der Vergleich ist heftig, weil die Konsequenzen in der Arbeitswelt natürlich in keiner Relation zum Holocaust stehen», räumt Brizé ein. «Aber es geht um den Prozess. Jeder Mensch handelt gleich zeitig gut und schlecht. Um die Widersprüche auszuhalten und

Regisseur und Drehbuchautor

Stéphane Brizé, 55, wurde in Rennes, Frankreich, geboren. Er war als Bild- und Tontechniker beim Fernsehen tätig, bevor er die Schauspielschule in Paris besuchte. Es folgten eigene Filmprojekte. Das Drehbuch für «Un autre monde» schrieb er mit Olivier Gorce, der schon an «En Guerre» beteiligt war.

In «Un autre monde» spielt Vincent Lindon einen Manager, dessen Arbeit sein Familienleben zerstört. Dass er als leitender Angestellter eigentlich Entscheidungsträger ist, nützt ihm nicht viel: Die Mechanismen des Systems sind stärker als seine Werte. TEXT DIANA FREI
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FOTO: ZVG

Charakterdarsteller Lindon unterwegs in der Arbeitswelt: In «En guerre» als Streikführer (oben). In «La loi du marché» (unten) als Langzeitarbeitsloser, der sich als Ladendetektiv bewähren soll.

um unethisches Verhalten zu legitimieren, wird eine ganz be stimmte Art von Diskurs aufgebaut.» Das kann auch als Firmen kultur gepflegt werden. Es braucht nur den nötigen Mut dazu.

Die Stärke von Brizés Drehbuch und Regie besteht darin, dass er nicht nur die Sozialkritik im Auge behält, sondern auch das dramatische Potenzial ausschöpft: «Mich interessiert der Ort, an dem die Welt dysfunktional wird. In der Wirtschaft, der Welt des Profits, zeigen sich Menschen von ihrer schlimmsten Seite. Ich finde das als Tatsache schockierend, aber in der Rolle des Regis seurs spannend, weil es eine dramatische Kraft enthält.» Brizés Figuren müssen Entscheidungen treffen. Argumente für die Pro duktivität des Unternehmens und solche für soziale Verantwor tung werden am Verhandlungstisch in die Waagschale geworfen. Das wirkt nie didaktisch, und trotzdem werden die Dynamiken und Mechanismen in einem globalisierten Konzern sehr klar be nannt. Die Vorgesetzten wollen endlich herausfinden, wen kon kret man entlassen darf. Philippe versucht seine Mitarbeiter*in nen zu schützen und nennt keine Namen. Also wird die Frage kurzerhand umformuliert: «Wenn morgen eine Person aus Halle 1 überfahren wird – wer darf es auf keinen Fall sein, damit der Betrieb weiterläuft?» Es fallen Namen, der Rest ist reine Subtrak tion: Das Feld wird kleiner. Konkreter. Die Namenlosen sind ver zichtbar. «Sie haben sie nicht genannt, also leistet sie weniger.» So führt man Gesamtstrategien aus.

Als Philippe eine sozialverträgliche Idee aufbringt, stellt er sich damit selbst ein Bein. Der Boss des Gesamtkonzerns spricht im Videocall leinwandfüllend auf seine Mitarbeiter*innen her unter, und wenn er in der Suche nach Formulierungen schmat zend die Zunge im Mund herumschiebt, fühlt es sich an, als ob er uns direkt in den Nacken atmen würde. Philippes Idee taugt im Verständnis des Konzerns nicht als Lösungsvorschlag. Aber es siegt am Ende der Mut. So, wie Philippe ihn definiert.

«Un autre monde», F 2022, Regie: Stéphane Brizé, mit Vincent Lindon, Sandrine Kiberlain, Anthony Bajon u. a. Läuft zurzeit im Kino.

Trilogie der Arbeitswelt

Filmsprache Stéphane Brizé hat mit Hauptdar steller Vincent Lindon drei Filme über das kapitalistische System gemacht. Seine filmischen Mittel setzt er dabei klug ein.

In «La loi du marché» (2015) spielte Charakterdarstel ler Vincent Lindon einen Langzeitarbeitslosen, in «En guerre» (2018) einen Streikführer. Das waren die Opfer des Systems, die offensichtlich Betroffenen im Arbeits kampf. Mit «Un autre monde» wendet sich Stéphane Brizé nun einem ganz anderen Protagonisten zu: dem Manager eines Industriekonzerns. So kann er die Ent scheidungsebene des kapitalistischen Systems aus leuchten. Für seine Arbeit recherchiert der französische Regisseur und Drehbuchautor, bevor er erfindet. «Am Anfang stand nicht die Geschichte, sondern nur eine Intuition, ein Interesse für einen spannenden Ort in der Welt. Für die Recherche habe ich mit Kaderleuten gesprochen, die aus ihrem Job ausgestiegen sind. Ent weder unfreiwillig oder, seltener, aus eigener Entschei dung heraus», sagt Brizé. Damit bewegt sich «Un autre monde» nah an der Realität.

Der Film «En guerre» hatte diesen authentischen Aspekt auch formal ausgereizt, mit unruhiger Kamera, fast dokumentarisch im Stil. In «Un autre monde» ist die filmische Umsetzung eine andere. Die Bilder sind ruhiger. Der Film nimmt in der Erzählung die privaten Momente des Lebens stärker in den Fokus. «Eine do kumentarische Kamera hat eine beobachtende, unmit telbare Haltung», sagt Brizé. «Aber sie folgt Menschen nicht ins Schlafzimmer, nicht in die privaten Momente.» Das Intime verlange eine andere Bildsprache.

So gibt es in «Un autre monde» Momente mit der Familie, die zwar dem Alltag entrungen sind, aber im Film eine lyrische Form bekommen. Der Sohn, der ins Marionettenspiel vertieft ist. Oder Vater und Sohn, die zusammen Fussball spielen. Der Originalton bleibt weg, es sind mit Musik unterlegte Augenblicke der Ruhe. «Momente der Gnade», nennt sie Brizé. Sie machen klar: Das Glück, das Leben an sich ist fragil.

Die Filme «En guerre», «La loi du marché» und «Un autre monde» bilden nun zusammen eine Art Tri logie zum Neoliberalismus, wobei sie nicht von Anfang an zusammengedacht waren. Einer hat sich organisch aus dem anderen ergeben. Brizé, der seine Drehbücher jeweils selbst (mit)verfasst und auch Schauspieler ist, lässt sich damit aber nicht auf Kapitalismuskritik fest nageln. Zu seinem Werk gehört unter anderem eine Literaturadaption von Maupassants «Une vie», und auch der nächste Film wird sich nicht der Arbeitswelt widmen. Der scharfe Blick für ihre Mechanismen ist aber vielleicht genau deshalb so präzise, weil Brizé sich immer für die Kraft des Dramatischen interessiert –und dabei zwangsläufig die Abgründe der Menschen erkennt.

BILDER: ZVG
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Deutschschweiz

Die Zauberlaterne, kostenlose Jubiläumsvorführungen, diverse Kinos. lanterne-magique.org

Veranstaltungen

linären Gruppe von Künstler*innen Gedanken zum Thema Einsamkeit. In Form von Songs, Gedichten, Ge schichten, Interviews und HörDokumentationen gehen sie der Frage nach, was die Einsamkeit mit uns macht. Wie klingt sie und wo im Körper befindet sie sich? Wie reagieren wir als Gesellschaft auf Menschen, die einsam sind – in Altersheimen, auf den Strassen, in Asylunterkünften? Mit dabei sind Mitglieder des Surprise Strassen chors und der Surprise Chancen arbeitsplätze. Der Chor singt am 23. September unter anderem Lie der zum Thema Einsamkeit. DIF

Aarau

Die Zauberlaterne ist das Kontrastprogramm zum Handygefingere für Kinder. Es ist Medienerziehung (aber spassig). Der Filmclub für 6- bis 12-Jährige macht es sich seit nunmehr dreissig Jahren zum Ziel, Kindern die Freude am Kino über die Inhalte statt über den Pausenkiosk zu ver mitteln. Es gibt also vor jeder Vorstellung eine umfangreiche Einführung: Die Klubmitglieder bekommen eine Broschüre mit Hintergrundinforma tionen nach Hause geschickt, im Kinosaal führen dann Moderator*innen in den Film ein – auch filmtechnisches Wissen ist oft dabei – alles szenisch angereichert mit Auftritten von Gastkünstler*innen. Wir vermuten zwar, dass das Konzept vor allem Akademikereltern und weniger die medien technisch tatsächlich alleingelassenen Kinder anspricht, trotzdem eine coole Sache. (Und sie wird von der KulturLegi der Caritas unterstützt.) Die Zauberlaterne zeigt pro Saison neun Filme, die jeweils grossen emotionalen Feldern gewidmet sind: Lachen, Angst, Traurigkeit, Träumen. Das Pro gramm besteht aus Werken aus drei unterschiedlichen Epochen der Film geschichte. Zum Jubiläum gibt es nun bis Ende September Gratisvorstel lungen in den Deutschschweizer Klub-Spielorten. Plätze kann man online reservieren – und diesmal dürfen auch die Erwachsenen mit. DIF

Klubmitgliedschaft für eine Saison zu gewinnen: Mail oder Postkarte bis am 23. Sept. mit Adresse und E Mail an info@surprise.ngo, Betreff «Zauberlaterne» bzw. an Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel. Die Gewinner*innen werden ausgelost und schriftlich benachrichtigt.

Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt. Ihre Adressdaten werden nicht an Dritte weitergegeben und ausschliesslich von Surprise verwendet.

Basel

Solo-Alone-in Solitude, interdisziplinäres

Kunstprojekt/Installation, Fr,

23. Sept., 18 bis 22 Uhr, Sa, 24. Sept., 14 bis 22 Uhr, So, 25. Sept., 14 bis 18 Uhr, Eintritt frei; Kaserne Basel, Klybeckstr. 1b. kaserne-basel.ch artlink.ch

Wir alle kennen Einsamkeit – egal, woher wir sind, wie alt wir sind, welche sexuelle Identität wir haben oder woran wir glauben: Vereinsa mung und soziale Isolation kann jeden Menschen treffen, die Pan demie hat es uns nochmals neu bewusst gemacht. Grundsätzlich ist die Einsamkeit aber auch eng mit dem Thema Armut verknüpft, denn ein Mangel an Geld führt sehr schnell zu seelischen Nöten und sozialem Rückzug. Sei es aus Scham- und Schuldgefühlen he raus oder auch schlicht, weil ohne Geld das Sozialleben empfindlich eingeschränkt werden muss. In Solo-Alone-in Solitude machen sich die unterschiedlichsten Men schen zwischen 10 und 85 Jahren gemeinsam mit einer interdiszip

Und jetzt? – LUNAX im Klimawandel, Fotoausstel lung, bis So, 2. Okt., Di bis Fr, 11 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr, So/So 11 bis 17 Uhr, Stadtmuseum Aarau, Schlossplatz 23; Eintritt frei; im Rahmen des Fotofestival Lenzburg. stadtmuseum.ch fotofestivallenzburg.ch

dabei sind unter anderen Annette Boutellier, die schon oft für Surprise fotografiert hat, und renommierte Fotograf*innen wie Caroline Min jolle, Marion Nitsch oder Marco Zanoni. Die Zeitung mit den Arbei ten kann man online bestellen: shop.neverstopreading.com. DIF

Birsfelden bei Basel Gilgamesh Origin, Theater, Do, 29. und Fr, 30. Sept., jeweils 20 Uhr; Deutsch, Englisch, Arabisch mit Über titeln; Theater Roxy, Muttenzerstr. 6. theater-roxy.ch

BILD(1): ZVG, BILD(2): DONATA ETTLIN, BILD(3): ANNETTE BOUTELLIER, BILD(4): ROB LEWIS

Seit Frühjahr 2021 arbeiten 13 Mit glieder des Fotograf*innenkollek tivs Lunax an einem grossangeleg ten gemeinsamen Projekt zum Thema Klimawandel. Es sind ein drückliche Arbeiten entstanden, die in Form einer Zeitung gedruckt sowie in verschiedenen Ausstel lungsformaten gezeigt werden. Die Bilder wollen Stereotypen wie die abgenutzte Darstellung des trauri gen Eisbären oder der verdorrten Erde ersetzen. Und dafür neue Er kenntnisse bringen und die foto grafischen Mittel dafür einsetzen, auch positive Massnahmen, Hal tungen und Gegenbewegungen zu dokumentieren. Ökologische Le bensführung, Biodiversität, nach haltige Mode, Gletscherschmelze, Naturverbundenheit, CO2-Ausstoss, globalisierter Konsum, Fliegen, Stadtbäume und Plastik sind die Themen, die in den einzelnen Ar beiten umgesetzt werden. Über den Klimawandel zu reden ist nicht nur dringend, sondern sollte erste Pri orität aller Regierungen, politischen Institutionen und Grosskonzerne sein, finden die Fotograf*innen. Mit

Gilgamesh ist ein Machtbesesse ner, ein Egoist. Mit seinem besten Freund Enkidu sucht er das Aben teuer, sie wollen in die Geschichte eingehen. Bis der eine tot ist und der andere sich auf die Suche nach Unsterblichkeit macht. Das Gilga mesh-Epos stammt aus dem ba bylonischen Raum und beinhaltet eine der ältesten überlieferten Dichtungen, 3500 Jahre alt. Nun ist es zum Ausgangpunkt der Zusam menarbeit zwischen zwei Theater teams geworden, das eine aus Ramallah, Palästina, das andere aus Bern. Zusammen erzählen sie Gilgamesh und reden dabei auch über sich selbst. Über Machtmiss brauch, Freundschaft, Liebe, Ver lust. Die Kooperation feierte im Juni in Bern Premiere und wird im Westjordanland und an weiteren Stationen im Nahen Osten touren.

DIF

Zweimal eine Freikarte für die Vorstellung von Fr, 30. Sept. zu gewinnen: Mail oder Postkarte bis am 23. Septem ber mit Adresse und E Mail an info@surprise.ngo, Betreff «Gilgamesh» bzw. an Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel. Die Gewinner*innen werden ausgelost und schriftlich benachrichtigt.

Über den Wettbewerb wird keine Korres pondenz geführt. Ihre Adressdaten wer den nicht an Dritte weitergegeben und ausschliesslich von Surprise verwendet.

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Pörtner in Seon

Surprise-Standort: Bahnhof

Einwohner*innen: 5365

Sozialhilfequote in Prozent: 3,8

Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 25,6

Anzahl Vereine: 45

Der Weg nach Seon führt zwischen Wiesen und Feldern hindurch, das alte, verwitterte Zementschild heisst einen willkommen. Der Bahnhof ist nicht viel mehr als eine Verkehrsinsel.

Die Ladenstrasse befindet sich im Unter dorf, neben dem Coiffeur ist die Papeterie eingemietet, am Eingang befestigt ist das Anschlagbrett des Vogel- und Naturschutzvereins mit dem Jahresprogramm. In der Wohnung darüber wohnen Leute, die dem Eishockeyclub Davos zugetan sind, wie die Fahne am Balkon zeigt. Nicht gerade die naheliegendste Verbindung, weder geografisch noch meteorologisch, denn es ist Sommer und heiss. Was sich wahrscheinlich auch auf den Absatz der im Restaurant unten angepriesenen Pouletflügeli auswirkt, trotz der als legendär bezeichneten, aber wenig fantasievoll benannten Pouletsauce.

Das Innendekorationsgeschäft bietet neben Vorhängen und einer Polsterei auch einen speziellen Bequemsattel für Motorräder an, eine schnittige Renn maschine ziert das Schaufenster. Ein erfolgversprechendes Produkt ange sichts der zahllosen älteren, übergewichtigen Motorradfahrer (in dieser Konstellation fast ausschliesslich Männer), die zu dieser Jahreszeit über die Bergstrassen knattern, unbeein druckt vom steigenden Benzinpreis.

Zwischen Metzgerei und Drogerie hängt eine dieser Holztafeln, die von der Geburt einer Tochter künden. Das Kind ist inzwischen bald zwei Jahre alt, als Symboltier wurde die Schildkröte gewählt. Einem anderen Kind, einem Buben, ist eine Micky-Maus gewidmet und ein riesiger violetter BMW in Frontansicht. Eine Minnie-Maus trägt

den Namen eines Kindes, das inzwischen eingeschult wurde. Ein Bänklein steht einsam auf einem Kiesplatz, dahinter ein junger Baum, der seinen schmalen Schatten in die falsche Richtung wirft. Auf der Wiese stehen eine verrostete Druck presse und ein Turm, von dem einst ganz viele Drähte abgingen, die Halterungen sind noch da, die Drähte verschwunden, trotzdem herrschen noch Hochspannung und Lebensgefahr.

Im Sternenkeller darf man rauchen, der MS Möbeloutlet hingegen steht leer, dafür gibt es ein kleines Brockenhaus, das Betriebsferien hat. In Seon können nicht nur Briefe und Pakete auf dem Postweg versandt werden, der Postweg lässt sich auch begehen und führt zum «flow life center», wo Yoga und Reiki praktiziert werden.

Die etwas verlassen wirkende Bäckerei bietet türkische Spezialitäten an, aber auch Butterzöpfe, die müssen allerdings vorbestellt werden.

Zur Saison passt das Schaufenster des grossen Sportgeschäfts, in dem Standup-Paddles stehen, nicht weit von hier befindet sich der Hallwilersee, an dem sich vermutlich ein Teil der Dorf bevölkerung befindet, um der Hitze zu entfliehen. Ausserdem bietet das Geschäft Wanderausrüstung an und wie es aus sieht, eine grosse Auswahl an knielangen sogenannten Freizeithosen in allen Farben sowie natürlich Laufschuhe, denn bald findet der Staufberglauf statt. Wer sich dabei verletzt oder überanstrengt, kann sich gleich nebenan in der Physio therapie kurieren lassen.

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht

Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

Tour de Suisse
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Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

01 02

AnyWeb AG, Zürich

Gemeinnützige Frauen Aarau Dipl. Steuerexperte Peter von Burg, Zürich Itsmytime.ch, Stefan Küenzi, Berlingen Beat Vogel - Fundraising-Datenbanken, Zürich Stadt Illnau-E retikon

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau hervorragend.ch | Grusskartenshop debe bijouxtextiles Bern

10

12

Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti Sterepi, Trubschachen TopPharm Apotheke Paradeplatz Ref. Kirche, Ittigen Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich Madlen Blösch, Geld & so, Basel

Fontarocca Natursteine, Liestal Maya-Recordings, Oberstammheim tanjayoga.ch – Yoga in Lenzburg & Online

Scherrer & Partner GmbH, Basel

21

Brother (Schweiz) AG, Dättwil Breite-Apotheke, Basel

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA

Das Programm

Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit.

Wie wichtigist Ihnen Ihre Unabhängigkeit?

Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.

Eine von vielen Geschichten

Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 48-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor über 10 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg.

«Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende

25

Michael Lüthi Gartengestaltung, Rubigen Kaiser Software GmbH, Bern Cornelia Metz, Sozialarbeiterin, Chur

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?

Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.

Spendenkonto:

IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Surprise, 4051 Basel

Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung.

Kontakt: Caroline Walpen

Team Marketing, Fundraising & Kommunikation

T +41 61 564 90 53 I marketing@surprise.ngo

Derzeit unterstützt Surprise 21 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Spendenkonto:

Unterstützungsmöglichkeiten:

· 1 Jahr: 6000 Franken

· ½ Jahr: 3000 Franken

· ¼ Jahr: 1500 Franken

· 1 Monat: 500 Franken

· oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

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Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!

Die ganze Geschichte lesen Sie unter:
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AB 500.– SIND SIE DABEI!
surprise.ngo/surplus

Wir alle sind Surprise

#Strassenma g azin

«Beschäftige mich lieber mit Positivem»

Heute habe ich zum ersten Mal dem mega-sympathischen Verkäufer in Ittigen ein Surprise abgekauft. Leider kann ich das Magazin nicht wirklich lesen, weil es so fest deprimierend ist. Ist das immer so? Wäre es nicht von Vorteil, positive Geschichten zu erzählen über die Leute, denen Surprise hilft? Ich bin eine berufstätige Mutter, welche sich in ihrer bescheidenen Freizeit lieber mit Positivem beschäftigt. Mir ist bewusst, dass das nicht immer der Realität entspricht, aber als Marketingfachfrau denke ich, es hilft den Verkäufer*innen eine höhere Menge abzusetzen, wenn positive Geschichten erzählt werden. Danke für die tolle Arbeit, die Sie leisten!

«Es schockiert mich immer wieder»

Seit der Pandemie kaufe ich Surprise, wann immer ich die Gelegenheit dazu habe. Die Verkäufer*innen – ich beziehe es von verschiedenen – sind immer so freundlich und sympathisch. Und die Inhalte der Hefte finde ich jedes Mal sehr interessant, gut recherchiert, und es schockiert mich immer wieder, wie schlecht unser System mit Randständigen und Menschen in Armut umgeht. Dieses Nach-unten-Treten muss ein Ende haben! Mehrere Kolumnen gehören inzwischen zu meinen Favoriten. Daher ein anerkennendes «weiter so!» Und übrigens: ich find’s toll, dass ihr den Genderstern benutzt.

Imp ressum

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#524: Durch den Urwald «Erweitern den Horizont»

Mit grossem Interesse habe ich die Artikel in der Ausgabe 524/22 von Surprise gelesen und kann Ihrem Editorial nur zustimmen, dass die Lektüre von Surprise immer und gerade auch bei dieser Ausgabe mit dem Beitrag zur Migration (Der venezolanische Traum), aber auch zur 24-Stunden-Pflege (Pflege rund um die Uhr) Einblicke gewährt, die meinen Horizont sehr erweitern, auch wenn manche Aspekte leider auch sehr bedrückend sind. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich die Dame, welche das Surprise-Magazin verkauft, vor der Migros am Toblerplatz in Zürich Fluntern treffe. Ihr Strahlen und ihre Freundlichkeit sind ein Lichtblick. Vielleicht finden Sie einmal die Möglichkeit, sie im Surprise zu porträtieren.

Ständige Mitarbeit

Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe

Julia Demierre, Nicolas Gabriel, Lukas Gilbert, Dina Hungerbühler, Alisa Müller, Katja Tähjä

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«Die Schweiz ist Heimat geworden»

«Kaufen, kaufen, nicht vorbeilaufen! Mit solchen Reimen bringe ich meine Kund*innen zum Schmunzeln. Wenn ich auf dem Markt am Helvetiaplatz Surprise-Hefte verkaufe, rufe ich auch manchmal: Bio-Surprise, Bio-Surprise! Auch dann lachen die meisten Leute um mich herum. Es macht mir Freude, mein Umfeld zu unterhalten. Viele Leute haben auch Freude an meinen bunten, traditionell eritreischen Gewändern. Bei meiner Kundschaft bin ich daher bekannt als ‹Teklit mit den lustigen Verkaufssprüchen und den farbigen Kleidern›.

Allerdings bin ich nicht immer zum Spassen aufgelegt. Manch mal schmerzt mein Knie so fest, dass ich ganz still werde. An solchen Tagen schätze ich meine Stammkund*innen. Sie erkundigen sich nach meinem Befinden, muntern mich auf und kaufen Surprise auch ohne Witze und Reime. Seit meinem Unfall – ich wurde in Eritrea von einem Auto angefahren –kann ich mein rechtes Knie nicht mehr richtig beugen. Es wurde schon neun Mal operiert, sieben Mal in Eritrea und zwei Mal in der Schweiz; doch bisher ohne grosse Besserung. Wahrschein lich werde ich mein Leben lang mit den Schmerzen klarkom men müssen.

Ich bin froh, dass ich trotz meinen Knieproblemen einer beruflichen Tätigkeit nachgehen kann. In Eritrea lebten wir von unserem Garten, und wenn ich gerade keine Schmerzen hatte, half ich meiner Schwester in ihrem Restaurant aus. Davon konnte ich gut leben, und meine kurzen Arbeitseinsätze im Restaurant wurden von der Familie sehr geschätzt. In der Schweiz jedoch bist du mit einer körperlichen Beeinträch tigung zu langsam für den Arbeitsmarkt. In meinen ersten Jahren in der Schweiz habe ich versucht, in Restaurants oder in der Reinigung zu arbeiten. Irgendwann wurden die Schmerzen jedoch so stark, dass ich für diese Jobs nicht mehr genügend ‹belastbar› war. So suchte ich nach einer Arbeit, die ich trotz Schmerzen ausüben kann. Zum Glück erzählte mir ein Freund von Surprise.

Nun bin ich schon neun Jahre für Surprise tätig. Beim Hefte verkauf kann ich flexibel arbeiten, und wenn ich einen plötzlichen Schmerzanfall habe, zeigen meine Kund*innen grosses Verständnis. Ich mag das Verkaufen sehr, doch leider verdiene ich nicht immer genügend Geld, um die Lebensunter haltskosten für mich und meine Familie zu decken. Neben mei nen Schmerzen belastet mich das fast am meisten. Zudem stellt die fehlende finanzielle Unabhängigkeit ein grosses Hin dernis für meine Einbürgerung dar. Ich lebe und arbeite seit vierzehn Jahren in der Schweiz, meine drei Kinder sind hier ge boren. Die Schweiz ist zu unserer Heimat geworden. Ich würde mich gerne einbürgern lassen und hoffe, dass mein Arbeitsund Integrationswille von den Behörden trotz fehlender finanzi eller Unabhängigkeit anerkannt wird.

Lange beschäftigte mich auch unsere Wohnsituation. Wir lebten in einem sehr alten Haus in Wollishofen. Die Wände waren schimmlig, aber wenigstens hatten wir genügend Platz und konnten die Miete bezahlen. Ich habe immer wieder nach anderen Wohnmöglichkeiten in der Umgebung gesucht, aber nichts Bezahlbares gefunden. Als uns der Mietvertrag nicht mehr verlängert wurde, hatte ich Angst, dass wir keine neue Wohnung finden würden. Ich kannte ja die Situation auf dem Zürcher Wohnungsmarkt. Nun haben wir vor Kurzem aber doch noch eine passende Wohnung gefunden – Gott sei Dank!

Wenn solche Sorgen überhandnehmen, fahre ich mit meiner Familie in die Stadt und zeige ihnen die vielen schönen Orte in Zürich. Diese Ausflüge helfen mir, den Kopf freizubekommen. Und nicht selten laufen wir bei unseren Spaziergängen an einer Person vorbei, die mich als den ‹Mann mit den lustigen Verkaufssprüchen und den bunten Kleidern› erkennt. Solche Begegnungen muntern mich zusätzlich auf. Es kam schon vor, dass mir jemand im Witz nachrief: ‹Kaufen, kaufen, nicht vorbeilaufen!› Dann war ich es, der schmunzelte.»

Teklit Tekeste, 40, verkauft Surprise am Klusplatz, bei der Migros Brunau und am Markt beim Helvetiaplatz in Zürich. Er ist leiden schaftlicher Orgelspieler.
30 Surprise 533/22 Surp rise-Porträt
FOTO: BODARA
Surprise 000/22 31 Lebensfreude Zugehörigkeitsgefühl EntwicklungsmöglichkeitenUnterstützung ExpertenrolleJob SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12 551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Solidaritätsgeste Erlebnis Perspektivenwechsel Kultur Entlastung Sozialwerke Information BEGLEITUNG UND BERATUNG STRASSENFUSSBALL CAFÉ SURPRISE SOZIALE STADTRUNDGÄNGE STRASSENCHOR STRASSENMAGAZIN Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise IN AARAU Schützenhaus | Sevilla IN ARLESHEIM Café Einzigartig IN BACHENBÜLACH Kafi Linde IN BASEL Bäckerei KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet | Bioladen Feigenbaum | Bohemia | CaféBar Elisabethen | Flore | frühling | Haltestelle | FAZ Gundeli | Oetlinger Buvette Quartiertreffpunkt Kleinhüningen | Quartiertreffpunkt Lola | Les Gareçons to go | L‘Ultimo Bacio | Didi Offensiv | Café Spalentor | HausBAR Markthalle Shöp Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite | Wirth‘s Huus IN BERN Äss-Bar Länggasse & Markt gasse | Burgunderbar | Hallers brasserieCafé Kairo | Café MARTA | Café MondiaL Café Tscharni | Lehrerzimmer | Lorraineladen | Luna Llena | Brasserie Lorraine Dreigänger | Generationenhaus Löscher | Sous le Pont | Rösterei | Treffpunkt Azzurro | Zentrum 44 | Café Paulus Becanto | Phil’s Coffee to go IN BIEL Äss-Bar Inizio | Treffpunkt Perron bleu IN BURGDORF Bohnenrad | Specht IN CHUR Café Arcas Calanda | Café Caluori Gansplatz | Giacometti | Kaffee Klatsch | Loë | Merz Punctum Apérobar | Rätushof Sushi Restaurant Nayan | Café Zschaler IN DIETIKON Mis Kaffi IN FRAUENFELD Be You Café IN LENZBURG Chlistadt Kafi | feines Kleines IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer IN LUZERN Jazzkantine zum Graben | Meyer Kulturbeiz & Mairübe | Blend Teehaus | Bistro & Restaurant & Märkte Quai4 Pastarazzi | Netzwerk Neubad | Sommerbad Volière | Restaurant Brünig | Arlecchino IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad IN RAPPERSWIL Café good IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz IN STEIN AM RHEIN Raum 18 IN ST. GALLEN S’Kafi IN WIL Caritas Markt IN WINTERTHUR Bistro Dimensione Bistro Sein IN ZUG Bauhütte | Podium 41 IN ZÜRICH Café Noir Zähringer | Cevi Zürich | das GLEIS | Kiosk Sihlhölzlipark Quartiertreff Enge Quar tierzentrum Schütze | Flussbad Unterer Letten | jenseits im Viadukt | Kafi Freud Kumo6 | Sport Bar Cafeteria | Zum guten Heinrich Bistro
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