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Apartheid Blick zurück

Pia Zanetti dokumentierte 1968 die Schrecken des staatlichen Rassismus in Südafrika. Ein Fotoessay.

Seite 8

Strassenmagazin Nr. 570 1. bis 14. März 2024
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VOM OBDACHLOSEN ZUM

Was wir sehen (wollen)

Seit über 60 Jahren ist die Schweizerin Pia Zanetti als Fotoreporterin unterwegs und hat unzählige Reportagen über soziale und politische Themen für internationale Printmedien realisiert. 1968 war sie in Südafrika – und schockiert darüber, was «Apartheid» im Alltag wirklich hiess. Für die Menschen, die in dieses System gezwungen wurden. Zanetti bewahrt sich bis heute den empathischen Blick, sieht ihr Gegenüber als Individuum, interessiert sich für die, denen sie begegnet.

Vor 30 Jahren, 1994, endete das Apartheidregime. Wir wagen den Blick zurück: Zusammen mit Zanetti haben wir Bilder ihrer historischen Reportage aus Südafrika von 1968 als Bildessay aufbereitet. Ihre damaligen Gegenüber begegnen durch die Bilder so nun auch uns, den Betrachter*innen, ab Seite 8.

In den Wintermonaten sorgen sich viele, die mit Obdachlosigkeit zu tun haben, darum, ob es wohl alle auf der Strasse durch die Kälte schaffen. Denn manchmal verstirbt jemand, still und leise.

Nicht immer ist die Todesursache eindeutig feststellbar, oft greifen gesundheitliche Probleme, Suchterkrankungen und die Lebenssituation auf der Strasse so ineinander, dass es tödlich enden kann. Wir haben die Meldungen unserer Kolleg*innen der Hamburger Strassenzeitung Hinz&Kunzt zum Anlass genommen, uns auch nach der Situation in der Schweiz zu erkundigen. Lesen Sie unser Dossier zum Tod auf der Strasse ab Seite 14.

Auch Luca ist gestorben. Er ist einer, den viele gesehen, aber nicht gekannt haben. Er war oft am Bahnhof Bern anzutreffen, am sogenannten Rand der Gesellschaft. Redaktionskollege Klaus Petrus suchte den Menschen in ihm und hat ihn schnell gefunden. Im Kennenlernen fängt die Menschlichkeit an, im Wegsehen die Stereotypisierung, schreibt er ab Seite 18

4 Aufgelesen

5 Na? Gut! Schliessfächer für Obdachlose

5 Vor Gericht

Der unwillige Staat

6 Verkäufer*innenkolumne Mit dem Leben davongekommen

7 Die Sozialzahl Politische Ökonomie des Vorübergehenden

8 Fotoessay Apartheid und Alltag

14 Obdachlosigkeit Auf den Spuren des Verstorbenen

17 Körperlich zehrend

18 Mensch statt Stereotyp

20 «Trauerfeiern sind auch Lebensfeiern»

22 Vereinsbeitrag Drei Leben im Buch

24 Theater Rückzug ins Private

25 Buch Fluchtwege

26 Veranstaltungen

27 Tour de Suisse Pörtner in Arlesheim

28 SurPlus Positive Firmen

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

30 Surprise-Porträt «Der Schmerz wird immer bleiben»

Surprise 570/24 3 Editorial
TITELBILD: PIA ZANETTI
DIANA FREI Redaktorin

Auf g elesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Knapp davongekommen

Marija Janković (Zaječar, 1978) ist eine serbische Malerin, Kunstfotografin, Fotojournalistin und Autorin zahlreicher Fotoessays. Ihre Arbeit «War Story» entstand 2005. Darin hinterfragt sie die Stereotypen von Kriegsbildern. «Zu jedem Krieg gehören spezifische mediale Narrative. Obwohl die Aufgabe von Reporter*innen eigentlich darin besteht, ein objektives Bild zu zeichnen, haben sie oft nur einen minimalen Einblick in die Situation vor Ort. Gleichzeitig sind sie unter Druck auf der Suche nach besonderen Aufnahmen. Dabei greifen sie oft auf historische Bilder zurück, die den Test durch Publikum und Medien bereits bestanden haben. Daher erscheint es so, als hätten wir viele aktuelle Kriegsbilder bereits gesehen, als seien sie uns vertraut. Die Fotos in ‹War Story› sind keine direkten Kopien ikonischer Kriegsfotografien, sie handeln von Gefühlen beim Betrachten von Kriegsfotografien in Zeiten visueller Überproduktion.»

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LICEULICE, BELGRAD

Na? Gut!

Schliessfächer für Obdachlose

Was Basel und Bern bereits kennen, gibt es jetzt auch in Berlin. Schliessfächer, in denen wohnungs­ und obdachlose Menschen ihre Sachen gratis und sicher deponieren können. In Basel stehen sie beim Tageshaus für Obdachlose der Stiftung Sucht, in Bern beim Aufenthaltsraum Punkt 6 der städtischen Stelle Pinto.

Und nun also die erste Schliessfachstation für Obdachlose in Berlin: Laut Berliner Morgenpost befindet sie sich im Bezirk Reinickendorf, bei der Firma Home & Care, die in Berlin fünf Wohnheime mit 1200 Plätzen für wohnungs­ und obdachlose Menschen unterhält. Die achtzehn Schliessfächer – kleinere für Ausweise und Dokumente, grössere für Schlafsäcke oder Kleidung – können gratis und ohne zeitliche Limite genutzt werden. Der Code dafür kann bei einer benachbarten Sozialstelle angefragt werden, ein Handy braucht es für den Zugang nicht.

Verloren gehen Ausweis und Krankenkassenkarte beispielsweise dann, wenn Menschen ihre Papiere in ihrem Basislager verstecken und sie – während sie tagsüber unterwegs sind – ausgeraubt werden oder wenn ein Ordnungsamt ihr Lager als «illegale Müllansammlung» räumen lässt.

Auch in Zürich fordern Grüne und die Alternative Liste in einem Postulat kostenlose Schliessfächer an zentralen Orten für Menschen ohne Wohnung oder Obdach. Die Schliessfächer an den Bahnhöfen seien für sie zu teuer, zu klein und könnten oft nicht genug lange gemietet werden. LEA

Vor Gericht

Der unwillige Staat

Nach einem langen Prozesstag am Zürcher Obergericht ist ein weiteres Kapitel in dem inzwischen seit fünfzehn Jahren andauernden Verfahren um die Polizeigewalt gegen Wilson A.* geschrieben. Es wird nicht das letzte sein. Vor dem Gerichtsgebäude kündigt sein Anwalt vor den Medien an, den soeben ergangenen Freispruch des damaligen Einsatzleiters ans Bundesgericht und notfalls bis nach Strassburg weiterzuziehen.

Wilson A. selbst, für den eine Personenkontrolle 2009 mit einer Vielzahl von Verletzungen endete, sagt zu seinen zahlreich erschienenen Unterstützer*innen: «Wir haben nichts anderes erwartet. Aber das ist erst der Anfang. Wir kämpfen weiter.» – «No Justice! No Peace!», skandiert die Menge.

Polizeigewalt ist ein aufgeladenes Thema, insbesondere im Zusammenhang mit Racial Profiling. Den Fall Wilson A. gäbe es nicht, wäre der Mann nicht Schwarz. Das erstinstanzlich zuständige Bezirksgericht hatte die Kontrolle als zulässig eingestuft und die Polizisten freigesprochen, weil eine Fahndung nach einem dunkelhäutigen Mann lief, als sie Wilson A. spätabends im Tram kontrollierten. Die Situation sei ausgeartet, weil dieser äusserst aggressiv reagierte – sodass die dreiköpfige Patrouille gar nicht anders konnte, als durchzugreifen.

Die Stimmung am Berufungsprozess war gereizt. Da war das höhnische Lachen im Publikum, als der Polizeikommandant sagte, das lange Verfahren belaste ihn. Da war der Gerichtsvorsitzende, der in scharfem Ton Ruhe anmahnte. Das hier sei ein juristisches Verfahren, kein politischer Prozess. Mehrmals drohte er, den Saal räumen zu lassen. Am lautesten war das Raunen im Saal nicht einmal, als der erneute Freispruch verkündet wurde – sondern als dem Patrouillenführer auch noch 48 000 Franken Entschädigung zugesprochen wurden.

Juristisch mag der Freispruch vertretbar sein. Gut möglich, dass die Beamt*innen Wilson A. mit dem Mann auf dem Fahndungsfoto verwechselten. Glaubhaft ist auch, dass er sich bei der Kontrolle nicht kooperativ verhielt. Stossend und frustrierend ist die Sache trotzdem. Wenn ein Mensch bei einer simplen Kontrolle schwer verletzt wird, war es bestimmt auch keine vorbildliche, sprich: deeskalierende Polizeiarbeit.

An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen.

Gegen dieses Urteil legte Wilson A. Berufung ein – er verlangt, dass der Einsatzleiter wegen versuchter eventualvorsätzlicher Tötung und Amtsmissbrauch zur Verantwortung gezogen wird. Die Freisprüche der ihm untergebenen Beamten akzeptierte er.

Der Fall zeigt den Unwillen des Staates, Vorgänge wie an jenem Abend sauber aufzuklären. Zwei Mal wollte die Staatsanwaltschaft den Fall einstellen – einmal wurde sie vom Obergericht Zürich zurückgepfiffen, einmal vom Bundesgericht. Dieser Unwille setzt sich an den Gerichten fort. Wiederholt haben die Gerichte in diesem Fall nun gesagt: Es geht nicht um Racial Profiling – Rassendiskriminierung sei vorliegend gar nicht eingeklagt. Derweil sie aber alle Beweisanträge ablehnen, simpelste Überprüfungen, die vielleicht genau das nachweisen würden. So bleibt wohl oder übel der Eindruck, dass es Themen gibt, vor denen der Staat die Augen verschliesst.

YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

* persönliche Angaben geändert

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Verkäufer*innenkolumne

Mit dem Leben davongekommen

In der Silvester-Neujahrsnacht am Morgen um 2 Uhr stand mein Balkon voll in Brand. Grund: Feuerwerkskörper entzündet. Von unbekannten Drittpersonen.

Wurde aus dem Tiefschlaf geweckt. Zwei junge Männer hantierten auf meinem Balkon mit Feuerlöscher. Wohne im Hochparterre.

Wahrscheinlich zwei Männer von den Verkehrsbetrieben Zürich, die im nahegelegenen Depot einen Feuerlöscher geholt haben und heraufgeklettert sind.

Sie riefen mir zu: «Aufstehen, es brennt!»

Verliess die Wohnung innerhalb von drei Minuten, um einer Rauchvergiftung zu entgehen. Nachttisch war schon angesengt.

Feuerwehr, Polizei, Ambulanz waren alle schon anwesend. Stand unter Schock. Wurde von der Ambulanz untersucht.

Versuchte, gelassen zu bleiben, beleidigte trotzdem eine Person von der Ambulanz. Konnte mich allerdings entschuldigen. War enorm wichtig.

Weiss nicht, wer diesen Feuerwerkskörper entzündet hat. Wer die ganze Rettung kontaktiert hat. Werde ich nie erfahren.

Stimmung beim Feiern kippt schnell in Unberechenbarkeit. Spüre das oft an meinem Wohnort: an Silvester Feuerwerk, an Fussballmatches Pyros.

Dank dem ehrenwerten Hauswart Peter Krieg durfte ich am Sonntag, 7. Januar in

die Wohnung Nr. 14 im selben Haus einziehen. Hausverwaltung hat mich nicht im Stich gelassen.

Lebe noch, ist das Wichtigste.

Nachdenklichkeit über Passiertes wird bleiben.

HANS RHYNER, 69, verkauft Surprise in Zug und Schaffhausen und macht soziale Stadtrundgänge in Zürich. Er fragt sich, wo es absolute Sicherheit gäbe. Wahrscheinlich nicht einmal im Kloster, denkt er sich.

Die Texte für diese Kolumne werden in gemeinsamen Workshops von sozialer Arbeit und Redaktion erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

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ILLUSTRATION: HELENA HUNZIKER

Politische Ökonomie des Vorübergehenden

Die «Babyboomer» bereiten der Alterspolitik Probleme. Sie werfen Fragen nach der Finanzierbarkeit der Altersvorsorge auf, und es ist unklar, wer sie dereinst betreuen und pflegen wird. Der Eindruck, dass dies immer so weitergehen wird, dominiert die Debatte und provoziert radikale Vorschläge zur Eindämmung dieser Dynamik. Die einen wollen das Rentenalter von einem Algorithmus steuern lassen, die anderen setzen in der Altersarbeit auf KI und Robotik.

In der Schweiz zählen zu den Babyboomern die Jahrgänge zwischen 1946 und 1964. Die damals Geborenen sind heute zwischen 60 und 78 Jahre alt. 2040 werden sie zwischen 76 und 94 Jahre alt sein, 2050 zwischen 86 und 104 Jahren. Allein schon diese Projektionen machen deutlich, dass sich die Herausforderungen für die Alterspolitik und Altersarbeit nicht auf alle Zeiten stellen, sondern vor allem für die nächsten 25 Jahre.

Danach wird die Schweiz in einen Prozess der Verjüngung übergehen. Auch im demographischen Referenzszenario des Bundesamtes für Statistik ist dieser Kipppunkt bereits erkennbar.

Während der Anteil der älteren Menschen über 80 Jahre sich bis 2050 deutlich erhöht, nimmt jener der 65­ bis 79­Jährigen zwischen 2040 und 2050 bereits wieder um einen Prozentpunkt ab. Das wird sich dann in den folgenden Jahren fortsetzen.

Was heisst das für die Alterspolitik und die Altersarbeit?

Wir müssen über eine politische Ökonomie des Vorübergehenden nachdenken. Zum Beispiel könnte in der AHV eine Erhöhung der Lohnprozente für gut Verdienende an den Stand des AHV­Ausgleichsfonds gebunden werden. Diesen Mecha­

Anteil der Altersgruppen an der ständigen Wohnbevölkerung (in %)

nismus kennt die Arbeitslosenversicherung (ALV) bereits. Dort wurde seit 2011 ein Solidaritätsprozent auf hohe Lohneinkommen abgezogen, um die angewachsenen Schulden abzubauen. Inzwischen geht es der ALV so gut, dass zu Beginn des letzten Jahres dieser Abzug wieder gestrichen werden konnte. Ähnliches wäre auch bei der AHV denkbar, auch wenn ein wichtiger Unterschied zwischen den Finanzierungsmodi dieser beider Sozialversicherungen nicht verschwiegen werden darf: In der ALV ist der abzugspflichtige Lohn gedeckelt, in der AHV ist dem nicht so.

In der Altersarbeit stellen sich personelle und infrastrukturelle Fragen. Vieles spricht dafür, die Attraktivität der betreuerischen und pflegerischen Berufe vorübergehend deutlich zu steigern. Auch hier gibt es Beispiele aus der Vergangenheit. So erzielten Fachleute aus dem IT­Bereich in den 1990er­Jahren Rekordsaläre, weil es nicht viele mit diesen Qualifikationen gab. Inzwischen hat sich die Sache beruhigt und lohnmässig angeglichen.

Wer heute ein neues Pflegeheim bauen will, muss sich bewusst sein, dass dieses in drei Dekaden nicht mehr gebraucht werden könnte. Entsprechend sollte die Architektur solcher Einrichtungen so gestaltet sein, dass sie einer anderen Nutzung zugeführt werden könnten.

Wir müssen die politische Ökonomie des Vorübergehenden erst noch lernen. Manche Debatten würden dann entspannter verlaufen, auch wenn der politische Zyklus einen viel kürzeren Zeithorizont abdeckt.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Surprise 570/24 7 2020 2030 2040 2050 8,5 % 7,0 % 5,4 % 19,9 % 26,3 % 34,9 % 13,5 % 20,0 % 19,6 % 23,4 % 32,6 % 24,4 % 33,4 % 15,1 % 15,9 % 19,3 % 23,2 % 31,9 % 14,9 % 10,6 % <20 20–39 40–64 65–79 80+ INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK: ZAHLEN ZUR DEMOGRAPHISCHEN ENTWICKLUNG DER SCHWEIZ Die Sozialzahl

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«Manchmal ist der erste Eindruck der beste»

Fotoessay Als weisse Frau dokumentierte sie den Alltag der Schwarzen Bevölkerung zur Zeit der Apartheid in Südafrika. Pia Zanetti, Pionierin der Schweizer Reportagefotografie.

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FOTOS PIA ZANETTI TEXT KLAUS PETRUS
Hochzeit in Johannesburg, der Hauptstadt Südafrikas (1), Haushaltausbildung für junge Schwarze Frauen (2), Minenarbeit in Roodepoort (3): Für die Schweizer Fotografin war der Zugang zu dieser von Weissen abgetrennten Welt nicht immer einfach. 2
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1968 – es sollten noch 26 Jahre vergehen, bis in Südafrika die Apartheid offiziell abgeschafft und mit Nelson Mandela erstmals ein Schwarzer Präsident gewählt wurde. Die damals 25-jährige Fotografin Pia Zanetti war mit ihrem Mann, dem Journalisten Gerardo Zanetti, für eine Reportage in Südafrika unterwegs. Dass die Apartheid existierte, wusste Zanetti freilich; dennoch schockierten sie die Umstände, unter denen die Schwarze Bevölkerung leben musste. Diese zu dokumentieren, erwies sich jedoch als schwierig – vor allem für eine Frau, zumal eine weisse. «Wir wollten über die Arbeitsbedingungen in den Minen berichten, doch da hiess es: Eine Frau in einer Mine bringt bloss Unglück. Schliesslich konnte ich meine Bilder doch noch machen, aber es brauchte viel Überzeugungskraft», erinnert sich Zanetti. Überhaupt war es für weisse Journalist*innen nicht leicht, Kontakt mit der Bevölkerung aufzunehmen: «Gespräche auf der Strasse dauerten höchstens ein paar Minuten, dann stand die Polizei bei uns.» Das hielt sie aber nicht ab, Bilder zu machen, zu berichten. «Manchmal ist es gut, wenn man länger dableibt oder wieder und wieder an dieselben Orte zurückkehrt. Und manchmal ist der erste Eindruck der beste, weil er noch frisch ist und direkt.»

Zanetti machte sich bereits in den 1960er- und 70er-Jahren einen Namen als Reportagefotografin. Damals war die Medienwelt – noch mehr als heute – von Männern dominiert. Tatsächlich wurde sie anfänglich nicht ernst genommen. Als Zanetti in Rom lebte, nannten ihre Kollegen sie liebevoll «Virgoletta», kleines Komma. «Mit der Zeit respektierten sie die Hartnäckigkeit, mit der ich Geschichten erzählen wollte», sagt Zanetti. Auch sei ihr Geschlecht nicht immer von Nachteil gewesen. «In vielen Regionen dieser Welt, in afrikanischen Ländern etwa oder im Nahen Osten, ist es fremden Männern untersagt, sich länger mit Frauen zu unterhalten oder sich nur schon dort aufzuhalten, wo Frauen sind. Ich dagegen hatte diesen Zugang.» Über die Jahre entstanden Reportagen aus ganz Europa, aus den USA und aus Mittel- sowie Lateinamerika, später arbeitete Zanetti für verschiedene NGOs in Indien, Laos oder Vietnam. Heute gilt sie als Pionierin der Schweizer Reportagefotografie.

Hintergründe im Podcast: Radiojournalist Simon Berginz spricht mit Pia Zanetti. surprise.ngo/talk

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PIA ZANETTI, 80, fotografiert seit über 60 Jahren, ihr Schwerpunkt liegt auf politischen und sozialen Themen. Sie absolvierte die Fotoklasse der Kunstgewerbeschule Basel, lebte in Rom und London und ist Beraterin von «Fairpicture». Zuletzt ist von ihr erschienen: Pia Zanetti (Edizioni Periferia, Luzern/ Poschiavo 2023).

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FOTO: ZVG 7
6 Pia Zanetti wusste zwar vom System Apartheid und dem von Weissen dominierten Südafrika (4). Was jedoch ein Leben unter solchen Bedingungen für die Schwarze Bevölkerung bedeutete, erfuhr sie erst vor Ort, als sie deren Alltag dokumentierte (5), die Arbeit in den Minen (6) und das Leben in Soweto, südwestlich der Industriemetropole Johannesburg (7).

Szenen aus Johannesburg, einmal im Bus (8), ein andermal an der Universität (9). Am schwierigsten war es für Jugendliche in den Homelands (10), dazu Pia Zanetti: «Ich musste beim Anblick dieses Jungen an ein Bild von Leni Riefenstahl denken, die auch für die Propaganda der Nazis arbeitete. Ich traute mich deswegen nicht abzudrücken. Da sagte mein Mann Gerardo: ‹Drück ab, wir sind die Einzigen hier.› Mit anderen Worten: Niemand wird das alles sehen, wenn du die Bilder nicht machst.»

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Obdachlosigkeit Es gibt keine systematische Erfassung von Todesfällen auf der Strasse, weder in Deutschland noch in der Schweiz.

Wenn niemand hinschaut, drohen manche Leben unbemerkt zu verschwinden.

Sein Name war Daniel

Ein Mann wurde Ende November tot in einem Garagenhof im Hamburger Stadtteil Billstedt gefunden.

Das Strassenmagazin Hinz&Kunzt wollte wissen: Wer war der Mann?

TEXT LUCA WIGGERS

Braune Garagentore säumen die Kreuzung, an der die Dringsheide und der Schiffbeker Weg im Stadtteil Billstedt aufeinandertreffen. Um den Garagenhof herum stehen Wohnhäuser aus rotem Backstein. Am 26. November 2023 ist hier in einem Hof ein Obdachloser gestorben. In der Nacht zuvor waren die Temperaturen unter den Gefrierpunkt gefallen. Da die Staatsanwaltschaft keine Obduktion veranlasst hat, ist nicht auszuschliessen, dass der Mann erfroren ist. Fest steht: Er ist einer von mindestens sechzehn Obdachlosen, die im vergangenen Jahr auf Hamburgs Strassen gestorben sind. Der Mann war 52 Jahre alt und rumänischer Staatsbürger – mehr gibt die Polizei auf Nachfrage nicht bekannt. Auch wie er aufgefunden wurde, ob Angehörige ausfindig gemacht werden konnten und wo er bestattet wird, verrät die Polizei nicht. Wer war der Obdachlose, der einsam mitten in einer Wohngegend starb?

An diesem letzten Freitag des Jahres 2023 regnet es in Strömen. An einer Tankstelle am Schiffbeker Weg beginnt die Suche. Mitarbeiterin Katrin Pohlmann nickt sofort, als sie auf den verstorbenen Obdachlosen angesprochen wird. Sie wisse, um wen es geht: «Er hat oft gegenüber in der Bushaltestelle gesessen oder vor dem Rewe nebenan» – der Filiale einer deutschen Supermarktkette. Auch wo er gefunden wurde, wisse sie, sagt die Tankwartin. Ihr Mann habe gesehen, dass da jemand gelegen habe und die Polizei vor Ort gewesen sei. Sie geht nach draussen und zeigt auf einen Garagenhof ein paar Meter weiter hinter dem Supermarkt. In der Vergangenheit habe sie schon mal den Rettungsdienst gerufen, weil der Mann nicht mehr ansprechbar war, erzählt sie. Das sei eine Weile her. Seinen Namen kenne sie nicht. Auch wo er herkam oder wo er übernachtet hat, wisse sie nicht. Die Mitarbeitenden vom Supermarkt, die wüssten vielleicht mehr.

«Wir kannten ihn seit mindestens eineinhalb Jahren», sagt der Marktleiter der Rewe-Filiale, Dominic Liebscher. Als er Ende November in der Tageszeitung von einem toten Obdachlosen las, habe er sofort gewusst, um wen es sich handelt. Der obdachlose Mann, der vorher fast täglich zum Rewe kam, sei seitdem nämlich nicht mehr aufgetaucht. Doch der Marktleiter kennt seinen Namen nicht. Er habe nur wenige Male mit ihm gesprochen. Beschreiben kann er ihn jedoch: «Gross und dünn, trug immer einen bunten Rucksack, eine Kappe und eine lange schwarze Jacke.»

Wann er den Obdachlosen zuletzt gesehen habe? Das kann Dominic Liebscher genau beantworten. Er entschuldigt sich und verschwindet im Laden. Einige Minuten später kommt er zurück. «Am 19. November», sagt er. Einen Tag zuvor sei der Mann im Windfang des Supermarkts umgefallen und die Mitarbeitenden hätten einen Rettungswagen gerufen. «Das ist auf den Überwachungskameras aufgezeichnet worden, die ich eben noch einmal durchgegangen bin», sagt er. Tags darauf sei der Obdachlose wiedergekommen und habe nach seinen Magazinen gefragt. Danach hätten ihn die Rewe-Mitarbeitenden nie wieder gesehen. «Er hat hier Hinz&Kunzt verkauft. Früher ist er nur Kunde gewesen, aber vor ein paar Monaten hat er angefangen, hier das Strassenmagazin zu verkaufen.» Das ist ein guter Hinweis: Wenn der Tote Hinz&Kunzt-Verkäufer gewesen ist, stehen die Chancen gut, seinen Namen – und sogar noch mehr – herausfinden zu können.

Fundort Garagenhof

Mittlerweile hat es aufgehört zu regnen. Christian Hagen, Vertriebsleiter des Hamburger Strassenmagazins Hinz&Kunzt, erzählt am Telefon, dass seit einiger Zeit Daniel G. vor dem Rewe seinen Verkaufsplatz habe – ein 52-Jähriger, geboren in Ia i, Rumänien. Zuletzt habe Daniel Mitte November Magazine eingekauft, weiss Christian Hagen. Bei Hinz&Kunzt habe sich niemand darüber gewundert, Daniel länger nicht gesehen zu haben, da er nie regelmässig vorbeigekommen sei.

Der Vertriebsleiter schickt ein Bild von Daniel, das für den Verkaufsausweis gemacht worden war. Der Mann auf dem Foto hat braune Augen und einen grauen Stoppelbart. Freundlich, mit leicht angedeutetem Lächeln, schaut er unter seiner Kappe hervor in die Kamera. «Ja, das ist er. Kein Zweifel», sagt Marktleiter Dominic Liebscher und nickt überzeugt, als er das Foto sieht. Auch die Mitarbeitenden der Apotheke nebenan erkennen den Mann auf dem Foto. Eine Kundin, die gerade im Laden ist und nebenan bei Rewe arbeitet, weiss als Erste und wie sich später herausstellt auch als Einzige seinen Namen: «Daniel.» Den kenne sie, weil er ihn den Sanitäter*innen genannt hat, die ihn nach seinem Zusammenbruch im Windfang mitnahmen.

«Er hat beim Park in einem Zelt übernachtet», sagt die Rewe-Mitarbeiterin. Ihre Kollegin bestätigt das. Auf einer Onlinekarte zeigt sie den Ort, an dem Daniels Zelt gestanden haben

22 Tote

Zwischen November 2022 und März 2023 sind in Hamburg 22 Wohnungslose verstorben, davon 8 auf der Strasse. 14 Menschen ohne festen Wohnsitz verstarben im Krankenhaus. Bei 2 Verstorbenen gab es «Hinweise auf eine Unterkühlungsphase», andere starben zum Beispiel an Herzversagen. Bekanntgeworden sind die Zahlen durch eine Senatsantwort auf eine parlamentarische Anfrage der Hamburger Linksfraktion.

45 125 Menschen

lebten einer städtischen Auswertung zur Nutzung von Notunterkünften zufolge Anfang 2023 wohnungslos in Hamburg. Dabei wurden auch Menschen im Asylverfahren miterfasst. Obdachlose, die auf der Strasse statt in Unterkünften schlafen, oder verdeckt Wohnungslose, die etwa bei Bekannten unterkommen, tauchen in dieser Zählung nicht auf.

QUELLEN: LUKAS GILBERT: «ZAHL DER WOHNUNGSLOSEN STEIGT SPRUNGHAFT AN», AUG. 2023, UNTER: HINZUNDKUNZT.DE/ ZAHL-DER-WOHNUNGSLOSEN-STEIGTSPRUNGHAFT-AN

STATISTISCHES BUNDESAMT DEUTSCHLAND, 2. AUG. 2023: DESTATIS.DE/DE/ PRESSE/PRESSEMITTEILUNGEN/2023/08/ PD23_305_229.HTML

LUKAS GILBERT, ULRICH JONAS «22 WOHNUNGSLOSE IM WINTER GESTORBEN», 21. APR. 2023, UNTER: HINZUNDKUNZT.DE/22-WOHNUNGSLOSEIM-WINTER-GESTORBEN

372 000 Menschen

waren am Stichtag 31. Januar 2023 deutschlandweit in Unterkünften für Wohnungslose untergebracht. Das gab das Statistische Bundesamt im August 2023 bekannt. Den drastischen Anstieg um 195  000 Menschen im Vergleich zum Vorjahr führt die Behörde auf eine verbesserte Datenmeldung sowie die hohe Anzahl Geflüchteter aus der Ukraine zurück. Unter den Wohnungslosen befinden sich demnach rund 130 000 Menschen aus der Ukraine.

Alle im Blick behalten

Nach Angaben der Stadtverwaltung schlafen in Hamburg jede Nacht etwa 2000 Obdachlose auf der Strasse. Immer wieder kommt es hier zu Todesfällen, vor allem in den Wintermonaten. Eine systematische Erfassung gibt es nicht, händisch zählen Mitarbeiter*innen der Rechtsmedizin im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf nach, welche der bei ihnen Eingelieferten obdachlos verschieden sind. Dies passiert dann, wenn Fraktionen in der Hamburgischen Bürgerschaft parlamentarische Anfragen an den Senat stellen. Das Hamburger Strassenmagazin Hinz&Kunzt fragt zudem regelmässig bei der Polizei nach. Die Angaben der Behörden lassen nicht immer Rückschlüsse auf die Identität der Verstorbenen zu. Möchte man wissen, wer diese Menschen waren, muss eine Einzelrecherche vorgenommen werden. Weil Strassenzeitungen ihre Verkäufer*innen nicht zur Arbeit verpflichten, melden diese sich nicht immer regelmässig bei den Anlaufstellen. So kann es passieren, dass auch Verkäufer*innen in gesundheitliche Not geraten oder sogar versterben, auch ohne dass die jeweilige Strassenzeitung direkt davon erfährt. Meist machen sich jedoch Menschen aus dem Umfeld des Verkaufsplatzes Sorgen und fragen nach. WIN

soll. Sein Fundort, der Garagenhof, liegt auf dem Weg zwischen Rewe und dem Park. Manchmal habe er auch unter einer nahen Autobahnbrücke übernachtet. Sie wohnt in einem der Häuser am Garagenhof, wo der Obdachlose gefunden wurde. «In der Spalte zwischen den Garagen soll er gelegen haben», sagt sie.

Unauffällig und zurückgezogen

Eine weitere Mitarbeiterin, Bettina Cataldi, kommt nach draussen. «Er hat erzählt, dass er zwei Kinder hat», sagt sie. «Als seine Frau sich von ihm getrennt hat, ist sein Leben bergabgegangen und er ist auf der Strasse gelandet.» Mehr habe Daniel nicht erzählt. Sein Alter kenne sie jedoch: Er war 52 Jahre alt. Ab und an habe sie ihm ein Brötchen gekauft, aber das sei Daniel unangenehm gewesen. Zuletzt ging es ihm schlecht, sagt Cataldi. «Ich hatte das Gefühl, dass er wirklich abgebaut hat. Er wurde immer dünner und gelblich im Gesicht. Zuletzt hatte er auch einen Stock, auf den er sich stützen musste», sagt sie. Andere Rewe-Mitarbeiter*innen bestätigen ihre Schilderung. Auch sein Trinkverhalten habe sich verändert. «Anfangs hat er immer Bier gekauft, doch dann ist er vor ein paar Monaten auf Wodka umgestiegen. Er hat immer den mit dem blauen Label getrunken.»

Kleine Flaschen mit blauen Etiketten liegen auch in der Spalte zwischen den Garagen mit den braunen Toren. An diesem windgeschützten Ort soll Daniel am Morgen des 26. November gefunden worden sein. Weder die zwei Jungs, die gerade über den Hof laufen, noch der Mann, der sein Auto in einer der Garagen parkt, haben davon etwas mitbekommen. Der Weg zu dem kleinen Park, in dem Daniels Zelt gestanden haben soll, ist matschig. Zwei Anwohnerinnen, die hier mit ihren Hunden spazieren gehen, zeigen auf einen kleinen Hügel. «Da drüben hat das Zelt gestanden. Es war gelb-orange», sagt eine von ihnen. Eine Polizistin habe ihm aber einen Zettel reingelegt und ihn aufgefordert abzubauen.

Für die Räumung von Zeltlagern im öffentlichen Raum ist das Bezirksamt zuständig, sagt ein Polizeisprecher später auf Anfrage. Die Polizei verständige vorher die Zeltbewohner*innen durch Hinweiszettel und kontaktiere nach Ablauf der Frist die Stadtreinigung. Zuletzt habe sie das am 3. Februar 2023 in dem Park getan, in dem Daniel geschlafen haben soll. Vier Tage später habe die Stadtreinigung das Zelt geräumt. Ob es sich dabei um Daniels Zelt gehandelt hat, ist unklar. Dass dort nach der Räumung erneut ein Zelt gestanden hat, wie Anwohnende behaupten, kann die Polizei nicht bestätigen.

Der Weg vom Park zurück führt vorbei an den braunen Toren der Garagen und den roten Backsteinhäusern. Eine blonde Frau und ein Junge laufen mit vollen Einkaufstüten auf eines der Häuser zu. Unter den Arm hat die Frau eine Hinz&Kunzt geklemmt. Ob sie den Obdachlosen kenne, der hier gestorben ist? «Oh nein, er ist gestorben?» Bestürzt stellt sie ihre Tüten ab. Sie zeigt auf ihr Magazin. «Ich habe meine Hinz&Kunzt immer bei ihm gekauft. Seit er weg ist, laufe ich weiter die Strasse runter zu Aldi.» Sie wischt sich eine Träne aus dem Auge. «Er war immer ruhig und nett. Ich habe mich schon gefragt, wo er ist.»

Sie überlege, nun im Garagenhof eine Kerze für den gestorbenen Obdachlosen aufzustellen. Für Hinz&Künztler Daniel, der, wie die Polizei später bestätigt, hier zwischen den braunen Garagenhöfen tot aufgefunden wurde.

Mit freundlicher Genehmigung von HINZ&KUNZT/INSP.NGO

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Vom Überleben auf der Gasse

Heiko Schmitz, Tito Ries und Benno Fricker waren mehrere Jahre lang obdachlos, auch im Winter. Sie erzählen, was das mit dem Körper macht.

Heiko Schmitz: «Ich kenne keinen persönlich, der an der Kälte gestorben ist. Aber die wenigsten, die draussen leben, überstehen es unbeschadet. Kälte hängt insofern schnell auch mit Krankheit zusammen. Selbst wenn du alle sozialen Einrichtungen aufsuchst, bist du nachts 10,5 Stunden draussen, weil alle ihre Öffnungs- und Schliesszeiten haben. Vorausgesetzt, du gehst nicht in die Notschlafstelle. Und das tust du zum Beispiel nicht, wenn dir das Geld fehlt oder weil du dich da ausweisen musst.

Die gesundheitliche Situation für Personen auf der Gasse ist schwierig, etwa 20 Prozent sind nicht krankenversichert. Wenn

HEIKO SCHMITZ, 57, lebte 3,5 Jahre auf der Strasse: von 2013 bis 2017. Er hat drei Winter draussen erlebt.

du den ganzen Tag draussen bist, ist der Gesundheitszustand ein Riesenthema. Krankheiten werden verschleppt, es kommt die Erschöpfung hinzu, Drogen, Alkohol, alles spielt ineinander. Ich habe in meiner Zeit als Obdachloser sicher drei Menschen aus gesundheitlichen Gründen verloren.

Besonders schlimm ist, wenn es feucht ist. Die Feuchtigkeit zieht in die Kleider ein, auch in die Wechselsachen, wenn du welche hast. In kalten Nächten wachst du durchfroren um 3 Uhr auf. Dann musst du dich bewegen, damit der Kreislauf wieder in Gang kommt, sonst kann es tödlich enden. Um 7.30 Uhr macht die Gassenküche auf, dann kriegst du das erste warme Getränk.

Die Solidarität auf der Gasse ist sehr gross, im harten Kern schaut man aufeinander. Wenn jemand gesundheitlich angeschlagen ist, schaut man, dass man die Person zum Treffpunkt Glaibasel bringt, einer Anlaufstelle für Menschen in Schwierigkeiten. Oder wenn es ernst ist, bringst du sie direkt auf den Notfall im Unispital.»

Tito Ries: «Während meiner Obdachlosigkeit habe ich die meisten Nächte in der Notschlafstelle verbracht, aber einmal hatte ich eine Woche, ein anderes Mal einen Monat lang Hausverbot, beides im Winter. Es war brutal kalt, und ich habe geschaut, dass ich immer in Bewegung blieb oder mich im Badischen Bahnhof aufwärmte. Ich lief im Stechschritt durch die Stadt, sehr zügig, von einem Brunnen zum anderen, um Wasser zu trinken. Ich war Schwerstalkoholiker und wenn du viel Alkohol konsumierst, schwitzt du. Wenn du dann stehen bleibst, hast du ein Riesenproblem, weil du sofort frierst. Ein Teufelskreis. Als Obdachloser bist du ständig erschöpft. Du brauchst sehr viel Energie in der Kälte. So geraten viele in einen Erschöpfungszustand.

Mein extremstes Erlebnis war eine Nacht bei minus 10 Grad. Ich war damals noch nicht obdachlos, aber ich war schwer betrunken an einer Tramhaltestelle eingeschlafen. Nach etwa zwei Stunden haben mich Polizisten sanft geweckt. Die haben mir das Leben gerettet. Ich bin der Meinung, in Basel

TITO RIES, 61, lebte zwei Jahre – von 2011 bis 2013 –obdachlos in Basel.

schaut die Polizei gut hin in solchen Fällen. Ich betone das, weil ich mit der Polizei sonst meistens in Konflikt war. Ich nehme an, dass ein Tramchauffeur eine Meldung gemacht hatte. Wenn die zweimal eine Runde machen und da liegt immer noch derselbe auf der Bank, merken sie, dass da etwas nicht stimmt. Ich habe den Eindruck, auch sie behalten solche Situationen bewusst im Auge.»

Benno Fricker: «Als ich draussen schlief, war es nie kälter als minus 6 Grad. Ich nenne das ‹Spielzeugwinter›. Einmal gab es eine Woche lang minus 18 Grad, aber da kam ich

bei jemandem unter. Ich hatte vor der Kälte eigentlich nie Angst. Man rüstet sich aus, es bleibt einem nichts anders übrig. Und man hat mehr Aufwand, damit man vielleicht doch noch irgendwo unterkommt. Das heisst zum Beispiel, dass man Geld organisieren muss für die Notschlafstelle. Es sind unterschiedliche Faktoren, die einem gefährlich werden können: Kälte, Gewalt, betrunkene Jugendliche. Bei meinem Lieb-

BENNO FRICKER, 57, lebte vier Jahre lang obdachlos in Basel, von 2015 bis 2019.

lingsschlafplatz war eine Location mit vielen jungen Leuten, die am Wochenende Party machten. Da will man nicht 80 Meter von ihnen entfernt im Gebüsch liegen.

Ich muss auch sagen, zum Glück war ich nie krank. Ich hatte nie eine Grippe, nie Fieber. Als Corona kam, war ich bereits nicht mehr obdachlos. Ich weiss nicht, was da sonst auf mich zugekommen wäre. Vor so etwas hätte ich mehr Schiss gehabt als vor der Kälte. Wenn ich mir aber ein Bein gebrochen hätte, wäre ich auf den Notfall im Unispital gegangen. Eine Notfallbehandlung bekommst du in der Schweiz auch ohne Krankenkasse, auch ohne Identitätskarte und Pass. Nicht wie in den USA, wo man in einem solchen Fall einfach liegen gelassen wird. Man hat da eine gewisse Sicherheit, das nimmt einem viel Angst.»

Aufgezeichnet von DIANA FREI

Heiko Schmitz, Tito Ries und Benno Fricker sind Surprise Stadtführer in Basel. Sie sprechen darüber, wie man als Obdachloser überlebt, über Armut, soziale Einrichtungen und Wege aus der Schuldenfalle. surprise.ngo/stadtrundgaenge

Surprise 570/24 17

Später Abschied

Luca war oft am Hauptbahnhof Bern anzutreffen. Wenn jemand am sogenannten Rand der Gesellschaft stirbt, werden sich viele bewusst, dass sie ihn kaum je als Menschen wahrnahmen.

Und weil er fast jeden Tag dort stand, bei den Mülleimern in der Christoffelpassage beim Bahnhof Bern, wo nun Kerzen, Blumen und Briefe waren, wusste ich: Luca ist nicht mehr. Es war Mitte Januar. Ich postete auf den Sozialen Medien ein Bild, das ich vor vier Jahren für Surprise während einer Reportage über das Leben auf der Strasse in Zeiten von Corona von ihm gemacht hatte. Es wurde hunderte Male aufgerufen, ich bekam Nach richten von meist mir Unbekannten, die wissen wollten, was mit Luca geschehen sei. Luca und ich redeten über die Jahre zwar oft miteinan der, aber ich wusste nicht allzu viel über sein Leben. Unsere Gespräche drehten sich meist um Alltägliches wie Dosenbier, Fünfliber, das matschige Wetter, Krähen und Tschugger und wieso er niemals um etwas betteln würde, oder um abgedreht Tief gründiges wie die Songtexte von Eric Clap ton und, natürlich, die grosse Liebe.

Tage später erschien in den Berner Zei tungen ein Nachruf auf Luca, der mit den Worten begann: «Ich kannte ihn nicht. Und doch begegnete ich ihm fast jeden Tag.» Auch jetzt meldeten sich unzählige Leute, schrieben Kommentare: Viele bedauerten, Luca nie angesprochen zu haben, manche hatten nachträglich ein schlechtes Gewis sen, dass sie all die Jahre an ihm vorbeigegangen waren: «Wenn wir doch nur öfter achtsam durch die Welt gehen würden und nicht stattdessen scheu die Augen verschliessen», schrieb ein Leser. Einige empörten sich darüber, wie in der reichen Schweiz immer noch Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, andere beschwerten sich über all die, die jetzt, nach Lucas Tod, plötzlich Mitgefühl heuchelten. «Schade, dass er erst nach seinem Tod diese Anerkennung findet», stellte einer fest.

und nach. Deshalb ist Luca als Mensch für die meisten von uns unsichtbar. Und deshalb kommen wir, solange wir einzig «den Obdachlosen» vor Augen haben, nur selten auf die Idee zu fragen: Wer ist diese Person eigentlich? Welche Geschichte hat sie, was ist ihr wichtig und was lästig, woran glaubt sie, wen liebt sie, wem misstraut sie, welche Lieder mag sie, hat sie einen Sehnsuchtsort, wird sie nachts von Albträumen heimgesucht, spürt sie Glücksmomente am Tag?

Dass viele ihn sehen, ohne ihn wahrzunehmen, das hat Luca oft thematisiert.

Es dürfte kein Zufall sein, dass uns der Mensch Luca erst dann interessiert, wenn wir hinter den Stereotyp blicken. Das passiert am ehesten, wenn wir diesem Menschen begegnen, am Bahnhof Bern zum Beispiel, auf ihn zugehen, mit ihm reden oder auch –wenn er plötzlich nicht mehr da ist. «Hinter jedem Randständigen steckt ein Mensch», schrieb jemand auf den Sozialen Medien nach Lucas Tod.

Was diese Stereotypen auch an sich haben: Sie lassen unser Mitgefühl verkümmern. Wenn der einzelne Mensch hinter unserem festgefahrenen Bild des Obdachlosen verschwindet, wenn wir uns also gar nicht vorstellen (können oder wollen), dass er mehr ist als die zumal negativ besetzte Rolle, in der wir ihn gerade wahrnehmen, wie sollen wir uns dann in ihn hineinversetzen können?

Ich weiss es nicht mit Bestimmtheit, aber vermutlich hätte sich Luca darüber nicht einmal gewundert. Dass viele ihn sehen, ohne ihn wirklich wahrzunehmen, das hat er oft thematisiert. Und ist Ausdruck eines Phänomens, das sich häufig beobachten lässt, wenn es um Menschen am sogenannten Rand der Gesellschaft geht: Sie sind die sichtbar Unsichtbaren.

Sichtbar sind sie, weil wir sie ständig als Angehörige einer Gruppe wahrnehmen: Luca der «Drögeler», Luca der «Obdachlose», Luca der «Randständige» – alles Kategorien, die in unserer Gesellschaft und unseren Köpfen präsent sind. Tatsächlich sind solche Bilder oder Stereotypen von Obdachlosen oder Drogensüchtigen eine Art Selbstläufer: Sehen wir jemanden, der

Der Vorwurf einer geheuchelten Empathie, der nach Lucas Tod von einigen erhoben wurde, ist zwar nachvollziehbar, aber ungerechtfertigt: Erst wenn wir den Menschen hinter dem Stereotyp wahrnehmen, ist Mitgefühl möglich. Sehen wir ihn bloss in der Rolle des Obdachlosen, ist er sowieso nicht «einer von uns». Wo hingegen Mitgefühl im Spiel ist, kommt er uns näher, er wird uns ähnlicher. Auch das war nach Lucas Tod in den Kommentarspalten der Sozialen Medien immer wieder Thema: «Es sollte sich jeder bewusst sein, dass es manchmal im Leben sehr wenig braucht, um plötzlich auf der ungemütlichen Seite zu stehen», hiess es dort.

Möglicherweise brauchen wir «so einen wie Luca» auch deswegen, um uns selbst zu vergewissern, dass wir (noch) nicht abgestürzt sind – all diese Lucas dienen uns als abschreckendes Beispiel, als Mahnung auch. Wieso sonst hält sich das Bild vom «Randständigen» derart hartnäckig in unseren Köpfen?

Apropos Bild: Ich fragte mich immer wieder, ob das Porträtfoto, das ich vor Jahren von Luca gemacht habe und das seitdem oft in den Medien war, ihn wirklich als Menschen erfasst oder

«Wir servieren das Lieblingsessen der Toten»

Der Schwarze Peter, Verein für Gassenarbeit in Basel, ist eine wichtige Anlaufstelle für Obdachlose in der Stadt.

Co-Leiterin Adriana Ruzek über das Sterben auf der Strasse.

INTERVIEW KLAUS PETRUS

Adriana Ruzek, ist der Tod auf der Gasse ein einsamer Tod?

Adriana Ruzek: Das kommt auch darauf an, was vorher war: Wer einsam lebt, wird wohl auch einsam sterben. Aber das ist nichts, was nur Menschen betrifft, die auf der Gasse leben oder obdachlos sind. Es gibt solche, die sterben tatsächlich allein, in einem Zimmer oder irgendwo draussen. Andere verbringen die letzte Zeit ihres Lebens im Spital oder in einem Pflegeheim und werden dort umsorgt. Gerade bei Schwerstkranken und Sterbenden ist die Frage eher: Lässt man sich auf den Tod ein?

Unsere Gesellschaft tut einiges dafür, um das Sterben auszulagern und zu verdrängen. Niemand will dem Tod ins Auge schauen.

Das stimmt. Und diese Verdrängung ist auch bei Menschen auf der Gasse zu beobachten – dort vielleicht noch stärker als anderswo. Sie haben sich über all die Jahre aus unterschiedlichen Gründen ohnehin eine harte Schale zulegen müssen, sie dürfen oder wollen nicht alles an sich heranlassen. Viele von ihnen sind suchtbetroffen, sie leben von einem Tag auf den nächsten und haben andere Probleme, als sich mit dem eigenen Tod zu befassen. Daran ändert oft auch die Diagnose einer unheilbaren Krankheit nichts – das ist dann einfach etwas, das zum Rest noch hinzukommt. Es mag seltsam klingen, aber: Menschen auf der Gasse haben bereits dem Leben gegenüber eine palliative Strategie, und die beruht eben mehrheitlich auf Verdrängung und Gleichgültigkeit.

«Aufmerksamkeit ist etwas Zentrales im Sterbeprozess.»

Gerade im Fall einer unheilbaren Krankheit: Wer ist für diese Menschen da?

Ich finde, die Frage müsste eher lauten: Was brauchen sie in so einer Situation? Und das kann sehr Unterschiedliches sein. Manche wollen nicht betreut werden, sondern ihre Ruhe haben –auch im Sterben. Ich erinnere mich an einen Mann, bei dem

Leberinsuffizienz diagnostiziert wurde und der daraufhin ins Spital musste. Für ihn war das der Horror: all die Untersuchungen, überall Ärzt*innen und Pflegepersonal, die Rundumüberwachung. Er wollte unbedingt nach Hause, wo er dann auch starb – allein. Andere möchten die Hilfe etwa von Pflegeheimen in Anspruch nehmen. Wieder andere brauchen die Nähe von Freund*innen auf der Gasse. Oder sie kommen zu uns, dann versuchen wir herauszufinden, wie wir sie unterstützen können. Oft besteht diese Unterstützung darin, dass wir Raum schaffen für Gespräche. Und wir den Leuten spiegeln, dass es uns kümmert, wie es ihnen geht. Nach meiner Erfahrung ist Aufmerksamkeit etwas Zentrales im Sterbeprozess. Sie macht, dass sich Leute öffnen können.

Wie meinen Sie das?

Ich kannte einen Mann, der fast zwanzig Jahre schwer süchtig war und kaum jemanden an sich heranliess. Allein sein hygienischer Zustand führte dazu, dass viele einen Bogen um ihn machten. Dann wurde bei ihm ein Speiseröhrenkarzinom diagnostiziert und er kam ins Pflegeheim. Dort musste er sich wohl oder übel der Fürsorge hingeben, er wurde gepflegt und gewaschen. Es dauerte seine Zeit, doch dann liess er diese Berührungen zu. Noch kurz vor seinem Tod war ich bei ihm und habe sein Gesicht eingeölt. Sein Körper hat sich mir zugewandt, er war ganz weich, das hat mich sehr berührt. Fürsorge und Aufmerksamkeit schaffen unweigerlich Nähe und Vertrauen. Vielleicht ist das die grösste Hilfe, wenn man am Sterben ist.

Welche Rolle spielt das Umfeld?

Es kommt immer wieder vor, dass sich Leute von der Gasse bei uns melden, weil sie mitbekommen, dass es jemandem schlecht geht und sie sich sorgen. Es gibt diese Solidarität untereinander, keine Frage. Allerdings ist es auch so, dass sich, wer auf der Stras-

se oder in prekären Wohnsituationen lebt, oft erst einmal um sich selbst kümmern muss. Häufig drehen sich die Prioritäten ums Überleben oder man ist mitten im Beschaffungsstress, was die Empathie bröckeln lässt.

Was ist mit der Familie?

Viele, die auf der Gasse leben, haben mit ihren Familien gebrochen oder schon lange keinen Kontakt mehr zu ihnen. Es kommt aber vor, dass sich nach dem Tod Leute aus dem familiären Umfeld bei uns melden. Sie möchten wissen, wie ihr Sohn oder ihre Schwester gelebt hat, wie es ihr ergangen ist. Sehr oft haben die Angehörigen Schuldgefühle. Sie machen sich Vorwürfe, dass sie sich zu Lebzeiten nicht besser gekümmert haben, oder fragen sich, ob sie etwas hätten verhindern können. Ich versuche dann, ihnen diese Schuldgefühle zu nehmen, indem ich ihnen sage, dass viele dieser Menschen durchaus selbstbestimmt durchs Leben gingen. Manchmal wollen die Angehörigen an den Trauerfeiern teilnehmen, die wir auf der Strasse veranstalten.

Wie muss man sich eine solche Abdankung vorstellen?

Man trifft sich zum Beispiel hier in Basel auf dem Claraplatz, meist kommen Freund*innen und Bekannte der verstorbenen Person, die selber auf der Gasse leben. Wir servieren das Lieblingsessen der Toten – jüngst waren das Wurstweggen und Wienerli im Teig von der Migros –, dazu gibt es etwas zu trinken. Dann erzählen sich die Leute Anekdoten aus dem Leben der Toten und was man alles zusammen erlebt und durchlebt hat. Oft erinnert sie das an frühere Schicksalsschläge, an den Verlust enger Freund*innen zum Beispiel, das ist sehr emotional. Natürlich wird zusammen getrauert und geweint, aber es sind dies immer auch lustige, freudige Anlässe, wo viel gelacht wird. Weswegen ich diese Trauerfeiern auch gerne Lebensfeiern nenne.

Wie wichtig ist für die Zurückgebliebenen die Trauerzeit?

Ist jemand verstorben, sind wir die Zeit danach häufiger auf der Strasse und speziell an den Orten unterwegs, wo sich die verstorbene Person aufhielt. Wir merken, dass bei Weggefährt*innen das Bedürfnis besteht, den Verlust auf die eine oder andere Art zu verarbeiten. Für diese Leute sind wir dann eine Art Anlaufstelle. Für die meisten aber geht das Leben schon bald wieder weiter, sie haben andere Sorgen, müssen irgendwie selber überleben – oder wollen einfach nicht mehr daran denken müssen. Beim Trauern ist es wie beim Sterben: Es braucht Raum und Zeit. Und man muss sich darauf einlassen.

ADRIANA RUZEK, 48, ist Co-Leiterin und Gassenarbeiterin beim Schwarzen Peter. Ihre Ausbildung machte sie in der Medien- und Werbebranche. Sie wechselte vor vierzehn Jahren in den Bereich der sozialen Arbeit. schwarzerpeter.ch

Obdachlose sterben still

Wenn ein Mensch auf der Strasse stirbt, erfahren wir in der Regel nichts davon.

Die Stadtpolizei Zürich habe auf Anfrage von Surprise eine Auswertung der letzten fünf Jahre gemacht, sagt Mediensprecher Michael Walker. Ergebnis: null Kältetote. Das sagt uns zwei Dinge: Erstens sterben in Schweizer Städten weniger Menschen an der Kälte als im norddeutschen Hamburg, wo mehr Menschen auf der Strasse leben, zweitens gibt es keine offiziellen Zahlen dazu.

Auch die Stadt Bern verfügt über keine Angaben dazu, wie viele obdachlose Menschen sterben. Die Wohnsituation sei keine Kategorie, die bei Todesfällen erfasst werde, sagt Thomas Ernst von der Kantonspolizei Bern. Aufgeboten wird die Polizei bei «aussergewöhnlichen Todesfällen». Diese Zahl wird zwar statistisch erfasst, aber vom Herzinfarkt in jungem Alter über den Erfrierungstod bis zum Gewaltdelikt fällt vieles darunter.

In Basel erinnern sich weder die Kantonspolizei noch die Staatsanwaltschaft an verstorbene Obdachlose, deren Fälle bei ihnen gelandet wären, abgesehen vom getöteten Georges C. im Jahr 2017, was hohe Wellen schlug. An die Medien gelangen Todesfälle dann, wenn es sich um ein Gewaltverbrechen handelt. Wenn ein Mensch auf der Strasse an Erschöpfung, Krankheit oder Kälte stirbt, erfährt es die Öffentlichkeit nicht.

Sinkt das Thermometer unter 0 Grad, führt in Zürich die sip, die aufsuchende Sozialarbeit der Stadt, Kältepatrouillen durch. Laut Online-Angaben sind der sip «ca. zwei bis drei Dutzend Personen bekannt, die zu jeder Jahreszeit und auch bei kalter Witterung freiwillig draussen nächtigen». Die sip versucht sie zu motivieren, die Notschlafstelle aufzusuchen, und holt bei Bedarf auch den Notarzt.

Silvio Flückiger von Pinto, dem entsprechenden Angebot in Bern, sagt, es seien in der Stadt in den letzten Monaten auffallend viele Menschen in prekären Situationen verstorben. Oft in Zusammenhang mit der Vernachlässigung des eigenen Gesundheitszustandes, mit Sucht, Unfällen und psychischer Belastung – auch Suizide hat es gegeben. «Wir reden nicht von Dutzenden, aber jede*r Einzelne, den wir begleitet haben, trifft uns», sagt Flückiger. Diese Menschen lebten aber meist in eigenen Wohnungen oder in betreuten oder begleiteten Wohnsituationen, also nicht auf der Strasse. Zurzeit sind in Bern nach Angaben von Pinto 46 Menschen obdachlos, sie schlafen also draussen. DIF

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DREI LEBEN

Immer wieder kommen in Büchern Menschen aus dem Umfeld von Surprise vor. Wir haben die neusten Publikationen gelesen.

In den letzten Monaten sind gleich drei Bücher erschienen, die Mitarbeiterinnen von Surprise porträtieren: Habiba Osman und Seynab Ali Isse verkaufen das Strassenmagazin, Lilian Senn zeigt auf den Sozialen Stadtrundgängen die Stadt Basel aus der Perspektive einer Ex-Obdachlosen.

Die Anliegen der Publikationen haben eine gemeinsame Stossrichtung: Sie möchten die persönlichen Geschichten von Menschen erzählen, die oft nur als Vertreter*innen einer Bevölkerungsgruppe wahrgenommen werden. Und deren öffentliche Wahrnehmung von so manchen Stereotypen durchsetzt ist. Die Zugänge und das Zielpublikum der Bücher sind allerdings sehr unterschiedlich.

In «Deutschland ohne Dach» (trotz des Titels ist auch Basel vertreten) geht es nebst den Einzelschicksalen zentral um Obdachlosigkeit als Phänomen. Die Erzählungen sind durchaus auch mit politischen Forderungen in der Armutsbekämpfung verbunden. «Frauen auf der Flucht» will Fluchtgründe verständlich machen und die Porträtierten individuell würdigen. Und «50 Migrationsgeschichten, die du kennen solltest» sind simple Kurzporträts, die für Kinder oder als Coffee-Table-Buch gedacht sind.

Von Journalistin zu Journalistin Sie wolle durch das Erzählen persönlicher Geschichten Flüchtende und Geflüchtete aus einer allzu oft anonym bleibenden Masse herauslösen, schreibt Tina Ackermann, Autorin des Buchs «Frauen auf der Flucht». Eine von ihnen ist die Somalierin Seynab Ali Isse, die auch dieses Strassenmagazin verkauft. Die Surprise-Verkäuferin war früher selber Journalistin. «Die Medienwelt war immer mein beruflicher Traum», sagt sie. «Schon als Kind konnte ich in Diskussionen die Dinge immer kurz und kompakt in Worte fassen.»

Ali Isse berichtete in politisch angespannter Situation für eine grosse Tageszeitung. Die militärischen Auseinandersetzungen im somalischen Bürgerkrieg zwischen Clans, Warlords, Milizen und der internationalen Gemeinschaft überschatteten das Land seit 1988. Im Buch wird die Szene geschildert, als Ali Isse am 3. Oktober 1993 mit einer Gruppe von Journalist*innen unterwegs war, um über die Verhandlungen somalischer Warlords zu berichten. An diesem Tag sollten an einer UNO-Mission beteiligte US-Truppen den militärischen Anführer Mohammed Farah Aidid gefangen nehmen. Die Situation eskalierte in blutigen Auseinandersetzungen, bekannt als «Die Schlacht von Mogadischu». Ali Isse wurde von Bombensplittern getroffen. Dass auch traumatische Erlebnisse teils recht detailliert in einem Buch festgehalten sind, geht ihr nah: «Die Erinnerung tut weh. Trotzdem ist es gut, dass die Leser*innen einen Einblick bekommen.» Privat geht sie dagegen lieber mit einem gewissen Witz an ihre Situation heran.

Das Buch bettet ihre persönliche Geschichte in den politischen Kontext ein: knapp, aber doch so, dass die Sicherheitslage in Somalia und die Bedrohung plastisch werden. Und es wird nachvollziehbar, warum Menschen den einschneidenden Rollenwechsel und Statusverlust einzugehen bereit sind, die eine Flucht oft mit sich bringt. FUX

Tina Ackermann: Frauen auf der Flucht –Wer sie sind und was sie erlebt haben, Rotpunktverlag 2022, 29.90 CHF

Seynab Ali Isse (links) hier mit ihrem «Schweizer Mami», wie sie sie nennt.

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FOTO: ZVG FOTO: KLAUS PETRUS

Habiba Osman weiss, dass ihre Kinder die besseren Bildungschancen haben.

Wohnen und Würde

In «Deutschland ohne Dach» kommen achtzehn Menschen aus dem deutschsprachigen Raum zu Wort, die Obdachlosigkeit erfahren haben. Darunter auch Surprise-Stadtführerin Lilian Senn, die auf einem ihrer Sozialen Stadtrundgänge in Basel begleitet wird. Hier berichtet sie aus ihrer Biografie, in der Missbrauch in der Kindheit, zwischenzeitige Stabilisierung und erneute Lebensbrüche vorkommen, und spannt den Bogen in die Gegenwart zu verschiedenen sozialen Einrichtungen. Mit ernüchternder Ehrlichkeit spricht sie über schwere Schicksalsschläge, eigene Fehler und besonders auch darüber, wie schwer es ist, wieder Fuss zu fassen, wenn man einmal ganz unten ist. Denn das wird aus den vielen Geschichten, Menschen und Lebenssituationen deutlich, die im Buch vorkommen: Wer vom gesellschaftlichen System einmal ausgeschlossen wurde, findet kaum wieder den Zugang dazu. Wohnung, Arbeit, Gesundheit und viele weitere Aspekte bedingen sich gegenseitig. Für die Schweiz fordert Lilian Senn deshalb konsequent niederschwellige Wohnmöglichkeiten und ein Restschuldbefreiungsverfahren. Aus ihrer Sicht Grundvoraussetzungen dafür, dass Betroffene der Abwärtsspirale aus Obdachlosigkeit und Armut entkommen und wieder ein würdevolles Leben führen können. Letzteres ist denn auch die Hauptforderung von Herausgeber Richard Brox, der selbst über dreissig Jahre auf der Strasse lebte. FUX

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Richard Brox, Sylvia Rizvi, Albrecht Kieser (Hg.): Deutschland ohne Dach – Die neue Obdachlosigkeit, mit einem Vorwort von Günter Wallraff, Rowohlt 2023, 18.90 CHF

Märchenversion des eigenen Lebens

Ein bisschen wie ein Märchen ist ihre Geschichte in diesem Buch erzählt, findet Habiba Osman: Die Somalierin konnte als Kind nicht zur Schule, flüchtete, lernte in der Schweiz Lesen und Schreiben und verfolgt hier nun ihren Traum, immer weiter zu lernen. Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Kein Wort über die Zerrissenheit, über schwierige berufliche Aussichten und finanzielle Sorgen. Und doch sagt Osman: «Meine Geschichte gefällt mir so eigentlich ganz gut, wenn alles nur positiv klingt.» Seit fünf Jahren arbeitet sie im Housekeeping, dazu verkauft sie Surprise.

«50 Migrationsgeschichten, die du kennen solltest» wird im Handel ab acht Jahren empfohlen, ist also primär für Kinder gedacht. Das Buch versammelt recht beliebig fünfzig Menschen, die in die Schweiz eingewandert sind: von Albert Einstein über Tina Turner bis zu Xherdan Shaqiri. Habiba Osman ist also in sogenannter bester Gesellschaft. Ihre Kinder haben das Buch auch gelesen. «Meine Kinder waren überrascht, dass darin steht, dass ich nicht zur Schule gehen konnte. Sie wussten das nicht. Jetzt kann ich immerhin jeden Morgen sagen: Gebt euch Mühe in der Schule! Es ist eine Chance. Ich hatte diese Chance nicht.» FUX

Anita Lehmann, Laurie Theurer, Katie Hayoz: 50 Migrationsgeschichten, die du kennen solltest, Bergli Books 2023, 29.90 CHF

Lilian Senn setzt sich für Wohnmöglichkeiten und Schuldenbekämpfung ein.

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FOTO: LUCIA HUNZIKER FOTO: ZVG

Mann des Biedermeiers: Sébastien Fanzun (links). Die Autorin Caren Jess (oben) beschäftigt sich in ihrem Stück mit dem Rückzug ins Private.

Gegen die kollektive Erstarrung ankämpfen

Theater Das Stück «Das Stillleben» verhandelt den Rückzug ins Private. Dabei tun sich Parallelen zwischen der Biedermeierzeit und heute auf.

TEXT MONIKA BETTSCHEN

Ein Mann sitzt in einem Salon auf einem Stuhl. Mehr ist auf dem Bild, welches im Theaterstück «Das Stillleben» von Caren Jess eine Geisteswissenschaftlerin in Rage versetzt, nicht zu sehen. Die junge Frau liest auf dem Werkschild, dass das Gemälde aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammt. Diese Angabe sowie die Bildbetrachtung setzen tiefgreifende Denkprozesse in Gang, an denen sie das Publikum teilhaben lässt.

Zunächst stellt sie fest, in welch krassem Gegensatz diese häusliche Ruhe zu den Ereignissen jener Zeit steht: In Europa gedeiht der Kapitalismus, das Proletariat entsteht, die Idee von Nationalismus kommt auf. Die Industrialisierung stampft in Form der Eisenbahn durch die Lande, während das Leben drinnen zwischen sauber polierten Möbeln zu einer kollektiven Erstarrung geronnen scheint. Wofür es aber Gründe gibt: Nachdem die Befreiungskriege Napoleons Vorherrschaft in Europa beendeten und die Grossmächte am Wiener Kongress 1815 die Restauration alter Dynastien beschlossen, zerschlug sich die

Hoffnung auf politische Teilhabe. Im neu gegründeten Deutschen Bund gab es keine Exekutive, dafür aber Zensurbehörden, die jede Form der freien Meinungsäusserung bekämpften. Entmutigt zog sich ein Grossteil der Bevölkerung in die eigenen vier Wände zurück, wo man bürgerliche Ideale wie Ordnung und Fleiss sowie ein traditionelles Familienbild hochhielt. «Das traute Heim wurde zum wertvollsten Lebensraum verklärt. Den Menschen wurde vermittelt: Halte zu Hause alles unter Kontrolle. Dies war eine Aufforderung zur Anpassung», sagt Caren Jess im Videocall.

Schon bald macht die zeitgenössische namenlose Protagonistin den Mann im Bild zur Projektionsfläche für ihren eigenen Frust über jenen Teil der Bevölkerung, der es im 21. Jahrhundert ebenfalls vorzieht, sich explizit aus politischen Prozessen herauszuhalten. Die Parallelen, die Jess dabei zwischen dem Biedermeier und der Gegenwart aufdeckt, sind beklemmend. «Als ich angefragt wurde, einen Theatertext zum Thema Widerstand zu schreiben,

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FOTOS: SELINA PUORGER  (1) , JEWGENI ROPPEL  (2)

dachte ich an Widerstand gegen rechts. Doch dabei drängte ausgerechnet das Biedermeier, das mich schon während meinem Studium fasziniert hat, an die Oberfläche. Ich dachte, Moment mal: Gerade in dieser vermeintlichen Langeweile geschieht vieles, was uns heute direkt betrifft», sagt Jess, deren Stücke weltweit gespielt werden. «Das Biedermeier ist eine Geisteshaltung, die bis heute überlebt hat. Ich schrieb ‹Das Stillleben› während der Pandemie und hatte den Eindruck, dieses Verschanzen zuhause damals mit dem gleichzeitigen Gefühl von Überforderung mit all den Wandlungsprozessen hat etwas sehr Aktuelles.»

Im Theaterstück übt die Protagonistin immer schärfer Kritik am Biedermeier, wobei sie herablassend wird, den Herrn auf dem Bild aber auch für seine Fähigkeit, die Aussenwelt auszublenden, etwas beneidet. «Kritisieren geschieht immer aus einer höheren Position heraus – nicht im Sinne von ‹privilegierter›, aber ‹wissender›. Die Wissenschaftlerin beschäftigt sich mit Klassismus, Proletariat und sozialen Unterschieden und wirft dem Biedermeier nun all das an den Kopf», sagt Caren Jess. Die Geisteshaltung der ganzen Epoche sitzt hier quasi personifiziert im Bilderrahmen, verkörpert von einem Schauspieler. Mit ihrer Kritik an ihm läuft die Protagonistin allerdings Gefahr, ihn weiter von sich wegzustossen, obwohl sie ihn im Verlauf des Stücks so leidenschaftlich zu erreichen versucht. Eine Dynamik, wie man sie heute etwa in Debatten über den Klimawandel beobachten kann. «Im Kritisieren liegt eine grosse Provokation und auch eine Polarisierung. Und je stärker man politische Lager festschreibt, desto weniger flexibel sind diese und desto weniger Austausch ist möglich. Doch das ist es ja, was wir wollen: in den Dialog kommen und Strukturen aufbrechen.»

Die grosse Frage in «Stillleben» ist, ob die Protagonistin den «Biedermeier» dazu bewegen kann, sich aus dem Sessel zu stemmen oder ob seine politischen Muskeln verkümmert sind. Das Stück trifft mit analytischer Präzision den Nerv der Zeit – der damaligen wie der heutigen. «Ich bin selber neugierig, welche Kraft die Menschen dazu motivieren könnte, von einer Bequemlichkeit abzusehen, die etwa in Bezug auf die Klimakrise verheerende Konsequenzen haben könnte. Wenn zwei Optionen im Raum stehen, wird es immer eine Mehrheit geben, die die bequemere wählt. Es ist nicht gut, aber verständlich, dass viele angesichts der Fülle an Katastrophen den Rückzug ins Private vorziehen. Diese Ambivalenz finde ich spannend: Dass wir begreifen, dass Untätigkeit nicht richtig ist, wir uns aber dennoch oft raushalten und dadurch die gesellschaftliche Verantwortung aus Angst oder Überforderung nicht annehmen», sagt Caren Jess.

«Das Stillleben»,

Regie: Barbara Weber, So, 3., Mi, 6. und 13., So, 17., Mo, 18. und Mi, 27. März, jeweils 20 Uhr, sonntags 16 Uhr, Theater Winkelwiese, Winkelwiese 4, Zürich. winkelwiese.ch

Fluchtwege

Buch Die Graphic Novel «Games» widmet sich packend und umfassend dem Thema Flucht.

Einer Graphic Novel über Flüchtende aus Afghanistan den Titel «Games» zu geben, wirkt im ersten Moment irritierend. Doch dahinter steckt bitterer Galgenhumor. Denn als Games bezeichnen die Flüchtenden selbst die Versuche, eine Grenze zu überqueren. Nicht im Sinne eines Spiels, sondern als «sein Schicksal testen». Man kann gewinnen, aber auch verlieren. Der Einsatz ist das eigene Leben, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Manche versuchen es immer und immer wieder.

Zwei Jahre hat sich der Schweizer Illustrator Patrick Oberholzer intensiv mit dem Thema Flucht auseinandergesetzt. Die daraus entstandene eindrückliche Comicreportage stützt sich neben einer aufwendigen Recherche vor allem auf Gespräche mit vier jungen Männern und einer jungen Frau, die zu der Minderheit zählen, die es geschafft haben. Es sind Erlebnisberichte, die erschüttern, Einblicke in exemplarische Schicksale, die unter die Haut gehen.

Doch Patrick Oberholzers dokumentarische Graphic Novel bietet noch viel mehr. Sie liefert zu den persönlichen Lebensgeschichten eine Fülle an Hintergründen. Angefangen mit der Geschichte des Afghanistan-Konflikts, die von der Unabhängigkeit 1919 bis zum überstürzten Abzug der ausländischen Truppen und der Rückkehr der Taliban im Jahr 2021 reicht. Es ist die blutige Geschichte eines Landes zwischen den Fronten der Grossmächte, die weit über eine Million Tote gefordert hat. Gewalt, Armut, Unsicherheit und Unfreiheit gehören seit Langem zum Alltag. Für viele bleibt nur die Flucht.

Doch wie funktioniert Flucht? Das detailliert aufzuzeigen ist eine der Stärken dieses Buches. Mit zahlreichen Infografiken und Texten erklärt es das ausgeklügelte System aus Vermittlern, Organisatoren und Schleppern, ein weitreichendes und häufig kriminelles Netzwerk. Es listet auf, was die Fluchtwege kosten und wie die Gelder fliessen. Und nicht zuletzt folgt es den verschiedenen Fluchtrouten und zeigt die Gefahren, denen die Flüchtenden ausgesetzt sind. Eine Gefahrenlage, die sich noch verschärft, je stärker sich die Festung Europa verbarrikadiert.

Dass diese Fülle von Informationen nicht abschreckt, ist der klaren Gestaltung zu verdanken. Und der Kraft der packenden Bilder, die die persönlichen Schicksale, die Fluchtrouten und die Gefahren lebendig werden lassen. Man wird mitten hineingezogen, aus den Informationen werden nachvollziehbare Erfahrungen. Das macht dieses Buch zu einer empfehlenswerten Lektüre, die hoffentlich so manchen Blick auf die Wirklichkeit hinter den Schlagzeilen und populistischen Parolen öffnet.

CHRISTOPHER ZIMMER

Patrick Oberholzer: Games, Auf den Spuren der Flüchtenden aus Afghanistan. Graphic Novel. Splitter Verlag 2023.

CHF 34.90

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FOTO: SPLITTER VERLAG

Veranstaltungen

Bern

«Tracey Rose – Shooting Down Babylon», Ausstellung, Di 10 bis 21 Uhr, Mi bis So, 10 bis 17 Uhr, bis So, 11. Aug., Kunstmuseum Bern, Hodlerstrasse 12. kunstmuseumbern.ch

Die südafrikanische Künstlerin Tracey Rose ist seit Mitte der 1990er-Jahre eine radikale Stimme in der internationalen Kunst. Sie nutzt die Kraft der Performance und setzt sich in ihren Arbeiten mit Postkolonialismus, Geschlecht, Sexualität, Rassismus und Apartheid auseinander. Im Zentrum steht dabei der Körper, der für Tracey Rose ein Ort des Protests, der Empörung, des Widerstands, des Diskurses, aber auch der Heilung ist. Ihre performative Praxis setzt die Künstlerin in unterschiedlichen Medien um: Video, Skulptur, Fotografie, Installation und Zeichnung. In ihren neueren Werken steht die Frage nach der Heilung von traumatischen Erfahrungen im Zentrum – persönlichen genauso wie kollektiven. Die Ausstellung verfolgt Roses Weg vom frühen Interesse an Identitätsfragen hin zur Ästhetik der Gewalt und einer Auseinandersetzung mit Heilungsprozessen und Ritualen. DIF

Thun

«Literaare Thun», Literaturfestival, Fr, 8. bis So, 10. März, Rathaus Thun, Rathausplatz 1. literaare.ch

An klassischen Wasserglaslesungen, Poetry Slams, Konzerten, Vorträgen, literarischen Taxi- oder Zugfahrten und Stadtrundgängen kann das Publikum in Thun Autor*innen und ihre Werke kennenlernen. Das Literaturfestival präsentiert aktuelles literarisches Schaffen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, mit dabei sind etwa Daniel Schreiber, Sabrina Janesch, Bov Bjerg, Kerstin

Preiwuss, Dinçer Güçyeter und Sas kia Winkelmann. Besonders erwähnen wollen wir auch die Lesung mit Dimitri Grünig (9. März, 11 Uhr), dessen gezeichnete Recherche «Aber schwul bin ich immer noch» wir kürzlich besprochen haben (Surprise 566/24) und der schon für Surprise illustriert hat. Und den Debütabend mit Julia Rüegger (9. März, 20 Uhr), die bereits in unseren Literaturausgaben vertreten war und für Surprise auch journalistisch unterwegs ist. An diesem Abend spaziert das Publikum von Lesung zu Lesung durch das Rathaus Thun und lernt so die Werke mehrerer Autor*innen kennen. DIF

Aarau

«Schau, wie der Gletscher schwindet – Sammlung im Fokus», Ausstellung, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, bis So, 25. Aug., Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz.

aargauerkunsthaus.ch

«Schau, wie der Gletscher schwindet» ist ein schweizweites Ausstellungsprojekt, das sich der künstlerischen Darstellung von Gletscher- und Berglandschaften widmet. Im Aargauer Kunsthaus liegt der Fokus auf Werken von den späten 1960er-Jahren bis heute, mit einem Exkurs ins 18. Jahrhundert. Vor der grossen Schmelze waren Gletscher majestätisch und eng verbunden mit dem Bild der hiesigen Berglandschaften, in der Kunst haben sie als Motiv grosse Bedeutung. Heute werden Berge auch als touristische Destination wahrgenommen und die (schmelzenden) Gletscher zunehmend als Symbol für den Klimawandel. Der Sammlungsfokus im Aargauer Kunsthaus kommt dem Motiv in den Bergbildern von Caspar Wolf, in Ingeborg Lüschers Sonnenuntergängen im Gebirge oder in den Eisberg- und Gletscher-Aufnahmen von Julian Charrière auf die Spur. DIF

Fribour g «Festival International du Film de Fribourg FIFF», Fr, 15. bis So, 24. März, verschiedene Spielstätten, Zentrum Esplanade de l’Ancienne-Gare 3. fiff.ch Das FIFF rückt mit Nordmazedonien ein Land ins Rampenlicht, das unter Besatzungen und Kriegen gelitten hat. Eröffnungsfilm des Programms ist «Before the Rain» aus dem Jahr 1994 von Milcho Manchevski: die erste grössere Produktion seit der Unabhängigkeit des Landes, das bis 1991 zu Jugoslawien gehörte. Anhand von drei Personen zeichnet der Film das Porträt eines Landes, in dem ethnische und religiöse Spannungen ihren Höhepunkt erreichen. In «God Exists, Her

Name is Petrunya» von Teona Strugar Mitevska steht eine Frau im Mittelpunkt, die sich nicht um Konventionen schert. Der diesjährige Oscar-Kandidat Nordmazedoniens ist «Housekeeping for Beginners» von Goran Stolevski. Der Film erzählt von Dita, die die Kinder ihrer Partnerin aufziehen muss – in einer Gesellschaft, die von einer tiefgreifenden Homophobie und der Geringschätzung ihrer Rom*nja-Ge-

meinschaften geprägt ist. Am FIFF gibt es zudem Cartes blanches für Gäste: Die französisch-iranische Schauspielerin Golshifteh Farahani hat sechs engagierte Filme fürs Publikum ausgewählt, die sich mit dem Iran auseinandersetzen. Und auch der französische Regisseur Michel Gondry hat sechs seiner Lieblingsfilme auf seinen Wunschzettel gesetzt. Bekannt wurde Gondry mit Musikvideos für Björk, Daft Punk und Radiohead – und dem Spielfilm «Eternal Sunshine of the Spotless Mind». Wenn wir Glück haben und er Zeit, taucht er zu einer Videoschaltung auf. Golshifteh Farahani wird ebenso anwesend sein wie viele der nordmazedonischen Filmschaffenden. DIF

Basel

«Bewegte Träume»,Tanzund Gesangsprojekt, Sa, 9. März, 19.30 Uhr, Kollekte, QuBa Zentrum, Bachlettenstrasse 12. surprise.ngo Um sein 15-jähriges Bestehen zu feiern, singt und tanzt der Surprise Strassenchor zusammen mit dem Empowerment-Projekt frauen@ surprise. 13 Frauen bringen ihre persönlichen und universellen Träume in Bewegung. Wünsche und Träume verbinden Menschen und existieren im Leid wie in der Freude. Träume sind nicht nur in unseren Köpfen, finden Chorsänger*innen und Tänzerinnen, sondern sie haben die Kraft, uns zu bewegen – will heissen: uns zu verändern. Es tanzen Frauen aus Afghanistan, Iran, Somalia, Bulgarien, Spanien, Kurdistan, Marokko und der Schweiz. Mit dabei ist auch Habiba Osman, die im Buch «50 Migrationsgeschichten, die du kennen solltest», porträtiert ist (siehe S. 23). DIF

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BILD(1): TRACEY ROSE, 2001 BILD(2): © NICOLAS FAURE UND FOTOSTIFTUNG SCHWEIZ, BILD(3): GOD EXISTS HER NAME IS PETRUNYA

Pörtner in Arlesheim

Surprise-Standort: Migros

Einwohner*innen: 9411

Sozialhilfequote in Prozent: 2,3

Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 20,4

Anzahl Bauernhöfe: 6, davon 3 Bio

In Arlesheim sind Wahlen und diese werden ernst genommen, die Plakate mit den Kandidat*innen hängen an Wänden, stehen in Gärten und auf Plätzen. Neben den Wahlen erhitzt eine geplante Neugestaltung des Dorfkerns die Gemüter, es sind vor allem die Gegner*innen, die mobil machen, ihre Aushänge sind überall zu sehen. Es gibt hier aber nicht nur Politik, auch die Kultur hat ihren Platz. Verschiedene Theaterstücke werden angekündigt, was auf eine aktive Szene hinweist. Ebenso vielfältig ist das Angebot an Kursen zur Verbesserung des Wohlbefindens. Verschiedene Malund Kunsttherapien für Erwachsene und Kinder, gleich zwei Tantra-Angebote, Heilkreise, Rhythmische Massage-Therapie, Yoga oder Pilates.

Bald ist Fasnacht, ein wichtiger Termin, das diesjährige Motto: Ausser Betrieb.

Das gilt nicht für den Dorfkern, der ist gut erhalten, es lässt sich flanieren, die Autos dürfen höchstens 20 km/h fahren, die Häuser sind gut erhalten, es gibt verwinkelte Gassen und Kopfsteinpflaster, in einem stattlichen Haus ist die Stiftung Landruhe untergebracht, die sich vermutlich gegen Lärm engagiert. Das Einkaufsangebot umfasst Bioläden, Holzofenbäcker, eine Buchhandlung und sogar eine Dorfmetzgerei. Solche werden aufgrund ändernder Essgewohnheiten und Konkurrenz von Grossverteilern immer seltener.

Vor dieser steht eine Plastikkuh oder möglicherweise ist es ein Ochse, der zur danebenliegenden, gleichnamigen Wirtschaft gehört. Auch ein Rössli gibt es, neben verschiedenen Hotels. Das Gewerbe scheint zu blühen, ausser dem Schuhgeschäft, das liquidiert wird.

Andere bestehen schon seit sehr langer Zeit, wie das Weinbauschloss Birseck, bei dem es Wein und Spirituosen zu kaufen gibt. Dahinter liegen die Weinberge und die Burg Reichenstein, schon ist man richtig auf dem Land und möchte Spaziergänge unternehmen.

Doch erst wird der Dorfrundgang fortgesetzt. Auf dem ehemaligen Friedhof ist ein Bauerngarten entstanden, der von Freiwilligen betreut wird, neben dem Bahnhof stehen Hochbeete, die Teil der «Essbaren Gemeinde» sind und deren Produkte von allen geerntet werden dürfen, mit der gebotenen Sorgfalt, um die gebeten wird. Im ganzen Ort stehen Statuen und Plastiken sowie Brunnen, einer davon stellt den Froschkönig dar, der eben die goldene Kugel zurückbringt. Anstelle einer Kirche gibt es einen veritablen Dom, in dem jemand Orgel spielt. Es ist ein prächtiges Gebäude mit Deckenmalereien und kunstvoll geschnitzten Bänken. Am davor liegenden Domplatz sind die weltliche Gerichtsbarkeit und das Gemeindehaus angesiedelt.

Das anthroposophische Zentrum Sonnenhof liesse sich auf einem interaktiven Trail mit zehn Stationen erforschen, das Café ist noch geschlossen. In jenem beim Bahnhof wird französisch gesprochen, eine ältere Dame hört auf dem Handy die Hits ihrer Jugend und schaut Filme ihrer Enkel, ziemlich laut, aber es stört niemanden, man begrüsst sich mit Namen, trifft sich zum Kaffee oder isst gemeinsam zu Mittag. Dabei wird über Beschwerden und Krankheiten geklagt, es werden Tipps zu empfehlenswerten Therapien ausgetauscht. Die meisten werden im Ort angeboten.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher

Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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Tour de Suisse

Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

www.dp-immobilienberatung.ch

Kaiser

Sublevaris

Anyweb

Beat

Hypnose

Unterwegs GmbH, Aarau

Infopower GmbH, Zürich

Dipl. Steuerexperte Peter von Burg, Zürich Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich www.raeber-treuhand.ch

Beo Treuhand GmbH

Automation Partner AG, Rheinau Hervorragend.ch/Grusskartenshop

Barth Real AG

Sternenhof, Leben und Wohnen im Alter, Basel Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim

Inosmart Consulting GmbH

EVA näht: www.naehgut.ch

Gemeinnützige Frauen, Aarau

GEMEINSAM SCHAFFEN WIR CHANCEN

Nicht alle haben die gleichen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund bietet Surprise individuell ausgestaltete Teilzeitstellen in Basel, Bern und Zürich an – sogenannte Chancenarbeitsplätze.

Aktuell beschäftigt Surprise acht Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in einem Chancenarbeitsplatz. Dabei entwickeln sie ihre persönlichen und sozialen Ressourcen weiter und erproben neue berufliche Fähigkeiten. Von unseren Sozialarbeiter*innen werden sie stets eng begleitet. So erarbeiteten sich die Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiter*innen neue Perspektiven und eine stabile Lebensgrundlage.

Einer von ihnen ist Negussie Weldai «In meinem Alter und mit meiner Fluchtgeschichte habe ich schlechte Chancen auf dem 1. Arbeitsmarkt. Darum bin ich froh, bei Surprise eine Festanstellung gefunden zu haben. Hier verantworte ich etwa die Heftausgabe oder übernehme diverse Übersetzungsarbeiten. Mit dieser Anstellung ging ein grosser Wunsch in Erfüllung: Meinen Lebensunterhalt wieder selbst und ohne fremde Hilfe verdienen zu können.»

Scha en Sie echte Chancen und unterstützen Sie das unabhängige Förderprogramm «Chancenarbeitsplatz» mit einer Spende.

Mit einer Spende von 5000 Franken stellen Sie die Sozial- und Fachbegleitung einer Person für ein Jahr lang sicher.

Unterstützungsmöglichkeiten:

1 Jahr CHF 5000.–

½ Jahr CHF 2500.–

¼ Jahr CHF 1250.–

1 Monat CHF 420.–Oder mit einem Betrag Ihrer Wahl.

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Oder Einzahlungsschein bestellen: +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo oder surprise.ngo/spenden

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Marketing, Fundraising
Software GmbH, Bern
Heller IT + Treuhand GmbH, Tenniken
Buchhaltungsbüro Balz Christen, Dübendorf
GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
GmbH – time for a massage
Bodyalarm
AG, Zürich
Vogel – Fundraising-Datenbanken, Zürich Fäh & Stalder GmbH, Muttenz
Punkt, Jegenstorf
Herzlichen Dank fürIhrenwichtigen Beitrag!

#566: Kam p f um Anerkennun g «Diskriminierung vermeiden»

Ich wende mich an Sie, um zum Thema Integration und den damit verbundenen Herausforderungen meine Gedanken zu teilen. Aus persönlichen Gründen möchte ich anonym bleiben. Ich bin deutsche Staatsbürgerin mit Migrationshintergrund. Seit mehr als einem Jahr bewerbe ich mich intensiv um Positionen als Arztsekretärin in verschiedenen Spitälern. Ich verfüge über eine Ausbildung als Zahnmedizinische Fachangestellte, einen Betriebswirt im Sozialwesen sowie die kurz vor dem Abschluss stehende Qualifikation als Medizinische Sekretärin H+ in Zürich. Meine Deutschkenntnisse sind verhandlungssicher. Leider erhalte ich konstant Absagen mit der Begründung, dass mir die Erfahrung im Spitalwesen fehle. Dies steht im starken Kontrast zu Erfahrungen meiner Schweizer Klassenkameradin, einer 48-jährigen Friseurin, die trotz fehlender Erfahrung im Spitalwesen regelmässig zu Vorstellungsgesprächen eingeladen wurde und bereits einen Job in einem Krankenhaus gefunden hat. Es belastet mich besonders, wenn mir vorgeworfen wird, mich nicht ausreichend zu integrieren und keine Schweizerin sein zu wollen. Diese Vorwürfe stehen im Widerspruch zu meinem Bemühen, ein vollwertiger Teil der Gesellschaft zu sein. Als gebürtige Türkin habe ich bereits in Deutschland Rassismuserfahrungen gemacht, weshalb es für mich besonders entmutigend ist, erneut aufgrund meiner Herkunft Vorurteilen ausgesetzt zu sein. Ich appelliere an ein faires und objektives Auswahlverfahren, das die individuellen Qualifikationen und Fähigkeiten in den Vordergrund stellt, um Diskriminierung aufgrund von Herkunft und Ethnizität zu vermeiden.

ANONYM, Zürich

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Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif)

Klaus Petrus (kp), Lea Stuber (lea), Sara Winter Sayilir (win) T +41 61 564 90 70 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Ständige Mitarbeit

Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe

Helena Hunziker, Hans Rhyner, Luca Wiggers, Pia Zanetti

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

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#568: «Weit verbreitet, tief verwurzelt» «Als ob die Schweizer generell so dächten» Gerade habe ich den oben zitierten Artikel gelesen und war schockiert, denn ich hatte immer gehofft, dass es heute ein wenig besser sei als noch in der Zeit, in der ich aufwuchs (ca. Mitte 20. Jh.). Ich möchte hier in aller Öffentlichkeit sagen: Das sind gewisse Kreise, die so denken und reden, und sie machen speziell viel Lärm. Nicht, dass das die Situation verbessern würde, aber es ist auch nicht fair, so zu tun, als ob die Schweizer generell so dächten und handelten. Ausserdem braucht man nicht von Fahrenden abzustammen, um unter Umständen feindseligen Anwürfen ausgesetzt zu sein – gerade in den grossen Städten, wo mancher glaubt, die generelle Anonymität erlaube es ihm, die Sau rauszulassen. Ich kenne z. B. jemanden (hier geboren und aufgewachsen), der seinen Familiennamen konsequent unterdrückt, wo er kann, mit der Begründung: «Damit hast du nichts als Probleme.» Ergänzend möchte ich festhalten, dass ich (sofort, auf der Stelle) online nach dem im Artikel zitierten Buchtitel gesucht habe und feststellte: Es ist als Lehrmittel für die Primarschule deklariert – mit Unterstützung des Bundesamts für Kultur BAK und der Fachstelle des Bundes für Rassismusbekämpfung FRB. Und man kann es sogar gratis herunterladen. Zwar ist es nicht vom Lehrmittel-Verlag publiziert worden, aber immerhin wurde die Sache unterstützt. Man kann unserem Staat allerhand vorwerfen (ganz speziell, was den damaligen Kinderraub durch die Pro Juventute bei den Jenischen betrifft), aber nicht, dass er hier bei diesem Lehrmittel nun nicht eindeutig Stellung bezogen hat. Nun ist es an uns, das Buch auch zu lesen (ganz besonders, weil wir ja alle nicht mehr in der Primarschule sind).

MARGARET PAVLETIC, ohne Ort

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Surprise 570/24 29 Wir alle sind Surprise

«Der Schmerz wird immer bleiben»

«Ich stamme aus dem Süden von Eritrea. Meine Eltern waren Bauern, und wir lebten nahe der Grenze zu Äthiopien. Da die Schule weit weg war, musste ich unter der Woche bei einer anderen Familie wohnen. Das Leben dort und die Trennung von meiner Familie fielen mir nicht leicht. Zudem war Krieg. Anfang der 1960er-Jahre hatte der Unabhängigkeitskrieg begonnen, in dem Eritrea – damals nur ein Verwaltungsdistrikt von Äthiopien – für seine Eigenständigkeit kämpfte.

Nach der Schulzeit begann für alle der Militärdienst. Die ersten sechs Monate war militärisches Training, danach wurde ich zum Lehrer ausgebildet. Ab 1988 arbeitete ich als Mathematikund Englischlehrer, später wurde ich Schuldirektor und schliesslich Supervisor für Lehrpersonen in unserer Region. In jener Zeit heiratete ich und gründete mit meiner Frau eine Familie. Anfang der 1990er-Jahre wurde Eritrea unabhängig, es herrschte im ganzen Land eine euphorische Stimmung. Doch leider dauerte dies nicht lange, bereits 1998 flammte ein neuer Krieg mit Äthiopien auf. Für uns als Familie mit fünf Kindern wurde es immer schwieriger durchzukommen. Obwohl ich für das Erziehungsdepartement arbeitete, reichte der Lohn kaum zum Leben.

2008 setzte sich unsere älteste Tochter aus dem Militärdienst ab, weil sie es nicht mehr aushielt, und flüchtete in die Schweiz. Das war der Moment, als sich auch der Rest der Familie überlegte, Eritrea zu verlassen. Im Herbst 2011 war es dann so weit: Der älteste Sohn, die zweitälteste Tochter und ich wagten ebenfalls die Flucht. Es folgten viele gefährliche und schlimme Momente beim nächtlichen Grenzübertritt nach Äthiopien, im Flüchtlingslager in Äthiopien, im Gefängnis in Libyen, auf dem komplett überfüllten Boot auf dem Mittelmeer, bis wir im Mai 2014 endlich die Schweizer Grenze erreichten.

Doch das Schlimmste geschah erst in der Schweiz. Mein Sohn, meine Tochter und ich wurden nach unserer Ankunft dem Kanton Solothurn zugeteilt und in Schönenwerd untergebracht, nahe der Aare. Dort kam mein Sohn im Juli 2015 bei einem Badeunfall ums Leben – er wurde nur neunzehn Jahre alt.

Die Zeit nach dieser Tragödie war für uns alle unglaublich schwierig und traurig. Ein wenig Trost brachte uns, dass meine Frau und die beiden jüngeren Kinder, eine Tochter und ein Sohn, uns 2017 im Familiennachzug folgen konnten. Und dass die Kinder hier eine Ausbildung abgeschlossen haben oder am Abschliessen sind. Freude ins Leben bringen meiner Frau und mir auch unsere drei Enkelkinder. Der Schmerz über den Verlust wird aber immer bleiben.

Weil ich sonst keine Arbeit gefunden habe, aber unbedingt etwas machen und eigenes Geld verdienen will, verkaufe ich seit

Measho Hadera, 58, verkauft Surprise in Langendorf bei Solothurn und schreibt Tigrinya-Lehrmittel sowie Kurzgeschichten.

drei Jahren täglich beim ‹Ladedorf› in Langendorf bei Solothurn, ganz in der Nähe unseres Wohnorts, das Surprise-Magazin. Vor vier Jahren war ich in einem Projekt zur Arbeitsintegration und hoffte, auf diesem Weg leichter einen Job zu finden. Doch dann kam Corona, und wir wurden alle nach Hause geschickt. Als die Lage wieder besser wurde, teilte man mir mit, ich brauche nicht zurückzukommen, ich sei sowieso zu alt, um noch eine Arbeit zu finden. Die Zeit während der CoronaPandemie und ohne Arbeit habe ich dann genutzt, um zwei Tigrinya-Lehrmittel zu schreiben. Sie sollen eritreisch-stämmigen Kindern helfen, hier Tigrinya lesen und schreiben zu lernen. Das ist nicht ganz einfach, da die Schrift eine ganz andere ist. Ab und zu helfe ich meinen Enkelkindern oder auch Kindern aus dem Bekanntenkreis beim Tigrinya-Lernen.

Ich selber schreibe auch sehr gerne, oft sind es Kurzgeschichten, manchmal auch längere Texte. Ich überlege mir, einige davon auf Deutsch zu übersetzen und sie irgendwo zu veröffentlichen.»

Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN

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Surp rise-Porträt
FOTO: KLAUS PETRUS

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

ERLEBEN SIE BASEL, BERN UND ZÜRICH AUS EINER NEUEN PERSPEKTIVE.

Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah.

Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

BETEILIGTE CAFÉS

IN AARAU Naturama Aargau, Feerstr. 17 | Rest. Schützenhaus, Aarenaustr. 1 | Rest. Sevilla, Kirchgasse 4 | the green corner, Rain 27 IN ALSTÄTTEN Familien- und Begegnungszentrum Reburg, Rathausplatz 1 | Zwischennutzung Gärtnerei, Schöntalstr. 5a IN ARLESHEIM Café Einzigartig, Ermittagestr. 2

IN BAAR Elefant, Dorfstr. 1 IN BACHENBÜLACH Kafi Linde, Bachstr. 10 IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstr. 18 & Elsässerstr. 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Barista Bar Basel, Schneidergasse 16 | Bioladen Feigenbaum, Wielandplatz 8 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café Spalentor, Missionsstr. 1 Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Eiscafé Acero, Mörsbergerstr. 2 | Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Flore, Klybeckstr. 5 frühling, Klybeckstr. 69 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | KLARA, Clarastr. 13 | L’Ultimo Bacio Gundeli, Güterstr. 199 Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Hirzbrunnen, Im Rheinacker 15 | Quartiertreff Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreff Lola, Lothringerstr. 63 | Shöp, Gärtnerstr. 46 | Tellplatz 3, Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 | Wirth’s Huus, Colmarerstr. 10 IN BERN Äss-Bar, Marktgasse 19 | Becanto, Bethlehemstr. 183 | Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Burgunderbar, Speichergasse 15 | Café Kairo, Dammweg 43 | Café Paulus, Freiestr. 20 | DOCK8, Holligerhof 8 | Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Generationenhaus, Bahnhofplatz 2 | Hallers brasserie, Hallerstr. 33 | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa, Lorrainestr. 23 | Löscher, Viktoriastr. 70 | Luna Lena, Scheibenstr. 39 | MARTA, Kramgasse 8 | MondiaL, Eymattstr. 2b | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 | Rösterei, Güterstr. 6 | Sous le Pont, Neubrückstr. 8 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Tscharni, Waldmannstr. 17a IN BIEL Äss-Bar, Rue du Marché 27 | Genusskrämerei, Rathausgässli 4 | Inizio, Freiestrasse 2 | Treffpunkt Perron bleu, Florastrasse 32 IN BURGDORF Bohnenrad, Bahnhofplatz & Kronenplatz | Specht, Hofstatt 5 IN CHUR Loë, Loestr. 161 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstr. 3a IN FRAUENFELD Be You Café, Lindenstr. 8 IN HAUSEN AM ALBIS Café Palaver, Törlenmatt 1 IN LENZBURG Chlistadt Kafi, Aavorstadt 40 | feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer, Rheinstr. 20b IN LUZERN Arlecchino, Habsburgerstr. 23 | Bistro Vogelgärtli, Sempacherstr. 10 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Markt Wärchbrogg, Alpenquai 4 & Baselstr. 66 | Meyer Kulturbeiz & Mairübe, Bundesplatz 3 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Rest. Wärchbrogg, Alpenquai 4 | Sommerbad Volière, Inseliquai IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse, Emil-FreyStr. 159 IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN OBERWIL IM SIMMENTAL Gasthaus Rossberg, Rossberg 557 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN SISSACH Cheesmeyer, Hauptstrasse 55 IN STEFFISBURG Offenes Höchhus, Höchhusweg 17 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN UEKEN Marco’s Dorfladen, Hauptstr. 26 IN USTER al gusto, Zürichstrasse 30 | Kafi Domino, Gerberstrasse 8 IN WIL Caritas Markt, Ob. Bahnhofstr. 27 IN WINTERTHUR Bistro Sein, Industriestr. 1  IN ZOLLIKOFEN Café Mondial, Bernstrasse 178 IN ZUG Bauhütte, Kirchenstr. 9 | Podium 41, Chamerstr. 41 IN ZÜRICH Bistro Karl der Grosse, Kirchgasse 14 Café Noir, Neugasse 33 | Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | das GLEIS, Zollstr. 121 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 Freud, Schaffhauserstr. 118 | GZ Bachwiesen, Bachwiesenstr. 40 | GZ Wipkingen, Breitensteinstr. 19a | GZ Witikon, Witikonerstr. 405 | jenseits im Viadukt, Viaduktstr. 65 | Kiosk Sihlhölzlipark, Manessestr. 51 | Kleinwäscherei, Neue Hard 12 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Quartiertr. Enge, Gablerstr. 20 | Quartierzentr. Schütze, Heinrichstr. 238 | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76 | Täglichbrot, Friesenbergplatz 5 | Zum guten Heinrich Bistro, Birmensdorferstr. 431

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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