bodo September 2020

Page 1

bodo DAS

09 | 20 Die besten Geschichten auf der Straße

IN STRASSENMAGAZ

2,50 Euro Die Hälfte für die Verkäuferin den Verkäufer

Sylvia Witt & Oliver Uschmann Seite 36

Festival: Favoriten 2020 Seite 4

EUROPEAN HOMECARE

E X E H D L A DI E W JUDITH VAN DE BRUCK NAT U RCOACH

GLÜCK STAT T KREMPEL HEGEFISCHEN 10 Mal RÜCKERT

NUR MIT AUSWEIS

1


IMPRESSUM

Herausgeber, Verlag, Redaktion: bodo e.V. , Schwanenwall 36 – 38, 44135 Dortmund 0231 – 950 978 0, Fax 950 978 20 Redaktionsleitung und V.i.S.d.P.: Bastian Pütter, redaktion@bodoev.de 0231 – 950 978 12, Fax 950 978 20 Layout und Produktion: Andre Noll, Büro für Kommunikationsdesign info@lookatnoll.de Veranstaltungskalender: Petra von Randow, redaktion@bodoev.de

INHALT

Festival Favoriten

Von Bastian Pütter

Anzeigenleitung: Susanne Schröder, anzeigen@bodoev.de 0231 – 950 978 0, Fax 950 978 20 Vertriebsleitung: Oliver Philipp, vertrieb@bodoev.de 0231 – 950 978 0, Fax 950 978 20 Autoren dieser Ausgabe: Sabrina Burbach, Chris, Alexandra Gehrhardt, Peter Hesse, Wolfgang Kienast, Bastian Pütter, Petra von Randow, Markus Roeser, Sebastian Sellhorst Titel: Daniel Sadrowski Bildnachweise: baumann-fotografie.de (S. 25), Laura Droße (S. 40), M. Hengesbach (S. 16), Birgit Hupfeld (S. 28), Andre Noll (S. 21), Jana Sophia Nolle (S. 16), Daniel Sadrowski (S. 3, 4, 6, 12, 13, 14, 15, 22, 23, 27, 30, 32, 33, 34), Sebastian Sellhorst (S. 2, 7, 8, 9, 10, 11, 18, 19, 20, 45, 46), Shutterstock.com (S. 22), Hardy Welsch (S. 39), Sylvia Witt (S. 36, 37) Druck: LN Schaffrath GmbH & Co. KG DruckMedien Auflage, Erscheinungsweise: 20.000 Exemplare, monatlich in BO, DO und Umgebung Redaktions- und Anzeigenschluss: für die Oktober-Ausgabe 10.09. 2020 Anzeigen: Es gilt die Anzeigenpreisliste 06. 2019 Verein: bodo e.V. ist als gemeinnützig eingetragen im Vereinsregister Dortmund Nr. 4514 Vereinssitz: Schwanenwall 36 – 38, 44135 Dortmund www.bodoev.de, facebook.com/bodoev

04

Zum zweiten Mal kuratieren Olivia Ebert und Fanti Baum das Dortmunder Festival Favoriten, das Arbeiten aus Performance, Tanz und Theater der freie Szene NRWs zeigt. Bei „While we are working“ geht es auch um die Produktionsbedingungen freier Kunst in Zeiten von Corona.

Lukrative Geschäfte

18

Dortmund passt seine Angebote in der Wohnungslosenhilfe dem gestiegenen Bedarf an. Nun hat auch den Zuschlag für eine Notschlafstelle für junge erwachsene Wohnungslose der Dienstleister European Homecare erhalten – ein Akteur, der in einzigartiger Weise soziale Arbeit ökonomisiert. Von Alexandra Gehrhardt

Manchmal Murp machen

36

Mit „Hartmut und ich“ schufen Oliver Uschmann und Sylvia Witt 2005 einen wunderbaren Bochumer Pop-Roman, aus dem eine ganze „Hui“-Welt erwuchs. In der Ascheberger Textwerkstatt entstehen Jugendbücher, Ratgeber, Sachbücher und Anthologien. Von Wolfgang Kienast

Vorstand: Andre Noll, Verena Mayer, Marcus Parzonka verein@bodoev.de Geschäftsleitung, Verwaltung: Tanja Walter, 0231 – 950 978 0, verein@bodoev.de Öffentlichkeitsarbeit: Alexandra Gehrhardt, Bastian Pütter 0231 – 950 978 0, redaktion@bodoev.de Transporte, Haushaltsauflösungen: Brunhilde Posegga-Dörscheln, 0231 – 950 978 0, transport@bodoev.de Buchladen, Spendenannahme Dortmund: Schwanenwall 36 – 38, 44135 Dortmund 0231 – 950 978 0, Mo. – Fr. 10 – 18 Uhr, Sa. 10 – 14 Uhr Anlaufstelle und Vertrieb Dortmund: Schwanenstraße 38, 44135 Dortmund Mo. – Fr. 10 – 13 Uhr Spendenannahme Bochum: Kleiderkammer Altenbochum und Laer Liebfrauenstraße 8 – 10, 44803 Bochum Mo. 10 – 13 Uhr, Sa. 10 – 12 Uhr Anlaufstelle und Vertrieb Bochum: Henriettenstraße 36, Ecke Bessemerstraße 44793 Bochum, Mo., Do., Fr. 11 – 14 Uhr Di. 11 – 17.30 Uhr, Mi. 8 – 14 Uhr Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE44 3702 0500 0007 2239 00 BIC: BFSWDE33XXX

Chris, bodo-Verkäufer in Bochum Liebe Leserinnen und Leser, was für eine verrückte Zeit. So langsam geht mir Corona ziemlich auf die Nerven. Aber bei wem ist das nicht so? Zum Glück habe ich jetzt seit etwas mehr als einem Jahr wieder eine Wohnung in Wattenscheid. Da lebe ich mich so langsam ein, und allmählich habe ich auch meine Einrichtung komplett zusammen. Zuletzt habe ich einen neuen Kleiderschrank bekommen, den ich bald aufbauen werde. Dass bodo bald auch einen Laden im Ehrenfeld aufmacht, finde ich natürlich großartig. Da ich ja im Bermudadreieck und eigentlich auch am Schauspielhaus, das leider lange geschlossen war, verkaufe, ist bodos neuer Laden dann ja quasi direkt an meinem Verkaufsplatz. Da finde ich es natürlich spitze, wenn wir hier gut sichtbar sind und ich auch in Zukunft direkt hier bodos bekommen kann. Ich hab auch schon mit einigen Anwohnern hier an der Königsallee gesprochen, die haben sich bis jetzt auch alle gefreut über uns als neue Nachbarn. Jetzt kann es also von mir aus langsam alles wieder richtig losgehen. Bis dahin in Bochum, Ihr Verkäufer und Stadtführer Chris

2


EDITORIAL

04 Menschen | Fanti Baum & Olivia Ebert 07 Straßenleben | Die Not wird größer 08 Neues von bodo 12 Reportage | Waldbaden in Hattingen 16 Das Foto 16 Mieten & Wohnen | Wohnen und Kommunalwahlen 17 Kommentar | Alle sind draußen 17 Die Zahl 18 Reportage | European Homecare 21 Soziales | Tod auf der Straße 22 Wilde Kräuter | Bucheckern & Taubnesseln 23 Kultur | Ein Erdzeitalter später 24 Veranstaltungskalender 29 Kinotipp | Futur Drei 30 bodo geht aus | Katjushas Foodwerk 32 Reportage | Hegefischen 36 Kultur | Manchmal muss es Murp sein 39 Eine Frage… | Wie braut man Bier ohne Alkohol? 40 Interview | Tausche Krempel gegen Glück 43 Bücher 44 Leserpost 45 Leserpost | Rätsel 46 Verkäufergeschichten | Efstratios

Liebe Leserinnen und Leser, ich hoffe, es geht Ihnen gut. Gegen den Corona-Blues hilft das zu tun, was möglich ist, finden wir – und Pläne zu schmieden. Wir versuchen es zum Beispiel mit Waldbaden (unsere Titelgeschichte) und mit Hegefischen. Wir lassen uns erklären, wie man den unnötigen Krempel aus den Schränken bekommt und vielleicht sogar mit drei Kisten Kram auskommt. Wir freuen uns auf die Neustarts unserer Theater und auf das Festival Favoriten, auf das Dortmunder Naturmuseum, das nun endlich wiedereröffnet wird, und darüber, dass unser Kalender wieder ausschließlich mit „Live“Veranstaltungen gefüllt ist. Und was das Plänemachen angeht: Wir bereiten mit unserem Netzwerk wetterfeste Lösungen für die Versorgung Wohnungsloser in der nassen und kalten Jahreszeit vor, und wir machen die ersten Schritte in Richtung eines neuen Konzepts zur Unterbringung Obdachloser in Übergangswohnungen – gemeinsam mit unseren Partnern von der AWO. Mit ihnen haben wir in den vergangenen Jahren Not-Apartments für Menschen von der Straße betrieben – weil alles besser ist als eine Notschlafstelle. (Den Grund dafür lesen Sie auch bei uns.) Ein Plan wird in diesem Monat übrigens endlich umgesetzt – wir erfüllen uns damit einen langgehegten Wunsch: Am 30. September eröffnen wir einen Buchladen im Bochumer Ehrenfeld schräg gegenüber dem Schauspielhaus. Bücher schaffen Stellen. Wir freuen uns darauf!

Ihre Meinung ist uns wichtig. Seite 44

Viele Grüße von bodo Bastian Pütter – redaktion@bodoev.de

Von Nothilfe bis Neuanfang: Helfen Sie helfen.

Von der Straße direkt in eine eigene Wohnung: Wir arbeiten als zertifizierte „Housing first“-Coaches daran, Obdachlosigkeit direkt und dauerhaft zu beenden. Mit Ihrer Hilfe.

Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE44 3702 0500 0007 2239 00 3


MENSCHEN

Während wir arbeiten

4


Die meisten Menschen haben schon im Alltag mit der Planungsunsicherheit und den sich ändernden Regeln und Wissensständen in der Pandemie zu kämpfen. Wie organisiert man unter diesen Bedingungen ein zehntägiges Festival? Olivia Ebert: Das war die Frage ab März. Lange ging es darum, ob wir das Festival überhaupt machen und wie wir uns vorbereiten können: Wie können wir fair mit Team und KünstlerInnen umgehen, Verabredungen halten – und welche Möglichkeiten gab und gibt es, einen eventuellen Ausfall, der eigentlich durchgehend nicht unwahrscheinlich erschien, abpuffern zu können? Fanti Baum: Das hat uns noch einmal deutlich vor Augen geführt, unter welchen Bedingungen wir arbeiten, auch vor dem Hintergrund der krisenhaften Erfahrung der Absage der Ruhrtriennale. Was passiert mit all den KünstlerInnen, die nicht auftreten können, was passiert mit den TechnikerInnen? Wie geht dieses Land NRW mit seinen freien Kulturschaffenden um? Spätestens da wussten wir, Favoriten muss anders sein! Uns hat es gezeigt, wo es etwas zu verteidigen gibt. Toll war zu erleben, wie klar die Position bei der Stadt Dortmund bei der Frage möglicher Ausfallhonorare war. Inzwischen sind wir gut gewappnet. Und hoffentlich geht es am 10. September einfach mit dem Festival los. Mit den Themen des Festivals gesprochen: Nach der Frage, wie Arbeit bezahlt wird, ging es dann vermutlich um die Arbeitsbedingungen: Wie funktioniert Kunst unter Hygienevorschriften? O.E.: Ja, dann kamen die Regeln. Was ist überhaupt möglich? Wie viele ZuschauerInnen sind erlaubt? Was darf man auf der Bühne überhaupt machen? Hier gibt es eigentlich seit Monaten durchgehend eine große Dynamik. F.B.: Im Vorfeld hieß das: Wir haben mit 23 KünstlerInnen und Gruppen telefoniert und erklärt: Das sind die aktuellen Bedingungen – was heißt das für euch? Wollt ihr spielen? Habt ihr Angehörige von Risikogruppen im Ensemble? Zeitweise ging es um Abstandsregeln auf der Bühne. O.E.: Es gibt ganz irritierende neue Kriterien, die einbezogen wurden, etwa „exzessives Sprechen“ oder „exzessiver Tanz“. Das hat durchaus Sinn, gleichzeitig entscheiden damit nichtkünstlerische Logiken, welche Kunstform besser reagieren kann und welche nicht. Jetzt sind wir ganz guter Dinge, aber natürlich furchtbar verspätet. Im gedruckten Programm stehen etwa noch gar keine Uhrzeiten, diese finden sich aber auf der Website. Irgendwann tritt dann der Perfektionismus erzwungenermaßen zurück und lässt dem Pragmatismus den Vorrang. Um welche Fragen geht es bei „While we are working“? O.E.: Für uns sind es die grundsätzlichen Fragen: Wie ist Arbeit verteilt? Was wird als Arbeit anerkannt? Welche Arbeit ist bezahlt, welche unbezahlt? Das wollen wir mit unserem Programm thematisieren, die Strukturen befragen. Eine künstlerische Strategie ist es ja, sich eine andere Welt auszumalen, um die bestehende zu kritisieren. Ich bin zu sehr Realistin und sehe auch etwa den Rückfall in klassische Rollenmodelle, als dass ich Corona als große Chance begreifen könnte. Die Krise hat gleichwohl mehr Menschen auf sich verschärfende Ungleichheiten aufmerksam gemacht.

Alle zwei Jahre lädt das traditionsreiche Theaterfestival Favoriten die freie Szene Nordrhein-Westfalens nach Dortmund ein. Unter dem Titel „While we are working“ werden im September Arbeiten aus Performance, Tanz und Theater präsentiert. Als die Vorbereitungen begannen, ahnten die künstlerischen Leiterinnen Olivia Ebert (links) und Fanti Baum nicht, dass die Produktionsbedingungen freier Kunst auch auf ganz drastische Art Thema werden würden. Favoriten 2020 ist eines der ersten Festivals vor Publikum in Zeiten von Corona. Von Bastian Pütter | Fotos: Daniel Sadrowski

Baum & Ebert Fanti Baum: freie Künstlerin und Dramaturgin in Theater, Performance und Theorie Olivia Ebert: freie Kuratorin und Dramaturgin Gemeinsame Arbeiten: Festival Favoriten, Dortmund 2018 Reihe „off the record. Denken in präziser Unschärfe“, Frankfurt a.M. 2017 Performance-Festival „implantieren“, Frankfurt a.M. 2016

5


MENSCHEN

F.B.: Ein Beispiel ist das „Erste Oberhausener Arbeitslosen-Ballett“ von Thomas Lehmen, mit dem wir gerade in das ehemalige Ladenlokal von Backyard am Westenhellweg einziehen. Thomas Lehmen richtet sein „Brauchsse Jobb? Wir machen Kunst!“ an Arbeitslose in allen Lebenslagen. Die Arbeit thematisiert Grundfragen der Arbeitsgesellschaft, aber natürlich auch die Rolle der KünstlerInnen in dieser Stadt. Mit Johan Simons in Bochum und dann mit Julia Wissert in Dortmund haben sich die Ensembles der Stadttheater hier zuletzt deutlich diversifiziert. In der freien Szene nehmen (post-)migrantische Positionen längst eine wichtige Rolle ein. Wie zeigt sich das bei Favoriten? F.B.: Wir können in Dortmund nicht über Arbeit sprechen, ohne über Migration zu sprechen. In Dortmund gehört Diversität seit über hundert Jahren zum Alltag. Auch wenn diese Nachricht nur langsam in den Institutionen ankommt, gibt es in der freien Szene natürlich Positionen, die nicht weiß sind und die versuchen, dieses Theater anders zu adressieren. O.E.: Gleichzeitig haben wir beschlossen, Gestaltungsraum abzugeben und Tunay Önder („migrantenstadl“) aus München eingeladen, die mit dem Projekt „Maşallah Dortmund“ vier Tage lang postmigrantische Positionen in der Nordstadt versammelt.

F.B.: Besonders ist für uns die Premiere „Metamorphose“ von David Guy Kono, der Exilerfahrungen mit Kafkas „Verwandlung“ zusammenbringt. Das ist eine Dortmunder Arbeit, die wir in ihrer künstlerischen Entstehung schon sehr lang begleiten und unterstützen. Eine Kontinuität bei Favoriten ist das Bespielen theaterferner Orte. Diesmal geht es unter anderem in die Gartenstadt. O.E.: Genau, um Wohnen als soziale Frage zu thematisieren. Philine Velhagen bespielt ein Wohnhaus und stellt in einer Hausbesichtigung Fragen nach Besitz und Zugang zu Wohnraum. Als Zuschauerin stöbert man zunächst durch die Räume, später rückt die Geschichte des Hauses in den Mittelpunkt, es beginnt selbst zu erzählen. Aus den vereinzelten WohnungsinteressentInnen entsteht eine temporäre Hausgemeinschaft. Ihr arbeitet beide in den unterschiedlichsten Rollen – Kuratorin, Regisseurin, Performerin, Dozentin – und in ganz Deutschland im Feld Theater. Was ist das Besondere an Favoriten? O.E.: Zu Favoriten gehört der Spagat: Einerseits gibt es auch bei uns das besondere Bemühen, das Festival in der Stadt im wahrsten Sinne zu verorten und damit zu öffnen. Gleichzeitig ist es eine Plattform für die freie Szene in NRW F.B.: Das Besondere an Favoriten ist der Versuch, das künstlerische Experiment in die Stadtgesellschaft zu tragen. Wir begreifen die Produktionen der freien Szene als Avantgarde für alle – sie sind in bestimmter Weise voraussetzungslos. Es klappt auch ohne Goethe – auch wenn es uns nicht immer gelingt, nichtakademisch zu agieren, ist Favoriten eine Einladung – aus Überzeugung, dass Kunst für alle ist. O.E.: Manchmal besteht ja die Schwierigkeit, dass man von klassischem Theater eher ein Bild hat als von Performance und Tanztheater. Wir laden dazu ein, über die Fragen und Themen einen Zugang zu finden. Es geht selten ums Verstehen in den Arbeiten, die wir einladen, es geht eher ums Erfahren – und darum, Fragen zu stellen.

Favoriten 2020 10. – 20. September Depot Dortmund, DietrichKeuning-Haus, Werkhalle und weitere Spielorte Tickets und Infos unter www.favoriten-festival.de

6


STRASSENLEBEN

46.610 wohnungslose Menschen zählt die aktuelle Wohnungsnotfallberichterstattung für NRW, auch Bochum und Dortmund verzeichnen einen weiteren Anstieg. Und es könnten, bedingt durch die wirtschaftliche Entwicklung unter Corona, noch mehr werden. Von Alexandra Gehrhardt | Foto: Sebastian Sellhorst

Die Not wird größer

I

mmer am 30. Juni eines Jahres melden Kommunen und freie Träger dem Landessozialministerium, wie viele Menschen in kommunalen Unterkünften, städtischen Wohnungen oder anderen Wohnangeboten untergebracht sind. Die Lücken dieser Methode sind bekannt: Sie bildet nur das Hellfeld ab. Menschen, die solche Einrichtungen nicht nutzen, im System der Wohnungslosenhilfe gar nicht ankommen und bei Bekannten oder draußen schlafen, werden bisher nicht erfasst. Trotzdem hilft sie, Entwicklungen abzulesen. Zum Stichtag (30. Juni 2019) waren in Dortmund insgesamt 1.681 Menschen als wohnungslos gemeldet (2018: 1.411), in Bochum 900 (2018: 875). NRW-weit hat sich die Zahl der erfassten Personen in den letzten fünf Jahren mehr als verdoppelt. Und sie wird, so ist zu befürchten, weiter steigen. In der Corona-Krise wächst die Gefahr des Wohnungsverlustes vor allem für Geringverdienende, die schon vorher ihre Miete nur so eben schultern konnten und nun in Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit keine Rück-

lagen (mehr) haben. Das schon wieder ausgelaufene Mietenmoratorium hat Mietschulden nicht verhindert, sondern lediglich verschoben. Die NRW-Statistik zeigt auch: Wohnungslosigkeit dauert länger. Die Hälfte der ordnungsrechtlich Untergebrachten war zum Stichtag schon länger als zwei Jahre wohnungslos – ein deutlicher Anstieg zum Vorjahr. Scheinbar funktioniert also der (Rück-)Weg aus der Unterkunft in eine eigene Wohnung nicht so, wie er sollte. Das dürfte vor allem am anhaltenden Mangel an bezahlbarem Wohnraum liegen, aber auch an Hürden wie negativen Schufa-Einträgen, die Vermieter abschrecken. Für Jutta Henke, Geschäftsführerin der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (bodo 08.20), liegt ein Schlüssel nicht nur in der Beendigung von Wohnungslosigkeit, sondern auch in ihrer Abwendung: „Unvermeidbare Wohnungsverluste gibt es viel weniger, als man glaubt.“ 251 Haushalte wurden 2019 in Bochum zwangsgeräumt, in Dortmund waren es 595.

7


NEUES VON BODO

Krisen-Hilfe Wir haben uns schon im April sehr gefreut, als Beschäftigte der Wirtschaftsentwicklung Bochum auf einen Teil ihres Gehalts verzichteten, um uns, mitten in der Krise, mit einer riesigen Geldspende unterstützten. Nun konnten wir uns mit Markus Majdaniuk (links), Mitarbeiter der Wirtschaftsentwicklung und Ideengeber zur Aktion, treffen und berichten, wie wir die 23.000 Euro verwenden: für das Lasten-E-Rad zum Beispiel, das uns bei unseren „Kaffee & Knifte“-Versorgungstouren durch die Innenstadt und bei Transportfahrten sehr helfen wird, für neue Shirts und Kappen für unsere VerkäuferInnen und für die Notversorgung wohnungs- und obdachloser Menschen. Herzlichen Dank noch einmal an alle SpenderInnen!

TERMINE „EU-Freizügigkeit und menschenwürdige Arbeit“ Podiumsdiskussion AWO-Integrationsagentur Dortmund 15. September, 16 Uhr Blücherstraße 27, Eintritt frei Anmeldung: Tel. 0231 – 9 93 40 Soziale Stadtführungen Dortmund, 12. Sept., 11 Uhr Bochum, 19. Sept., 11 Uhr 9 Euro (inkl. Straßenmagazin) Anmeldung unter Tel. 0231 – 950 978 0 8

Courage-Tag

Faire Mobilität

Vor 25 Jahren wurde das Dortmunder Immanuel Kant Gymnasium die erste „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ in Deutschland. Heute gibt es über dreitausend Courage-Schulen bundesweit. Zum Dortmunder Courage-Tag im Fußballmuseum am 9. September im coronabedingt kleineren Kreis ist der ehemalige Basketballprofi, Unternehmensberater, Mentalcouch und Protagonist des Buches „Deutschland für eine Saison“ Wilbert Olinde eingeladen. Im Gespräch mit Najma Ali (Stadtgymnasium) und Bastian Pütter (bodo) wird er seine Lebensgeschichte erzählen und damit von Krisen und Neuanfängen, von rassistischer Diskriminierung und von Courage.

Die Corona-Ausbrüche unter Saisonarbeitern haben ein Schlaglicht auf „EU-Freizügigkeit und menschenwürdige Arbeit“ geworfen. Unter diesem Titel veranstaltet am 15. September die Integrationsagentur der AWO Dortmund in Kooperation mit bodo eine Podiumsdiskussion. Es diskutieren Anja Butschkau, SPD-Landtagsabgeordnete und Sozialarbeiterin, Szabolcs Sepsi, Teamleiter der DGB-Beratungsstelle „Faire Mobilität“, und Peter Kossen, katholischer Pfarrer in Lengerich und Kämpfer gegen das Arbeitsunrecht in der westfälischen Fleischindustrie. Moderation: Bastian Pütter (bodo). Blücherstraße 27, Eintritt frei, Anmeldung: 0231 – 9 93 40, Beginn: 16 Uhr.


Anzeigen

Unter dem Dach des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Dortmund haben sich rund 200 gemeinnützige Vereine, Organisationen und Initiativen zusammengeschlossen. Sie bieten Unterstützungsleistungen in allen Lebensbereichen an:

bodo, Bücher, Bochum Am 30. September eröffnen wir an der Königsallee 12 am Bochumer Schauspielhaus ein modernes Antiquariat.

n n n n n n n

Beratung bei Ehe- und Lebenskrisen Unterstützung bei der Betreuung von Kindern Angebote für Jugendliche und junge Erwachsene Unterstützung bei psychischen Erkrankungen Hilfen für Menschen mit Behinderungen Hilfen in Notlagen und bei besonderen sozialen Schwierigkeiten Selbsthilfeunterstützung

Kontakt über Paritätischer Wohlfahrtsverband NRW Kreisgruppe Dortmund Ostenhellweg 42-48/Eingang Moritzgasse | 44135 Dortmund Telefon: (0231) 189989-0, Fax: -30 dortmund@paritaet-nrw.org | www.dortmund.paritaet-nrw.org

Auf eine große Eröffnungsfeier verzichten wir, freuen uns aber auf Ihren Besuch zu unseren (vorläufigen) Öffnungszeiten: Mo. – Fr. 14 – 18 Uhr, Sa. 10 – 14 Uhr. Wir freuen uns auf Sie! www.bodoev.de

Stadt von unten Mit neuen Stadtführern auf neuen Routen, mit beschränkter Teilnehmerzahl und Geschichten aus der Wohnungslosigkeit in der Pandemie bieten wir wieder buchbare Gruppenführungen an sowie offene Führungen an jedem zweiten Samstag in Dortmund und an jedem dritten Samstag in Bochum, jeweils um 11 Uhr. Treffpunkte sind die jeweiligen Anzeigetafeln im Hauptbahnhof, eine Anmeldung ist erforderlich. Der Kostenbeitrag beträgt 9 Euro, das aktuelle Straßenmagazin ist im Preis inbegriffen. Auf der gut zweistündigen Tour zeigen unsere Stadtführer die Stadt aus Sicht der Wohnungslosen und bieten Einblicke in die Hilfesysteme der Städte. Anmeldung unter Tel. 0231 – 950 978 0

Modernes Antiquariat Schwanenwall 36 – 38 Mo. – Fr. 10 bis 18 Uhr 44135 Dortmund Sa. 10 bis 14 Uhr

bodo SCH AFFT CHA NCE

N

10.000 GUTE BÜCHER BEI BODO AM SCHWANENWALL 9


NEUES VON BODO

10 x Rückert Der Grafiker, Karikaturist und Zeichner Günter Rückert gehört wohl zu den bekanntesten Künstlern Dortmunds. Als Regisseur hat er mehr als 20 Jahre lang den Geierabend mitgestaltet, als bildender Künstler die Stadt und viele ihrer bekannten Figuren verewigt. Auf Initiative Hans von Dormalens, Leiter des Minna-Sattler-Zentrums der AWO und Initiator unseres Kooperationsprojekts, das Übergangsapartments für Obdachlose zur Verfügung stellt, hat Günter Rückert zehn Porträts bedeutender Persönlichkeiten zur Verfügung gestellt, die nun als hochwertiges Postkarten-Set zu erwerben sind. „10 Portraits – 10 x Rückert“ ist zum Preis von 7 Euro erhältlich im Minna-Sattler-Seniorenzentrum und im Atelier von Günter Rückert – und natürlich im bodo-Buchladen, Schwanenwall 36 – 38 in Dortmund.

SOZIALES „Containern“ bleibt Diebstahl: Wer Kleidung oder Lebensmittel aus Müllcontainern nimmt, begeht einen Diebstahl. Diese Rechtsprechung bekräftigte im August das Bundesverfassungsgericht und wies eine Verfassungsbeschwerde zweier Studentinnen zurück. Der Gesetzgeber dürfe grundsätzlich auch das Eigentum an wirtschaftlich wertlosen Sachen strafrechtlich schützen, stellte das Gericht fest. Urteil zu 24-Stunden-Pflege: Einer bulgarischen Altenpflegerin, die eine 96-jährige Dame in deren Haushalt betreute, steht statt der 30 vergüteten Wochenstunden für umfassende häusliche Betreuung der Mindestlohn für eine tägliche Arbeitszeit von 21 Stunden zu, urteilte das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg. Das LAG hat die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen. ALG-II-Satz soll um 7 Euro steigen: Ein Gesetzentwurf von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) stößt auf breite Kritik in Gewerkschaften und Sozialverbänden. Der DGB bezeichnet die Regelsätze als „politisch motiviert kleingerechnet“, Armut werde nicht bekämpft, sondern zementiert. Die Festsetzung sei methodisch unsauber, und die Begründungen seien teilweise unzutreffend und irreführend. Sackgasse Niedriglohnsektor: Eine Studie des DIW Econ zeigt, dass die Ausweitung des Niedriglohnsektors half, Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte in Arbeit zu bringen, der Weg heraus aber schwierig ist. Nur gut einem Viertel aller Niedriglohnbeschäftigten gelingt der Aufstieg. Mehr als drei Millionen Beschäftigte erhalten auch für mittel- bis hochqualifizierte Tätigkeiten nur einen Niedriglohn. 10

Gute Arbeit Unser Team führt Haushaltsauflösungen durch – von der Einzimmerwohnung bis zum großen Wohnhaus –, entrümpelt Keller- und Dachböden besenrein, transportiert Kartons und Kisten, entsorgt Gartenabfälle und entfernt Tapeten und Bodenbeläge. Möchten Sie die Unterstützung unseres Teams? Wir freuen uns auf Ihren Anruf. Jeder Auftrag ist anders. Zwar können wir Ihnen am Telefon noch nicht sagen, welche Kosten genau auf Sie zukommen, jedoch verabreden wir gerne kurzfristig einen Besichtigungstermin mit unserer Teamleiterin Brunhilde Posegga-Dörscheln und erstellen einen unverbindlichen Kostenvoranschlag: Tel. 0231 – 950 978 0 oder transport@bodoev.de.


Anzeigen

instagram.com/bodo_ev facebook.com/bodoev

0231 – 950 978 0 bodo ist für Sie da Zentrale Rufnummer 0231 – 950 978 0 Mo. bis Fr. 9 – 16 Uhr Mail: info@bodoev.de Fax: 0231 – 950 978 20 Spendenannahme DO Schwanenwall 36 – 38 44135 Dortmund Mo. bis Fr. 10 – 18 Uhr Sa. 10 – 14 Uhr Spendenannahme BO Kleiderkammer Altenbochum und Laer Liebfrauenstraße 8 – 10 44803 Bochum Mo. 10 – 13, Sa. 10 – 12 Uhr

Ansprechpartner Geschäftsleitung: Tanja Walter verein@bodoev.de Redaktion und Öffentlichkeitsarbeit: Alexandra Gehrhardt Bastian Pütter redaktion@bodoev.de

Markt 4 | 44137 Dortmund Tel./WhatsApp* (0231) 57 26 21 www.ausbuettels.de adler@ausbuettels.de

Arznei liefern lassen!

Anzeigen: Susanne Schröder anzeigen@bodoev.de Vertrieb: Oliver Philipp vertrieb@bodoev.de

*Bitte beachten Sie bei der Benutzung von WhatsApp unsere Hinweise zum Datenschutz. Diese erhalten Sie in unseren Apotheken oder unter www.ausbuettels.de/datenschutz

bodos Bücher: Julia Cöppicus buch@bodoev.de Haushaltsauflösungen und Entsorgungen: Brunhilde Posegga-Dörscheln transport@bodoev.de

Barber Angels

Mithelfen

Mit dem Lockdown im März hieß es auch für die Barber Angels: Alle Einsätze absagen. Wo Friseursalons geschlossen waren, konnten auch die ehrenamtlichen Haarschneide-Touren für Wohnungslose und Bedürftige nicht mehr stattfinden. Jetzt sind die ProfifriseurInnen aus ganz NRW mit den schwarzen Kutten als Markenzeichen wieder da. Im temporären Hygienezentrum in Dortmund, das Gast-Haus, das Team Wärmebus und bodo gemeinsam betreiben, haben die „Engel mit Kamm und Schere“ jetzt den Neustart hingelegt. Auch der erste Bochumer Termin im Tagesaufenthalt von Diakonie und bodo an der Henriettenstraße wurde mit eigens entwickeltem Hygienekonzept erfolgreich absolviert.

Mit einem temporären Hygienezentrum haben Gast-Haus, bodo und das Wärmebus-Team mit Unterstützung der Stadt ein inzwischen unverzichtbares Angebot zur Versorgung Wohnungsloser in Dortmund geschaffen. Im ehemaligen Kreiswehrersatzamt an der Leuthardstraße nahe dem Burgwall betreiben wir an drei Tagen in der Woche einen Duschtrakt mit Kleiderkammer. Mehr als 500 Duschgäste haben das Angebot bisher genutzt, mehr als 1.000 Hygiene- und Wäschepakete wurden bislang ausgegeben. Möchten Sie uns hier bei der Kleiderausgabe unterstützen? Unsere ehrenamtlichen Tagesteams freuen sich montags, mittwochs und freitags von 11.30 bis 16.30 Uhr über Unterstützung. Tel. 0231 – 950 978 0

en lassen.“ „Nicht ärgern. Berat © by Photocase.de

info@bodoev.de

Mieter schützen · Mietern nützen!

Mieterverein Dortmund und Umgebung e.V.

Mieterverein

Bochum, Hattingen und Umgegend e.V.

Brückstraße 58 44787 Bochum Tel.: 0234 / 96 11 40 mieterverein-bochum.de

Kampstr. 4 44137 Dortmund Tel. 0231/557656-0 mieterverein-dortmund.de

Öffnungszeiten Mo - Do 9:00 - 18:00 Fr 9:00 - 12:00

Öffnungszeiten Mo - Do 8:30 - 18:00 Fr 8:30 - 14:00

Mitglieder im Deutschen Mieterbund

11


REPORTAGE

12


Waldbaden, Baumperlen und die Aufgabe, nichts zu tun Judith van de Bruck ist Heilpädagogin, Yogalehrerin, Entspannungstherapeutin – und Waldhexe. Als solche nimmt sie Menschen mit in die Natur. Wir sind neugierig und haben uns mit ihr zu einem Spaziergang verabredet, in der Nähe von Witten, zwischen Bommerholz und Elbschebach. Dort erfahren wir unter anderem, warum es so schwierig sein kann, einfach mal nichts zu tun. Und sie verrät uns, warum sie „Waldbademeister“ für das Unwort des Jahres hält. Von Wolfgang Kienast | Fotos: Daniel Sadrowski

W

ir werden bereits erwartet. Als Treffpunkt hat Judith van de Bruck den Wanderparkplatz Bommerholz vorgeschlagen. Man erreicht ihn über die Landstraße zwischen Witten und Sprockhövel. Ein schmaler Pfad führt von dort in den Wald, quer davor liegt ein Baumstamm auf dem Boden. Seitlich ließe er sich einfach umgehen. Oder aber man macht den großen Schritt. Der Waldhexe gefällt diese Variante. Sie sagt, man könne das bewusste Überschreiten der Barriere auch als symbolische Handlung verstehen, den konzentriert ausgeführten Schritt als sinnbildliches Verlassen des Alltäglichen (Parkplatz) und anschließendes Eintreten in eine andere Sphäre (Natur). Wir folgen ihr auf dem Pfad. Ziel ist ein Waldstück, wohin sie des Öfteren Leute führt, die sich zu einem meditativen Spaziergang

oder einer therapeutischen Wanderung angemeldet haben. Oder zum Waldbaden. Die Menschen wussten schon immer, dass der Wald ihnen „guttut“. Heute wird sein Einfluss auf das Wohlbefinden mit wissenschaftlicher Akribie erforscht. Vergleichende Studien beschäftigen sich mit Puls, Blutdruck, Stresshormonen wie Cortisol sowie körpereigenen Killerzellen. Die objektiv messbaren positiven Ergebnisse führen Mediziner unter anderem auf Terpene zurück, Botenstoffe der Bäume, die in der Waldluft nachweisbar sind. Mit entsprechenden Untersuchungen begannen in den 1980er Jahren fachübergreifend arbeitende Forscher in Japan. Federführend beteiligt war das Ministerium für Landwirtschaft, Forsten und Fischerei. Dort prägte man für den bewusst erlebten und entspannend wirkenden Aufenthalt im Wald den Begriff Shinrin Yoku (森 林 浴), Waldbaden. Wörtlich übersetzt würde es in etwa „in Waldluft eintauchen“ bedeuten, erklärt uns Judith van de Bruck. Gegenwärtig gilt der Immunologe Prof. Qing Li an der Nippon Medical School zu Tokio als Koryphäe auf dem Gebiet der Waldmedizin.

Der perfekte Ort Ohne diese Umstände damals wissen zu können, praktiziert Judith van de Bruck das Waldbaden im Prinzip seit ihrer Kindheit. „Ich bin auf dem Land groß geworden, sogar außerhalb eines Dorfes. Schon als Kind hatte ich eine sehr phantasiereiche und lebendige Beziehung zur Natur. Jeden Tag war ich im Wald. Bis heute faszinieren mich wilde Tiere, ob ein Bussard oder ein Fuchs. Da er-

13


REPORTAGE

geben sich ganz erhabene Momente. Den Menschen fehlt es oft an Ehrfurcht vor dem Leben der anderen Wesen, egal ob Tier oder Pflanze. Das ist schade. Mir haben der Wald und die Natur immer gutgetan, beim kleinsten Stress und in der großen Krise. Da habe ich so viele positive Erfahrungen gemacht, und das möchte ich weitergeben. Ich möchte die Menschen ermutigen, in diese Welt einzutauchen.“ Mittlerweile haben wir einen Mischwald erreicht, einen Lieblingsplatz der Waldhexe. Sonnenstrahlen fallen durch die lichten Kronen der hohen Bäume. Am Boden ist es hell genug für Himbeeren und Kräuter. Moos und Pilze wachsen auf altem Holz, das hier nicht abtransportiert wird. Es riecht würzig. Wind spielt in den Blättern. Linker wie rechter Hand fällt das Gelände sanft ab. Man ahnt den plätschernden Bach. „Es ist der perfekte Ort, um anzukommen“, sagt die Waldhexe. „Im hektischen Alltagsleben, in der Stadt, im Beruf sind wir zu sehr in unserem Kopf. Da ist ein permanentes Ungleichgewicht. Wir müssen mal runterkommen, uns wieder erden. Bei den Anfangsritualen sollen deswegen die Körperteile angesprochen werden, die am weitesten vom Kopf entfernt sind. Das sind die Fußsohlen. Am besten ist es, sich die Schuhe auszuziehen, um barfuß die Erde zu spüren, ob sie nass ist oder trocken, warm oder kalt, fest oder weich.“ Beim Waldbaden folgt dann eine Reihe von einfachen Übungen. Alle dienen dem Ziel, ein Gespür für den eigenen Körper zu bekommen. Wer gelegentlich Yoga praktiziert, dürfte zumindest mit den Atemübungen vertraut sein. Wir

14

vermuten bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine Neigung zu einer auf Spiritualität ausgerichteten Lebensweise. Die Waldhexe lacht. „Den typischen Waldbader gibt es nicht. Die Gruppen setzen sich ganz unterschiedlich zusammen. Zu mir kommen ältere Frauen, die Angst haben, allein in den Wald zu gehen. Andere suchen Rat, weil sie spüren, dass sie vor Veränderungen stehen könnten. Eine Frau wollte an ihrer Ungeduld arbeiten.“ Wir fragen nach Männern. Wieder lacht sie. „Ja, ich habe auch Männer dabei. Gelegentlich. Okay, meist in Begleitung ihrer Frauen. Manchmal bringe ich den Witz vom Quotenmann. Doch, es stimmt schon, es ist eher eine Frauensache. Aber nicht nur.“

Rein gar nichts tun Es würde immer eine Weile dauern, bis die Teilnehmerinnen (und die vereinzelten Teilnehmer) in die gewünschte Ruhe fänden. Man könne es an der Körperhaltung ablesen, erfahren wir, die Schultern wären nicht mehr hoch bis an die Ohren gezogen und die Arme würden locker nach unten hängen. Wenn es soweit ist, verteilt die Waldhexe kleine Aufgaben. Zum Beispiel sollen sich ihre Leute einen Platz suchen, der sie intuitiv anspricht. Oder besser, meint sie, solle man sich von einem Platz finden lassen, sich dort hinsetzen und die Dinge des Waldes beobachten. Das kann schlicht der Boden sein, auf dem vielleicht ein Käfer krabbelt, Blätter, bunte Steinchen, ein Schneckenhaus, kleine Äste, der Wipfel des Baumes, an dem man jetzt womöglich lehnt, oder eine Baumperle an dessen Stamm. Baumperlen? „Das sind Knub-


Anzeigen

Dabei sein bel oder Knötchen. Meist entdeckt man sie an Buchen oder Eichen. Sie entstehen als natürliche Heilungsreaktion auf Verwundungen. Der Baum schickt seine ganze Heilungsenergie an diese Stelle. Wenn der Prozess beendet ist, lassen sie sich leicht abnehmen. Sie sind wunderschön. Wenn man die Rinde entfernt, kommt die Maserung zum Vorschein. Schamanen verwenden sie, weil in ihnen die Lebensenergie des Baumes wirkt.“ Judith van de Bruck ignoriert Abgrenzungen zwischen einzelnen spirituellen und philosophischen Strömungen. Schamanismus, Buddhismus, Yoga, Shinrin Yoku und Naturcoaching sieht sie in keinem Widerspruch. Wichtig ist ihr, Körper und Geist in eine gesunde Balance zu bringen – und zu halten. Das allerdings wäre schwierig, weil die Menschen tendenziell dazu neigen würden, stets aufs Neue zu verkopfen. „Die Leute lesen viel über Entspannung, entspannen aber nicht. Roger Willemsen hat mal gesagt, wir wären voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. Wir lesen Fachbücher, Artikel und Posts. Die Taktzahl steigt. Alles ist auf Anspannung und Funktionieren ausgerichtet. Regenerieren können wir aber nur in Phasen der Entspannung. Die erreichen wir kaum noch. Ich merke das, wenn ich den Leuten sage, sie sollten einfach mal nichts tun. Am Anfang gibt‘s ja von mir noch die kleinen Aufgaben, Gegenstände sammeln, beobachten und so weiter. Aber dann schlage ich vor, zu versuchen, rein gar nichts zu tun. Nicht auf den Atem zu achten, nicht zu meditieren, keinem Ritual zu folgen, nichts. Einfach nur da zu sein, ein Teil zu sein. Das fällt unglaublich schwer. Es widerspricht unserem aktiven Geist in seinem Bestreben, etwas perfekt machen zu wollen. Selbst bei den Übungen in der Natur. Perfekt ist die Natur. Nur der Mensch hat den Anspruch, etwas ‚meistern‘ zu müssen. Sogar beim Waldbaden. Von daher wäre ‚Waldbademeister‘ mein persönlicher Vorschlag für das Unwort des Jahres.“ Ein Waldbaden ist auf die Dauer von etwa drei bis vier Stunden angelegt. Am Ende sei man ein wenig erschöpft und auf eine ausgesprochen angenehme Weise entspannt, sagt Judith van de Bruck. Dass zwischenzeitlich mehrere Stunden vergangen seien, das habe noch nie jemand wirklich gemerkt. Auch sie selbst nicht. Infos: www.die-waldhexe.de

hat viele

Vorteile Mehr Schutz im Betrieb, mehr Sicherheit im Leben und dadurch mehr persönliche Freiheit. Wäre doch schade, Sie würden darauf verzichten, oder?

Die IG Metall finden Sie 3 x in Ihrer Region: 44793 Bochum, Alleestraße 80 Tel. 0234 0234 – Tel. – 96 96 44 44 60 60 44135 Dortmund, 44135 Dortmund, Ostwall Ostwall 17 17 –– 21 21 Tel. 0231 – 57 70 60 Tel. 0231 – 57 70 60 44623 Herne, Schulstraße 24 44623 Herne, Viktor-Reuter-Str. 23 Tel. 02323 – 14 63 80 Tel. 0234 – 964 46-24

VOLL– KORN VOLL LECKER! Wir backen Ihr

…und mehr

▪ Hattinger Str. 188, 44795 Bochum Tel. 0234 – 450 590

▪ Hattinger Str. 264, 44795 Bochum (im denn‘s Biomarkt) Tel. 0234 – 588 708 87

Weitere Infos und Verkaufsstellen unter

www.hutzelbrot.de 15


DAS FOTO

Ein Schlaf- im Wohnzimmer: Für ihr Kunstprojekt „Living Room“ baute die deutsche Fotokünstlerin Jana Sophia Nolle in San Francisco die „Hütten“ Obdachloser in den „Palästen“ reicher US-amerikanischer Familien auf. Ein Fotoband dieser spannungsreichen Arbeit ist im Juli bei Kerber erschienen. Foto: Jana Sophia Nolle

MIETEN & WOHNEN

Welche Rolle Wohnen bei der Kommunalwahl spielt von Markus Roeser, Mieterverein Dortmund und Umgebung e.V. Seit einigen Jahren spannt sich der Wohnungsmarkt im Ruhrgebiet wieder an. Die Mieten steigen, und immer mehr Menschen finden schwerer eine Wohnung. Viele müssen auch weiter in ihrer zu kleinen oder mangelbehafteten Wohnung bleiben, weil sie keine bezahlbare, angemessene Wohnung finden. Am 13. September werden Stadträte und Bürgermeister in NRW neu gewählt.

16

Viele Kandidaten und Parteien werben damit, sich für eine bezahlbare Stadt stark zu machen. Das Miet- und Sozialrecht ist aber überwiegend Bundes- oder Landesrecht. Regeln für Vermietung, Mieterhöhungen und Zugängen zu Wohnungen setzen die Regierungen und Parlamente in Berlin und Düsseldorf. Doch in der eigenen Stadt werden viele Weichen für bezahlbares und gutes Wohnen

gestellt. Stadträte entscheiden beispielsweise darüber, was in neuen Baugebieten gebaut werden darf. Manche Städte, wie Dortmund, haben auch eine Quote, dass in Baugebieten mit neuen Bebauungsplänen 25 Prozent Sozialwohnungen entstehen müssen. So wird sichergestellt, dass zumindest ein Teil der Wohnungen auch für zukünftige Nutzer mit geringen Einkommen bezahlbar ist.


KOMMENTAR

Alle sind draußen Von Bastian Pütter Fangen wir positiv an: In Dortmund gibt es ein großartiges Netzwerk von Akteuren der Wohnungslosen- und Suchthilfe, die über niedrigschwellige Anlaufstellen, Essensausgaben und Tagesaufenthalte der Verelendung auf der Straße Einhalt gebieten. Hier nehmen Hilfeprozesse ihren Anfang, an deren Ende gelöste Probleme, eine erfolgreiche Suchttherapie, eine eigene Wohnung stehen. Viele der Angebote sind spendenfinanziert und getragen von aufopferungsvollen Engagement ehren- und hauptamtlicher MitarbeiterInnen.

Warum Obdachlosigkeit stört

Leider ist die Zeitform falsch, das Gesagte galt bis Mitte März. Die Hygienevorschriften zur Bewältigung der Pandemie erlauben es den wichtigsten Einrichtungen gar nicht (und anderen nur sehr eingeschränkt) zu öffnen. Wir alle thematisieren die sozialen, gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen dieser Einschränkungen vom ersten Tag an. Wir alle tun, was möglich ist, haben eine Notversorgung mit Duschmöglichkeiten und Essensausgaben unter freiem Himmel organisiert, die eigentlich nur für eine Übergangszeit tragbar waren. Auf der Straße erleben wir, wie gesundheitliche und psychische Probleme zunehmen, wie sich Wut und Verzweiflung breit machen und dabei Konflikte befördern, die in unseren Einrichtungen gar nicht entstanden. Das alles wäre Anlass genug für eine gesellschaftliche Initiative, die dieses in der Pandemie vergessene Problem adressiert. Stattdessen protestieren AnwohnerInnen gegen die Anwesenheit Wohnungsloser vor unseren – geschlossenen – Einrichtungen, Bezirksvertretungen werden mit Eilanträgen gegen menschliche Hinterlassenschaften im öffentlichen Raum befasst. Auf unseren Versorgungstouren durch die Innenstadt sprechen uns regelmäßig Gewerbetreibende an, warum Obdachlose das Umfeld ihrer Geschäfte verunreinigen, oder sie machen sich in der verbliebenen Tageszeitung Luft: Dort klagen Geschäftsleute über Bettler, Suchtkranke, Kot und Urin, und dass Kunden „sogar über einen Obdachlosen steigen müssen“, um Ladengeschäfte zu betreten. „Vielleicht haben sie ja die Ruhe des Lockdowns genutzt, um sich hier niederzulassen“, mutmaßt eine Angestellte. Die „Ruhe des Lockdowns“ war für Wohnungslose ein Überlebenskampf. Die neue Normalität geöffneter Geschäfte und Restaurants hat sie nicht erreicht. Statt auf die Betroffenen zu zeigen, wäre es hilfreicher, sich zu erinnern, was Konflikte im öffentlichen Raum bislang erfolgreich eindämmen konnte: eine funktionierende Versorgung der Menschen ohne Wohnung.

Über kommunale Wohnungsunternehmen wie Dogewo, SGW oder VBW, kann die Stadt selbst als Vermieterin auftreten und so auch die Mieten und die Nutzung für ihre Wohnungen bestimmen. Sie kann einen Teil der Wohnungen für soziale Projekte wie Housing First oder Wohngruppen zur Verfügung stellen. Inwiefern die Unternehmen dafür Spielraum bekommen oder Gewinne an die Stadtkasse abführen müssen, ist eine politische Entscheidung vor Ort.

Neben eigenem Wohnungsbau kann die Stadt Investoren fördern, die dringend benötige Wohnungen bauen: bezahlbare Wohnungen, die barrierefrei oder groß genug für Familien sind. Städtische Grundstücke müssen nicht an den Investor mit dem höchsten Angebot gehen, sondern an Interessenten mit dem passenden Konzept. So können auch Genossenschaften und Wohnprojekte an benötigtes, günstiges Bauland kommen.

DIE ZAHL

143.000 Menschen ohne Krankenversicherung zählt das Statistische Bundesamt in Deutschland. 2015 waren es (bei leicht abweichender Methodik) 79.000 Betroffene. Hilfsorganisationen verweisen auf eine hohe Dunkelziffer bei Wohnungslosen und Menschen ohne geregelten Aufenthaltstitel.

17


REPORTAGE

Das Geschäft mit der Wohnungslosigkeit Seit rund zwei Jahren stellt die Stadt Dortmund ihr Konzept zur städtischen Wohnungslosenhilfe neu auf. Jetzt kommt der nächste Baustein: eine Notschlafstelle für junge erwachsene Wohnungslose. Den Zuschlag für den Betrieb hat der Dienstleister European Homecare erhalten – ein Akteur, der in einzigartiger Weise soziale Arbeit ökonomisiert. Von Alexandra Gehrhardt | Fotos: Sebastian Sellhorst

I

m August wurde die Entscheidung des städtischen Vergabeamtes bekannt: European Homecare, soziales Dienstleistungsunternehmen aus Essen, hat die Ausschreibung für sich entschieden und wird die neue Notschlafstelle nun mindestens acht Jahre lang betreiben, und zwar in einem Haus nahe der Haltestelle „Am Beilstück“ in Hombruch. Bei der Ausschreibung wurde das Kriterium „Konfliktbewältigungsstrategien“ mit 25 Prozent gewichtet, „Vermittlung in professionelle Unterstützungsangebote“ und „Zielplanvereinbarung“ mit je zehn, „Öffentlichkeits- und Netzwerkarbeit“ mit fünf Prozent. Den größten Ausschlag gab mit 50 Prozent der Preis. Das ist nicht neu. European Homecare, seit rund 30 Jahren im Bereich „soziale Dienstleistungen“ tätig, ist als Akteur bekannt, der in einzigartiger Weise soziale Arbeit zu einem lukrativen Geschäft gemacht hat. EHC übernimmt

die Unterbringung Wohnungsloser und Geflüchteter, ihre Begleitung und gesellschaftliche (Re-)Integration – mit Gewinnabsicht. „Es geht um Aufgaben, die lange Zeit von staatlichen oder kirchlichen Einrichtungen übernommen wurden, während heute ein großer Teil durch den Staat an private Unternehmen vergeben wird“, so Prof. Werner Nienhüser, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen, in einer 2019 vorgelegten Analyse zur Rolle von European Homecare in sozialer Arbeit. Er kam zum Schluss: „Die Profitabilität des Unternehmens European Homecare ist hoch, die Risiken gering oder handhabbar. Die Qualität der Leistungen ist in Frage zu stellen.“ Das deute darauf hin, „dass sich hier Kapitaleigner auf Kosten der Allgemeinheit bereichern.“

In der Kritik Der große Boom kam, als Verwaltungen 2014 schnell und billig die Fluchtmigration händeln mussten und EHC bundesweit in die Unterbringung von Asylsuchenden einstieg. Ende desselben Jahres die Vorfälle, die weltweit Schlagzeilen machten: „Burbach“ ist, neben Essen und Bad Berleburg, bis heute Schlagwort für die systematische Misshandlung Geflüchteter durch ungelernte, zum Teil rechte und sadistische Wachleute, die über Subunternehmen in EHC-Unterkünften angestellt waren (bodo 05.19). 2018 folgten Auftragseinbrüche; auch, weil die Vergabestellen die nur oberflächlichen und auf Kante genähten Konzepte für die Heime kritisierten, so das Handelsblatt. Anderswo gab es Beschwerden über Wucher: In Essen lag die Pauschale, die EHC für die Betreuung jedes untergebrachten Asylsuchenden in einer Unterkunft bekam, im Jahr 2016 bei stattlichen 2.029 Euro – pro Monat.

Oben: Black Box Unionstraße. Kritik an der inzwischen umzäunten Männerübernachtungsstelle Unionstraße gibt es seit der Inbetriebnahme. Rechts: Standort der zukünftigen Notschlafstelle für junge erwachsene Wohnungslose in Hombruch. EHC setzte sich überraschend gegen den Betreiber der Jugendübernachtungsstelle durch.

18

Nun scheint es einen neuen Vorstoß zu geben: Seit Anfang 2020 hat EHC die Zuschläge für Geflüchteten- und Wohnungslosenunterkünfte in Buch, Zwickau, Rheinberg, Hahn, Oberammergau und Bochum bekommen – und dabei langjährig tätige Akteure ausgestochen. In Bochum betreibt EHC seit März eine Anlaufstation für Geflüchtete – Es ist das erste Mal, dass hier ein privatwirtschaftliches Unternehmen eine Sozialleistung übernimmt. Die Arbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtsver-


bände und Bochumer Parteien kritisieren den Zuschlag an EHC, die europaweite Ausschreibung und fordern „Vergabeverfahren zu sozial fairen Kriterien und nachhaltigen örtlichen Bezügen“. Das ist die ökonomische Seite. Und die sozialarbeiterische? Seit 2012 betreibt EHC die Männerübernachtungsstelle (MÜS) in der Unionstraße. Der Auftrag, eigentlich: wohnungslose Männer unterbringen, ihre Wohnungslosigkeit beenden. Das städtische Konzept sieht die MÜS als Clearingstelle, von der aus Männer binnen weniger Wochen in stationäre oder ambulante Angebote, eine städtische Wohnung oder einen eigenen Mietvertrag vermittelt werden.

Dortmunder Erfahrungen Weil sie auch obligatorischer Einstieg ins Hilfesystem ist, hat sie eine besondere Rolle: „Sie hat eine Art Schwellenfunktion zwischen der massiv ausgegrenzten Lebenswelt der Wohnungslosigkeit und der Mehrheitsgesellschaft“, sagt Tim Sonnenberg vom Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften der FH Dortmund. Gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Prof. Dierk Borstel erforscht er Wohnungslosigkeit in Dortmund, Lebenslagen von Betroffenen und Teilaspekte sozialer Arbeit im Feld. Die Sozialarbeiterin Laura Nübold war Teil des Projekts und

hat anhand von Interviews mit Nutzern untersucht, wie gut diese in der MÜS auf dem Weg aus der Wohnungslosigkeit unterstützt werden. Und eine große Lücke zwischen Anspruch und Praxis festgestellt: „Anstatt Hilfe und Unterstützung erleben die Nutzer eher, dass sie verwaltet werden. Die Mitarbeiter sitzen meist für sich im Büro, während Kontakt zu den Nutzenden vor allem über Kontrolle gestaltet wird.“ Was sie meint, macht ein ehemaliger Nutzer konkret: bodo-Verkäufer Daniel (Name geändert) war mehrere Monate in der MÜS. „Jedes Mal, wenn du die Unionstraße betrittst, wirst du von Securitys durchsucht. Das ganze Gelände ist umzäunt. Regelmäßig sind Spind-Kontrollen. Wenn du deinen Spind dann nicht offenlässt, brechen sie ihn auf. Dann musst du ein neues Schloss besorgen. In der Nacht sind zwei- bis dreimal Zimmerkontrollen. Dann kommen die Securitys mit Taschenlampe rein.“

19


REPORTAGE

Ein weiterer Punkt: Erfahrungen von Abwertung und Diskriminierung. Nicht jeder kommt in die Übernachtungsstelle und damit ins Hilfesystem. Die Unterbringung für mehr als eine Nacht ist an den Bezug von Sozialleistungen gekoppelt – wer die nicht erhält, zahlt selbst oder bleibt draußen. Es gilt eine Mitwirkungspflicht, Fehlverhalten wird sanktioniert. Daniel verlor den Unterbringungsplatz in einer städtischen Wohnung, weil er einen wohnungslosen Freund auf dem Sofa schlafen ließ. Ein Regelverstoß, er musste zurück in die Sammelunterkunft. Von dort erzählt er: „Es gibt Strafen für Leute, die sich nicht an die Regeln halten. Dann darfst du erst spät abends wieder rein und musst früh morgens vor den anderen raus. Bei größeren Verstößen bekommst du für unterschiedlich lange Zeit Hausverbot.“ Informationen kommen nur von den Nutzern. Kontaktversuche des Forschungsteams seien unbeantwortet geblieben. JournalistInnen erhalten Informationen seit Jahren ausschließlich durch den Filter der städtischen Pressestelle. Was die Betroffenen schildern, ähnelt aber Nübolds Ergebnissen. Einlassbeschränkungen seien „das Mittel der Wahl, aber auch Androhungen von Hausverbot, als Konsequenz etwa für mangelnde Hygiene“, so Nübold. „Besonders problematisch scheint insgesamt

Das neue Angebot richte sich an junge Menschen, die die bisherige Notschlafstelle mieden, sagt Tim Sonnenberg von der FH Dortmund. „Dass deren Angebot nun vom gleichen Träger gestellt wird, scheint fast zynisch.“

die ungleiche Machtverteilung zwischen Personal und Nutzern, die sich durch alle Berichte zieht. Beispielsweise wurden Essensspenden erst unter den Mitarbeitenden verteilt, bevor die Reste an die Nutzer gingen – sagte uns ein Betroffener.“

Hohe Anforderungen Das wird zum Problem, wenn das Ziel doch ist, Wohnungslosigkeit zu beenden. „Wir sprechen von Menschen, die eben nicht nur keine Wohnung haben, sondern spätestens in der Wohnungslosigkeit auch massiven psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt sind, die dort nicht und vor allem nicht fachlich aufgefangen werden“, so Nübold. Tim Sonnenberg führt aus: „Wohnungslose erfahren täglich Diskriminierung. Gravierend ist, dass die Diskriminierung nicht ‚nur‘ in der Fußgängerzone geschieht, sondern innerhalb und durch das Hilfesystem selbst.“ Das bedeutet: „Wer nicht in die MÜS geht, wird verstanden als ‚freiwilliger Obdachloser‘, als nicht mitwirkungswillig. Das ist paradox, weil es den Betroffenen jegliche autonome Gestaltung ihres eigenen Hilfeprozesses abspricht und letztlich auch eine Unterwürfigkeit der Einrichtung gegenüber einfordert.“ Wer aus dem Hilfesystem ausgeschlossen werde, sei dann selbst schuld, genau wie an der Wohnungslosigkeit an sich. Was bedeutet das für die Nutzergruppe junger Erwachsener, für deren Unterbringung und Begleitung aus der Wohnungslosigkeit nun ebenfalls European Homecare zuständig sein wird? „Man muss bedenken, dass es sich um eine Einrichtung für diejenigen handelt, die in die MÜS kategorisch nicht reingehen. Dass deren Angebot nun vom gleichen Träger gestellt wird, scheint fast zynisch“, so Sonnenberg. „Junge Erwachsene sind häufig gerade deswegen auf der Straße, weil das Hilfesystem ihnen keine passende Unterstützung anbieten kann. Gerade hier brauchte man für die Klientel sensible, pädagogische und sozialarbeiterische Konzepte, die hoch flexibel und individuell angepasst werden können.“ Prof. Borstel ergänzt: „Es braucht einen durch Respekt, Anerkennung und Wertschätzung geprägten Hilfeprozess, der auf Augenhöhe stattfindet und in dem die Ressourcen der Klientel und nicht ihre Defizite im Vordergrund stehen. Soziale Arbeit sollte, wie es aus ihrer Definition hervorgeht, Menschen befähigen und ermutigen, die Herausforderungen des Lebens bewältigen zu können und ihr Wohlergehen zu verbessern.“ Es sind hohe Anforderungen, die an European Homecare gestellt sind. Ob das Unternehmen sie erfüllen wird, bleibt mehr als fraglich. Ein ausführliches Interview mit Prof. Dierk Borstel, Tim Sonnenberg und Laura Nübold lesen Sie auf www.bodoev.de

20


SOZIALES

Tod auf der Straße Am 2. August verstarb der 32-jährige Dominik F. neben seinem Rollstuhl in Sichtweite des Allgemeinen Krankenhauses (AKH) in Hagen. Wenige Minuten zuvor hatten Polizeibeamte den obdachlosen und suchtkranken Mann vom Gelände des Krankenhauses geschoben – auf Wunsch der Mitarbeiter. Von Bastian Pütter Foto: Andre Noll

H

at ein Krankenhaus einem akut hilfsbedürftigen Obdachlosen die Behandlung verweigert? Die Wogen schlugen hoch in den Kommentarspalten der ersten Medienberichte. Der durchaus rustikale Nachrichtenzulieferer „Blaulichtreport Hagen“ löschte gar alle Kommentare auf seiner Facebook-Seite. Zuvor hatte die Geschäftsführung des AKH juristische Konsequenzen für Falschbehauptungen und Beleidigungen angekündigt. Schnell waren die mit den Ermittlungen betraute Kriminalpolizei Wuppertal sowie die Staatsanwaltschaft Hagen zum Ergebnis gekommen, dass es keinen Anfangsverdacht wegen unterlassener Hilfeleistung mit Todesfolge gegen die eingesetzten Polizeibeamten gebe. Dafür vollstreckten Beamte einen Durchsuchungsbeschluss im AKH, offiziell wird weiter gegen Unbekannt ermittelt. Eine erste Obduktion ergab keinen Hinweis auf die Todesursache. Ein toxikologisches und ein neuropathologisches Gutachten sowie das Ergebnis eines Covid-19-Tests stehen noch aus. Dominik F. hatte sich am 2. August im Eingangsbereich des Krankenhauses aufgehalten. Er wurde regelmäßig in der Notaufnahme vorstellig, berichten Augenzeugen. Wirkliche Notfälle hätten nicht vorgelegen, dafür kam es zu Konflikten. Oft habe sich „Chico“ nicht beruhigen lassen, sei aggressiv gegenüber Patienten und Mitarbeitern gewesen. Behandelt worden sei er immer. Das betont auch das Krankenhaus: „Auch wir kannten den Mann schon länger und die Mitarbeitenden der Notaufnahme haben sich in diesem Fall und auch in der Vergangenheit wiederholt sehr verantwortungsvoll um ihn gekümmert – übrigens über das rein medizinische Maß hinaus.“ Ausgerechnet am 2. August wurde „Chico“ jedoch des Geländes verwiesen. „Es ist schwer auszuhalten“, sagt Andreas Rau, der „Chico“ kannte und ihn auch vor dem AKH mehrmals antraf. „Man möchte helfen, aber außer einem Glas Wasser und einem freundlichen Gespräch kann man wenig tun.“ Im Hilfesystem der Suchtund Wohnungslosenhilfe war „Chico“ bekannt. Hier weiß man: Die Mitwirkung des Betroffenen, die Entscheidung, die eigene Lebenssituation zu verändern, ist die Voraussetzung für nachhaltige Hilfe. Bis dahin ist es oft ein weiter Weg. Für Dominik F. reichte die Zeit nicht. Das ist – unabhängig von der möglichen juristischen Verantwortung und der dramatischen Umstände seines Todes – die eigentliche Tragik.

21


WILDE KRÄUTER

Unsere monatliche Exkursion in die urbane Welt der wilden Kräuter. Mit nützlichen Informationen, pointierten Fußnoten, vielen Geschichten – und immer einem originellen Rezept. Von Wolfgang Kienast

BUCHECKERN & TAUBNESSELN

C REZEPT Die Suppe: 1 kleine Zwiebel hacken und in Sonnenblumenöl andünsten. 1 kleinen Hokkaido-Kürbis würfeln, die Würfel zu den Zwiebeln geben und 1 l Gemüsebrühe angießen. 20 Minuten köcheln lassen, pürieren, 125 g Creme Double unterrühren und mit Salz und weißem Pfeffer abschmecken. Das Pesto: 30 g Bucheckern ohne Öl in einer Pfanne anrösten. 20 g Taubnesselblätter, jeweils die oberen beiden Blattpaare, fein hacken. 30 g Parmesankäse reiben und 1 Knoblauchzehe sehr fein hacken. Bucheckern, Taubnesseln, Parmesan und Knoblauch mit dem Stabmixer zu einer Paste verarbeiten, dabei nach und nach etwa 5 EL Olivenöl zugeben und mit etwas Salz abschmecken. Noch weitere 20 g Bucheckern rösten. Die Suppe auf Teller verteilen und vor dem Servieren je 1 bis 2 TL Pesto sowie einige geröstete Bucheckern hinzufügen.

22

orona ist Krise. Während ich diesen Text schreibe, wirft Google unglaubliche 47.000.000 Treffer beim Suchbegriff „Corona-Krise“ aus. Wenn Sie ihn lesen, dürften es mehr sein. Für viele ist es tatsächlich eine existentielle Zeit, unmittelbar durch Covid-19 oder, mittelbar, zum Beispiel durch (konkret) Insolvenz oder Arbeitslosigkeit oder (ganz allgemein) unterschiedlichste Formen psychischer Belastung. Nicht unbedingt existenziell, zumindest aber belastend, in einem wahren Sinn des Wortes, sind Gewichtsprobleme infolge pandemiebedingter Änderungen der Lebensweise. Und so bringt die Frage nach „Corona-Kilos“ immerhin knapp 80.000 Google-Treffer. Auf Platz eins finden sich „11 Tipps gegen die CoronaKilos“, und ich frage mich, warum das ausgerechnet elf sind. Bei elf denke ich doch an Sammy Drechsel und „Elf Freunde müsst ihr sein“ – aber das hat ja mit Sport zu tun und Sport mit Training und Training mit Bewegung und Bewegung hilft beim Abnehmen. Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Und vielleicht ist das bereits die Brücke, über die die Gedanken wandern sollen. Nicht ganz elf Freunde hatten mich unlängst für einen Wildkräuterspaziergang gebucht. Auch Bewegung, mit dem Ziel freilich, anschließend zu essen, Weg-Rauke und Gänseblümchen sollten es sein. Die Blümchen sammelten wir auf einer Wiese unter einer Buche. Am Baum sah man bereits die Eckern reifen. Es waren nicht wenige. „2020 wird ein Mastjahr“, meinte ein Teilnehmer. „Mastjahr“ sorgt für knapp 9.000 Google-Treffer; es ist ein Jahr, in welchem Bäume auffallend viele Samen produzieren. Der Begriff lässt sich durch die einst übliche Schweinemast auf Hudewiesen unter Eichen erklären. Zu Mastjahren kommt es mehr oder

weniger regelmäßig. 2020 könnte, laut forstwirtschaftlichen Kreisen, bei Buchen in der Tat ein solches sein. Und, wie gesundheitsdienstliche Kreise von sich geben, ein Mastjahr eben auch für Menschen. Platz zwei der „Corona-Kilos“-Anfrage nennt Gründe, die beim Lockdown zur leidigen Gewichtszunahme führen konnten, darunter auch Fast Food. Mir erschließt sich das nicht ganz. Hätte man beim Lockdown nicht ausreichend Zeit zum Kochen gehabt? Egal. Das Rezept für die nebenstehende Kürbissuppe mit Bucheckern-Taubnessel-Pesto habe ich nicht als Diät ersonnen. Wer meint, unbedingt eine halten zu müssen, kann meinethalben die Creme Double durch Magermilch ersetzen. Ich mache das garantiert nicht.

Taubnesseln (Lamium) werden auch zu Tee verarbeitet. Geerntet werden die Blätter und Blüten von Mai bis September. In der Naturheilkunde werden Taubnesseln unterstützend eingesetzt, beispielsweise gegen Asthma-Erkrankungen oder Beschwerden während der Wechseljahre. Bucheckern sind die Früchte der Rotbuche (Fagus sylvatica) und werden von Vögeln und Nagetieren geschätzt, spielten aber auch in der menschlichen Ernährung eine Rolle. U.a. wurden sie zur Herstellung von Kaffeeersatz ähnlich wie Eicheln verwendet.


KULTUR

Ein Erdzeitalter später Erst war der Wurm drin, jetzt ist’s ein Mammut. Das traditionsreiche Dortmunder Naturmuseum am Fredenbaumpark wird am 8. September nach sechsjähriger (!) Schließungszeit wiedereröffnet. Die Wartezeit hat sich gelohnt. Von Bastian Pütter | Fotos: Daniel Sadrowski

D

ie jüngere Geschichte des Dortmunder Naturkundemuseums, das jetzt knapper Naturmuseum heißt, ist eine von Ankündigungen. Im September 2014 schloss es für einen Umbau und eine Neukonzeption der Dauerausstellung seine Türen. Aus der Wiedereröffnung in neuem Glanz zwei Jahre später wurde nichts; eine insolvente Elektrofirma, Planungs- und Bauprobleme ließen Termin- und Kostenpläne zur Makulatur werden. Die schließlich groß angekündigte Eröffnung zur Museumsnacht 2019 konnte ebenfalls nicht gehalten werden – und dann kam Corona. Aus dem für Juli geplanten großen Festakt mit 2.000 Gästen wird nun ein kleiner: Am 7. September erhalten 100 per Los bestimmte BesucherInnen Zutritt zu einer Erstbegehung, am 8. September ist der erste reguläre Öffnungstag. Für die vielen Freunde des bis zur Schließung besucherstärksten Dortmunder Museums und für die MitarbeiterInnen – allen voran Museumsleiterin Dr. Dr. Elke Möllmann – endet eine fast absurd lange Durststrecke. Als bodo Ende vergangenen Jahres mit der Frage „Wie räumt man eigentlich ein Museum ein?“ (Artikel bodo 02/20) die Baustelle besuchte und sich von Elke Möllmann die Einrichtung der Ausstellung zeigen ließ, beeindruckte trotz vieler Exponate unter Plastikfolie oder in Holzkisten bereits das innovative Konzept. Mit klar regionalem Fokus wird vertikal die Geologie und horizontal die Biologie Dortmunds erfahrbar gemacht. Erstere mit einem Blick in die Tiefe auf die Schichten der Erdzeitalter, letztere nach dem „Stadt-Land-Fluss“Prinzip: „Wir denken es als Fläche. Wir beginnen mitten in Dortmund, in einer Straßenschlucht, in einem

Park. Dann gehen wir immer weiter raus aufs Land, durch den Wald, bis wir an die Ruhr kommen“, erklärte Elke Möllmann. Aufwendig gestaltete Dioramen, Bildund Toninszenierungen, eine Fülle an Exponaten von naturgetreuen Nachbildungen bis zu einem vollständigen Wollmammut-Skelett, das Ganze eingebettet in eine modernisierte, endlich barrierefreie Architektur: „Wir haben das Museum ins nächste Jahrtausend gehoben“, sagte die Museumsleiterin nicht ohne Stolz. Apropos: „Ein Mammut auf dem Wunschzettel“ hieß unsere Geschichte aus dem Jahr 2012, in der Elke Möllmann ihre Pläne für ein technisch wie museumspädagogisch modernes Haus skizzierte und bereits ihr Traum-Exponat benannte. Dass es bis heute dauern sollte, bis ihr Plan umgesetzt war, hätte sie wohl nicht geglaubt. Aber, nun ja, nun ist er es, und Dortmunds Museumslandschaft um eine wirkliche Attraktion reicher.

Anmeldung und Öffnungszeiten unter www.naturmuseum.dortmund.de 23


Kalender September | Oktober | 2020

„Entscheidend is auf ‘m Platz“: Zum ersten Mal seit März versammelt unser Kalender wieder ausschließlich Veranstaltungen in der wirklichen Welt. Inzwischen etablieren sich mit den Infektionsschutzregeln kompatible Formate, viele Veranstalter haben neue Konzepte entwickelt und investiert. Es finden Konzerte und Vorträge statt, Kinos sind geöffnet, die Theater beginnen ihre Spielzeiten – alles unter dem Zeichen großer Vorläufigkeit, mit Beschränkungen und finanziellen Einbußen. Aber es geht weiter.

DO 03 | 09 | 20 Lounge | Campus-WG Studierende aller Semester und Fachrichtungen sind herzlich eingeladen, sich bei einer – an die schwedischen Sittnings angelehnten – Sitz-Party mal wieder zu sehen. Die Veranstaltung findet mit den notwendigen Sicherheits- und Hygienestandards unter freiem Himmel im Biergarten des FZW statt – mit Sandstrand, Lounges, Liegestühlen und Palmen. Weitere Termine unter www.fzw.de FZW, Dortmund, 18-22 Uhr

FR 04 | 09 | 20 Theater | Blutmond Alles ist normal. Wir sind gelassen. Wir hören Swing. Wir sehen ein kleines Konzert. Das Leben hat die Unterhaltung mitgebracht. Plötzlich, besser gesagt, langsam plötzlich, dringt eine Veränderung ins Dasein. Dämonen erscheinen, sie wirken real. Kleine Buchten dienen vermeintlicher Erholung. Nähe

wird zu Illusion, Identitätssuche und -wechsel. Durch einen Spalt scheint die Realität ins Dunkel. Der Mensch in seiner Menschlichkeit. Wir schieben es auf den Mond, den Blutenden. Es herrscht Stillstand und Kälte. Am Ende scheint der Spuk sich langsam aufzulösen, der Dämon aber bleibt in seiner Maske präsent und als Warnung zurück. Theater in Depot, DO, 20 Uhr (auch 5.9.)

U.K. Quartetts ist, neben ihrer Spielfreude und ihrem unerschöpflichen Ideenreichtum, inspiriert durch Reisen nach Afrika, Brasilien, Indien und weiteren Ländern, die die Musiker bisher bereist oder auch bespielt haben. Jedoch hat das U.K. Quartett keinen typischen Weltmusikcharakter. Es ist Modern Jazz mit eigener musikalischer Sicht- und Spielweise. domicil, Dortmund, 20 Uhr

Show | Die Physikanten Normalerweise zeigen die Physikanten ihre Experimente vor großem Publikum. Weil dies aktuell nicht möglich ist, findet im Cabaret Queue eine besondere Art der Wissenschaftsshow statt, und zwar in familiärer Atmosphäre und mit umso spannenderen Experimenten, die witzig und packend erklärt werden. Cabaret Queue, DO, 18.30 Uhr (auch 21 Uhr)

Musik | Eivør Eivør wurde 1983 auf den Färöer Inseln geboren. Die Verwurzelung mit dieser abgeschiedenen und gleichzeitig wunderschönen Insel diente von Beginn an als musikalische Anregung für die Sängerin, Musikerin und Songwriterin, die eine Stimme von einer seltenen Schönheit und Kraft besitzt. Während die andauernde Liebe zur färöischen Kultur weiterhin das Herzstück ihrer Arbeit ist, wurde deren Ausdruck um Einflüsse etwa aus Jazz, Folk, Ethno-Pop, Trip-Hop und Klassik erweitert. Konzerthaus, DO, 18.30 Uhr (auch 21 Uhr)

Musik | Tatort Jazz on Tour – U.K. Quartett Drummer & Percussionist Uwe Kellerhoff gründete die Band in 2018. Die Musik des

Anzeige

IHRE SPENDE GIBT SICHERHEIT! WIR BAUEN IN BOCHUM EIN NEUES FRAUENHAUS FÜR mehr starke Frauen mehr selbstbewusste Mütter mehr glückliche Kinder www.caritas-bochum.de 24

SPENDENKONTO Caritasverband für Bochum und Wattenscheid Kennwort: »Neues Frauenhaus« Sparkasse Bochum IBAN DE20 4305 0001 0001 5843 25


BODO-TIPP

Anzeige

Alle zwei Jahre findet in Dortmund eins der traditionsreichsten Festivals der freien Szene statt. 1985 gestartet unter dem Titel Theaterzwang, versammelt Favoriten experimentelle Arbeiten aus Performance, Tanz, Musik und Sprechtheater.

Festival Favoriten

10. – 20. September Depot Dortmund und andere Orte

Unter dem Titel „While we are working“ erforscht das Festival, das zum zweiten Mal von Fanti Baum und Olivia Ebert (s.S.4) geleitet wird, unterschiedliche Felder des Arbeitens und des Nicht-Arbeitens in den Künsten und in der Gesellschaft: „Wir interessieren uns für kollektive Arbeitsweisen, körperliche Anstrengung, Verausgabung, Verschwendung und Erschöpfung genauso wie für neue Formen der Solidarität, des Streiks oder der Sorgearbeit. Was ist Arbeit an der Kunst – oder ist künstlerisches Tun das Andere der Arbeit? Und wie kann das gelingen: Sorge, Streik und Solidarität als Performance? Oder: Lässt sich proben, ohne produktiv zu sein – und ist das dann schon Arbeit?“

SA 05 | 09 | 20 Show | Ganz schön magisch! Das Varieté et cetera meldet sich nach langer Zwangspause zurück. In der neuen Show „Ganz schön magisch!“ darf sich das Publikum auf unbeschreibliche Magie, leidenschaftliche Akrobatik und viel Charme freuen. Mit dabei sind Matthias Rauch (Moderation & Zauberei), TanBA (Comedy-Zauberei), Sina Brunner (Vertikaltuch), Romina (Hula-Hoop), White Gothic (Akrobatik) und das Duo Mantra (Equilibristik). Infos und weitere Showzeiten unter www.variete-et-cetera.de Varieté et cetera, BO, 18 Uhr (auch 21 Uhr) Kabarett | Hans Gerzlich – Das bisschen Haushalt Hans Gerzlich wollte immer der Herr im Hause sein, jetzt ist er es: Nun macht seine Frau Karriere, er den Haushalt. Und lernt ein Leben kennen, in dem er sich nicht mehr fit hält durch Tennis mit den Kumpels nach Büroschluss, sondern durch Betten aufhängen und Wäsche beziehen, Hemden wischen und Staub

bügeln. Prozess-Neustrukturierung in Küche und Waschkeller. Chaos programmiert. Zauberkasten, Bochum, 20 Uhr

SO 06 | 09 | 20 Lesung | Andrea Sawatzki liest „Der Reisende“ Der Roman von U. A. Boschwitz, gestaltet als Briefwechsel zwischen einem Deutschen und einem amerikanischen Juden zur Zeit von Hitlers Machtübernahme, schildert die Entwicklung einer Freundschaft und die Geschichte einer Rache. Gastgeberin der Veranstaltung ist die NRW-Antisemitismusbeauftragte und Bundesministerin a.D. Sabine LeutheusserSchnarrenberger. Im Anschluss an die Lesung diskutiert die ehemalige Bundesjustizministerin mit Andrea Sawatzki über das Buch und gesellschaftliche Herausforderungen. Mondpalast Wanne Eickel, Herne, 11.30 Uhr Musik | Sommer am U: Gee and the Plastic Strings Eine Violine, Live-Elektronik und Gesang – Raimund Gitsels aka Gee and the Plastic

Strings entwickelt live ein fesselndes musikalisches Hörspiel zwischen atmosphärischen Soundscapes, Minimal Music und postrockigen Songs. Gestrichen, gezupft oder geklopft bilden sich aus unterschiedlichsten Geigenklängen ausgesprochen komplexe Arrangements. Eintritt frei. Dortmunder U, Dortmund, 17 Uhr

DI 08 | 09 | 20 Ausstellung | Eröffnung Naturmuseum Dortmund Das lange Warten hat ein Ende: Dienstag, der 8. September, wird der erste reguläre Öff-

Anzeige

Jetzt dauerhaft schöne Produkte aus den Werkstätten Gottessegen finden:

WERKSTATTLADEN Öffnungszeiten: Dienstag + Freitag von 10-13 Uhr und 15-18 Uhr Samstag von 10-14 Uhr Werkstattladen der Werkstätten Gottessegen gGmbH · Kirchhörder Berg 5 · 44229 Dortmund · Tel. 02 31 / 79 78 76 95 · www.werkstaetten-gottessegen.de 25


KALENDER

nungstag für das neue „Naturmuseum Dortmund“. Nach umfangreicher Gebäudesanierung und -modernisierung präsentiert sich das ehemalige Museum für Naturkunde mit einer ganz neuen Ausstellung in Räumlichkeiten, die nach dem Umbau kaum wiederzuerkennen sind. Eintritt frei, Anmeldung erforderlich. Infos: www.dortmund.de Naturmuseum Dortmund, Dortmund

DO 10 | 09 | 20 Kabarett | Esther Münch – „Am besten Walli“ Jahrzehntelange Bühnenpräsenz und Dutzende Programme – ein Querschnitt aus einem bewegten Künstlerinnenleben in Person der bekanntesten deutschen Reinigungsfachkraft mit Feudel-Diplom. Zauberkasten, Bochum, 20 Uhr Musik | Quadro Nuevo Seit 1996 tourt Quadro Nuevo durch die Welt. Ihre Musik nährt sich von der Begegnung mit fremden Kulturen und ihren Menschen. Zurück aus der Welt, richtet Quadro Nuevo den Blick auch auf die eigene Kultur. Bereichert durch all die Erfahrungen, wagt die Band in ihrem aktuellen Album „Volks-

lied reloaded“ ein persönliches Experiment: die musikalische Essenz aus den alten Liedern heraus zu destillieren – eine abenteuerliche Reise durch die Jahrhunderte. Bahnhof Langendreer, Bochum, 18 Uhr Kabarett | Jochen Malmsheimer Jochen Malmsheimer ist mit seinem Programm „Wenn Worte reden könnten oder: 14 Tage im Leben einer Stunde“ zu Gast in der Werkstadt. Hier bleibt kein Wort auf dem anderen. Es wird ausgeführt, was geschähe, wenn Worte reden könnten. Denn das Geschäft des Sprechens, von fast jedermann ahnungsund schamfrei in einer jeglichen Lebenslage schwunghaft betrieben, ist ein komplizierteres, als man gemeinhin ahnen möchte. Werkstadt, Witten, 20 Uhr

SA 12 | 09 | 20 Tanz | Im Zeichen des Orients – Das interkulturelle Tanzfestival Seit 20 Jahren wirbelt das Festival „Im Zeichen des Orients“ durch die interkulturelle Tanzszene. Dem Shutdown im April zum Opfer gefallen, wird es nun eine den aktuellen Bestimmungen angepasste Ausgabe ge-

ben. Mit leicht reduziertem Umfang, etwas geringerer Platzkapazität, doch weiterhin mit einem Basar, der nun allerdings draußen aufgebaut wird. Was bleibt, ist ein farbenfrohes Tanzspektakel. Von Spanien in die Türkei quer durch den Nahen Osten bis nach Indien, Hawaii und Argentinien führt die tänzerische Abenteuerreise. Flottmannhallen, Herne, ab 15.30 Uhr

SO 13 | 09 | 20 Musik | Sommer am U: Christian Hammer Trio Das Christian Hammer Trio mit Christian Hammer (Gitarre), Matthias Bergmann (Flügelhorn) und Ingo Senst (Kontrabass) spielt Jazz mit kammermusikalischer Note. Die musikalische Bandbreite des Gitarristen Christian Hammer reicht vom straight ahead Jazz über Weltmusik bis zu „The Dorf“. Der Bassist Ingo Senst ist mit Stars wie Götz Alsmann und Patty Austin unterwegs, und Matthias Bergmann spielt mit seinem Quartett und als Sideman in unzähligen Bands und Big Bands. Auf dem Programm stehen Klassiker der Jazzgeschichte neben Kompositionen von Hammer und Bergmann. Eintritt frei. Dortmunder U, Dortmund, 17 Uhr

Anzeige

GRÜN IST

heute das Morgen gestalten.

Zukunft entscheidet sich hier. 26


BODO-TIPP

Anzeige

„Nur gucken – nicht anfassen.“ Das Schauspielhaus Bochum startet in die neue Spielzeit mit trotzigem Humor, mit Reflexionen über die neue NichtNormalität, einem „halben“ Programmheft und hellsichtiger Stückewahl.

Schauspielhaus Bochum

ab 10. September

Intendant Johan Simons hat mit Shakespeares „King Lear“ und mit Sophokles‘ „Ödipus, Tyrann“ in der Heiner-Müller-Übersetzung zwei eigene Regiearbeiten im Programm: Den Lear schrieb Shakespeare quasi in Pest-Quarantäne, als lange Schließungszeiten der Theater den ganzen Berufsstand bedrohten; Ausgangspunkt des tragischen Geschehens in Ödipus ist die demütige Bitte Thebens an den König, „einen Schutz uns zu erfinden“ gegen eine Seuche, die die Stadt heimsucht. Viel bleibt noch offen in dieser Spielzeit der Unwägbarkeiten. Yasmina Rezas „Drei mal Leben“, Ibsens Peer Gynt, „Die unendliche Geschichte“ als Familienstück und die Grönemeyer-Oper „Herbert“ sind bereits gesetzt.

FR 18 | 09 | 20 Theater | Meisterklasse „Keinen Applaus, bitte. Wir sind hier, um zu arbeiten.“ Die Zeit der Hauptrollen in den großen Opernhäusern dieser Welt hat Maria Callas, die vielleicht berühmteste Sopranistin der Neuzeit, hinter sich. Nun unterrichtet sie am Ende einer glanzvollen Karriere in New York als Gastdozentin eine Meisterklasse. Mit gnadenloser Strenge und schonungsloser Kritik begegnet sie den drei Schülerinnen und Schülern, denen sie im Unterricht das Gesanghandwerk beibringen soll. Immer wieder wird sie dabei von der Vergangenheit eingeholt. Prinz Regent Theater, Bochum, 19.30 Uhr (auch 19.9., 19.30 Uhr & 20.9., 18 Uhr)

SA 19 | 09 | 20 Theater | Ich bin Liebe – ein Stück Musik II Eine Popband, die Lieder über die Liebe singt – aber fünf Menschen, die ganz unterschiedlich darüber denken. Die Liebe ist ein Gefühl, das Menschen stärker beeinflusst als jedes andere. Sie wächst wie Löwenzahn an unerwarteten Orten. Kein Gefühl wird in der Kunst häufiger untersucht, keins ist schwerer zu fassen. Ob Hohelied oder Minnesang, ob sterbender Schwan oder Eternal Flame, durch die ganze Musikgeschichte zieht sich Liebe. Flottmannhallen, Herne, 18 Uhr (auch 18. & 21.9., 11 Uhr) Kunst | Die 20. DEW21-Museumsnacht Auf die Jubiläumsausgabe bereiten sich OrganisatorInnen und VeranstalterInnen mit einem modifizierten Konzept vor. Viele Programmangebote können nicht wie geplant stattfinden, dafür wurden andere, neue For-

mate gefunden. Auch wenn die DEW21-Museumsnacht in diesem Jahr kleiner ausfallen wird, können sich BesucherInnen auf einen ereignisreichen Tag freuen. Unter anderem mit dabei sind die DASA, das Brauerei-Museum, das Museum für Kunst und Kulturgeschichte, das LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, das Deutsche Fußballmuseum, das Dortmunder U und das neu eröffnete Naturmuseum Dortmund. Infos: www.dortmund.de div. Orte, Dortmund

Samstag | 21.11.2020 | 20 Uhr

Check Your Head IV Samavayo (Berlin) Black Voodoo Train (München) Scorched Oak (Dortmund)

Freitag | 27.11.2020 | 20 Uhr

Bastiaan Ragas X-Mas Concert mit Meet and Greet

DI 22 | 09 | 20 Musik | Klavierkonzert mit Viktoria Kleymann Victoria Kleymann ist Pianistin und lebt in Düsseldorf. Bereits im Alter von sechs Jahren hat sie angefangen, Klavierstunden zu nehmen. Kleymann ist Preisträgerin vieler nationaler und internationaler Klavierwettbewerbe und ist in Deutschland, Österreich, Belgien, Italien und den USA als Solistin in renommierten Konzerthäusern aufgetreten. Auslandsgesellschaft e.V., DO, 18.30 Uhr

DO 24 | 09 | 20 Dokumentarfilm | Der zweite Anschlag Mit erschreckender Kontinuität wiederholen sich in Deutschland rassistisch motivierte, gewaltsame Übergriffe, Morddrohungen und Anschläge gegen Menschen mit migrantischem Hintergrund. In „Der zweite Anschlag“ schildern Betroffene die traumatischen Erlebnisse, die sie und ihre Familien – auch durch die fehlende Aufarbeitung in den Jahren danach – durchleben mussten. Im Anschluss Filmgespräch mit Regisseurin Mala Reinhardt. Eintritt frei. Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund, 18 Uhr

facebook.com/DietrichKeuningHaus keuninghaus2togo@gmail.com keuninghausofficial YouTube "Keuninghaus to Go" Leopoldstr. 50-58 | 44147 Dortmund Telefon 0231 50-25145

27


KALENDER

BODO-TIPP

Comedy | RuhrHOCHdeutsch: Hennes Bender – „Ich hab nur zwei Hände“ Hennes Bender stellt sich den großen Fragen des Lebens: Lästern Alexa und Siri hinter meinem Rücken über meinen Haaransatz? Wozu eine Vorratsdatenspeicherung, wenn ich ein Langzeitgedächtnis habe? Und überhaupt: Sollte alles eigentlich nicht alles leichter sein als vorher? Stattdessen jonglieren wir unser Leben zwischen iPad, Thermomix und Staubsaugerroboter und haben trotzdem weniger Zeit als vorher. Und dann der Moment, an dem man an sich hinabschaut und feststellt: Ich hab nur zwei Hände! Und die sind einem dann auch meistens noch gebunden. Schalthaus 101, Dortmund-Hoerde, 20 Uhr

Schauspiel Dortmund

ab 24. September

FR 25 | 09 | 20 Musik | Götz Alsmann Götz Alsmann singt Lieder der Liebe. Tut er das nicht immer? Eigentlich ja. Aber nach seinen musikalischen Ausflügen nach Paris, New York und Rom, jeweils dokumentiert durch preisgekrönte Alben und über 700 Konzerte in den letzten neun Jahren, widmet er sich wieder den Werken der großen Komponisten und Texter des deutschen Sprachraums. Deren Spezialität waren schon immer Liebeslieder – romantisch und zart, verträumt und verrucht – aber auch draufgängerisch und wild. Konzerthaus, Dortmund, 18.30 Uhr (auch 25.9., 21 Uhr & 26.9., 20 Uhr) Comedy | RuhrHOCHdeutsch: Christian Ehring Viele kennen ihn aus der ZDF-Satire-Sendung „heute-show“. Dort verkündet er in seiner Rolle als verrückter Nachrichtensprecher stets gut frisiert und bestens gelaunt skurrile Meldungen. Doch Christian Ehring kann noch viel mehr: Mit seinem Soloprogramm ist er auf den Bühnen Deutschlands unterwegs und begeistert seine ZuschauerInnen mit viel Witz und Verstand. Hierfür sprechen zahlreiche

Am 24. September beginnt mit einer Vorstellung des neuen Ensembles die Spielzeit. Am Tag darauf feiert „2170“, die erste Inszenierung der neuen Intendantin Julia Wissert, Premiere. Und sonst? „Wir werden mit der Regisseurin Mizgin Bilmen in die bedingungslose Welt Fausts eintauchen“, sagt Julia Wissert, „wir werden mit Milan Peschel in die 1930er Jahre in den USA reisen und erleben, was Menschen zustößt, wenn Wirtschaftssysteme zusammenbrechen: Früchte des Zorns. Wir werden gemeinsam in La Chemise Lacoste auf dem Tennisplatz stehen, herausfinden, wie Neue Arbeit funktioniert, eine Band sein in Lust for Life oder einfach mal die Schönheit von Autos feiern. Einen Höhepunkt erleben wir dann am Ende der Spielzeit, wenn wir mit den KünstlerInnen Sandra und Simonida Selimović aus dem Theater heraus ein eigenes, neues Land gründen. Wir werden gemeinsam essen, diskutieren und feiern.“

Auszeichnungen, die der flippige Comedian bereits abgestaubt hat, wie etwa die St. Ingberter Pfanne oder den Leipziger Löwenzahn. Schalthaus 101, Dortmund-Hoerde, 20 Uhr

SA 26 | 09 | 20 Markt | Nachtflohmarkt – Der besondere Kulturtrödel Das Team des allseits beliebten Nachtflohmarktes feilt noch an letzten Details, aber alle FreundInnen von Krims, Krams und Kultur können sich freuen: In der Mittelhalle der ehemaligen Straßenbahnwerkstatt darf wieder getrödelt werden, was das Zeug bzw. der Tapetentisch hält. Coronabedingt mit weniger Getümmel, aber dafür mit umso mehr Dortmunder Industriekulisse. The Two Charmeützel Boys und Titus Waldenfels sorgen für den passenden Hintergrundsound. Tickets gibt es voraussichtlich nur online. Infos unter www.depotdortmund.de Depot, Dortmund, 17 bis 23 Uhr

SA 26 | 09 – SO 27 | 09 | 20 Festival | nachtfrequenz20 – Nacht der Jugendkultur Engagierte Menschen in 82 Städten und Gemeinden sind erfinderisch und tun alles, um auch 2020 die „nachtfrequenz“ auf die Beine zu stellen. Unter dem Motto „Machen ist wie wollen, nur krasser“ laden sie zum Schauen, Hören und vor allem zum Mitmachen ein. Open stages, Tanz, Theater, Poetry Slams, Videodrehs, Graffiti, Musik von Hip-Hop bis Metal mit Lokalmatadoren und Newcomern; aber auch Workshops, Skate Contests und Dance Battle stehen auf dem Programm. Infos: www.nachtfrequenz.de verschiedene Städte, NRW

SO 27 | 09 | 20 Theater | Schöne neue Welt Die schöne neue Welt ist eine, in der es keine Kriege mehr gibt, in der Kunst durch „Fühl-

Anzeige

KATH. ST.-JOHANNES-GESELLSCHAFT DORTMUND gGmbH

Kranken- und Pflegeeinrichtungen

28

01 St.-Johannes-Gesellschaft Anzeige BODO 135x65_5mm Feb 2019.indd 1

14.01.2019 12:01:10


KINO-TIPP

filme“ und „Duftorgeln“ ersetzt wurden, in der Kinder nicht geboren, sondern „bokanowskifiziert“ und in der Emotionen und Instinkte instrumentalisiert werden: Jeder ist glücklich und zufrieden – oder sollte es sein. Plötzlich taucht John auf. Er kommt aus der „Äußeren Zone“ und ist anders als die anderen – er hat eine leibliche Mutter und liest gern Texte von Shakespeare. John verliebt sich in Lenina, die diese Liebe nicht verstehen kann. Tag für Tag fühlt sich John fremder in dieser schönen neuen Welt. Rottstr5 Theater, Bochum, 19.30 Uhr

DI 29 | 09 | 20 Vortrag | Die grüne Revolution in Paris Fast unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit hat sich in Paris ein bemerkenswerter ökologischer und verkehrspolitischer Wandel vollzogen. Die Abkehr vom Auto und die Entwicklung alternativer Transportmöglichkeiten ist dabei nur ein interessanter Aspekt. Genauso wichtig sind die Verbesserungen der Lebensbedingungen sowie die Schaffung von lebenswertem Freiraum. Anhand von zahlreichen Beispielen zeigt der reich bebilderte Vortrag von Ralf Petersen diesen Wandel und seine überall sichtbaren Folgen. Auslandsgesellschaft e.V., Dortmund, 19 Uhr

MI 30 | 09 | 20 Kabarett | René Steinberg trifft Doc Esser Der eine ist Mediziner und Rockmusiker, der andere Kabarettist und Literaturwissenschaftler. Gemeinsam begeben sie sich auf die Suche: Was tut einem Menschen heute gut? Was braucht man? Um diesen elemenAnzeige

Je t z t ! anlegen A b 20 0

E u r o.

WENN MEIN GELD NACHHALTIGKEIT FÖRDERT. DANN IST ES GUTES GELD. GUTESGELD.DE NACHHALTIGE GELDANLAGE SEIT 1975.

taren Fragen zu begegnen, werfen beide ihre jeweiligen Gewerke in die Waagschale und auf die Bühne: Medizin/Humor, Gesundheit/gesellschaftliche Betrachtung, Biologie/Poesie, klassische Literatur und neueste Studien. Cabaret Queue, DO, 18.30 Uhr (auch 21 Uhr)

DO 01 | 10 | 20 Comedy | Michael Hatzius – „Echsoterik“ Das Reptil voll Erfahrungen, Geschichten und Weisheit legt den BesucherInnen die Karten auf den Tisch. Vollständig erleuchtet und bestens ins Licht gerückt durch den mehrfach ausgezeichneten Puppenspieler Michael Hatzius, der gekonnt in der Aura des großmäuligen Reptils zu verschwinden scheint. Das Publikum ist eingeladen zu einer humorvollen Audienz mit offenem Herzen und großer Klappe, bei der gern auch Publikum selbst im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Bahnhof Langendreer, Bochum, 20 Uhr

DO 08 | 10 | 20 Comedy | Stefan Danziger – „Was machen Sie eigentlich tagsüber?“ Auf den Straßen Berlins erlernte Stefan Danziger seinen Stil und entdeckte seine Gabe, Menschen stundenlang mit Geschichte vollzubrabbeln. Da es ihm nicht reichte, das nur tagsüber zu tun, beschloss er vor über fünf Jahren, das auch nachts auf den Comedybühnen Berlins zu tun, später auch in Amsterdam, London und Edinburgh. Seine Comedy beleuchtet charmant Geschichte und die Geschichten dahinter, kulturelle Widersprüche und Absurditäten des Alltags. Bahnhof Langendreer, Bochum, 20 Uhr

ab DO 24 | 09 | 20 LIVE | endstation.kino | Futur Drei Parvis wächst als Kind der MillenialGeneration im komfortablen Wohlstand seiner iranischen Einwanderer-Eltern auf. Dem Provinzleben in Hildesheim versucht er sich durch Popkultur, Grindr-Dates und Raves zu entziehen. Nach einem Ladendiebstahl leistet er Sozialstunden als Übersetzer in einer Unterkunft für Geflüchtete. Dort trifft er auf das iranische Geschwisterpaar Banafshe und Amon. Zwischen ihnen entwickelt sich eine fragile Dreierbeziehung, die zunehmend von dem Bewusstsein geprägt ist, dass ihre Zukunft in Deutschland ungleich ist. In seinem autobiographischen Regiedebüt erzählt Faraz Shariat, Jahrgang 1994, authentisch und zugleich wundersam überhöht vom queeren Heranwachsen eines Einwanderersohns in Deutschland – und liefert damit einen entschlossenen Gegenentwurf zu einem konventionellen deutschen Kino, in dem postmigrantische Erlebnisse und Geschichten von Einwanderern und ihren Familien allzu oft ausgeschlossen oder misrepräsentiert werden. Für sein sensibles, pop-affines und kraftvolles Plädoyer für Diversität wurde Futur Drei beim First Steps Award 2019 als Bester Spielfilm ausgezeichnet, Shariats junges DarstellerInnenEnsemble erhielt den Götz-GeorgeNachwuchspreis. Auf der diesjährigen Berlinale, wo der Film im Panorama seine Weltpremiere feierte, wurde Futur Drei mit zwei Teddys (Bester Spielfilm, LeserInnen-Preis) ausgezeichnet. Im endstation.kino vom 24. bis 30. September, jeweils um 20 Uhr endstation.kino im Bahnhof Langendreer Wallbaumweg 108, 44894 Bochum www.endstation-kino.de

29


BODO GEHT AUS

Katjushas Foodwerk Hochofenstraße 46 44263 Dortmund

Katjushas Foodwerk Russisch inspirierte Fusionsküche Das Wort „Foodwerk“ existiert nicht. Im Duden jedenfalls sucht man es vergeblich. Den eigenwilligen Namen hat sich Ekaterina Guemesh ausgedacht. Gemeinsam mit ihrer Mutter betreibt sie in DortmundHörde das schmucke Restaurant Katjushas Foodwerk. Das „Werk“ im Wort beziehe sich auf die Nähe zu Phönix-West, verrät sie uns. Tritt man vor Katjushas Tür, bildet das ehemalige Hochofenwerk im Hintergrund eine eindrucksvolle Industriekulisse. „Aber ganz ehrlich, ‚Essenswerk‘ hört sich einfach nicht gut an“, lacht Frau Guemesh. So hat sie kurzerhand Englisches mit Deutschem gemischt und mit Katjusha noch die Verniedlichung ihres Vornamens vorangestellt.

30

Von Wolfgang Kienast Fotos: Daniel Sadrowski

Die sprachliche Fusion klingt nicht nur gut, sie passt ausgezeichnet zur Speisekarte. Vieles ist hier russisch inspiriert. Bei den Rezepten lässt sie sich gern von Gerichten aus der Heimat ihrer Familie anregen, schaut dabei aber weit über jeden Tellerrand hinaus. Nur wenn es klassisch russisch werden soll, übernimmt die Mutter das Regiment am Kochtopf.

Familie betrieb ein Hotel. „Tatsächlich hat meine Mutter alles getan, mir das Kochen beizubringen“, verrät sie uns. Sie habe ihr Bemühen jedoch abgeschmettert und sich zur Event-Managerin ausbilden lassen. Das war beim Gastroservie GCS in Düsseldorf, einem renommierten Unternehmen, zu dessen Kunden unter anderem die Deutsche Oper am Rhein und die Tonhalle zählen.

Mit etwas mehr als sieben Jahren kam Frau Guemesh nach Deutschland. Früh kam sie mit Küche und Kochen in Kontakt, die

„Für die Arbeit war es unabdingbar, dass ich ein Verständnis für gutes Essen entwickeln musste. Das Resultat war ein In-

teresse am Kochen. Es kam quasi durch die Hintertür.“ Und es wurde so groß, dass sie ihren Beruf an den Nagel hängte, um sich in der Gastronomie selbstständig zu machen. Vor acht Jahren eröffnete sie einen Imbiss mit dem Namen Snack Heaven. Bis Katjushas Foodwerk war es ein weiter Weg. Er hat sich gelohnt. Wer hier isst, wird es feststellen.


Anzeigen

Akroschka – Kalte russische Suppe Zutaten: 400 g festkochende Kartoffeln 4 Eier 2 Frühlingszwiebeln ½ Salatgurke 8 Radieschen ½ kg Hähnchenbrustfilet oder ein anderes Fleisch oder Kochwurst (optional) 1 Dose Erbsen 3 EL Senf 1 kleiner Becher Naturjoghurt 2 l Mineralwasser Frische Kräuter nach Belieben Salz & Pfeffer Zubereitung: Zunächst die Kartoffeln mit Schale gar kochen. Anschließend abgießen und auskühlen lassen. Eier fest kochen, kalt abschrecken, schälen und kleinschneiden. Das restliche Gemüse inkl. Kräuter waschen und alles klein schneiden. Optional Hähnchenbrustfilet oder ein anderes Fleisch garen und ebenfalls kleinschneiden. Wichtig – die Zutaten müssen kalt sein. Joghurt mit Senf, Salz & Pfeffer in einem Becher vermengen. Mit Mineralwasser aufgießen. Alle kleingeschnittenen Zutaten miteinander mischen. In die Teller verteilen und mit dem Joghurtgemisch auffüllen. Frische Kräuter drüber, fertig.

Hol dir Energie aus deiner Stadt. Strom Grün: Gemeinsam tun wir was für ein besseres Leben in Dortmund

≥ dew21.de/stromgruen

Förderer

31


REPORTAGE

Hegefischen im Westfalenpark Es ist früher Sonntagmorgen, als sich rund 50 Hobbyangler am Dortmunder Buschmühlenteich versammeln, um mitten im Westfalenpark Karpfen, Hechte und Weißfische zu angeln. Die Anwesenden treibt die Freude an einem kontemplativen Hobby, sportlicher Ehrgeiz und die Aussicht auf ein schmackhaftes Abendessen. Ziel der wiederkehrenden Angeltage ist es jedoch, das ökologische Gleichgewicht der städtischen Gewässer zu erhalten. Von Peter Hesse | Fotos: Daniel Sadrowski

Andreas Mölls ist Fischereiexperte, Sachverständiger und Berater, er kümmert sich vor Ort um die Belange der Angler. Mölls ist Hobbyangler und ausgebildeter Fischereiberater und heute ehrenamtlich für die Untere Fischereibehörde der Stadt Dortmund im Einsatz. „Die Hegepflicht“, erklärt er, „ist Teil des Fischereirechts. Die örtlichen Gewässer sollen sich in einem guten Zustand befinden und mit einem guten Fischbestand ausgestattet sein.“ Das Hegeangeln, also das gezielte Angeln in einem Gewässer, soll helfen, das ökologische Gleichgewicht der Gewässer zu erhalten, damit sich nicht zu viele Tiere in den Teichen tummeln, die dann kleinwüchsig oder krank sind. „Verbuttung“ nennt das der Angler. „Die Fische leiden in einer urbanen Stadt wie Dortmund unter vielen Randbedingungen, zum Beispiel zu vielen Nährstoffen im Wasser. Wenn zu viel Brot ins Wasser geworfen wird, um Enten zu füttern, fressen auch die Fische davon und wachsen sehr schnell. Wenn man diese Gewässer dann nicht beangelt und die Bestände dezimiert, entsteht im Gewässer ein Überbestand der Fische“, erklärt Andreas Mölls.

Ökologie und Kochrezepte Auch der Klimawandel macht sich für die Fischschwärme in den Teichen bemerkbar. Wenn die Sommer zu heiß werden und gleichzeitig zu wenig Regen fällt,

32


können die Gewässer kippen. Im Sommer 2018 sorgte ein massives Fischsterben im Aasee in Münster für Schlagzeilen. Hier war ein viel zu hoher Fischbestand festgestellt worden. Die Weißfische hatten fast alle Wasserflöhe gefressen, die sich wiederum von Blaualgen ernähren. Keine Flöhe – viele Algen. Das Ökosystem im Aasee kam völlig aus dem Gleichgewicht. Ähnliches passierte auch am Teich des Bochumer Stadtparks. „In Aplerbeck am Rodenbergteich gibt es kaum Schatten. Wenn die Sonne dann zu stark wird, verringert sich der Sauerstoffgehalt im Wasser. Dann wollen die Fische nach Luft schnappen“, erklärt Andreas Mölls. In solchen Fällen wird die Feuerwehr gerufen, die dann zusätzliches Wasser in die Teiche pumpt. Am Buschmühlenteich im Westfalenpark gibt es einen sehr vitalen Fischbestand mit vielen Hechten. „Es gibt bestimmte Schutzverordnungen für die jeweiligen Fische. Hechte laichen meist im Winter und dürfen dann nicht geangelt werden – im Sommer lassen sie sich allerdings schlecht fangen. Im Herbst ist es möglich, aber erst, wenn er mindestens 50 Zentimeter groß ist“, sagt Andreas Mölls. Dazu gibt es im Teich Weißfische wie Rotaugen und Brassen; die gehören zur Karpfen-Familie und ziehen in kleinen Schwärmen oft in größerem Abstand zum Ufer durch das Gewässer. Sie suchen aus Vorsicht meist nur nachts die flacheren Uferbereiche auf. „Für eine Zubereitung in der Pfanne sind sie nicht

Oben: Andreas Mölls arbeitet als Gewässermeister bei der Emscher-Genossenschaft. Als Hobbyangler und ausgebildeter Fischereiberater ist er heute ehrenamtlich für die Untere Fischereibehörde der Stadt Dortmund im Einsatz. Unten: Den größten Fisch dieses Tages zieht Thomas Klose (l.) aus dem Wasser: ein prächtiger Karpfen, der fast acht Kilo auf die Waage bringt.

33


REPORTAGE

unbedingt geeignet, weil sie sehr viele Gräten haben. Man kann sie ähnlich wie einen Brathering einlegen. Oder man dreht sie durch den Fleischwolf und verarbeitet sie zu Fischfrikadellen“, sagt Andreas Mölls über die kulinarische Seite des Hegefischens. Mölls arbeitet hauptberuflich als Gewässermeister bei der Emscher-Genossenschaft. Über seinen Vater kam er schon früh zum Angeln, bei der Bezirksregierung ließ er sich dann zum Fischereiberater ausbilden. „Ich war schon häufig in Alaska zum Lachsfischen. Das ist dort eine komplett naturbelassene Umgebung – im Gegen-

satz zu dem, was wir hier im Ruhrgebiet kennen. Diese Ursprünglichkeit zu erleben ist ein tolles Erlebnis – weil einem dann ganz bewusst wird, dass man nur ein kleines Staubkorn ist. Die Natur braucht uns nicht, auch wenn wir Menschen das natürlich meist ganz anders und viel egoistischer sehen.“

Ködertricks und Wetterlagen Der Erfolg beim Angeln hängt auch von der Wetterlage ab. Bei Wind beißen die Fische nicht so gut an. „Eine Vorgewitterlage ist erfahrungsgemäß ganz gut, aber wenn es zu windig ist, ist es eher schlecht“, findet Andreas Mölls. Tatsächlich gehen die Meinungen da auseinander. Viele der Angler am Buschmühlenteich haben einen Futterkorb als Köder dabei, der prall gefüllt mit individuellen Futtermitteln ist, um die Fische anzulocken. Manche geben Mais in den Futterkorb, andere Mehlwürmer – hier hat jeder Angler seine ganz eigene Rezeptur, die er nicht verrät. „Das kann man sich ein bisschen wie bei Pilzesammlern vorstellen. Wenn einer eine ganz besonders seltene Spezies gefunden hat und gefragt wird, wo er die denn gefunden hat, sagt er ja auch nur: im Wald.“ Doch zurück zum Futterkorb. Hier gibt es noch das wichtigste Utensil eines jeden Anglers: einen abstehenden Haken, an dem ein besonderer Leckerbissen hängt, um die Fische anzulocken. Und die Fische werden irgendwann mutiger, so dass sie früher oder später auf einen der Köder der anwesenden 50 Angler hereinfallen. Vor allem Karpfen, Brassen, Rotaugen und Hechte landen heute an der Angel – die Tiere, die zum Fischen von der Unteren Fischereibehörde freigegeben wurden. Den größten Fisch dieses Tages zieht Thomas Klose aus dem Wasser: ein prächtiger Karpfen, der fast acht Kilo auf die Waage bringt. Sein Geheimrezept sind Erdbeer-Vanille-Aromen. Die hat er in einem Sprühfläschchen und nebelt seinen Köder damit ein, bevor er ihn ins Wasser wirft. Ein paar Meter weiter hat sein jüngerer Bruder seine Angeln ausgeworfen, doch so viel Glück wie Thomas hat er nicht. „Wir haben heute gewettet: Wer die kleinere Beute macht, muss nachher den Bollerwagen mit dem Fischer-Equipment zum Auto ziehen“, sagt Thomas Klose. Und sein breites Grinsen verrät, dass diese Aufgabe heute seinem jüngeren Bruder zufällt.

Links: Geheime Köderrezepturen, die richtige Wetterlage und Ruhe und Geduld: Beim Hegeangeln geht es um Ökologie, die Freude an einem kontemplativen Hobby, sportlichen Ehrgeiz – und nicht zuletzt um die Aussicht auf ein schmackhaftes Abendessen.

34


Anzeige

Von Witten aus die Welt verändern. Kultur, Philosophie, Politik, Wirtschaft, Management, Psychologie, Pflegewissenschaft, Medizin und Zahnmedizin. Die UW/H bildet seit 35 Jahren Gesellschaftsgestalter*innen aus!

Studium: uni-wh.de/willkommen Infotage: uni-wh.de/uwherleben

Ich unterstütze Thomas Eiskirch, weil ich glaube, dass er Bochum gut tut. Farat Toku DFB-Fußballtrainer

Ich unterstütze Thomas Eiskirch, weil er Verbundenheit herstellt und ein Wir-Gefühl erzeugt. Verena Trautmann Dipl.-Handelslehrerin

Ich unterstütze Thomas Eiskirch, weil ich mich wunderbar konstruktiv mit ihm streiten kann. Esther Münch Bochumer Kultfigur

Ich unterstütze OB Eiskirch, weil er uns, die älteren Mitbürger, nicht vergisst.

Ich unterstütze Thomas Eiskirch, weil wir einen Gestalter an der Stadtspitze brauchen.

Elli Altegoer Bochumer Urgestein

Guido Beck Geschäftsführer BECKDESIGN

Weitere Infos unter: www.thomas-eiskirch.de · Folgt uns auf Instagram und Facebook

35


KULTUR

Die Hombrede ist eine kleine Straße in 59387 Ascheberg. Sie führt hinauf auf einen sanften Hügel, drumherum liegt sehr viel Münsterland. Hier lebt und arbeitet das Künstlerpaar Witt und Uschmann. Unter anderem führen sie einen eigenen kleinen Verlag, die Edition Hombrede. Ihre Edition ist so abseits wie sie wichtig ist, denn wo der Markt alles regelt, verflacht die kulturelle Landschaft. Von Wolfgang Kienast | Fotos: Sylvia Witt

Manchmal muss es Murp sein Sylvia Witt & Oliver Uschmann Kürzlich erschien, nach acht Jahren Pause, mit „Lost Levels“ ein neuer „Hui“-Roman. Die treue und geduldige Fan-Gemeinde wird entzückt gewesen sein – Außenstehende benötigen vermutlich ein wenig Nachhilfe. „Hui“ ist eine Abkürzung und steht für „Hartmut und ich“. Das ist der Titel des Debütromans von Oliver Uschmann, veröffentlicht im Jahr 2005. Bis 2012 folgten fünf weitere Bände sowie 2015 mit „Im Auge des Sturms“ noch eine Novelle. Das Debüt katapultierte den bei Erscheinen knapp dreißigjährigen Jungschriftsteller an den Rand der Bestsellerlisten. Vorher war „ich ein sehr viel trinkender, existentialistischer Germanistikstudent, der im Grunde gar nicht mehr schrieb. Der ab und zu mal ‘ne Geschichte im Suff verfasste, beim Schreiben aber gleichzeitig sehr viel an die Rezipienten dachte. Vor allem an Kritiker und Professoren“, wie Uschmann vor zehn Jahren in einem Interview verriet.

Die Bochum-Romane Uschmann besuchte seinerzeit die Ruhr-Uni zu Bochum. Die „Hui“-Welt startete denn auch im studentischen Milieu zu Beginn des Millenniums durch. Seither bereichern die „Hui“-Romane die Literatur um eine Männerfreundschaft auf Biegen und Brechen. Genauer, sie bereichern die Pop-Literatur, um an dieser Stelle eine unaufgeräumte Schublade zu öffnen. Erfrischend ist, dass den beiden Protagonisten wirklich alles fehlt, was in der Popwelt coole Helden für gewöhnlich definiert. Kurz, Hartmut ist ein nerdig nervtötender Möchtegernweltverbesserer, der namenlose Ich-Erzähler ein vergleichsweise gutmütiger

36

Malochertyp und das Zentrum ihres Universums eine alte Spielekonsole im angemessen versifften Wohnzimmer der Ungleiche-Männer-WG mit verhaltensgestörtem Kater. „Lost Levels“ setzt vor WG-Gründung ein. Damit hat die „Hui“-Welt ein Prequel bekommen. Diese Erzählweise ist im Popweltganzen nicht unüblich, man denke nur an die Star-Wars-Saga. Die stand jedoch nicht Pate beim chronologisch versetzten Plot. „Nein“, stellt Oliver Uschmann klar. „Das erste Drittel des Buches ist nach Star-Wars-Zählung zwar Episode I, die beiden anderen Drittel biegen sich, wiederum nach Star-Wars-Zählung, in die Episoden IV und V hinein. Aber wir wollten nicht die Struktur von Star Wars kopieren. Das war vielmehr ein Wunsch, der im Rahmen der ,Hui‘-Ausstellung an uns herangetragen wurde.” Zwei Dinge zur Erklärung: Die genannte Ausstellung meint das Gesamtkunstwerk „Ab ins Buch!“. Im Jahr 2010 wurden im Museum für Westfälische Literatur (Haus Nottbeck, Oelde) die Räumlichkeiten der Buch-WG nachgebaut. Besucher konnten, wie weiland die beiden Antihelden, zum Beispiel lässig auf der Couch sitzen, unzählige Spiele auf der Playstation spielen, sich auf dem belebten Flokati fläzen, in der Küche ein Bier trinken oder im Keller nach dem Weltkriegsbombenblindgänger suchen.


Regelbrecher-Team Und: Wenn Oliver Uschmann „wir“ sagt, redet er nicht im Pluralis Majestatis, sondern bezieht Sylvia Witt mit ein. Die beiden sind nicht nur verheiratet, sie arbeiten zusammen. Im Prinzip galt das schon beim Debüt, das ohne Sylvia Witt nie erschienen wäre. Damals sollte der Roman über eine Männer-WG, der den Buchmarkt zudem in einer kurzen Phase allgemein erfolgreicher „Männerbücher“ traf, nur unter der Marke Oliver Uschmann erscheinen.

„Murp“ ist der Titel des vierten „Hui“Romans, murpiges Wirken ein Tun und Schaffen ohne das Diktat von Effizienz im Nacken.

In der Wortewerkstatt Witt und Uschmann entstanden seither nicht nur die Episoden der „Hui“-Welt, sondern auch Jugendbücher, Ratgeber, Sachbücher und Anthologien. Mal steht ein Name auf dem Titel, mal beide. „Lost Levels“ haben sie in der eigens für solche Zwecke gegründeten Edition Hombrede herausgebracht – mit beiden Namen auf dem Titel. „Der Hartmut soll ja im Grunde endlos weitergehen“, sagt Uschmann. „Jetzt waren aber acht unfassbare Jahre Pause. Und da hat Hartmut, obwohl wir von den ersten Bänden etwa 350.000 Exemplare verkauft haben, kaum noch eine Chance bei den großen Verlagen. Da haben wir uns die Freude gemacht und den Luxus gegönnt, frei durchzuatmen und ohne Marketing und ohne Vertrieb und ohne irgendwen

37


KULTUR

sonst, der glaubte, uns reinreden zu können, die ‚Hui‘Welt auf dem eigenen Label weiterzuführen.“ Uschmann, der auch als Textcoach, Lektor und Dozent tätig ist, wenn er die „praktischen Fertigkeiten des guten Schreibens und Redens“ vermittelt und weiterführend angehenden Autoren und Journalisten beim Fußfassen im Literaturbetrieb zur Seite steht, beobachtet mit Sorge das Gebaren vor allem der großen Verlage. „Heute hat ein Buch ein Quartal Zeit. Wenn du weniger als dreihundert im Jahr absetzt, wird der Titel aus dem Programm genommen. Es gibt keine Produktpflege mehr. Noch schlimmer ist die Mutlosigkeit der Verlage. Es wird nur noch publiziert, wovon die Marketingabteilung glaubt, dass es sich gut absetzen lässt. Von Picasso gibt es ein passendes Zitat: ‚Ein Maler ist ein Mann, der malt, was er verkauft. Ein Künstler ist dagegen ein Mann, der das verkauft, was er malt.‘“

Unvollkommenheit, ein Manifest „In Bezug auf die Filmbranche hat Scorsese kürzlich in einer kleinen Wutrede sinngemäß gesagt, mittlerweile werde ein Künstler mit eigener Handschrift als ein zu großes Marketingrisiko betrachtet werden. Das kannst du eins zu eins auf die Literaturverlage übertragen. Die Branche schaufelt sich ihr eigenes Grab. Es sollte um Erneuerung gehen und nicht um permanente Variationen bekannter Muster. Und letztlich ist es leider genau das, was die Verlage durch den immer größer werdenden Einfluss des Marketings zu ihrem Hauptdenken gemacht haben. Es ist eine Riesenschande für die Verlage, denn Glück und Zufriedenheit bei Produzenten und Publikum kann dauerhaft nur aus einer Haltung entstehen, die auf die eigene künstlerische Handschrift setzt.“

Regelbrecherliteratur nennt Uschmann die Bücher, die er besonders vermisst. Sie haben unter den genannten Bedingungen so gut wie keine Chance auf Veröffentlichung. Vor allem in Deutschland sehe es düster aus, weil Kultur hier traditionell in E wie ernst und U wie unterhaltend segmentiert sei. „Wer sein Handwerk versteht und eine bestimmte Gattung der Unterhaltung bedienen kann, wird, wenn er hartnäckig genug ist, den Zugang finden. Bei der E-Literatur gibt es ganz andere Wege, beispielsweise über die Kaderschmieden für Hochliteraten in Tübingen, Leipzig oder Hildesheim. Da ist dann meinetwegen die Sprache an sich noch wichtiger als der eigentliche Plot. Am schwierigsten hast du es als junger Mensch, wenn du neuschreibend zwischen allen denkbaren Stühlen sitzt. So etwas, wie Sven Regener (u.a. „Herr Lehmann“) damals gemacht hat. Ich weiß nicht, ob das klappen würde, käme er jetzt neu auf den Markt.“ Einerseits zeichnet diese Art Literatur aus, dass die Geschichte als solche funktioniert. Sie bietet darüber hinaus aber auch einen vielschichtigen Subtext mit popkulturellen Referenzen, Sprachspielen und Wortschöpfungen. Zum Exempel „Murp“. „Murp“ ist der Titel des vierten „Hui“-Romans, murpiges Wirken ein Tun und Schaffen ohne das Diktat von Effizienz im Nacken. Im Buch gipfelt diese Haltung in einem von Hartmut verfassten „Manifest für die Unvollkommenheit“. Jedes Werk, das auf diese Weise entsteht, atmet Freigeist. In ihm zeigt sich der radikale Gegenentwurf zu den unter reinen Marketingaspekten entstehenden Produkten. Murpiges aus dem Hause Witt und Uschmann gibt es freilich nicht nur als Text. Als bildende Künstlerin hat Sylvia Witt die Welt um famose Arbeiten bereichert, eine schöner als das andere. Eine Auswahl findet sich auf der gemeinsamen Internetseite www.hombrede.de in der Rubrik „Bildkunst“. Wer sich dort etwa die erstmals hier der Öffentlichkeit offenbarte Aktionsreihe „200 heimliche Werke“ anschaut, begreift die geistige Freiheit, nach der hier gestrebt wird.

Anzeige

14.7. – 4.10.

DEW21KUNSTPREIS

Ausstellung ’20

≥ dew21.de/kunstpreis 38


Eine Frage, Herr Landsberger:

Wie braut man Bier ohne Alkohol? Im Jahr 2019 wurden in Deutschland rund 91,6 Millionen Hektoliter Bier gebraut. Das entspricht grob dem 13-fachen Volumen des Dortmunder Phoenix-Sees. Fast sieben Prozent des in Deutschland gebrauten Biers sind alkoholfrei – bzw. dürfen so bezeichnet werden, weil der Alkoholgehalt weniger als 0,5 Volumenprozente beträgt. Doch wie bekommt man den Alkohol aus dem Bier wieder heraus?

Oliver Landsberger vom Deutschen Braumeisterund Malzmeisterbund e.V. (DBMB) und Braumeister bei der König-Brauerei

„Im Wesentlichen kann man zwei verschiedene Verfahren charakterisieren“, erklärt Oliver Landsberger vom Deutschen Braumeister- und Malzmeisterbund e.V. (DBMB) und Braumeister bei der König-Brauerei. „Bei einem wird drauf geachtet, dass beim Brauprozess kein – oder nur geringe Mengen – Alkohol entstehen. Andere Verfahren setzen darauf, dem Bier nach einem ‚normalen‘ Brauprozess wieder Alkohol zu entziehen.“ Bei der „gedrosselten Gärung“ wird mit Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt dafür gesorgt, dass die Hefe den Malzzucker nur sehr langsam zu Alkohol verarbeitet. Bei der „gestoppten Gärung“ lässt man die Hefe unter normalen Umständen angären. Wenn das Bier den gewünschten Alkoholgehalt erreicht hat, läuft es durch einen Kurzzeiterhitzer, der die Hefe abtötet. „Sowohl die gestoppte als auch die gedrosselte Gärung lassen viel mehr Restzucker entstehen als bei einer normalen Gärung, darum haben diese Getränke einen

eher süßlichen Charakter“, so Landsberger. Alternativ könne man auch Spezialhefen verwenden, die weniger Alkohol produzieren. Auch für das nachträgliche Entziehen des Alkohols gibt es mehrere Verfahren. Bei der sogenannten Vakuumrektifikation wird das Bier unter sehr niedrigem Druck destilliert. „Bei einer normalen Destillation bei über 70 Grad würde man zu viele Aromastoffe verlieren. Darum wird durch Absenkung des Luftdrucks der Siedepunkt des Alkohols auf

Im Jahr 2019 wurden in Deutschland rund 91,6 Millionen Hektoliter Bier gebraut. Das entspricht grob dem 13-fachen Volumen des Dortmunder Phoenix-Sees. 25 bis 30 Grad reduziert“, sagt Oliver Landsberger. Bei der Umkehrosmose wird mit einer feinporigen Membran Wasser und Alkohol aus dem Bier gepresst. Die abfiltrierte Flüssigkeit wird so lange durch Brauwasser ersetzt, bis der gewünschte Alkoholgehalt erreicht ist. „So lassen sich auch Biere herstellen, die wirklich über 0,0 Prozent Alkohol und einen sehr natürlichen Geschmack verfügen“, so Landsberger. „Was einem eher zusagt, bleib letztlich eine Geschmacksfrage.“

Anzeige

100% BIO KEINE FLUGWARE!

39


INTERVIEW

Tausche Krempel gegen Glück Einen Schrank voller Klamotten, die keiner trägt, ein Regal, in dem unzählige unberührte Andenken stehen, und eine Wohnung, in der sich Gelegenheitskäufe, gutgemeinte Geschenke und andere „Steh-Rümchen“ stapeln, die eigentlich niemand braucht – so sieht es bei vielen zu Hause aus. Auch bei der Autorin Anne Weiss, bis sie sich entschließt, sich mit ihrem Krempel zu beschäftigen und Unbenutztes rigoros auszusortieren – Stück für Stück. Von Sabrina Burbach Foto: Laura Droße

40


Deine Entscheidung, gründlich zu entrümpeln, hat als Experiment begonnen und am Ende dazu geführt, dass du dein ganzes Leben quasi „umgekrempelt“ hast. Was war für dich der Auslöser, dein Leben auf „weniger ist mehr“ umzustellen? Das war, als ich meinen Job verloren habe. Ich habe lange als Lektorin und Schreibcoach im Verlag gearbeitet, mich im typischen Hamsterrad gedreht. Das hat mich viel Energie gekostet, und ich habe versucht, das über Konsum auszugleichen. Irgendwann hatte ich aber das Gefühl, dass das, was ich mir gegönnt habe, gar nicht mehr so reizvoll war. Der Konsum hat sich einfach abgenutzt. Die Kündigung, kurz vor Weihnachten, war zuerst ein Schock, aber auch ein Ausweg. Zuerst bin ich natürlich in ein Loch gefallen. Ich wusste einfach nicht, was ich mit meinem Leben jetzt anfangen soll. Also bin ich mit einer Freundin sechs Wochen durch Indien gereist. Eine Sinnsuche, wenn man so will – aber die hat mich nur vor noch mehr Fragen gestellt. Du hast auf deiner Indienreise viele Kontraste gesehen und auch andere Lebensentwürfe kennengelernt. Welcher hat dich besonders beeindruckt? In Madurai habe ich Christopher getroffen, der das halbe Jahr in Kanada und das andere halbe Jahr in Indien verbracht hat. Er hat in Kanada als Holzfäller Geld verdient, um in Indien tun zu können, wonach ihm der Sinn steht. Und er hat mir zum ersten Mal klargemacht: Je weniger ich brauche, desto freier bin ich in meinem Leben und meinen Entscheidungen. Vieles hatte ich bis dato hinter dem Job zurückgestellt – habe meine Familie und meinen Freund zu selten gesehen, zu wenig Privatleben gehabt, eher Sachen angesammelt als Erlebnisse. Auf der Reise habe ich mich gefragt, ob ich das noch will. Als ich dann in meine Wohnung zurückkam, hatte ich das Gefühl, die ganzen Dinge, die da rumstanden, waren gar nicht meine. Als hätte jemand einen Schlüssel für mein Apartment gehabt und da wahllos Sachen reingestellt. Wer mal sechs Wochen aus dem Rucksack gelebt hat, weiß, was er wirklich braucht. Nach welchem System hast du ausgewählt, was du behältst? Und was genau befindet sich eigentlich in deinen drei Kisten, die übrig geblieben sind? Beim Entrümpeln habe ich mir die Frage gestellt: Bedeutet der Gegenstand mir wirklich etwas? Viele Dinge, die wir haben, sind ja irgendwie emotional mit uns verbandelt. Das können Geschenke sein, oder Erbstücke. Sie haben oft nur einen emotionalen Wert, der längst verblasst ist. Bei anderen Sachen ist das nicht so. Ich habe zum Beispiel viele Briefe von Freundinnen oder meinen Nichten aufgehoben, und auch meine Tagebücher. Das sind Sachen, die meine Oma am Ende ihres Lebens am meisten vermisste. Sie kam aus Oberschlesien, Breslau, und ist nach dem Krieg quer durch Deutschland nach Bremen geflohen, nur mit einem Koffer in der Hand. Ein kleines Fotoalbum war

„Das Kleid, falls ich mal bei der Queen eingeladen wäre, der Esstisch, den ich bräuchte, wenn ich mal eine Großfamilie hätte.“

alles, was sie noch von früher hatte. Deshalb stecken in meinen drei Kisten Sachen, die mir etwas bedeuten und die unersetzlich sind. Alles, was ich sonst besitze, hat einen funktionalen Wert – aber es ist nicht in einer der Kisten. Ich trinke zum Beispiel jeden Morgen aus einer bestimmten Tasse. Und wenn ich die nicht hätte, müsste ich ja aus der Hand trinken. Du gibst im Buch zu, früher eine echte Shopaholic gewesen zu sein. Inwiefern ist das auch eine gesellschaftliche Sache, das „Immer-mehr-Wollen“? Als Kind der 80er Jahre bin ich in einer Welt großgeworden, in der dauernd von stetigem Wachstum die Rede war. Und das, obwohl unsere Eltern eigentlich alles erreicht hatten, wovon unsere Großeltern träumten. Wir hatten ein Dach über dem Kopf, sogar ein bisschen Wohlstand. Es war also unnötig, immer mehr anzusammeln. Gleichzeitig wurden in den 80ern und 90ern durch die Produktionswege und die steigende Globalisierung Luxusgüter immer erschwinglicher. Als typisches Kind meiner Zeit bin ich in diesen Sog geraten und habe das lange nicht hinterfragt. Auch wenn ich natürlich wusste, dass es nicht nachhaltig sein kann, wenn zum Beispiel meine Mango per Schiff oder Flieger zu mir kommt. Und wenn ich ständig denke, was kann ich konsumieren, was ist das Günstigste, frisst das wahnsinnig viel Zeit. Es ist angenehm, entscheiden zu können, dass ich an einem Laden vorbei gehe und das Angebot nicht nutze. Wohnungslose besitzen aus ihren Lebensumständen heraus nur wenige Dinge. Andererseits haben wir in der Coronakrise erlebt, dass die Leute anfangen zu hamstern, weil sie Angst haben, bald nichts mehr kaufen zu können. Woher weiß man eigentlich, wann man genug hat? Es gibt natürlich einen großen Unterschied zwischen der Armut, in die jemand unwillentlich gerät, und der Entscheidung, nicht viel zu brauchen. Gerade in einer Zeit wie jetzt ist es wichtig, Güter umzuverteilen und sie denen zu geben, die sie dringend brauchen. Das Virus hat eine Zeitlang verhindert, dass wir uns Dinge kaufen – viele Geschäfte waren ja zu, einige sind es noch. Ohne die Möglichkeit zu konsumieren sind wir zurückgeworfen auf uns selbst. Das mag im ersten Mo-

41


INTERVIEW

ment vielleicht einen Impuls auslösen, etwas verändern zu wollen, andererseits kann es in einer Krise auch ein natürliches Bedürfnis sein, so viele Sachen wie möglich bei sich zu behalten – eine Typfrage, denke ich. Wer entrümpeln möchte, sollte sich neben der wirtschaftlichen Notwendigkeit ernsthaft fragen, ob ihm ein bestimmter Gegenstand nützt oder ob er ihn nur behält, falls ein bestimmter Umstand eintritt: Das Kleid, falls ich mal bei der Queen eingeladen wäre, der Esstisch, den ich bräuchte, wenn ich mal eine Großfamilie hätte. Wenn ich die Gegenstände beim Entrümpeln nicht genug auf den Prüfstand stelle, schaffe ich letztlich nur Platz für Neues. Aber wenn ich mich mit dem Grund auseinandersetze, warum mir etwas bedeutsam erscheint, wird mir klar, auf welche Sachen ich wirklich nicht verzichten kann. Du hast eine Zeitlang in einem Tiny-Haus und in einem Bahnwaggon gelebt, wohnst nun in einer WG in Berlin. Ich habe diese Tiny-Haus-Bewegung schon lange verfolgt und wollte unbedingt mal ausprobieren, darin zu wohnen. Auf dem Grundstück von Oliver Victor, dem die Siedlung in der Nähe von Ratzeburg gehört hat, in der ich kurze Zeit gewohnt habe, gibt es auch noch viele andere

Anne Weiss „Mein Leben in drei Kisten“ ISBN 978-3-426-790601 Knaur | 288 S. | 14,99 Euro

Wohngelegenheiten – Eisenbahnwaggons, Baumhäuser, Zirkuswagen und so Sachen. Da hat‘s mir wunderbar gefallen, auch die Nähe zur Natur. Ich habe nur einfach diese Leidenschaft für Berlin, wo ich inzwischen in einer WG wohne. Im Tiny-Haus-Experiment habe ich nämlich erfahren, wie gut es mir getan hat, mit den Menschen auf dem Gelände zusammen zu sein, Räume mit ihnen zu teilen, gemeinsam zu kochen und zu reden. Einfach Zeit zusammen zu verbringen. Dass es gar nicht nötig ist, so viel Platz für mich als einzelne Person zu haben. Woher nimmst du die Motivation, Minimalistin zu bleiben? Und womit machst du dir eine kleine Freude oder belohnst dich, zum Beispiel, als du dieses Buch fertig geschrieben hattest? Ich muss mich zu diesem Lebensstil nicht zwingen. Ich mache das, weil es mir guttut. Sollte ich irgendwann merken, dass mir etwas fehlt, dann würde ich es wieder ändern. Aber im Moment sehe ich dazu keine Veranlassung. Für das Fertigschreiben des Buches habe ich mich mit einem Projekt belohnt, das mir sehr wichtig war: zusammen mit Carola Rackete „Handeln statt Hoffen“ zu schreiben. Carola hat ja im Juni 2019 die Seawatch 3 in den Hafen von Lampedusa gefahren, und meine Lektorin hat mich am Morgen, als ich das Manuskript von „Mein Leben in drei Kisten“ abgegeben habe, gefragt, ob ich das Projekt übernehmen möchte. Eigentlich wollte ich Urlaub machen, aber ich wusste, das muss ich tun. Und mir war auch klar, dass ich das Honorar spenden möchte, so wie Carola das auch getan hat – an Borderline Europe e.V., eine Flüchtlingsorganisation, die sich für die Rechte der Flüchtlinge und HelferInnen einsetzt. Das hätte ich mir nicht leisten können, wenn ich jetzt nicht weniger brauchen würde. Das war meine Belohnung. Erholt habe ich mich dann beim Wanderurlaub mit meiner Mutter, Tagestouren rund um Berlin. Das war sehr schön. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Draussenseiter / INSP.ngo

Anzeige

bodo

Haushaltsauflösungen

SC HA FFT CH AN CE

Entrümpelungen Entsorgungen

bod o pac kt an

Transporte

bodo DAS STRASSEN MAGAZIN

42

/ bodoev

/ bodo_ev

N

bodo e.V. Schwanenwall 36 – 38 44135 Dortmund Mo. bis Fr. 9 – 16 Uhr www.bodoev.de

Rufen Sie uns an – wir erstellen Ihnen ein unverbindliches Angebot. Tel.: 0231 – 950 978 0 | E-Mail: transport@bodoev.de Ansprechpartnerin: Brunhilde Posegga-Dörscheln


BÜCHER

Gelesen von Bastian Pütter

Flexibel, nicht lernfähig Der linke Kulturjournalist, Filmkritiker und Gesellschaftstheoretiker Georg Seeßlen hat ein Buch zur Corona-Krise geschrieben. Seeßlens eigensinnige Texte über Pop und Zombies, über Hollywood und das politische Berlin haben nie das geringste Interesse, sich an Oberflächen abzuarbeiten – so auch hier: Statt journalistischer Nacherzählung legt Seeßlen eine düstere Analyse der Tiefenstruktur der Krise vor. Er analysiert die Phasen der Krise von der medizinischen Rationalisierung (als wir alle Virologen wurden, um Leben zu retten) über Sozialisierung (vom Gerede über systemrelevante Jobs bis zum neuen Sozialdarwinismus) und Ökonomisierung (die Wirtschaft erst neben und dann über Gesundheit stellte) bis zur Politisierung, die die „Verhinderung eines GameChange-Impulses“ über alles stellte. Die egoistische Rebellion der CoronaLeugner ist dabei nur ein Symptom, so wie der Konflikt zwischen Souverän (Grenzen zu!) und Wirtschaft (Grenzen auf!) ein vordergründiger bleibt. Für Seeßlen verwirklicht die Krisenbewältigung durch Zeitgewinn das neoliberale Projekt des Überflüssigmachens von Gesellschaft als Akteur. „Die Krise vernichtet genau jene Kräfte in den Gesellschaften, die Lehren aus ihr ziehen und sie ,verstehen‘ lassen können.“ Georg Seeßlen | Coronakontrolle. Nach der Krise, vor der Katastrophe ISBN: 978-3-903290-37-2 bahoe books | 140 Seiten | 15 Euro

Verachtet, gebraucht Zwei Tage vor der Landtagswahl 2017 erschien auf dem Blog Ruhrbarone ein Text der Journalistin Anna Mayr, der mich und viele Menschen, mit denen ich darüber sprach, wie ein Schlag traf. „Mama wählt nicht“ ist dort immer noch zu lesen. „Mama“ ist die langzeitarbeitslose Mutter der Autorin, der kurze Text eine in kalter Wut vorgetragene Anklage gegen das politische Ressentiment gegen die Armen, gegen ihre NichtRepräsentation, ihr Nicht-Vorkommen in politischen Prozessen. Vom gleichen Furor und von der gleichen Abscheu vor Vereinnahmung und Kategorisierung ist Anna Mayr erstes Buch „Die Elenden“ getragen. Es ist die Gegenerzählung zur äußeren Aufstiegsgeschichte der Zeit-Redakteurin aus armen Verhältnissen. Mayr will nicht allein ihren „Fall“ erzählen, weil das wieder vereinzelt, und Mitleid ein billiger Ausweg wäre, den sie der Leserin verstellen möchte: „Stattdessen werde ich aufschreiben, warum meine Kindheit beschissen war. Welches System dahintersteckt, welche Ideologien, welche Gedanken, die in uns allen wohnen, auch in mir.“

Don‘t cry – work. Berlin-Romane sind ja oft unangenehm, weil sie Beschreibungen von Selbstverliebtheiten im Zustand der Selbstverliebtheit erzählen. Das Label Gesellschaftsroman sollte man wie alles, was heute in enger Verbindung zu Martin Walser steht, weiträumig umfahren. Wer sich trotzdem traut, den neuen Roman von Thorsten Nagelschmidt – der von der Band Muff Potter – in die Hand zu nehmen, staunt. Verblüffend kunstvoll miteinander verwobene Episoden erzählen eine Nacht in Berlin aus der Perspektive derer, die die Jobs machen, während die anderen feiern: Tanja fährt Rettungswagen, Heinz-Georg Taxi, Ten ist Türsteher, Sheriff Hausmeister, Christina Polizistin, Felix dealt, Marcela liefert per Rad Essen aus – und am Ende macht Sabrina sauber. Das kann banaler Pop werden oder schief klingen, alles steht und fällt – neben der Konstruktion – mit der Glaubwürdigkeit der Protagonistinnen.

„Die Elenden“ ist ein beeindruckender Text. In einer besseren Welt wäre seine Lektüre die Einstiegsqualifikation für jede Hartz-IV-Wortmeldung und jede Armut-in Deutschland-Talkshow.

Mit großer literarischer Ernsthaftigkeit und einem Gefühl für Milieus und Sounds hat Nagelschmidt hier Großes geschaffen. Wenn Gérard Otremba schreibt: „Der perfekte literarische Spagat zwischen ,Berlin Alexanderplatz‘ und ,Herr Lehmann‘“, ist das eine erstaunlich treffende Beschreibung.

Anna Mayr | Die Elenden ISBN: 978-3-446-26840-1 Hanser Berlin | 208 S. | 20 Euro

Thorsten Nagelschmidt | Arbeit ISBN: 978-3-10-397411-9 S. Fischer | 336 S. | 22 Euro

43


LESERPOST & MEINUNGEN

10 x Rückert Die AWO hat ein besonderes Projekt ins Leben gerufen: zehn Portraits bedeutender Persönlichkeiten, von Günter Rückert gemalt und zum hochwertigen Postkarten-Set zusammengestellt. Und: Das Set ist nicht nur ein schönes Geschenk, sondern auch eine Spendenaktion für bodo, denn ein Teil des Erlöses kommt als Spende unserer Arbeit zu Gute.

bodo 08.20

Wohnungslosenhilfe und Corona Liebe bodos, ich spreche in Dortmund viel mit Obdachlosen. Nicht nur mit meinen zwei bodo-Stammverkäuferinnen, sondern auch mit netten Menschen, die ich über die Jahre kennengelernt habe. Ich bin schockiert, wie sich ihre Situation seit Corona verschlechtert hat. Mir bricht das Herz, wenn ich die Warteschlangen vor dem GastHaus an der Rheinischen Straße sehe. Da warten die Menschen ewig für ein paar Brote, und essen müssen sie sie auf der Straße. Nirgends die Möglichkeit, sich die Hände zu waschen, nirgends eine Toilette. Versteht mich nicht falsch, ich finde großartig, was ihr alle leistet, und die Menschen, mit denen ich spreche, sagen auch, dass ihr ja wegen Corona die Einrichtungen nicht öffnen dürft, aber so kann es doch nicht weitergehen. Wenn die Regeln so sind, dass die Essensausgaben und Aufenthaltsräume wegen Corona nicht öffnen dürfen, dann muss die Stadt doch einspringen. Ihr schreibt, dass die Stadt das Problem kennt, auch das der fehlenden Toiletten, aber was ist denn in einem halben Jahr geschehen? Die Großraumzelte der ganzen abgesagten Feste liegen in den Lagern, die Dixi-Klos für die abgesagten Musikfestivals stehen wahrscheinlich zu Hunderten auf irgendwelchen Parkplätzen. Einen „wetterschützten Aufenthalt und eine wenigstens überdachte Essensversorgung“, wie ihr schreibt, sollte man doch wenigstens hinbekommen. Solidarische Grüße, K. M.

Der Grafiker, Karikaturist und Zeichner Günter Rückert gehört wohl zu den bekanntesten Künstlern Dortmunds. Als Regisseur hat er mehr als 20 Jahre lang den Geierabend mitgestaltet, als Grafiker, Karikaturist und Maler die Stadt und viele ihrer bekannten Figuren verewigt, in Bildern und an Hauswänden.

10 Portraits | 10 x Rückert | 7 Euro Das Postkarten-Set ist erhältlich im Minna-SattlerSeniorenzentrum und im Atelier von Günter Rückert – und natürlich im bodo-Buchladen, Schwanenwall 36 – 38 in Dortmund. Vom Verkaufspreis gehen 3 Euro an bodo. 44

Dadurch, dass die Trinkbrunnen in der Stadt monatelang abgeschaltet sind, verschärft sich die Situation leider noch zusätzlich. Es mag infektionstechnisch richtig sein, aber natürlich wurde wieder mal vergessen, Alternativen zu schaffen. Diese Ignoranz und der Tunnelblick der BürokratInnen nervt einfach, und es trifft immer die, die es sowieso schon schwierig haben. M. G. bodo 08.20

Mut machend, kritisch, lehrreich Vielen Dank für Euer wieder tolles August-Heft. Mut machende und unterhaltsame „draußen“-Artikel, Kritisches und Lehrreiches. So mag ich bodo. Als Tresenlesen-Fan der ersten Stunde hab ich mich sehr über den „Hausbesuch“ in Jochen Malmsheimers Garten gefreut. Ich finde es wichtig in diesen für viele schwierigen Zeiten, trotzdem zu lachen und fröhlich zu sein. Und aktiv: Die „Urban Sketchers“ machen es richtig: Gemeinsam, auf Abstand und draußen kreativ sein. Das ist toll. Und viel gelernt habe ich von der Wissenschaftlerin Frau Henke, die sehr gut erklärt, wie Obdachlosigkeit Menschen zustößt und was man tun muss, um sie vorher schon zu verhindern. Weiter so! H. W.


RÄTSEL

Ohne Dach, mit Abstand: Weil unsere Anlaufstellen unter den geltenden Hygienevorschriften nicht für Verkäuferversammlungen genutzt werden können, informieren und diskutieren wir draußen. Auch die Versorgung und Beratung Wohnungsloser findet weiterhin großteils unter freiem Himmel statt. Foto: Sebastian Sellhorst

bodos Bücher Bochum Hallo bodo, ich hab ja nicht mehr dran geglaubt: Ihr macht einen Buchladen in Bochum auf! Endlich. Ich kenn bodo seit den Zeiten des Bunkerbasars am Springerplatz und fand es schade, dass Ihr da irgendwann raus musstet. Als ich dann vor ein paar Jahren in Eurem Dortmunder Buchladen war, war ich total platt. So schick und so ein tolles Sortiment! Dass wir jetzt (und dann auch noch bei mir um die Ecke) so etwas in Bochum bekommen, finde ich klasse! Ich hab schon erfahren, dass Ihr am 30. September aufmacht. Kann ich vorher schon Buchspenden vorbeibringen? Glück auf, J. F. Liebe J. F., wir freuen uns auch schon riesig und haben genug schöne Ware, um am 30. September zu starten. Nach Coronaregeln reicht der Platz im Laden leider nicht für die Annahme, Sortierung und Bewertung von Buchspenden. Die nehmen wir sehr gerne montags von 10 – 13 Uhr und samstags von 10 – 12 Uhr in unserer Kleiderkammer Liebfrauenstraße 8 – 10 in Altenbochum entgegen. Herzlichen Dank!

Schreiben Sie uns: redaktion@bodoev.de Telefon: 0231 – 950 978 0

AUFLÖSUNG HEFT 08.20

Viele Grüße von bodo, Bastian Pütter

45


VERKÄUFERGESCHICHTEN

Wenn man Efstratios, der seit Kindesbeinen von allen nur Stratos genannt wird, an seinem Verkaufsplatz in der Dortmunder Innenstadt trifft, wird man nicht vermuten, dass er die Nächte der vergangenen Monate unter freiem Himmel verbracht hat. Uns hat er erzählt, wie es dazu gekommen ist. Text und Foto: Sebastian Sellhorst

„Die Straße raubt dir die ganze Energie“

M

eine Eltern kommen aus Griechenland. Ich bin 1969 in Oberhausen zur Welt gekommen, aber mit zwei Jahren bin ich mit meinen Eltern nach Bremen gezogen“, erzählt er, während wir durch die Dortmunder Fußgängerzone laufen. Mit 16 musste Stratos sich entscheiden, ob er die deutsche Staatsangehörigkeit annimmt oder die griechische behält. Die doppelte Staatsbürgerschaft gibt es in Deutschland erst seit 2000. „Mit 16 sind dir solche Fragen egal, aber meine Eltern fanden es besser, wenn ich Grieche bleibe“, erinnert er sich. Nach der Realschule machte er eine Ausbildung zum Hotelfachmann. „Ich hab viel am Empfang gearbeitet, aber auch alles andere gemacht: Cocktails an der Bar gemixt oder im Restaurant gekellnert. In dem Job kannst du irgendwann alles, was so anfällt, und springst da ein, wo du gebraucht wirst. Nach einer Weile wollte ich etwas von der Welt sehen und war als Reiseleiter für große Unternehmen unterwegs. Ich kam nach Griechenland, Spanien und Frankreich. Das war ein schöner Job. Aber du musst immer lächeln, immer gut drauf sein und hast halt nie wirklich Feierabend. Du wohnst im Hotel, und wenn es Probleme gibt, fragt keiner, ob du gerade deinen freien Tag hast.“ Nach zehn Jahren im Ausland zog es ihn wieder nach Deutschland. In Münster arbeitete er in einem großen Hotel, bis er 2014 seinen Job verlor. „Da ich keine Lust hatte, zum Arbeitsamt zu gehen, habe ich sofort einen

46

lukrativen Job in Griechenland angenommen. Dort war ich für die Öffentlichkeitsarbeit von zwei großen Hotels zuständig“, blickt Stratos zurück. Da er gut Deutsch, Englisch und Griechisch sprach und mittlerweile auch Französisch und etwas Spanisch gelernt hatte, sei es immer einfach gewesen, im Tourismus etwas zu finden. „2017 ging in Griechenland alles den Bach runter, es gab dort überhaupt keine Arbeit mehr, also bin ich zurück nach Deutschland. Ich hatte ja 30 Jahre hier gearbeitet, also ging ich davon aus, Anspruch auf Leistungen zu haben, aber da lag ich falsch“, so Stratos. Nach zwei Jahren außer Landes und mit griechischer Staatsangehörigkeit konnte er keine Leistungen beantragen. Voriges Jahr waren die Ersparnisse aufgebraucht, und er verlor seine Wohnung. Jetzt verbringt Stratos die Nächte in seinem Schlafsack in einer kleinen Gasse hinter einer Pizzeria. „Die Besitzer lassen mich dort schlafen und machen nachts das Tor zu. Am Wochenende kommt es aber doch vor, dass sich da mal jemand rumtreibt, und wenn es nur betrunkene Jugendliche sind, die pinkeln wollen. Es ist erschreckend, wie schnell du dich an solche Situationen gewöhnst. Vor ein paar Jahren wäre so etwas für mich völlig undenkbar gewesen. Heute ist es mein Alltag. Daran was zu ändern ist unglaublich schwer. Das Leben auf der Straße raubt dir die ganze Energie, weil das pure Überleben schon unglaublich viel Kraft kostet.“


Anzeige Arbeiterwohlfahrt Bezirksverband Westliches Westfalen e.V.

Martin Kaysh schreibt für die Arbeiterwohlfahrt

Eine Verliererin der Wahl am 13. September steht fest: die CDU. Noch ist sie stärkste Partei im Ruhrparlament. Das entsprach nie dem Wählerwillen, das war so Pottkuddelmuddel. Es ist kompliziert und wird einfach. Das Ruhrparlament, eigentlich die Verbandsversammlung des Regionalverbands Ruhr (RVR), dürfte das einzige Fast-Parlament sein, das unter einer riesigen Discokugel tagte. Das muss man auseinanderdröseln: Weil es bei der Wahl 2014 irrwitzige Überhangsmandate gab und nur die CDU eine fast größenwahnsinnige Reserveliste aufbot, konnte sie die eigentlich stärkere SPD überflügeln. Die Riesenversammlung tagte dann im Essener Chorforum, tanztechnisch bestens ausgestattet. Da passte super der alte Spontispruch, wonach man die Verhältnisse zum Tanzen bringen müsse. Doch man tanzte nicht mal eurythmisch seine Beschlüsse. Dem Fast-Parlament gehörten bisher nur von den Stadträten entsandte Mitglieder an, dazu als Hüter der Kommunalinteressen die Oberbürgermeister. Oft war es ein bisschen wie bei der EU. Erst debattierte man, dann entschieden die Chefs.

Martin Kaysh (Geierabend) schreibt jeden Monat in bodo für die AWO.

Sie Mitglied Werden auch in der AWO! eder die AWO li g it M r h e m Je hr kann sie in hat, desto me ft bewirken. der Gesellscha en nn sie Mensch Desto eher ka fe brauchen. helfen, die Hil ww.de e • www.awo.d w w oaw info@

Es muss bei der Wahl jetzt um etwas gehen, so sehr rangelten die ehemals gesetzten Stadtspitzen um die vorderen Plätze ihrer Parteilisten. Und wir haben etwas für das Guinness-Buch der Rekorde: Vier Millionen Menschen im Ruhrgebiet, auch 90-Jährige, bestimmen als Erstwähler selbst über ihr Schicksal. Die Parteien üben noch. So alarmiert die Linke per Mail: Das Kohlekraftwerk Datteln IV sei „ein Schlag ins Gesicht der Anwohnerinnen und Anwohner und des Klimaschutzes.“ Die Frage, wer uns verraten hat, stellt sich damit ganz neu. Die CDU gibt den ADAC Ruhr und setzt sich dafür ein, „Geschwindigkeitsbeschränkungen (…) auch wieder aufzuheben.“ Gut, ein paar Kilometer A31 gehören ja auch zum Pott. Dortmunds OB, den blonden Feuerkopf Ulli Sierau, würde ich sogar zum Pottpräsidenten wählen. Aber er tritt nicht mehr an, und so weit sind wir mit der Ruhrwahl nicht, dass wir unsere Nummer Eins selbst bestimmen dürften.

Unterbezirk Dortmund

Unterbezirk Ruhr-Mitte

Unterbezirk Ruhr-Lippe-Ems

Klosterstraße 8-10 • 44135 Dortmund 0231 - 99 340

Bleichstraße 8 • 44787 Bochum 0234 - 96 47 70

Unnaer Straße 29a • 59174 Kamen 02307 - 91 22 10 47


Jetzt Tickets sichern!

Endlich wieder hin und weg

Do 24.09.2020 Klavierabend Alexander Melnikov Ein Abend an vier Flügeln: Alexander Melnikov wählt zu jedem Werk den historisch passenden Flügel.

Fr 25.09. + Sa 26.09.2020 Götz Alsmann: L · I · E · B · E Götz Alsmann widmet sich Liebesliedern großer deutscher Texter.

So 04.10.2020 Nils Landgren & Jan Lundgren Zarte Momente, versteckte, winzige Eskapaden und die Liaison von Jazz und Humor

Do 15.10.2020 Mnozil Brass – Phoenix Die Blechbläser halten sich nicht mit Tristesse auf, sondern blasen sich frohgemut aus der Asche empor.

Mi 21.10.2020 Stegreif.orchester Das unkonventionelle Ensemble lässt Werke von Beethoven u. a. ganz neu erklingen.

Fr 30.10.2020 Árstíðir Vier Isländer schaffen mit klassisch beeinflusstem Indie-Folk-Rock einfach atmosphärisch schöne Musik.

So klingt nur Dortmund. Tickets unter konzerthaus-dortmund.de 48

Fr 09.10.2020 Thomas Dybdahl Der Norweger präsentiert seine Lieder mit Einflüssen aus zeitgenössischem Pop, Soul, Folk und klassischer Musik.


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.