bodo Mai 2021

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bodo DAS

05 | 21 Die besten Geschichten auf der Straße

IN STRASSENMAGAZ

2,50 Euro Die Hälfte für die Verkäuferin den Verkäufer

H Ü TT EM EI ST ER UND M A LM SH EI M ER

Im Interview: Olaf Scholz Seite 40

M IE TAU SBE U TU N G

Nesrin Tanç Seite 4

N A D R E G N DA N, ABSTRAKT DENKEN

BR ET TSP IE LW ELT RU H R DIN G : K LI M A

KON K R ET F Ü H L E

NUR MIT AUSWEIS

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IMPRESSUM

Herausgeber, Verlag, Redaktion: bodo e.V. , Schwanenwall 36 – 38, 44135 Dortmund 0231 – 950 978 0, Fax 950 978 20 Redaktionsleitung und V.i.S.d.P.: Bastian Pütter, redaktion@bodoev.de 0231 – 950 978 12, Fax 950 978 20 Layout und Produktion: Andre Noll, Büro für Kommunikationsdesign info@lookatnoll.de Veranstaltungskalender: Petra von Randow, redaktion@bodoev.de

INHALT

Nesrin Tanç

Von Max Florian Kühlem

Anzeigenleitung: Susanne Schröder, anzeigen@bodoev.de 0231 – 950 978 0, Fax 950 978 20 Vertriebsleitung: Oliver Philipp, vertrieb@bodoev.de 0231 – 950 978 0, Fax 950 978 20 Autoren dieser Ausgabe: Annette Bruhns, Alexandra Gehrhardt, Aichard Hoffmann, Wolfgang Kienast, Max Florian Kühlem, Olaf Neumann, Kathrin Ostroga, Bastian Pütter, Petra von Randow, Petra, Sebastian Sellhorst Titel: Jaro Suffner Bildnachweise: Caplio GX8 User (S. 28), Harald Hoffmann (S. 26), Karlheinz Jardner (S. 24), Lutz Jäkel / Laif (S. 41), Mads Nissen (S. 16), Planetarium Bochum (S. 23), Presseamt Bochum (S. 29), Daniel Sadrowski (S. 3, 5, 6, 12, 13, 14, 22, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38), Sebastian Sellhorst (S. 2, 7, 8, 9, 10, 11, 45), Shutterstock.com (S. 22), Jaro Suffner (S. 19), Urbane Künste Ruhr (S. 30), Frank Vinken (S. 25), Anneke Wardenbach (S. 25) Druck: LN Schaffrath GmbH & Co. KG DruckMedien Auflage, Erscheinungsweise: 20.000 Exemplare, monatlich in BO, DO und Umgebung Redaktions- und Anzeigenschluss: für die Juni-Ausgabe 10. Mai 2021 Anzeigen: Es gilt die Anzeigenpreisliste 06. 2019 Verein: bodo e.V. ist als gemeinnützig eingetragen im Vereinsregister Dortmund Nr. 4514 Vereinssitz: Schwanenwall 36 – 38, 44135 Dortmund www.bodoev.de, facebook.com/bodoev

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Als die „Gastarbeiter“ kamen, brachten sie ihre Literatur mit. Im Ruhrgebiet entstanden dann zahlreiche Werke, die die Kulturgeschichte Deutschlands und der Türkei verbinden. Die Duisburger Literaturwissenschaftlerin Nesrin Tanç will dieses literarische Erbe bewahren.

Kampf ums Wohnen

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Seit mehr als zwei Jahren wehren sich AnwohnerInnen der City-Passage in Witten gegen horrende Geldforderungen ihres Vermieters. Dieser stellte den MieterInnen der Sozialwohnungen nicht nur hohe Betriebskosten-Nachzahlungen in Rechnung, sondern erhöhte auch die Miete – rückwirkend. Von Alexandra Gehrhardt

In der Brettspielwelt

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Die Spielebranche verzeichnet in Corona-Zeiten einen Boom. An der Basis der Fans, kleinen Läden und Entwickler geht der jedoch eher vorbei. Die Community lebt eigentlich vom direkten Miteinander. Ein Treffen mit dem Spieleentwickler Thomas Spitzer bei „Kult-Spiele“ in Dortmund. Von Kathrin Ostroga

Vorstand: Andre Noll, Verena Mayer, Marcus Parzonka verein@bodoev.de Geschäftsleitung, Verwaltung: Tanja Walter, 0231 – 950 978 0, verein@bodoev.de Öffentlichkeitsarbeit: Alexandra Gehrhardt, Bastian Pütter 0231 – 950 978 0, redaktion@bodoev.de Transporte, Haushaltsauflösungen: Brunhilde Posegga-Dörscheln, 0231 – 950 978 0, transport@bodoev.de Buchladen, Spendenannahme Dortmund: Schwanenwall 36 – 38, 44135 Dortmund 0231 – 950 978 0, Mo. – Fr. 10 – 18 Uhr, Sa. 10 – 14 Uhr Anlaufstelle und Vertrieb Dortmund: Schwanenstraße 38, 44135 Dortmund Mo. – Fr. 10 – 13 Uhr Spendenannahme Bochum: Kleiderkammer Altenbochum und Laer Liebfrauenstraße 8 – 10, 44803 Bochum Mo. 10 – 13 Uhr, Sa. 10 – 12 Uhr Anlaufstelle und Vertrieb Bochum: Henriettenstraße 36, Ecke Bessemerstraße 44793 Bochum, Mo., Do., Fr. 11 – 14 Uhr Di. 11 – 17.30 Uhr, Mi. 8 – 14 Uhr Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE44 3702 0500 0007 2239 00 BIC: BFSWDE33XXX

Petra, bodo-Verkäuferin in Dortmund Liebe Leserinnen und Leser, endlich können Sie mich wieder auf der Straße antreffen. Ich habe beide Impfungen und kann mich endlich wieder auf den Weg aus Schwerte zu meinem Verkaufsplatz auf dem Westenhellweg in Dortmund machen. Natürlich passe ich immer noch sehr auf, da ich noch andere Erkrankungen habe, aber ich fühle mich viel sicherer. Wenigstens mit Corona muss ich mich nun hoffentlich nicht mehr rumschlagen. Die Bahn nach Dortmund habe ich mir, als ich noch nicht geimpft war, gespart. Jetzt genieße ich es, mal wieder mehr rauszukommen, und wenn es nur eine Stunde in der Sonne ist. Da ist es mir dann fast egal, wie viele Hefte ich verkaufe, solange ich mal wieder ein paar Menschen gesehen habe. Auch in der Wohneinrichtung in Schwerte, in der ich lebe, ist die Stimmung, seit wir alle geimpft sind, viel besser. Jetzt hoffe ich, dass mich meine Stammkunden nicht vergessen haben und ich auch alle meine bodo-Kollegen schnell wieder sehe. Bis bald, und passen Sie auf sich auf. Ihre bodo-Verkäuferin Petra

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EDITORIAL

04 Menschen | Nesrin Tanç 07 Straßenleben | Nothilfe im Corona-Sommer 08 Neues von bodo 12 Reportage | Kampf ums Wohnen 16 Das Foto 16 Mieten & Wohnen | Nach dem Mietendeckel 17 Kommentar | Zwangsräumungen in der Pandemie 17 Die Zahl 18 Interview | Danger Dan 22 Wilde Kräuter | Knoblauchsrauke 23 Kultur | Susanne Hüttemeister und Jochen Malmsheimer 24 Kulturlandschaft 30 Kultur | Ruhr Ding: Klima 32 Reportage | Im Wellinghofer Mittelalter 36 Reportage | In der Brettspielwelt 39 Bücher 40 Interview | Olaf Scholz 43 Eine Frage… | Wie sehen Farbenblinde? 44 Leserpost | Rätsel 45 Leserpost 46 Verkäufergeschichten | Metin

Liebe Leserinnen und Leser, schön, dass Sie dieses Heft in Händen halten. Es sind ja nicht die einfachsten Bedingungen für analoges Einkaufen und das In-Kontakt-Kommen auf der Straße. Trotz aller Erschwernisse berichten unsere VerkäuferInnen, dass sie nicht vergessen sind. Die Verkaufszahlen unserer – auch wirklich ganz gut gelungenen – Aprilausgabe konnten sich sehen lassen. Vielen Dank dafür! Das Schöne an einem Monatsmagazin ist die Möglichkeit zum entschleunigten Erzählen – so sehr wir sonst in den Logiken der täglichen Corona-Updates, der ständigen Ankündigungen zu (Nicht-)Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und im permanenten Twitterfeed gefangen sind. Beim Verlassen der Tagesaktualität kommen manchmal auch ganz lustige Ungleichzeitigkeiten zustande. Während sich CDU und CSU auf geradezu würdelose Art bei der Wahl eines Kanzlerkandidaten zerlegten und, als sei es ein Gegenentwurf, die Grünen die Nominierung ihrer Kandidatin mit größter medialer Professionalität verkündeten, machten wir das Layout für das Interview mit Olaf Scholz in unserer Reihe zur Bundestagswahl (S.40). Es endet mit dem Satz „Ich werde Kanzler.“ Da hätten sich die anderen den Aufriss doch eigentlich sparen können. Die große Politik bleibt weiterhin bei uns eine Ausnahme, und so gibt es viel Kultur dieses Mal, ein paar Aufreger und gute Geschichten von hier. Bleiben Sie gesund!

Ihre Meinung ist uns wichtig. Seite 44

Viele Grüße von bodo Bastian Pütter – redaktion@bodoev.de

Von Nothilfe bis Neuanfang: Helfen Sie helfen.

Wir beraten und begleiten Menschen in sozialen Notlagen, in Armut und in Wohnungslosigkeit. Wir helfen Wohnungsverluste abzuwenden und Wohnungslosigkeit zu beenden. Mit Ihrer Hilfe. Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE44 3702 0500 0007 2239 00 3


MENSCHEN

„Es schmerzt, zu sehen, wie die erste Generation Gastarbeiter stirbt, ohne dass ihre Geschichte wahrgenommen wird.“ Dieser Schmerz verhilft Nesrin Tanç zu Stärke: Selbst ein Kind türkischer Gastarbeiter, aber vor allem: studierte Germanistin und Turkistin, setzt sie sich ein für das literarische Erbe der Menschen aus anderen europäischen Ländern, die die Bundesrepublik erst angeworben und dann mehr oder weniger fallengelassen hat. Von Max Florian Kühlem | Fotos: Daniel Sadrowski

Arbeit am Archiv, das es nicht gibt Nesrin Tanç hat ein großes Ziel vor Augen, das sie zum Beispiel in ihrer Doktorarbeit und im Rahmen von Projekten für Interkultur Ruhr, Urbane Künste Ruhr, die Akademie der Künste der Welt in Köln oder das Theaterfestival Favoriten in Dortmund bearbeitet: „Mein Wunsch ist, dass sich bestehende Archive den migrantischen Literaturen öffnen.“ Bisher gebe es zwar einzelne Versuche, aber keine gezielte Ausrichtung darauf. Das kulturelle Erbe der MigrantInnen nach dem Anwerbeabkommen werde vernachlässigt.

Nesrin Tanç geboren 1977 in Duisburg-Meiderich studierte Germanistik und Turkistik in Essen, Psychologie in Duisburg Auslandssemester in Amsterdam und in England assistierte u.a. im Theater an der Ruhr und am Schauspiel Essen und inszenierte eigene Stücke in Schulen Doktorarbeit zu türkischen Künstlern im Kontext der deutschen Kunst

„Blickt man in die Buchhandlungen, auf die Straßennamen, in die Leporelli der Theaterhäuser, in die Kalender der Stadtbibliotheken, egal wohin man blickt, der Blick führt ins Nichts“, schreibt sie in einem Essay für die Urbanen Künste Ruhr. „Es scheint, als habe die Literatur der EinwanderInnen aus der Türkei in der Geschichtsschreibung der Region keinen nennenswerten Effekt hinterlassen. Zumindest keinen Effekt, der kultur- oder literaturwissenschaftlich abgebildet worden wäre. Dabei gibt es zahlreiche Werke von AutorInnen aus dem Ruhrgebiet, die die Kulturgeschichte Deutschlands und der Türkei, auch in ihren eigenen Biografien, verbinden.“ Einer dieser Autoren ist Fakir Baykurt. Er lebte ab 1979 in Duisburg und ist der prominenteste unter den türkischsprachigen Ruhrgebietsliteraten der 1980er-Jahre. Er schrieb eine Duisburg-Trilogie aus den Werken „Yüksek Fırınlar" („Hochöfen“, 1983), „Koca Ren" („Mächtiger Rhein“, 1986), „Yarım Ekmek" („Halbes Brot, 1998) sowie mehrere Erzählungen. Ende 2019 präsentierte Nesrin Tanç gemeinsam mit Fatima Çalışkan und der

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MENSCHEN

Illustratorin Silvia Dierkes als „Initiative Anatolpolitan“ das Ergebnis einer aufwändigen Recherche: Eine bis ins Detail ausgearbeitete Ruhrgebiets-Landkarte, die veranschaulicht, wo der 1999 gestorbene Fakir Baykurt seine Erzählungen spielen ließ, die zum Beispiel im Band „Duisburg Treni“ („Zug nach Duisburg“) versammelt sind. Die Literaturkarte hängt im Internationalen Zentrum am Duisburger Innenhafen. Wegen der Pandemie abgesagt werden musste im Januar leider der Teil, den Nesrin Tanç für die Ausstellung „Geister, Spuren, Echos: Arbeiten in Schichten“ an der Kölner Akademie der Künste der Welt beigetragen hat: Sie hat dafür das Archiv eingerichtet, das es nicht gibt. Ein Archiv, in dem ein Bestand der Kulturgeschichte von ImmigrantInnen aus Anatolien im Ruhrgebiet zusammengetragen und künstlerisch verhandelt wird. Ein Beispiel ist die Literaturzeitschrift „dergi/die Zeitschrift“, die seit 1986 alle zwei Monate erschien, herausgegeben von einem Literaturkreis aus Duisburg. Einen Großteil der Materialien fand Tanç in Privatwohnungen, jenseits offizieller Strukturen. Nesrin Tanç wurde als Kind der ersten Generation türkischer Gastarbeiter in Duisburg-Meiderich geboren. Ihr Vater kam über eine anatolische Agentur nach Deutschland, war eigentlich Journalist und gelernter Polsterer, hat hier aber als Schweißer gearbeitet. Als er an den Folgen eines Arbeitsunfalls starb, musste die Mutter ihre drei Kinder alleine durchbringen. Dass sie bis spät in die 1990er-Jahre immer nur halbjährige Verlängerungen ihres Aufenthalts bekam, machte es nicht leichter. „Ich habe gearbeitet, seit ich 14 Jahre alt war und musste erst mühsam lernen wie man nicht immer arbeitet“, erzählt

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Nesrin Tanç. „Mit 18, 19 Jahren bin ich sofort raus, bin nach Utrecht und Amsterdam gereist, dann nach England und Spanien.“ Heute lebt sie in Duisburg und Istanbul. „In Istanbul habe ich an der besten Ausstellung meines Lebens mitgewirkt, mit zeitgenössischer Kunst. Keinen interessierte die Herkunft der KünstlerInnen. Das ist halt eine Metropole – das Ruhrgebiet ist ja keine.“ Dass sie sich überhaupt entschieden hat, zurückzukehren, hatte auch mit ihrer Mutter zu tun. „So ein Deutschland-Fan, dass ich für immer bleibe, bin ich eher nicht“, sagt sie. Aber in dem Satz schwingt auch ein bisschen die Ahnung mit, dass es ihr nicht ganz leicht fallen würde, sich komplett vom Ruhrgebiet zu lösen. Sie hat hier ein gutes Netzwerk aufgebaut, sie wird weiter kämpfen für den wichtigen Aufbau der Archive, die es (noch) nicht gibt. Mit ihrer Expertise sowohl zu migrantischen Literaturen als auch der deutschen Literatur müsste sie eigentlich gefragt sein an Literaturhäusern, Theatern oder anderen Kultureinrichtungen, die sich gerade die Öffnung für ein vielfältigeres Publikum auf die Fahnen geschrieben haben. „Ich arbeite jetzt frei“, sagt Nesrin Tanç, „halte Vorträge, Lectures, erstelle eine Studie für das Institut für Auslandsbeziehungen über diversitätssensibles Erinnern an das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei.“ Über die Diversität der deutschen Kultureinrichtungen macht sie sich allerdings noch keine Illusionen neben den Ausnahmen in Berlin und Dortmund: „Shermin Langhoff und Julia Wissert sind die einzigen Theaterintendantinnen, die wirklich etwas bewegen – und die können uns nicht alle aufnehmen.“


STRASSENLEBEN

Kleine Schritte Die ersten Konzerte werden im FZW schon wieder geplant. In der Bar des Veranstaltungszentrums ist schon jetzt Hochbetrieb: Dort setzen das Gast-Haus und das Team Wärmebus in Zusammenarbeit mit der Stadt Dortmund seit April die Versorgung wohnungsloser und bedürftiger Menschen fort. Nach einem Jahr der Nothilfe ist für die Wohnungslosenhilfe Gelegenheit, sich im neuen Normal aufzustellen. Von Alexandra Gehrhardt Fotos: Sebastian Sellhorst

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m Großzelt in der Innenstadt hatten vier Dortmunder Vereine und Initiativen über den Winter die Notversorgung Wohnungsloser übernommen – nachdem der große Platz am U für Bauarbeiten freigemacht werden musste, setzen Gast-Haus und Wärmebus das Projekt nun im Verbund mit der Stadt in der Ritterstraße fort. Zweimal täglich versorgen sie in der Bar und im Außenbereich des Konzertzentrums bis zu 50 Menschen gleichzeitig mit einer Mahlzeit. Denn auch im zweiten Corona-Jahr arbeiten Versorgungsangebote unter erschwerten Bedingungen und mit reduzierten Kapazitäten. Im ad-hoc-Notbetrieb des letzten Sommers war die Versorgung zu großen Teilen auf der Straße gelaufen, im Großzelt haben Gast-Haus, Kana, Team Wärmebus und bodo den gefährlichen Winter überbrückt. „Die Leute müssen aber auch im Sommer was Warmes im Bauch haben“, sagt Michael Vogt, Pfarrer der Katholischen Stadtkirche und Teil des WärmebusTeams. Mit dem FZW stellt die Stadt nun bis Ende September den Ort dafür zur Verfügung. Es ist längst nicht mehr der einzige: Auch die Suppenküche Kana ist in ihre Räume in die Mallinckrodtstraße zurückgekehrt und kocht zweimal in

der Woche ein warmes Mittagessen für bedürftige Menschen. Schon im Herbst hat die Diakonie ihren Tagesaufenthalt ins Wichernhaus am Nordmarkt verlagert, das geräumiger ist als der Brückentreff im Hafenviertel. In den kommenden Monaten soll im Wichern ein zentrales Wohnungslosenzentrum entstehen, in dem alle diakonischen Angebote der Wohnungslosenhilfe gebündelt sind. Und auch für uns ist nach dem Winter Zeit, nach vorn zu schauen. Mit der Hoffnung auf schnelle Impfungen, den nötigen Maßnahmen und systematischen Testungen kehren wir in unsere Anlaufstellen zurück und konzentrieren uns auf die Arbeit, die ebenso wichtig ist wie die dringend nötige Hilfe auf der Straße: Menschen in Notlagen zu beraten, zu begleiten und dabei zu unterstützen, den Weg aus der Wohnungslosigkeit zu finden – und sie im besten Fall gleich zu verhindern.

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NEUES VON BODO

Ausgezeichnet Der Presseverein Ruhr Dortmund / Unna (PVR) hat seinen Ehrenpreis „Eiserner Reinoldus“ in diesem Jahr an das Bündnis „Winternothilfe am U“ vergeben. Mit großer Mehrheit beschlossen die Mitglieder der Journalisten-Gewerkschaft, die mehr als 400 Ehrenamtlichen auszuzeichnen, die im Zusammenschluss von Gast-Haus e.V., Kana Suppenküche, Team Wärmebus und bodo e.V. in diesem Winter Überlebenshilfe leisteten. An sieben Tagen in der Woche versorgten sie Wohnungslose in einem Großzelt am Dortmunder U mit zwei Mahlzeiten pro Tag. Die vier Initiativen hätten „jede für sich genommen preiswürdige Arbeit“ geleistet, so der PVR-Vorsitzende Kay Bandermann. Das bundesweit einzigartige Gemeinschaftsprojekt der „Winternothilfe am U“ sei jedoch ein besonders würdiger Preisträger.

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Was wir tun, wie es weitergeht bei bodo – aktuelle Kontaktund Öffnungszeiten und vieles mehr finden Sie auf www.bodoev.de

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Teststrategie

Ausgangssperre

Seit April gibt es bei bodo zwei Testtage pro Team und Woche. Neben allen weiteren Maßnahmen – FFP2-Masken für alle Mitarbeiter- und VerkäuferInnen, Home Office wo möglich, getrennte Teams, Möglichkeit zum kontaktlosen Verkauf des Straßenmagazins – hat bodo nun auch eine Teststrategie. An jeweils zwei Tagen in der Woche gibt es Corona-Selbsttests für VerkäuferInnen in Bochum und in Dortmund, für unsere Buch- und Transportteams sowie für Sozialarbeit, Vertrieb und die MitarbeiterInnen im Hygienezentrum in Dortmund. Verwaltung und Redaktion sind natürlich auch dabei. Bislang ist unsere gesamte Belegschaft gut durch die Pandemie gekommen, bleiben auch Sie gesund.

Im April wurden Ausgangsbeschränkungen ein Instrument, um der dritten Welle der Pandemie zu begegnen. bodo hatte früh auf Zusagen der Politik gedrängt, dabei die besondere Situation Wohnungsloser zu berücksichtigen, in der „Bundesnotbremse“ ist Wohnungslosigkeit als „unabweisbarer Grund“ nun anerkannt. Bochum teilte mit, obdachlose Menschen, die während der Ausgangssperre draußen sind, nicht zu sanktionieren, Dortmund erklärte „mit Fingerspitzengefühl und pragmatisch“ vorzugehen. „Die Botschaften aus den Stadtverwaltungen sind wichtig und nötig“, sagt Oliver Philipp, Leiter der Sozialarbeit bei bodo. „Wir hoffen auf das Augenmaß der Ordnungsbehörden.“


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Unter dem Dach des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Dortmund haben sich rund 200 gemeinnützige Vereine, Organisationen und Initiativen zusammengeschlossen. Sie bieten Unterstützungsleistungen in allen Lebensbereichen an:

Bücher online In unseren Buchläden in Bochum und Dortmund nehmen wir weiter Ihre Buchspenden entgegen. Der Ladenverkauf ist auf absehbare Zeit schwierig, weshalb wir gern auf unseren Online-Shop auf www.bodoev. de hinweisen. Auf unserer Internetseite finden Sie außerdem alles zu Öffnungszeiten, Spendenannahmen und zu unserer Arbeit.

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Beratung bei Ehe- und Lebenskrisen Unterstützung bei der Betreuung von Kindern Angebote für Jugendliche und junge Erwachsene Unterstützung bei psychischen Erkrankungen Hilfen für Menschen mit Behinderungen Hilfen in Notlagen und bei besonderen sozialen Schwierigkeiten Selbsthilfeunterstützung

Kontakt über Paritätischer Wohlfahrtsverband NRW Kreisgruppe Dortmund Ostenhellweg 42-48/Eingang Moritzgasse | 44135 Dortmund Telefon: (0231) 189989-0, Fax: -30 dortmund@paritaet-nrw.org | www.dortmund.paritaet-nrw.org

DAMIT KEIN KIND IN ARMUT AUFWACHSEN MUSS

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Beratung per Rad An sechs Tagen in der Woche sind unsere Versorgungstouren „Kaffee & Knifte“ in der Dortmunder und der Bochumer Innenstadt unterwegs. Neben dem Verteilen von Essen, heißen Getränken, Hygieneartikeln und Schlafsäcken geht es vor allem darum, zu informieren und Kontakte zu halten. Tagesaufenthalte sind nur eingeschränkt nutzbar, die Schwellen zu Beratungen sind in der Pandemie höher. Hier setzen die Versorgungstouren an. Nun hat bodo dieses Angebot noch einmal erweitert. Unsere Sozialarbeiter Lutz Rutkowski ist per Elektro-Lastenrad zweimal die Woche in Bochum und Dortmund auch außerhalb der Innenstadt unterwegs und berät auf der Straße.

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Haushaltsauflösungen

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Entsorgungen Transporte bodo packt an Rufen Sie uns an – wir erstellen Ihnen ein unverbindliches Angebot. Tel.: 0231 – 950 978 0 | E-Mail: transport@bodoev.de Ansprechpartnerin: Brunhilde Posegga-Dörscheln

bodo DAS STRASSEN MAGAZIN

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NEUES VON BODO

Kooperation Zu uns kommen Menschen, die nicht mehr weiterwissen, die Angst davor haben, ihre Wohnung zu verlieren, oder die bereits auf der Straße leben. Der Verkauf des Straßenmagazins schafft neues Zutrauen in die eigene Leistungsfähigkeit und dringend nötige Erfolgserlebnisse. In der Beratung ist das erste und wichtigste Ziel, Wohnungslosigkeit zu beenden. In der Nachsorge geht es darum, Stabilität zu erhalten und die Probleme, die zum Wohnungsverlust geführt haben, zu bearbeiten. Für viele bodo-VerkäuferInnen geht es aber auch weiter. Sie wollen zurück auf den Arbeitsmarkt oder als Neuzuwanderer mit inzwischen erworbenen Sprachkenntnissen die nächsten Schritte machen. In Corona-Zeiten ist das noch schwieriger als sonst. Aus diesem Grund arbeiten wir seit April in einer Kooperation mit dem Jobcenter Dortmund daran, den Arbeitsmarkteintritt von bodo-VerkäuferInnen zu verbessern.

Viel zu früh Das Straßenmagazin trauert um seinen langjährigen Dortmunder Verkäufer Klaus Thäle. Seit April 2011 war Klaus bei bodo. Es verging keine Verkäuferversammlung, auf der Klaus nicht mit seinen Sprüchen für gute Stimmung sorgte. Mehrfach wurde er zum Verkäufersprecher gewählt. „Mein Vater verstand sich eigentlich immer mit allen gut, nur gegen seine Borussia durfte man nichts sagen“, erinnert sich seine Tochter Jessica, die selbst seit 2014 bodoVerkäuferin ist. Anfang des Jahres ist Klaus nach langer, schwerer Krankheit am Tag seines 60. Geburtstags verstorben. „Ich habe ihn an dem Tag noch im Krankenhaus besucht und zum Geburtstag gratuliert“, erzählt uns Jessica. Am liebsten erinnere sie sich an gemeinsame BVB-Auswärtsfahrten in den 90er-

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Jahren. „Zusammen mit Freunden sind wir damals nach Hamburg, Bremen und München gefahren und haben den BVB angefeuert. Mit einem roten Ford mit schwarz-gelben Felgen. Das waren immer tolle Wochenenden. Damals, als Ottmar Hitzfeld noch Trainer war“, schwärmt sie, während sie in alten Fotoalben blättert. Auch mit Fortschreiten seiner Krankheit konnte Klaus den bodo-Verkauf nie ganz lassen „In Bodelschwingh kannte ihn jeder“, erzählt Jessica. „Er hat das geliebt.“ Seinen Verkaufs-

platz dort hat sie jetzt selbst übernommen. „Es tut gut, so viele Leute zu treffen, die meinen Vater kannten und mochten.“


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Dortmunds günstigste Apotheke#

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Ansprechpartner

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Geschäftsleitung: Tanja Walter verein@bodoev.de

Zentrale Rufnummer 0231 – 950 978 0 Mo. bis Fr. 10 – 14 Uhr Mail: info@bodoev.de Buchspendenannahme DO bodo Buchladen Dortmund Schwanenwall 36 – 38 44135 Dortmund Mo. bis Sa. 10 – 13 Uhr Buchspendenannahme BO bodo Buchladen Bochum Königsallee 12, 44789 Bochum Di. und Fr. 14 – 18 Uhr

Redaktion und Öffentlichkeitsarbeit: Alexandra Gehrhardt Bastian Pütter redaktion@bodoev.de Anzeigen: Susanne Schröder anzeigen@bodoev.de Vertrieb: Oliver Philipp vertrieb@bodoev.de

Hansastr. 76 / Wißstr. 11 - 44137 Dortmund Tel./WhatsApp* (0231) 57 21 01 Fax (0231) 55 32 44 - info@apostar-apotheke.de *Bitte beachten Sie bei der Benutzung von WhatsApp unsere Hinweise zum Datenschutz. Diese erhalten Sie in unserer Apotheke oder unter www.apostar-apotheke.de/whatsapp. # Bei Arzneimitteln bezogen auf den EAP (einheitlicher Apothekenabgabepreis bei Verrechnung mit der Krankenkasse). Bei Nichtarzneimitteln bezogen auf den UVP (Unverbindliche Preisempfehlung des Herstellers). Aus gesetzlichen Gründen keine Rabattierung bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, Artikeln mit gesetzlicher Preisbindung, sowie Rezeptzuzahlung. Keine Doppelrabattierung bei bereits rabattierten Artikeln.

bodos Bücher: Julia Cöppicus buch@bodoev.de Haushaltsauf lösungen und Entsorgungen: Brunhilde Posegga-Dörscheln transport@bodoev.de

Spendendank

Ein Jahr Hygienezentrum

Wir möchten uns herzlich für die anhaltende Unterstützung auch in diesem zweiten Corona-Jahr bedanken! Schnelltest- und Maskenspenden, natürlich viele, viele wunderbare Bücher, aber auch viele Geldspenden haben uns erreicht und helfen uns, unsere Arbeit fortzusetzen. Wir bedanken uns bei allen EinzelspenderInnen, aber auch bei den InitiatorInnen von Sammelaktionen wie dem Dortmunder IT-Dienstleister SMF, der bei seinen Kunden 2.000 Euro für unsere Arbeit gesammelt hat. Vielen, vielen Dank! Ihre Spenden finanzieren unsere Nothilfe auf der Straße, aber auch die Beratung und Begleitung Wohnungsloser in eigene vier Wände. Denn die Straße ist kein Zuhause.

Seit dem 15. April 2020 betreiben GastHaus, bodo und Team Wärmebus ein temporäres Hygienezentrum mit Duschen, einer Kleiderkammer und der Ausgabe von Hygienepaketen in der Dortmunder Innenstadt. Es war das erste stationäre Angebot, mit dem die Dortmunder Wohnungslosenhilfe auf die Pandemie reagierte. Als klar war, dass die nötigen Hygienevorschriften einen Weiterbetrieb vieler Einrichtungen auf unabsehbare Zeit verunmöglichten, stellte die Stadt schnell den Duschtrakt einer ehemaligen Flüchtlingsunterkunft zur Verfügung und unterstützte die Träger beim Betrieb. Rund 500 Duschgäste im Monat nutzen das Angebot, deutlich mehr erhalten Hygiene- und Wäschepakete.

en lassen.“ „Nicht ärgern. Berat © by Photocase.de

bodo ist für Sie da

Hinweis: Das Foto entstand vor Covid-19.

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Mieter schützen · Mietern nützen!

Mieterverein Dortmund und Umgebung e.V.

Mieterverein

Bochum, Hattingen und Umgegend e.V.

Brückstraße 58 44787 Bochum Tel.: 0234 / 96 11 40 mieterverein-bochum.de

Kampstr. 4 44137 Dortmund Tel. 0231/557656-0 mieterverein-dortmund.de

Öffnungszeiten Mo - Do 9:00 - 18:00 Fr 9:00 - 12:00

Öffnungszeiten Mo - Do 8:30 - 18:00 Fr 8:30 - 14:00

Mitglieder im Deutschen Mieterbund

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REPORTAGE

Seit mehr als zwei Jahren wehren sich Anwohnerinnen und Anwohner der CityPassage in Witten gegen horrende Geldforderungen ihres Vermieters. Dieser stellte den MieterInnen der Sozialwohnungen nicht nur hohe BetriebskostenNachzahlungen in Rechnung, sondern erhöhte auch die Miete – rückwirkend. Der MieterInnenverein Witten hält die Forderungen für rechtlich unzulässig und unterstützt die BewohnerInnen. Von Alexandra Gehrhardt | Fotos: Daniel Sadrowski

Kampf ums Wohnen Ein bisschen sticht die City-Passage schon hervor in der Wittener Bahnhofstraße: eine Mischung aus rotem Klinker und Beton, viel Glas, viele Winkel, ein großer Bogen über dem Eingang, eine typische 80er-Jahre-Architektur. Im Erdgeschoss finden sich Ladenflächen, darüber Büros und 31 Wohnungen, die meisten öffentlich gefördert, mit Preisbindung für die MieterInnen. Doch viele Läden und Büros stehen leer, finden keine Mieter. 2016 verkaufte das Ärztliche Versorgungswerk Westfalen-Lippe die Passage an einen Münchener Investor, der reicht sie schon 2018 weiter an Squadron Real Estate aus Neuss, Teil der Dahlheim Immobiliengruppe. Ein Lebensmitteldiscounter, ein Schnellrestaurant, eine Kita standen auf der Ideenliste des Vermieters, neues Leben in den Läden und neue MieterInnen in den Wohnungen.

Rückwirkende Erhöhung Doch nun haben viele Mieter Ärger. Schon kurz nach dem Kauf erhöhte der Vermieter die Sozialmieten – und zwar auch rückwirkend für 22 Monate. Ist das erlaubt? Im freifinanzierten Wohnungsbau nicht. Im Sozialwohnungsbau regelt ein Gesetz, dass die Miete nur so hoch sein darf, dass sie die laufenden Kosten deckt. Diese sogenannte Kostenmiete muss transparent und für die MieterInnen verständlich berechnet sein und kann zwar steigen, aber nur, wenn die tatsächlichen Kosten für die Vermieter steigen. In den alten Verträgen für die City-Passage-MieterInnen findet sich der Satz: „Die Miete kann sich nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen erhöhen oder ermäßigen.“ Auf den beruft sich der Vermieter, auch rückwirkend.

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REPORTAGE

Das geht aber nicht, sagt Knut Unger, Sprecher des MieterInnenvereins Witten. Der Verein berät viele der Mieterinnen und Mieter, schrieb Widersprüche, forderte Belege und Berechnungen ein. „Wir haben den Vermieter schon 2018 angeschrieben, dann aber ein Jahr nichts gehört.“ Dann habe der Vermieter geklagt.

„Die Gier und Unverschämtheit dieser Typen scheint keine Grenzen zu kennen.“

Im Mai 2020 gab das Amtsgericht Witten ihm in einer Klage Recht und erkannte die Klausel für eine rückwirkende Mieterhöhung über rund 150 Euro an. „Ein Fehlurteil“, sagt Knut Unger, doch eine Berufung an ein höheres Gericht war nicht möglich. „Verhängnisvoll ist, dass sich die Wittener Amtsrichterinnen darauf verständigt haben, diese falsche Rechtsauffassung nun auch auf alle anderen Verfahren anzuwenden. Da geht es teilweise um mehr als 1.800 Euro.“ Eine Mieterin, ihren Namen will sie nicht veröffentlicht wissen, berichtet. Seit 13 Jahren wohnt sie im Haus. Sie mag die Wohnung, zur Familie und zu ÄrztInnen, die sie oft braucht, ist es nicht weit. Sie erhält Alters-Grundsicherung, die Miete übernimmt das Sozialamt. Squadron fordert rückwirkend 1.500 Euro. „Das kam sehr plötzlich. Ich habe nicht verstanden, warum ich für vergangene Jahre so viel Geld zahlen soll.“

Nicht nachvollziehbare Rechnungen „Es ist auch sozial unfair“, sagt Rechtsanwältin Natalia Patroschilin, die zwei Mietparteien im Rechtsstreit vertritt. „Bei den Mietern handelt es sich zum größten Teil um Menschen, die Sozialleistungen bekommen. Viele sprechen nicht so gut Deutsch und kennen sich mit den komplizierten Gesetzen nicht so gut aus, das weiß der Vermieter.“ Die langjährige Mieterin hat vom Sozialamt die Auskunft, dass es rückwirkende Forderungen nicht übernehmen dürfe. „Selbst wenn: Die Gerichtskosten haben die Mieter trotzdem“, so Natalia Patroschilin. Einige BewohnerInnen seien von den Forderungen derart eingeschüchtert gewesen, dass sie sie hingenommen hätten. Mittlerweile gibt es weitere Urteile, diesmal zu Gunsten der MieterInnen. Die Vorgabe, dass die Mieterhöhung in einer Sozialwohnung „für einen durchschnittlichen, juristisch und wohnungswirtschaftlich nicht vorgebildeten Mieter verständlich und nachvollziehbar“ ist, sieht das Amtsgericht als nicht erfüllt. „Die Mieter hatten deshalb trotz angeblicher ‚Mietpreisgleitklausel‘ das Recht, die Zahlung der Mieterhöhungen zu verweigern“, sagt Unger. Der Vermieter hat im April Berufung eingelegt. Bis darüber entschieden ist, sind einzelne der laufenden Fälle zurückgestellt.

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Auch bei den Betriebskosten stellt der Vermieter Nachforderungen bis an die 2.000 Euro. „Die, die schon lange hier wohnen, haben so etwas in drei Jahrzehnten noch nicht erlebt“, sagt Mieterschützer Unger. Ein Mieter, auch er will anonym bleiben, ist nach dem Eigentümerwechsel eingezogen, auch seine Wohnung ist öffentlich gefördert. „Ich hab nur eine kleine Rente und hab extra gefragt, ob noch mehr Kosten auf mich zukommen. Der Makler sagte, alles sei optimal ausgerechnet.“ Die erste Mieterhöhung, 80 Cent, kam noch vor dem Einzug, die zweite kurz danach. Mit der ersten Betriebskostenabrechnung sollte er für zwei Monate 180 Euro nachzahlen. Bis Mitte 2020 haben sich die Forderungen auf 1.500 Euro geläppert. „Dass mal was teurer wird, weiß ich auch“, sagt er. „Aber Rechnungen, die ich nicht nachvollziehen kann?“

Dabei sein hat viele

Vorteile Mehr Schutz im Betrieb, mehr Sicherheit im Leben und dadurch mehr persönliche Freiheit. Wäre doch schade, Sie würden darauf verzichten, oder?

Einschüchterung per Mahnschreiben Knut Unger vom MieterInnenverein spricht von Intransparenz und mangelnder Nachvollziehbarkeit und davon, dass der Vermieter Kosten ungerechtfertigt auf die Wohnungsmieter umlege. So tauche zum Beispiel die Reinigung des Durchgangs durch die Ladenzeile und der Treppen zur Tiefgarage in den Betriebskosten der MieterInnen auf. Auch bei der Grundsteuer werden sie nach seiner Einschätzung zu stark belastet. „Im Sozialwohnungsrecht ist klar vorgeschrieben, dass für die Kostenanteile, die auf die Gewerbeflächen entfallen, ein Vorwegabzug vorgenommen werden muss.“ Dass das kompliziert ist, gibt Unger zu. Das Gebäude hat eine gewagte 80er-Jahre-Architektur, ist verwinkelt und hat viele Flächen, die nicht eindeutig zugeordnet sind. „Dass der Vermieter in drei Versuchen, eine wirksame Abrechnung vorzunehmen, die Kostenanteile des bewirtschafteten Parkhauses übergangen hat, dass er Mietern, die ihren Flur selbst putzen, Reinigungskosten oder Reparaturen der oft defekten Aufzüge in Rechnung stellt, kann nicht Zufall sein.“ Gegen fast 30 Punkte der Betriebskostenabrechnung, die nach Bewertung des MieterInnenvereins falsch verteilt, nicht umlagefähig oder nicht belegt sind, hat der Verein Einwendungen erhoben. „Mindestens bis zur Vorlage einer korrekten und belegten Abrechnung haben die Mieter ein Zurückbehaltungsrecht und müssen diese unglaublich hohen Nachforderungen nicht bezahlen“, rät Unger. Der Vermieter habe mit Mahnschreiben mit unzulässig hohen Anwaltsgebühren reagiert. „Die Gier und Unverschämtheit dieser Typen scheint keine Grenzen zu kennen.“

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Bei einigen gehe es mittlerweile um bis zu 5.000 Euro – für MieterInnen mit wenig Geld nicht stemmbar. Im Briefkopf präsentiert sich die Immobiliengruppe, zu der Squadron gehört, als SchufaVertragspartnerin – auch das schüchtere ein. „Stellen Sie sich vor, ich bekomme einen Schufa-Eintrag, weil ich nicht zahle, dann finde ich doch nie wieder eine Wohnung!“, sagt der Mieter. Er ist, wie andere, auf der Suche, bisher erfolglos. Dass auch die nächste Jahresabrechnung Ärger machen wird, damit rechnet er jetzt schon. Auch die langjährige Mieterin ist in Sorge. „Die Nachbarn haben Angst, dass sie sich eine neue Wohnung suchen müssen, weil es dem Sozialamt zu teuer wird“, sagt sie. „Wir wissen nicht, wie es weitergeht, was als nächstes passiert.“ Der Stress sei groß, sagen beide, gehe mittlerweile auf die Gesundheit. Und die nächste Runde vor Gericht steht an. Dass die BewohnerInnen der City-Passage zur Ruhe kommen, wird dauern.

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DAS FOTO

„Die erste Umarmung“: Der dänische Fotograf Mads Nissen erhält den World Press Photo Award 2021 für sein Foto der brasilianischen Rentnerin Rosa Luzia Lunardi, die nach langer Isolation von einer Pflegerin ihres Heims in São Paulo umarmt wird. Die beiden sind durch einen transparenten Plastikvorhang getrennt, dessen gelber Saum an ein Flügelpaar erinnert. Im Herbst zeigt das Dortmunder Depot die World Press Photo Ausstellung der weltbesten Pressefotos. Foto: Mads Nissen

MIETEN & WOHNEN

Berliner Mietendeckel verfassungswidrig: Und nun? Von Aichard Hoffmann, Mieterverein Bochum, Hattingen und Umgegend Das Bundesverfassungsgericht hat den sogenannten „Mietendeckel“ für verfassungswidrig erklärt. Begründung: Die Kompetenz für Gesetze zur Begrenzung des Mietenanstiegs liegt ausschließlich beim Bund und nicht beim Land. Eigentlich sollte der Mietendeckel die explodierenden Mieten in der Hauptstadt senken: Er sollte die Mieten von 1,5 Millionen Wohnungen bis 2025 auf dem Stand von 2019 ein16

frieren, Mieterhöhungen auf 1,3 Prozent im Jahr begrenzen, und Mieten, die mehr als 20 Prozent über der Obergrenze lagen, senken. Ob das verfassungsgemäß ist, war jedoch von Anfang an umstritten. Denn Miethöherecht ist eigentlich Bundesrecht. Nur wenn der Bundesgesetzgeber eine bestimmte Frage nicht regelt, können die Länder ergänzen. Mit der Mietpreisbremse habe der Bundesgesetzgeber aber eine abschließende Regelung getroffen.

Für viele Berliner Mieter bedeutet das Urteil nun eine Nachzahlung. Denn etliche Vermieter hatten seitdem zwei Miethöhen in die Verträge geschrieben: eine Mietendeckel-konforme und eine, die – auch rückwirkend – fällig sein sollte, wenn der Mietendeckel kippt. Da nach dem Karlsruher Urteil die Kompetenz für mietpreisbremsende Gesetze allein beim Bund liegt, wird ein bundesweiter Mietenstopp nun zum Wahlkampf-


KOMMENTAR

Es trifft die Armen Von Alexandra Gehrhardt Die eigene Wohnung ist essenziell. Sie ist im besten Fall Zuhause, Rückzugsund Schutzort. Doch auch in der Pandemie wurde und wird zwangsgeräumt. Betroffen sind zumeist die Armen, die Folgen sind dramatisch.

Zwangsräumungen in BO und DO

524 Haushalte wurden im vergangenen Jahr in Dortmund geräumt, 134 waren es in Bochum. Das ist weniger als in den Vorjahren, wohl auch wegen eines Kündigungsmoratoriums und weil Gerichte Räumungen pandemiebedingt kurzzeitig aussetzten. „Ab Juni 2020 wurden die Räumungen wieder im gewohnten Maße durchgeführt, ausgesetzte Räumungen wurden überwiegend nachgeholt“, steht in einem Dortmunder Lagebericht zu Wohnungslosigkeit. Sozialverbände und -initiativen fordern seit einem Jahr das Gegenteil. Bemerkenswert ist, wen Räumungen betreffen: Für Bochum schätzt die Verwaltung, dass 90 Prozent auf Mietschulden zurückgehen und nicht auf Fehlverhalten oder Eigenbedarf. Und: Der Stadt sind auch für 2020 „keine Fälle bekannt, bei denen die Hilfesuchenden keine Sozialtransferleistungen erhalten haben.“ Das heißt: Die Betroffenen waren schon bei Behörden bekannt, die vielleicht hätten helfen können. Dass das nicht passiert ist, ist ein systemisches Problem. In Dortmund konnten die Behörden 250 Räumungen abwenden, weil sie Nachzahlungen übernahmen oder die Kaution für die neue Wohnung vorstreckten. Die Strukturen sind also da, sie funktionieren nur zu oft nicht. Weil Scham und Angst Menschen daran hindern, sich früh Hilfe zu suchen, weil frühe Alarmzeichen manchmal erst spät erkannt werden, weil, wer Schulden hat, bei Vermietern schlechte Chancen hat, weil irgendwann der Punkt kommt, an dem man nichts mehr tun kann. Aus der eigenen Wohnung geräumt zu werden bedeutet Scheitern. Die Unterbringung in einer städtischen Wohnung markiert den Abschied von selbstbestimmtem Wohnen. Führt die Räumung in die Notunterkunft, ist es bis zur Straße nicht mehr weit. In der Pandemie sind Sammelunterkünfte Infektionstreiber und die schlechteste Lösung. Dutzende Ausbrüche und mehrere Todesfälle wie zuletzt in Münster beweisen das. Zum Kampf gegen Wohnungslosigkeit gehört, alles zu tun, um Menschen von der Straße in eine Wohnung zu bekommen. Viele Organisationen und auch das Land NRW leisten hier wichtige Arbeit. Zu diesem Kampf gehört aber auch, wann immer möglich zu verhindern, dass sie passiert. Weil die eigene Wohnung der beste Schutz ist, und Wohnen ein Menschenrecht.

thema für die kommende Bundestagswahl . Denn Wohnungsnot und überhöhte Mieten sind längst nicht nur ein Problem in Berlin. Auch in vielen NRW-Städten steigen Mieten immer weiter, Bochum ist dafür das beste Beispiel. Regulierungen wie staatlich geförderter und preisgebundener Wohnungsbau bleiben aber hinter dem Nötigen zurück. Zar gibt es eine neue Mieterschutzverordnung, die für ausgewählte Kommunen Obergrenzen bei der Mietensteigerung festlegt und den Kündigungsschutz bei Umwandlung von

Miet- in Eigentumswohnungen verbessert – sie gilt aber nur in 18 Kommunen und zum Beispiel nicht im Ruhrgebiet. Damit kommt die „Mietenstopp“-Kampagne, die im Februar gestartet ist und einen bundesweiten Mietenstopp auf Bundesebene fordert, zur richtigen Zeit. Es wird sich zeigen, wie sich die Parteien bis zur Wahl positionieren.

DIE ZAHL

150 EURO

als einmalige Hilfszahlung sollen Hartz-IVEmpfängerInnen im Mai erhalten. Die Hilfe erfolge zu spät, sei zu gering und überdies verfassungswidrig, urteilte das Sozialgericht Karlsruhe bereits im März. (AZ: S 12 AS 711/21 ER)

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INTERVIEW REPORTAGE

Er ist Rapper, Sänger, Multiinstrumentalist, Provokateur und Familienvater in Personalunion. Nach mehreren Top-Ten-Platten mit seiner Band „Antilopen Gang“ hat er sein zweites Soloalbum aufgenommen. „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ ist ein Werk, das einerseits Spaß macht, andererseits für bestimmte politische Grundhaltungen steht. Mit dem Aachener Danger Dan alias Daniel Pongratz, 38, sprach Olaf Neumann über Lebenstraumata, Verschwörungstheoretiker und eine solidarische Gesellschaft Von Olaf Neumann | Fotos: Jaro Suffner

KONKRET FÜHLEN, ABSTRAKT DENKEN Ihr neues Soloalbum „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ haben Sie nahezu allein am Klavier eingespielt. War es befreiend, diese minimalistische Platte zu machen? Ich habe es mir noch befreiender vorgestellt. Ich habe alles ausgereizt, was ich kann und musste dafür ganz viel üben. Texte wirken zu einer Klavierbegleitung ganz anders als zu Hip-Hop-Klängen. Sie bleiben länger stehen und klingen schnell kitschig. Das limitiert einen. Zielen Sie mit der Platte vor allem auf neue Hörer- und Käuferschichten? Ich kann mir vorstellen, dass die Eltern von Antilopen-Fans das endlich auch mal mögen. Meinen gefällt’s schon mal. Sie hören sonst Hannes Wader, Georg Kreisler und Bernies Autobahn Band. Es heißt, Musiker erfinden sich immer dann neu, wenn die Plattenverkäufe runtergehen. Es ist keine Verzweiflungstat, die Plattenverkäufe gehen ja bei allen runter. Wir haben damals viele physische Tonträger verkauft, aber jetzt hat keiner mehr einen CD-Player. Letztes Jahr sind zwei Antilopen-Gang-Alben erschienen, mehr geht nicht. Haben Sie bei Helene Fischer ein Duett angefragt? Ich habe nicht angefragt. Jetzt, wo Sie es sagen, ärgere ich mich darüber. Ich fände es total cool. Hat Fischer nicht beim „Frozen 1“-Soundtrack mitgesungen? Den singe ich nämlich gerade viel mit meiner Tochter. Dann könnte ich vielleicht sogar Lieder, die Helene Fischer spielt. In „Lauf davon“ heißt es, Lou Reed sei Ihnen erschienen und habe gesagt: Lauf davon und fang irgendwo noch mal von vorne an! Haben Sie lange in einem falschen Leben gelebt? Ich war damals Organist in einer Reggaeband in Aachen. Wir waren gut gebucht, aber mir war das alles zu klein. Das habe ich alles stehen und liegen lassen und bin nach Bordeaux gefahren und habe dort mit ein paar Jungs Mist gebaut.

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In Bordeaux haben Sie Autos geknackt. Hat Sie das Leben außerhalb der Gesellschaft fasziniert? Total. Schon mit 18 hatte ich ein halbes Jahr lang starke Panikattacken aufgrund der Sorge, dass ich in einer kleinbürgerlichen Welt landen könnte. Seitdem kiffe ich nicht mehr. Aber die Attacken hörten erst auf, nachdem ich eine Ausbildung abgebrochen hatte und in eine Punker-WG gezogen war. Manchmal sind wir spontan nach Belgien an den Strand getrampt, wo wir in Rohbauten schliefen. Das war heilsam. Wie standen Ihre Eltern dazu? Die sind cool und meinten, ich solle machen, was ich wolle, müsse aber alles selber finanzieren. Deswegen habe ich oft absurde Jobs gemacht und z.B. bei C&A Anzüge verkauft oder beim Circus Roncalli als Lehrer gearbeitet. Mein Lebenslauf war damals schon so verhunzt, dass ich mich nie schriftlich beworben habe. Irgendwie hatte ich immer mehr Glück als Verstand, und mein Leben lief bis hierhin ganz gut. Welche Tugenden braucht es, um in der Musikwelt erfolgreich zu werden? Das ändert sich gerade leider sehr. Man muss heute ein digitaler Allrounder sein, der Fotos, Video- und Audiodateien macht. Viel Musikfachpresse gibt es nicht mehr, weshalb sich vieles in die digitale Welt verlagert. Jugendliche lesen nicht mehr den Rolling Stone, sondern hören sich an, was Fynn Kliemann auf Instagram sagt. In diese Welt gehöre ich nicht so richtig rein. Ein Majorlabel kann sich da vielleicht einkaufen, aber ich bin beim Ehrenlabel „Antilopen Geldwäsche“. Da fehlen mir die Mittel, um alle zu bestechen. Wir haben aber ein gewisses Renommee, von dem aus man starten kann. Wenn Fynn Kliemann mein Album nicht so geil findet, finde ich das nicht schlimm. Was passiert mit der gewaschenen Kohle? Ich versuche, die Insolvenz der „Antilopen Gang“ zu verschleppen. Wir werden hoffentlich reich, aber die Wahrscheinlichkeit ist gering, weil im Moment unsere


„Es ist einfacher, sich eine simple Realität mit Sündenböcken auszudenken, als eine fundierte Kritik zu formulieren.“

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INTERVIEW

Haupteinnahmequelle wegfällt. Ich habe leider auch noch keine Coronahilfen bekommen und lebe seit einem Jahr vom Ersparten der Antilopen Gang. Sollte ich mit meinem Album Geld verdienen, landet das wieder auf dem Bandkonto in der Hoffnung, dass wir so lange überleben, bis wir wieder Konzerte geben können. Für viele Kulturschaffende ist die Situation existenziell. Einige Theaterbetreiber haben bereits Klage eingereicht, denn die pauschale Schließung der Häuser sei unverhältnismäßig – angesichts der Hygienekonzepte. Wie denken Sie über das Auftrittsverbot? Ich finde es richtig, denn wir sind in einer Pandemie. Viren verbreiten sich da, wo viele Menschen sind. Deswegen darf es im Moment keine Konzerte geben. Alle werden jetzt kreativ und entwickeln Konzepte, aber man könnte auch einfach mal versuchen, ein paar Wochen alles runterzufahren. Dann wäre die Pandemie schneller vorbei. Wichtig ist, als Gesellschaft solidarisch zu sein mit denen, die an der Krise nichts verdienen. Die Kohle sollte man sich dann bei den Krisengewinnern wie großen Versandhäusern wieder holen. Mich stört das Konzertverbot nicht, sondern eher, dass die armen Leute auf dem Fahrrad den Reichen das Essen vor die Haustür bringen und diese dann sagen, das sei ein Lockdown. Es würde alles noch solidarischer gehen. In der Corona-Krise hoffen viele Freiberufler auf die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens. In Frankreich erhalten Musikerinnen und Musiker nach einer bestimmten Anzahl von Konzerten im Jahr ein Grundeinkommen. Das hat dort zu einer vielfältigen und spannenden Musiklandschaft geführt, bei der jeder spielt, worauf er wirklich Lust hat. Ein Grund mehr, noch einmal nach Bordeaux abzuhauen. Wenn ich keine Coronahilfen bekomme, knacke ich halt wieder Autos. In „Das schreckliche Buch“ vergleichen Sie die Aktionen von Verschwörungstheoretikern und Danger Dan: „Das ist alles von Coronaleugnern mit Geschichder Kunstfreiheit gedeckt“ ten aus einem Groschenroman. (Antilopen Geldwäsche/Warner) Wieso haben in der Pandemie VÖ: 30. April 2021 so viele Leute jeden Bezug zur Realität verloren? Unsere furchtbar komplexe Welt ist schwierig zu verstehen. Es ist einfacher, sich eine simple Realität mit Sündenböcken auszudenken, als eine fundierte Kritik zu formulieren. In der Pandemie kriechen alle aus ihren Löchern und verbreiten ihren Wahnsinn sehr unverblümt. Mein Freund Prof. Dr. Samuel Salzborn beschreibt das Problem ganz treffend: Es ist die Unfähigkeit, konkret zu fühlen und abstrakt zu denken. Diese Leute können sich nicht in das Schicksal eines Geflüchteten oder eines Corona-Intensivpatienten hineinversetzen.

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Haben Sie von Ihrem Anwalt überprüfen lassen, ob die Äußerungen über führende neurechte Akteure in Deutschland auf Ihrem Album von der Kunstfreiheit gedeckt sind? Ich habe anwaltliche Beratung in Anspruch genommen. Ich möchte aber über das Ergebnis nicht offen reden, weil ich dann auch die Schwachstellen verrate. Ich mache mir aber keine großen Sorgen, mein Album ist von der Kunstfreiheit gedeckt. Ring frei! Sollte es das am Ende doch nicht sein, dann ist das Kunstwerk auch abgeschlossen. Ich kann nur gewinnen! Der Berliner Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen hat 2015 mit seinem Antrag auf eine einstweilige Verfügung gegen die Antilopen-Gang-Single „Beate Zschäpe hört U2“ keinen Erfolg gehabt. Was störte ihn an dem Lied? Ich glaube, er dachte, wir würden ihn in dem Lied als Antisemit bezeichnen. Die Aussicht auf einen positiven Ausgang war für ihn nicht sehr groß, was auch an seinen Äußerungen in der Vergangenheit lag. Am Ende hat er klein beigegeben und die Gerichts- und Anwaltskosten gezahlt. Ausgerechnet dieser Typ, der immer für Meinungsfreiheit plädierte, wollte gerichtlich gegen Kunst vorgehen! Was hat Ken Jebsen das am Ende gekostet? Ich glaube, sein Sommerurlaub war gestrichen. Glauben Sie, dass sich viele Leute Ihre satirischen Lieder zur Unterhaltung anhören und sich dann mit deren Themen ernsthaft beschäftigen? Ich habe keine politische Agenda, die ich mit Musik verbreiten will. Ich sehe mich als Musiker, der auch über politische Dinge redet, weil sie mich beschäftigen. Auf uns kamen aber immer wieder Leute zu, denen unsere Lieder in ihrer Biografie und politischen Willensbildung weitergeholfen haben. Auch bei mir sind Bands wie Slime und Knochenfabrik Teil der Biografie. Die Corona-Epidemie ist verheerend für die Subkultur der Städte. Viele Musikclubs kämpfen gegen Verdrängungen und Gentrifizierung. Haben Sie noch Hoffnung für den Underground, dem auch Sie entstammen? Zu dem, was wir in den autonomen Jugendzentren veranstaltet haben, hat der Staat nie etwas dazugegeben. Ich will gar nicht, dass der Staat reguliert, was dort passiert, weil diese Zentren eben autonom sind. Subkultur lässt sich nicht kaufen und mit Subventionen locken. Sie muss von selber laufen. Haben Sie noch nie in Ihrem Leben Subventionen bekommen? Doch, dieses Album ist komplett subventioniert von der Initiative Musik. Die Alternative wäre gewesen, diese Platte nicht zu machen und Hartz IV zu kassieren. Das ist aber auch Geld von Deutschland. Ich komme gerade um Subventionen nicht herum.


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Martin Kaysh schreibt für die Arbeiterwohlfahrt

Resilienz ist dieses neue Wort, das beschreibt, wenn du was aushältst, notfalls ewig. Es muss eine Erfindung aus Westfalen sein, der Gegend, in der Sitzenbleiben schon als aktiver Widerstand gilt. Armin Laschet, Rheinländer, könnte es zum Mister Resilienz 2021 bringen. Nicht in der Kandidatenfrage, da ist er schon lange nicht mehr Herr von irgendwas. Er könnte in Sachen Olympia glänzen. Da kassierte er zwar im Winter mit seinen Spielen an Rhein und Ruhr international eine schallende Ohrfeige, eine Totalabsage. Es stört ihn nicht, er macht weiter. Statt dieses Fest für die Herren der Ringe anzustreben, könnte man das Geld besser zum Fenster rauswerfen. So würde man wenigstens nicht solche Sachen fördern wie Korruption, Prostitution oder Doping. Sein PR-Kumpel bei der Heinsbergstudie, Michael Mronz, verbreitet die olympische Parole: Neunzig Prozent der Sportstätten seien hier bereits vorhanden. Das ist, als würde Dich ein Säufer jetzt zur Silvesterparty 2023 einladen mit dem Hinweis, 90 Prozent des Schnapsbedarfs seien bereits gebunkert. Laschet hat ein Vorbild. Schon 2002 wollte man hier Olympia. Man schied zwar schon 2003 national gegen Leipzig aus, die Spiele gingen nach London. Aber der dazu einst gegrünMartin Kaysh (Geierabend) schreibt jeden Monat in bodo für die AWO.

dete „Zweckverband Rhein-Ruhr“ wurde erst 2011 aufgelöst. Die beteiligten Kommunen mussten nach all den Jahren noch einmal neue Mitglieder in den Verband wählen, nur um über

Sie Mitglied Werden auch in der AWO! eder die AWO li g it M r h e m Je hr kann sie in hat, desto me ft bewirken. der Gesellscha en nn sie Mensch Desto eher ka fe brauchen. helfen, die Hil ww.de e • www.awo.d w w oaw info@

dessen Auflösung abstimmen zu können. Armin Laschet hätte so bis 2035 zu tun. Er sollte aber schleunigst Düsseldorf als Ersatzort für die Spiele in Tokio 2021 anbieten, schon wegen der großen japanischen Kolonie am Rhein. Er könnte zur Eröffnung winken, Mronz Reklame machen. Die Corona-Sicherheit garantierte Hofvirologe Hendrik Streeck. Das Trio könnte durchfeiern bis zum 27. September. Dann merkte auch keiner, dass am Tag vorher irgend so eine Bundestagswahl war.

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lles neu macht der Mai. „Na toll“, denkt sich der Hinz. „Das wird dann wohl ein ganz neuer Virusmutant sein, bei dem der Impfstoff, mit dem ich bald vielleicht geimpft sein könnte, frei von jeder Wirkung bleibt. Außerdem werde ich natürlich eine Thrombose bekommen.“ Beim Hinz ist jedes Glas halb leer. REZEPT für ein Pesto 100 g nicht zu alte Blätter der Knoblauchsrauke mit 30 g Cashew-Kernen, 30 g geriebenem Parmesan, 1 EL Zitronensaft sowie 1 TL Salz in der Küchenmaschine zu einer glatten Masse pürieren. Mit Schwarzem Pfeffer abschmecken und anschließend etwa 7 EL Olivenöl langsam zugeben, bis die Masse in der Maschine die gewünscht sämige Konsistenz erhält. Wenn die Knoblauchsrauke schon grüne Samenschoten herausgebildet hat, können diese (vorsichtig dosiert) ebenfalls eingearbeitet werden. Sie verleihen dem Pesto eine an Senf erinnernde Schärfe.

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Der Kunz dagegen beschließt, an einem ersten Sonnentag im Mai mit seinem neuen Pedelec den neuen Radweg anzutesten. Was dem Kunz schnuppe ist: Erst am 16. März hatten der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club e.V. und das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur die Ergebnisse des aktuellen Fahrradklima-Tests präsentiert. Bochum schnitt nicht gut und Dortmund schlechter ab. Am Frühstückstisch greift der Hinz mit geübter Hand zur täglichen Gazette. „Wen sollte das wohl wundern“, denkt er jetzt. „Mich nicht: Tragischer Unfall – Rechtsabbieger überrollt Pedelecfahrer auf neu eröffnetem Radweg.“ Der Hinz verschlingt mit Lust das Blatt. Das wiederum wundert den Daniel nicht. Daniel Nusime lebt, für diese Geschichte ist dies freilich nicht der Rede wert, im beschaulichen Offenberg an der Donau, weit entfernt also von BO und DO. Er gilt jedoch als Experte in Sachen Nachrichten. „Schlechte verkaufen sich viel besser. Ein russisches Nachrichten-Portal machte ein Experiment und veröffentlichte in einem festgelegten Zeitraum nur noch positive Nachrichten. Als die Besucherzahlen dadurch extrem zurückgingen, kehrte man wieder zur gewohnten Berichterstattung zurück“, verriet er noch vor kurzem dem Blogger Marten Holzinger, was auf dessen Seite „einfachgefragt.com“ nachzulesen ist.

Befragter Daniel ist ebenfalls im Netz aktiv. Seine Seite heißt „nur-positive-nachrichten. de“, und er ist, das sollte niemanden verblüffen, ein gnadenloser Optimist. Ihm ist die Welt ein herrlicher Ort, bewohnt von wunderbaren Menschen. Ich habe keine Ahnung, ob ich auf Dauer einen Daniel an meiner Seite ertragen würde. Erst recht aber keinen Hinz. Ich denke, dass es überhaupt keine schlechte Idee ist, sich aufs Rad zu setzen, ins Grüne zu fahren und unterwegs ein wenig Knoblauchsrauke zu sammeln. Knoblauchsrauke ist gesund, ist vitamin- wie mineralstoffreich und richtig lecker. Bereits vor 6.000 Jahren hat man sie gesammelt und gegessen. Archäologische Funde belegen es. Somit ist dieses Kraut in der Küche alles andere als neu, aber mühelos zu finden – vor allem im Mai. Knoblauchsrauke (Alliaria petiolata) wurde schon vor 4000 v. Chr. im Mesolithikum als Gewürz benutzt, damit ist die Knoblauchsrauke das älteste bekannte einheimische Gewürz. Im Mittelalter wurde die Knoblauchsrauke mit ihrem pfeffrigknoblauchartigen Geschmack vor allem von der ärmeren Bevölkerung genutzt, die sich teure Gewürze nicht leisten konnte. Beim Kochen verflüchtigt sich allerdings der Geschmack. Knoblauchsrauke muss daher Speisen in rohem Zustand beigegeben werden.


KULTUR

„Susanne, ich hätte da gern mal eine Frage…“ Susanne, das ist Prof. Susanne Hüttemeister, Direktorin des Bochumer Planetariums und erprobte Vermittlerin von Weltallwissen. Der da fragt, ist Jochen Malmsheimer, wortgewaltiger Kabarettist und belesener Astronomie-Laie. In einem gut halbstündigen PodcastFormat sind die beiden nun unterwegs – „Gemeinsam durch die Galaxis“. Von Bastian Pütter | Foto: Planetarium Bochum

Plaudernd durchs All „Welcher Himmelkörper fällt Dir zu der Stadt Wanne-Eickel ein“, fragt Jochen Malmsheimer zu Beginn der ersten Podcast-Folge. „Der Mond?“, antwortet Susanne Hüttemeister tastend, hat damit das Thema der ersten Folge erfahren und darf nun auf dem sichereren Terrain ihres Fachgebiets weiter antworten: zur Entstehung des Mondes aus einem WeltraumCrash, zur komplexen Wechselbeziehung mit der Erde, zu Wasservorkommen, Vulkanismus und so weiter. Nach diesem Muster geht es weiter. Einen „bunten Strauß an Themen“ versprechen die beiden, unsystematisch in der Sortierung und oft anlassbezogen ausgewählt von Jochen Malmsheimer. Die ersten Folgen sind produziert (Hüttemeister: „Noch nicht zehn, aber mehr als zwei.“) und werden im Zweiwochentakt veröffentlicht. „Ich war immer schon besonders an astronomischen Themen interessiert, aber laienhaft natürlich“, sagt Jochen Malmsheimer. „Ich hab diese klassische gymnasiale Physikkarriere hinter mir, die glaub‘, ich mit 4- begann und dann stark nachließ. Das hat mein Interesse aber nie beschädigt.“ Susanne Hüttemeister widerspricht: „An Astronomie interessiert sind ja viele Leute, und deswegen gibt es ja ein Planetarium hier. Kaum jemand sagt, es ist mir völlig egal, was am Himmel los ist. Bei Jochen Malmsheimer, der auch Mitglied in unserem Förderverein ist, ist es falsch zu sagen, er interessiere sich nur. Er interessiert sich und hat einen super Hintergrund.“ Und lächelnd fügt sie hinzu: „Außerdem hat er den Vorteil, dass er das Thema kennt.“ Heraus kommen gut halbstündige Podcasts, die die Stärke des Formats ausspielen: „Wir beide unterhalten uns, wir haben keine Vorgaben.

Wenn uns ein Thema wichtig ist, können wir uns dem so widmen, wie wir es für richtig halten“, sagt Jochen Malmsheimer. Wissenschaftlich genau, mal persönlich, oft zum Schmunzeln. Mit dem Timing des Bühnenprofis – Abschweifungen inklusive. „Das ist nicht die Einführungsvorlesung in die Astronomie als Podcast“, fasst Susanne Hüttemeister zusammen. So gut beiden die Zusammenarbeit gefällt, so offen geben sie zu, sich ihre Arbeit eigentlich anders vorzustellen. Ohne Pandemie wäre kaum Platz im Terminplan des sonst dauertourenden Kabarettisten. Die Planetariums-Chefin verweist wehmütig auf den abgeschlossenen Umbau mit neuer Technik und neu gestalteter Kuppel: „Das würden wir gerne irgendwann zeigen.“

„Gemeinsam durch die Galaxis“ Podcast mit Susanne Hüttemeister und Jochen Malmsheimer planetarium-bochum.de/ de_DE/podcasts sowie auf den meisten Podcast-Portalen

Bis das wieder möglich ist, plaudern sich die beiden durchs All und verweisen auf das Motto des Planetariums in der Corona-Schließungszeit: „Es ist nur eine Phase.“

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Kulturlandschaft Mai | 2021

Seit dem ersten Straßenmagazin gehört ein Kalender mit Veranstaltungstipps aus BO, DO und Umgebung dazu. Als wir vor gut einem Jahr mitten im ersten Lockdown Grundsatzentscheidungen treffen mussten, war klar, dass wir an diesem Kalender, der in der Pandemie „Kulturlandschaft“ heißt, festhalten. Wir wollten dem Verschwinden der Kulturszene aus der öffentlichen Wahrnehmung entgegenwirken. Auch wenn Theater, Kino und Konzertsäle geschlossen waren, gab es diese Seiten, die auf Orte verweisen, von Plänen und Hoffnungen erzählen oder den innovativen Umgang mit den Beschränkungen beschreiben. Das sieht wie die Restriktionen in der Pandemie in jedem Monat anders aus – ist aber wieder zunehmend spannend. AUSSTELLUNGEN Corpo Casa (online) Die Ausstellung „Corpo Casa“ ist eine Erforschung des Frau-Seins. Die Künstlerin Sofia Dorazio Brockhausen betrachtet den Körper (corpo) als Wohnort (casa) und stellt sich und anderen Frauen die Anzeige

Frage, was es heißt, in diesem Ort zu leben. Sie interessiert sich für die Erfahrungen von Frauen und schafft eine Arbeit, die durch Kooperation zustande kommt. Hierzu konnte sie auf die Mitwirkung zahlreicher unterschiedlicher Frauen, hauptsächlich aus Brasilien und Deutschland, zählen. Die Teilnehmerinnen teilten mit der Künstlerin jeweils ein Foto von einem Körperbereich ihrer Wahl sowie Antworten zu Fragen bezüglich dieses Körperbereichs und ihrer Existenz als Frau. Dieses Material wurde zu Malmotiven, welche die Künstlerin auf Türen, Fenstern und Spiegeln auftrug. Das Kunstvideo zur Ausstellung in den Rottstr5Kunsthallen hat am 1. Mai 2021 um 19 Uhr über Zoom Premiere. Ab diesem Datum kann die Ausstellung auch unter https://corpo-casa.com besucht werden. Anmeldung für die Premiere unter sofiabrockhausen@gmail.com. 1. Mai, 19 Uhr

Tod im Salz. Eine archäologische Ermittlung in Persien (online) Bis zum 8. August zeigt das Deutsche Bergbau-Museum Bochum die Sonderausstellung „Tod im Salz. Eine ar-

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chäologische Ermittlung in Persien“ online. Die Ausstellung thematisiert die „Salzmänner von Zanjān“. Entstanden ist die Ausstellung in enger Zusammenarbeit mit dem Archäologischen Museum Frankfurt, dem Iranischen Nationalmuseum Teheran und dem Archäologischen Museum Zanjān. Die im Salz mumifizierten Menschen wurden gemeinsam mit zahlreichen anderen Funden bei Ausgrabungen im antiken Salzbergwerk von Chehrābād entdeckt. Eine Graphic Novel zeigt Leben und Tod des jungen Bergmannes – „Salzmann 4“ – vor 2.400 Jahren. Die digitale Ausstellung erlaubt Einblicke in vergangene Lebens- und Arbeitswelten. www.bergbaumuseum.de bis 8. August


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The pow(d)er of I am klick klick klick and a very very bad bad musical! (live) Der Titel der Ausstellung nimmt Bezug auf die Rhetorik US-amerikanischer evangelikal-protestantischer Megachurches, in denen – als christliche Lebenshilfe getarnt – eine marktkonforme, neoliberale Ideologie individueller Selbstoptimierung gepredigt wird. Es geht in den Arbeiten von Stefan Panhans und Andrea Winkler um SUVs, Kommunikation mit Künstlichen Intelligenzen, Alltagsrassismus, Celebrity-Kult und Rollenklischees, Computergames, das „Uncanny Valley“ und weitere postdigitale Feedbackschlaufen zwischen Menschen und virtuellen Welten und nicht zuletzt um den prekären Status von KulturarbeiterInnen. In der Ausstellung sind sechs Videoinstallati-

onen und verschiedene skulpturale und fotografische Arbeiten zu sehen. Bei den Videoinstallationen handelt es sich um die drei Neuproduktionen Border Control (2021, Premiere), Defender (2021, Premiere) und If You Tell Me When Your Birthday Is (Machinima Version) (2020) sowie HOSTEL (2018), Freeroam À Rebours, Mod#I.1 (2016) und Noch ein Sportstück (2014). Hartware Medienkunstverein, Dortmunder U www.dortmunder-u.de 15. Mai bis 5. September

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dem einen Rückblick auf das vergangene Jahr. Das Hauptziel der World Press Photo Foundation ist die internationale Unterstützung und Förderung professioneller PressefotografInnen. Der Kulturort Depot in Dortmund hat die für Mai geplante Ausstellung kurzfristig in den Herbst verschoben. Depot, Dortmund www.depotdortmund.de verlegt auf Herbst 2021

Heilen und Pflegen (live) Ab dem 10. Juni startet die neue Ausstellung „Heilen und Pflegen“ in der DASA. Ob beim Untersuchen, Retten, Operieren, Therapieren oder Pf legen –„CareArbeit“ ist nah am Menschen und enorm vielschichtig. Umso wichtiger ist es, für die Menschen gesunde und sichere Arbeitsbedingungen zu schaffen, die für die Gesundheit Sorge tragen. Die Besucher-

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COMEDY Gefühlte Fakten (live) Comedy ist ihr Beruf. Also „Beruf “. Christian Huber und Tarkan Bagci haben Comedy jetzt nicht direkt gelernt.

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Erfahrungen austauschen, netzwerken, gemeinsam Ideen entwickeln – alles ist möglich beim Social Startup Stammtisch. Es treffen sich Gründer*innen, etablierte Sozialunternehmer*innen und alle am Thema Interessierte. Jeder Stammtisch beginnt mit einem kurzen fachlichen Input von Referent*innen mit sozialunternehmerisch relevantem Know-how. Nächste Termine: 31. Mai und 26. Juli 2021, jeweils ab 17:00 Uhr. Ort: Werkhalle im Union Gewerbehof Huckarder Straße 10 – 12, 44147 Dortmund

Treffpunkt alle zwei Monate

Social Startup Stammtisch Geschäftsideen für eine bessere Zukunft

Anmeldung: Per E-Mail an socialstartup@stadtdo.de wirtschtaftsfoerderung-dortmund.de/gruendung

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Eigentlich haben die zwei Autoren gar nichts gelernt. Trotzdem hat es der eine irgendwie geschafft, zwei Spiegel-Bestseller zu schreiben, und der andere wurde mit einem Grimme-Preis und dem Comedy-Preis ausgezeichnet. In ihrem neuen Podcast „Gefühlte Fakten“ sprechen Christian und Tarkan über alles, worüber sich Witze machen lässt. Und das ist bei den beiden tatsächlich alles. Von absurden Alltagssituationen über das aktuelle Weltgeschehen bis hin zum völlig berechtigten Ende der Menschheit – immer ohne fundiertes Hintergrundwissen, dafür mit klarer Meinung und massenhaft Pointen. Juicy Beats Park Sessions, Dortmund www.parksessions.net 9. Juni, 20 Uhr

FESTIVAL bobiennale (live) Ende Mai sollte der Startschuss für die dritte Auf lage der bobiennale fallen: Vom 27. Mai bis 6. Juni hätten dann zahlreiche KünstlerInnen der freien Kulturszene an den zehn Festivaltagen die ganze Stadt unter dem Motto „Auf die Plätze, fertig, los“ bespielt. Nun haben sich die OrganisatorInnen für eine Verschiebung der bobiennale 2021 auf Ende August (26.8. – 5.9.) entschieden. Im ursprünglichen Festivalzeitraum sind als „bobiennale to go“ einige künstlerische Appetithäppchen geplant, die dem Publikum – ganz im Sinne der Niederschwelligkeit des Festivals – quasi im Vorbeigehen einen Vorgeschmack auf die Vielfalt und Kreativität der Kunstszene Bochums geben werden. www.bobiennale.de bobienanale to go: 27. Mai bis 6. Juni

MUSIK FZW Indie Night: Bartleby Delicate (online) Durch die Ströme von Contemporary Folk und Loop-basierten elektronischen Klängen navigiert sich der Luxemburger Singer-Songwriter Georges Goerens aka Bartleby Delicate mit beeindruckender Leichtigkeit – und mit einem ganz eigenen Sound. Auf seiner ersten EP „Deadly Sadly Whatever“, die am 14. Mai erscheint, mischt er die polyphone Weite seiner Stimme mit subtilen Arpeggios, melancholischen Klavierakkorden, eigensinnigen Sounds und Field Recordings. Für den unwiderstehlichen Drive der fünf Songs sorgen die akustische Gitarre – und das allem unterliegende Pochen eines menschlichen Herzens. Das Konzert wird auf dem YouTube - Kanal des FZW live gestreamt. www.fzw.de 18. Mai, 20 Uhr

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MESCHUGGE werden, machen wir natürlich online weiter!

Das ganze Jahr 2021 erinnern wir außerdem mit spannenden Programminhalten an "1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland", das wird echt TOFTE!

Checkt daher – wie immer – unsere Social Media Kanäle für alle News und unser online Programm! Bis bald!

Wir hatten was mit Björn (online) Die Band „Wir hatten was mit Björn“ klingt betörend, nackt und rau, dann wieder zart und intim. Als ZuhörerIn fühlt man sich zwischen der Band sitzend, als seien die Klänge dicht am Ohr, fast im Kopf und dann im Herz. Es ist Popmusik mit komischen Instrumenten. Akustischer Klang von Kontrabass, Posaune und Taschenkoffer, dazu elektronische Sounds. Dazwischen schwebt der Gesang, direkt und pur. Diese Musik ist keine

facebook.com/DietrichKeuningHaus keuninghausofficial YouTube "Keuninghaus to Go" Unser Programmheft findet ihr auf unserer Internetseite www.dortmund.de/dkh

Dietrich-Keuning-Haus Leopoldstr. 50-58 | 44147 Dortmund Fon 0231 50-25145 | Fax 0231 50-26019 27


KULTURLANDSCHAFT

Reise zu fernen Orten, es ist ein tiefes Eintauchen in die eigene Intimität. www.ruhrfestspiele.de 20. Mai, 20 Uhr

Antilopen Gang (live) Jeder kennt diese Filmszene, in der irgendein Einsatzleiter hektisch „Abbruch Abbruch“ in sein Funkgerät ruft. „Abbruch Abbruch“ ist das Gegenteil von „Zugriff “, ist sofortiger Rückzug, Panikreaktion und somit die einzige vernünftige Antwort auf den Wahnsinn, der uns umgibt. „Abbruch Abbruch“ ist auch der vieldeutige Titel des dritten Albums der Antilopen Gang, mit dem Danger Dan, Koljah und Panik Panzer ein beeindruckendes Manifest der Rückkehr zur Realität im HipHop gelungen ist. Seit der Veröffentlichung ihres Debüts „Aversion“ im Jahr 2014 hat sich die Antilopen Gang Schritt für Schritt ein eigenes Freigehege erschaffen und sich dort jeden Wunsch erfüllt, der auf ihrer Bucketlist

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stand: Von der eigenen Kunst leben zu können, möglichst viele Konzerte auf riesigen Bühnen zu spielen, durch Shitstorms zu waten, Punk komplett neu zu erfinden und danach wieder zu beerdigen, sich ausgiebig zu streiten. Juicy Beats Park Sessions, Dortmund www.parksessions.net 10. Juni, 20 Uhr

LESUNGEN Hennes Bender (online) „Asterix auf Ruhrdeutsch 6 – Keine Kohle mehr im Pott“ Am 6. Mai findet um 18.30 Uhr die Comiclesung zu „Asterix auf Ruhrdeutsch 6“, übersetzt von Hennes Bender, im Rahmen der Spätschicht im Deutschen Bergbau-Museum Bochum statt. Hennes

Bender, bekennender Asterix-Fan und Ur-Bochumer, hat bereits mehrere Bände der Comicreihe ins Ruhrdeutsch übersetzt. Er nimmt uns mit auf eine lustige Reise, bei der der Wasserbahnhof von Mülheim schon mal an den Hafen von Marseille erinnert und die von Obelix verdroschenen Römer im Lazarett „Bergmannsheil“ landen. Comedian Hennes Bender setzt mit „Keine Kohle mehr im Pott“, seiner Version des legendären „Kupferkessel“-Abenteuers, die erfolgreiche Asterix-Ruhrdeutsch-Reihe fort und geizt auch diesmal wieder nicht mit Anspielungen auf das Leben im Ruhrgebiet und der typischen Ruhrpott-Schnauze. Die Veranstaltung findet online statt – eine Anmeldung ist erforderlich. www.bergbaumuseum.de 6. Mai, 18.30 Uhr

Paula Beer liest „Bilder aus der Emigration“ von Irmgard Keun (online)

Mit ihren ersten beiden Romanen war sie der einstige „Shootingstar der Literaturszene“: Irmgard Keun. Selbstbewusst, charmant, rasant und neu ist der Tonfall der Keun in „Gilgi – eine von uns“ oder in „Das kunstseidene Mädchen“. Anfang der 1930er Jahre wird Irmgard Keun als moderne und frische Schriftstellerin gefeiert. Selbst die New York Times berichtete begeistert. Ihre Werke galten als „Asphaltliteratur“. Programmatisch schreibt sie: „Aber ich will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein.“ Gerade zwei Jahre kann Irmgard Keun unbefangen und frei ihre Sicht auf die Welt formulieren, dann wird ihr Werk 28


von den Nazis geächtet. Sie geht ins belgische und holländische Exil. Aus ihrem dort entstandenen, bewegenden autobiografischen Text „Bilder aus der Emigration“ liest die vielfach ausgezeichnete Ausnahmeschauspielerin Paula Beer, die einem großen Publikum durch die Serie „Bad Banks“ bekannt geworden ist. www.ruhrfestspiele.de 16. Mai, 11 Uhr

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Jugendhilfe St. Elisabeth

Essen & Lernen St. Antonius

THEATER Nathan der Weise (online) Mit der Online-Version des Nathan übertragen Andreas Gruhn und sein Team die Geschichte um den reichen Kaufmann Nathan in die virtuelle Gegenwart und bedienen sich heutiger Kommunikationsräume von Social-Media-Plattformen und Formaten wie Streaming oder Vlogging. In ihrem Internet-Vlog erzählt Nathans Tochter Recha ihre Geschichte. Ein junger Mann hat sie aus ihrem brennenden Haus gerettet, doch er ist verschwunden. Mit Hilfe von Google und Facebook will Recha ihn wiederfinden und vor allem herausfinden, woran sie glauben soll. www.theaterdo.de 21. Mai, 18 Uhr (auch 22. Mai, 20 Uhr und 23. Mai, 18 Uhr)

The most unsatisfied Town (online)

Am 27. Mai feiert die im Bahnhof Langendreer ansässige Theatergruppe nonegatif Premiere – diesmal mit Amy Evans Stück „The most unsatisfied Town“. Seit Herbst 2020 haben die Teilnehmenden zusammen mit Danny Friedrich, Leiter des Projekts act NOW! im Bahnhof Langendreer geprobt – erst mit Abstand, dann online, um nun, Ende Mai, endlich Premiere feiern zu können – in einem spannenden Streaming-Format. Das Stück, das sie zeigen, nimmt den gewaltsamen Tod Oury Jallohs zum Anlass, nicht nur, um von Rassismus und Polizeigewalt zu erzählen, sondern vor allem auch von Identität, Community und Sichtbarkeit. Die Frage, die das Stück

auf sehr eindrückliche Weise aufwirft: „Wie klein und unsichtbar müssen sich Schwarze Menschen und People of Color in Deutschland eigentlich machen, um den alltäglichen Anfeindungen und der letztlich lebensgefährlichen Gewalt nicht mehr ausgeliefert zu sein?“ Das Stück enttarnt die Frage als Trugschluss und zwingt uns zu einem radikalen Perspektivwechsel, in dem nicht nur der anhaltende Rassismus in unseren staatlichen Institutionen, sondern auch in uns selbst auf den Prüfstand gestellt wird. www.bahnhof-langendreer.de Streaming-Premiere: 27. Mai, 19.30 Uhr (auch 29. Mai, 18 Uhr)

Deutsch, Mathe, Bio oder Geschichte … Helfen Sie Kindern in unserer Hausaufgabenbetreuung!

VORTRAG Rechte Strukturen in Deutschland (online) Die rechte Szene radikalisiert und diversifiziert sich. Neue Parteien und Verbote verändern die rechten Strukturen. Welche Verquickungen gibt es in der Szene? Wo finden wir alte Strukturen in neuen Gewändern? Wie hängt das „lose rechte Netzwerk“ zusammen? Wo verlaufen die Trennlinien, wo die Gemeinsamkeiten und wie sieht die aktuelle Lage aus? Wer sind die Köpfe der Szene, und wen sollte man im Blick haben? Dr. Marc Haarfeldt gibt einen Überblick über die aktuelle „rechte Szene“. Die Veranstaltung findet online statt – eine Anmeldung ist erforderlich. www.bahnhof-langendreer.de 6. Mai, 19 Uhr

Nehmen Sie Kontakt auf

Martina Buchbinder Projektleiterin

Tel.: (0160) 74 42 333 E-Mail: Martina.Buchbinder@ jugendhilfe-elisabeth.de

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KULTUR

Kunst und Klima Vom 8. Mai bis zum 27. Juni 2021 wird das nördliche Ruhrgebiet zum Austragungsort für das „Ruhr Ding: Klima“. In Gelsenkirchen, Herne, Recklinghausen und in Haltern am See gruppieren sich 22 Kunstprojekte zu einer städteübergreifenden Ausstellung. Von Bastian Pütter | Foto: Urbane Künste Ruhr

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s ist der zweite Anlauf für das zweite „Ruhr Ding“. 2019, im Brexit-Jahr, erforschte Britta Peters, die künstlerische Leiterin der Urbanen Künste Ruhr, mit dem „Ruhr Ding: Territorien“ in Dortmund, Bochum, Essen und Oberhausen den Zusammenhang zwischen Identitäten und Grenzen. Im vergangenen Jahr sollte es dann ums Klima gehen, die Pandemie machte einen Strich durch die Rechnung. Nun also der zweite Versuch. Das für 2020 entwickelte Konzept wurde erweitert und aktualisiert, unter anderem durch Arbeiten, die sich direkt auf die Pandemie beziehen. So etwa Natalie Bookchins Videoarbeit „Geisterspiele“, die im obersten Stock eines Herner Hochhauses zu sehen sein wird, oder die tägliche Performance „Love is a warm Gun“ der Tanzkompanie La Fleur in einer Recklinghäuser Tennishalle (oder pandemiebedingt davor). Gemeinsam ist allen 22 internationalen Arbeiten, dass sie speziell für die Region und die Situation vor Ort entwickelt wurden. Darüber hinaus verankern zahlreiche Kooperationen mit lokalen Akteuren die Ausstellung in der Region. Die inhaltliche Klammer besteht in der „Auseinandersetzung mit der von Menschen verursachten globalen Erwärmung und der gesellschaftlichen Lage, die diese Situation begleitet – als Ursache, Folge oder Reaktion“.

Dabei ist der interdisziplinäre Zugang vieler KünstlerInnen und die Bandbreite der künstlerischen Ausdrucksformen auffallend: von Ana Alensos großer Installation „Die Mine gibt, die Mine nimmt“ im Alten Wartesaal des Herner Bahnhofs über das partizipative Projekt „800.000 Jahre Photosynthese“ der Gruppe Club Real bis zu Sound- und Videoinstallationen wie der Arbeit „Forecast“ des Komponisten, Künstlers und Dirigenten Ari Benjamin Meyers in der Gelsenkirchener Innenstadt. Meyers reflektiert anhand von Wettervorhersagen über den Klimawandel und das Bedürfnis nach Planbarkeit und Kontrolle. Zu wünschen ist den Urbanen Künsten, dass die Arbeiten in Innenräumen dem Publikum zugänglich sein werden. Besonders mag das für die Waschkaue der ehemaligen Zeche General Blumenthal gelten, die Monira Al Qadiri, Johannes

Büttner und Kasia Fudakowski mit Skulpturen, Videoarbeiten, Figuren und Flugobjekten bespielen. Während das urbane, am längsten vom Bergbau geformte nördliche Ruhrgebiet den Resonanzraum für die Beschäftigung mit den Themen Klima, Ressourcen und Umwelt liefert, bietet der Ausstellungsteil am Silbersee II in Haltern einen ganz physischen Zugang zur – geformten – Natur. Gastkurator Vlado Velkov zeigt Arbeiten von sieben KünstlerInnen und KünstlerInnen-Duos in Haltern. Michel de Broin oder Mariechen Danz und Kerstin Brätsch experimentieren und arbeiten hier etwa mit der inzwischen weltweit knappen Ressource Sand – der Silbersee selbst ist eine geflutete Quarzsandgrube. Raul Walch bringt die Kunst mit einer multifunktionalen Plattform für Schwimmer und Malerei auf Segeln gleich aufs Wasser.

Das „Ruhr Ding: Klima“ ist mittwochs bis sonntags von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Die Urbanen Künste Ruhr bieten ein umfangreiches Vermittlungsprogramm mit kostenlosen „Irrlichter-Touren“ an. Auch geführte Rad- oder Tagestouren sind im Angebot. Mehr Informationen unter besucherservice@urbanekuensteruhr.de oder unter 0234 – 974 835 09.

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REPORTAGE

Schlichte Schönheit mit Geschichte Um Geschichte lebendig zu halten, braucht es Geschichten. Viel zu erzählen hat die Alte Kirche in Dortmund-Wellinghofen. Dabei wird der einfache, helle und klar gestaltete Kirchenraum wohl jeden Besucher zunächst in Gefilde führen, die fernab jeden Weltgeschehens liegen. Hier findet, wer ihn sucht, einen Ort der Ruhe und Entschleunigung. Gleichwohl ist zwischen den äußerst massiven Wänden nicht zuletzt auch handfeste Historie zu Hause. Von Wolfgang Kienast | Fotos: Daniel Sadrowski

Luftlinie etwa sechs Kilometer südlich der Dortmunder Innenstadt liegt Wellinghofen. Die aktuell um die siebentausend Einwohner zählende Ortschaft gehört zum Kreis der ältesten Siedlungen im heutigen Stadtgebiet. Eine frühe Bedeutung erlangte Wellinghofen aufgrund der strategisch günstigen Lage zwischen den mittelalterlichen Reichshöfen Dortmund und Westhofen. Zudem hatten die einst zahlreichen Wallfahrer auf ihrem Fußmarsch von Dortmund zur geschätzten Pilgerstätte St. Peter zu Syburg hier die Hälfte des Wegs zurückgelegt – der ideale Platz für eine Rast. „Seinerzeit war das ein kultureller Knotenpunkt“, weiß Wolfgang Buchholz, seit 1985 Pfarrer der ansässigen evangelischen Gemeinde und bewandert in Fragen zur Geschichte von Ort und Kirche. „Auch ohne die Sage von der Kirchengründung, die unter anderem auf das Herzogtum Limburg im heutigen Belgien verweist, lassen sich namhafte Verbindungen eindeutig belegen.“ Noch immer kann am Verhältnis zu prominenten Adelshäusern der einstige Rang Wellinghofens abgelesen werden, beispielsweise wird das Patronatsrecht an der Pfarrstelle wechselweise von den Fürsten zu Bentheim-Tecklenburg sowie den Freiherrn von Romberg wahrgenommen. An letztere erinnern obendrein die Epitaphe im Eingangsbereich der Kirche. „Diese Grabsteine stammen aus dem 17. und 18. Jahrhundert“, erklärt Herr Buchholz. „Die Rombergs haben hier ihre Toten bestattet und es war ihre Kirche für Hochzeiten und Kindstaufen. Die Ortschaft war Zentrum, lange vor Hörde. Als Tochtergemeinde wurde Hörde im Zuge der Industrialisierung unabhängig von Wellinghofen. Und was die Rombergs betrifft: Erst im 19. Jahrhundert hat die Familie eine eigene Kapelle mit Friedhof in der Nähe von Brünninghausen in Auftrag gegeben. Deren Fundamente wurden kürzlich beim WILOFirmensitz auf Phoenix-West ausgegraben.“

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„Es sind einfache Ornamentbänder und geometrische Muster. Außerdem sehen wir Sterne und die ‚Lilien auf dem Felde‘ nach Matthäus 6.“

Ein Straßenname belegt eine Beziehung zur ehemaligen Grafschaft Limburg mit Schloss Hohenlimburg. Der ‚Limburger Postweg‘, eine der ältesten urkundlich belegten Verkehrsverbindungen der Region, führt von Südosten auf den Chor der Wellinghofener Kirche zu. Nicht geklärt ist jedoch, wer an dieser Stelle überhaupt die erste Kirche errichtet hat. Vermutet wird, dass ein heute nicht mehr bekannter Grundbesitzer für sich und seine Leute eine private Kirche bauen ließ. Entsprechende Fundamentreste wurden 1977 entdeckt, als man im Kirchenschiff Rohre für eine Fußbodenheizung verlegte. Die Mauertechnik verweist auf eine spätkarolingische Bauzeit in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts. „Es dürfte sich um einen Holzsaalbau gehandelt haben“, sagt Wolfgang Buchholz. „Vielleicht war das Holz verrottet und es gab keine steinernen Mauern, die man in den Neubau hätte integrieren können.“

„Reich an Historie, aber kein Museum“ Der Neubau erfolgte im 12. Jahrhundert. Dessen Langhaus stimmt mit dem heutigen Mittelschiff überein. Erhalten geblieben sind auch ornamentale Ausmalungen in den Gewölben. 1978 kamen sie bei Renovierungsarbeiten zum Vorschein. „Es sind einfache Ornamentbänder und geometrische Muster. Außerdem sehen wir Sterne und die ‚Lilien auf dem Felde‘ nach Matthäus 6. Man nimmt an, dass die Arbeiten von Handwerksgesellen ausgeführt worden sind. Diese Leute zogen von Projekt zu Projekt und malten Kirchen aus.“ 33


REPORTAGE

Die alten Motive korrespondieren mit den modernen Glasfenstern, die von Wilhelm Buschulte entworfen wurden. Arbeiten des renommierten Künstlers findet man auch in der Frankfurter Paulskirche oder in St. Gereon zu Köln. Das klare Licht der abstrakt gestalteten Scheiben unterstreicht die Atmosphäre im Raum. „Das ist hier ganz einfach schön“, sagt der Pfarrer. „Ich merke es immer wieder, wenn ich Gästen zum ersten Mal die Türen öffne. Man muss nicht viel sagen, man muss überhaupt keine eigene Energie hineintragen. Es genügt, dass der Raum allein seine Wirkung entfaltet.“ Bei Neuanschaffungen für das Gotteshaus, im Austausch mit beteiligten Künstlern, wird stets der Arbeitskreis ‚Offene Alte Kirche‘ zu Rate gezogen. Jürgen Spiker ist ein engagiertes Mitglied der Gruppe. Gern erinnert er sich an das Glockenprojekt. „Wir haben hier eine kleine Glocke aus dem 13. Jahrhundert. Sie gehört zu den ältesten in ganz Westfalen. Und wir haben eine große Glocke von 1665. Leider passen sie klanglich nicht zusammen. Und eigentlich gab es immer vier Glocken. Die fehlenden wurden im Krieg eingeschmolzen. Die Idee war, die kleine Glocke mit zwei neuen zu flankieren, um sie wieder zum Klingen zu bringen. Der Auftrag ging an eine Gießerei in Karlsruhe. Ich war derjenige, der das neue Ensemble zum ersten Mal läuten durfte. Händisch. Das war Ostern 2006. Ich stand hier oben im Glockenstuhl, während unten die Messe gefeiert wurde. Mir wurde eine Leitung für einen Kopfhörer gelegt, damit ich mitbekomme, wann genau ich in Aktion zu treten hatte.“ Als Mitwirkender in der Wellinghofener Kantorei hat Herr Spiker ein gutes Ohr. Der Sänger ist angetan. „Die Glocken bilden einen wirklich schönen Dreiklang“, sagt er. „Ein wenig dissonant, sonst wäre das zu langweilig. Bei reinem C-Dur würde ja jeder denken, wann das Ding endlich aufhört. Wenn Sie etwas von Musik verstehen, wissen Sie das. Es muss sich reiben.“ „Vor dem Projekt stand die alte Glocke jahrelang als Schaustück unten in der Kirche“, ergänzt Pfarrer Buchholz. „Die Kirche ist reich an Historie, soll aber kein Museum sein.“

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„Das ist hier ganz einfach schön“, sagt der Pfarrer. „Ich merke es immer wieder, wenn ich Gästen zum ersten Mal die Türen öffne. Man muss nicht viel sagen...“

„Geheimnisse, die unsere Nachfolger lüften“ Im 13. Jahrhundert, ins Zeitalter der alten Glocke, lässt sich auch die eingangs erwähnte Sage der Kirchengründung verorten. Die Überlieferung erzählt von einem spektakulären Mordfall, der seinerzeit das Machtgefüge an Rhein und Ruhr nachhaltig verändern sollte. Belegt ist, dass am 7. November 1225 Graf Friedrich von Isenberg seinen Onkel zweiten Grades, den Erzbischof Engelbert von Köln, in einem Hohlweg bei Gevelsberg überfiel. Der Erzbischof kam zu Tode. Der Graf wurde im Folgejahr gefangen genommen und hingerichtet, seine Burg an der Ruhr geschleift. Der Sage nach musste die Gräfin, eine Sophia von Limburg, Schutz bei nahen Verwandten suchen. Auf der Flucht wurde die Witwe von ihrem kleinen Sohn begleitet, dem späteren Graf Dietrich von Altena-Isenberg. Mutter und Kind verliefen sich im Wald bei Wellinghofen, wo sie das Glöckchen eines Einsiedlers hörten. Als sie in dessen Klause traten, erkannte der Einsiedler in der Gräfin seine große Jugendliebe. Vergebens hatte er, in jungen Jahren noch ein Ritter, um sie geworben, Liebeskummer ließ den Verschmähten zum Klausner werden. Nun aber, wo er die Not seiner ehemaligen Herzensdame sah, holte er die Ritterrüstung hervor, die er lange Zeit nicht mehr getragen hatte. Mutter und Kind wurden gerettet. Aus Dankbarkeit errichtete Dietrich später am Ort der Einsiedelei eine Kirche. Mit dem Mord am Erzbischof hat diese Sage ihren wahren Kern. Auch kann sie den Namen ‚Limburg‘ in der Region erklären: Graf Dietrich von AltenaIsenberg übernahm ihn, um an die Herkunft seiner Mutter zu erinnern. Bloß mit der Errichtung der Wellinghofener Kirche hat all das wohl nichts zu tun. Nach dem verbrieften Neubau im 12. Jahrhundert erfolgte zwar eine Erweiterung im 14. Jahrhundert, für das Dazwischen aber ist keine Bautätigkeit nachzuweisen. Doch gäbe es weitere Geschichten zu erzählen. Große wie die über den berühmt-berüchtigten Kirchenstreit, der die Gemeinde für Jahrhunderte spalten sollte, kleine wie die von der Odyssee eines verspotteten Taufsteins. Und vielleicht bergen die Fundamente ja weitere Geheimnisse. „Wenn das so sein sollte“, meint Jürgen Spiker, „dann sind es Geheimnisse, die irgendwann unsere Nachfolger lüften werden.“

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REPORTAGE

In der Brettspielwelt Die Spielebranche verzeichnet in Corona-Zeiten einen Boom. An der Basis der Fans, kleinen Läden und Entwickler geht der jedoch eher vorbei. Die Community lebt eigentlich vom direkten Miteinander. Ein Treffen mit dem Spieleentwickler Thomas Spitzer in Andreas van Vügts Laden „Kult-Spiele“ in Dortmund. Von Kathrin Ostroga | Fotos: Daniel Sadrowksi

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in Alienkopf lugt durch die Eingangstür, er hängt neben einigen anderen Fantasyfiguren an der Wand. Ein kleiner Tisch mit dem Hinweis zur Anmeldung zum „Click and Meet“ versperrt den Eingang. An den Wänden stapeln sich bekannte Brettspiele und limitierte, seltene Editionen. Ein bisschen versteckt liegt der Gamerladen „KultSpiele“ im Westfalenforum an der Dortmunder Kampstraße. Eine Institution seit 15 Jahren. Die auch leidet unter der Pandemie, sagt Andreas van Vügt, der den Laden betreibt. Aber erleben Gesellschaftsspiele nicht einen Corona-Boom? „Doch, diesen Brettspieleboom, den gibt es schon“, bestätigt Andreas. „Die großen Gewinner sind allerdings Verlage und Onlineshops, wir merken davon bisher wenig.“ Im Gegenteil ist für Läden wie „Kult-Spiele“ etwas Wichtiges weggebrochen. Die Kontaktbeschränkungen treffen auch hier eine Szene, die vom gemeinsamen Erleben, vom Miteinander auch beim Entwickeln und Testen neuer Spielkonzepte lebt. „Neben dem wirtschaftlichen Aspekt fehlt mir einfach dieser persönliche Austausch“, sagt Andreas van Vügt. Ganz bewusst verzichtet „Kult-Spiele“ auf einen Onlineshop und setzt von jeher auf die Beratung und das Probespielen. „Jetzt im Lockdown greifen viele aus unserer Community auf Spiele mit wenigen Teilnehmern zurück, wo wenig Gruppendynamik gefragt ist. Aber genau diese Dynamik fehlt mir, genauso wie der Kontakt im Laden.“

Eine Geschichte stricken Einer, der regelmäßig den Weg dorthin findet, ist Thomas Spitzer. Für ihn ist der Kontakt zur Community aus einem ganz anderen Grund wichtig: Thomas Spitzer entwickelt selbst Spiele. Sein erstes selbst konzipiertes Brettspiel hat es als „The Ruhr“ bis nach Amerika geschafft. Er selbst ist im Ruhrgebiet geblieben. Der gebürtige Hattinger arbeitet beruflich in 24-StundenSchichten bei der Caritas. Seine freie Zeit nutzt er, um Brettspiele zu entwerfen. Die heißen „Ruhrschifffahrt“, „Der Haspelknecht“ oder „Schichtwechsel 1950“ und beschäftigen sich mit der Geschichte der Region. Das unterscheidet sie von den meisten Spielen, die man bei Andreas findet. „Hier geht es in der Regel fantastisch zu“, lacht dieser beim Blick durch den Laden. Wobei sich an historischen Epochen oder Ereignissen orientierende Strategiespiele auch keine Seltenheit seien. Aber wie kommt man als Spielefan darauf, sich in aufwendigen Strategiespielen mit der Geschichte des Ruhrgebiets auseinanderzusetzen? „Ich habe schon immer gerne gespielt“, holt Thomas Spitzer aus. „In der Bochumer Hustadt bin ich aufgewachsen, damals wohnten da viele Kinder. Es gab eine große kreative Energie und einen großen Spieltrieb. Wir haben oft zusammen Rollenspiele gespielt, irgendwann habe ich angefangen aus Spaß eigene Ideen zu entwerfen.“

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REPORTAGE

Zu seinem ersten Brettspiel inspirierte ihn dann ein späterer Wohnort. „Ich wohnte einige Zeit in BochumDahlhausen an der Ruhr. Da habe ich mich sehr für die Geschichte des alten Treidelpfads interessiert.“ Wo heute Radwege direkt am Ufer entlangführen, zogen früher Pferde Frachtschiffe die Ruhr flussaufwärts. „Irgendwann wusste ich, daraus lässt sich wunderbar eine Geschichte stricken, die Geschichte für mein erstes Spiel.“ Thomas recherchiert die Geschichte der Ruhrschifffahrt, entwirft Spielregeln. „Das geht heute alles einfach am Computer. Am Anfang habe ich auch vieles erstmal mit dem Stift aufs Papier gemalt. Heute gestalte ich das Spiel digital und kann einen ersten Prototypen dann ausdrucken. Das finale Spielbrett gestaltet dann ein Grafiker.“ Für Thomas damals alles Neuland. Rückenwind gibt ein Bochumer Autorenwettbewerb: Hier gewinnt er einen Preis und erhält Unterstützung, ausgerechnet von einem alten Bergmann, der an dem Wettbewerb beteiligt war. „Das hat mir wahnsinnig geholfen, ich hatte ja erstmal nur die Idee dabei. Doch es braucht ja viel mehr zur Umsetzung. Zum Beispiel einen Verlag, der das Spiel dann produziert.“

Die Spiele-Community Außerdem sei der Einstieg in die Community immens wichtig. Auch in der Entwicklung sind Brettspiele Gemeinschaftsprodukte: Es braucht nämlich Freiwillige, die Prototypen probespielen, die Fehler finden, Anregungen liefern und Verbesserungsvorschläge machen. Trotz aller Tests, vor der Präsentation auf der „Spiel“, immerhin der weltgrößten Publikumsmesse für nicht-elektronische Spiele in Essen, ist Thomas Spitzer nervös: „Ich habe nächtelang nicht geschlafen, als ich das Spiel zum ersten Mal offiziell vorgestellt habe. Ich dachte, die nehmen mir das Spiel auseinander und finden Logikfehler.“ Es läuft alles gut in Essen. Die 500er-Startauflage ist im Nu vergriffen, auch Medienvertreter interessieren sich für eins der ersten Ruhrgebietsspiele. Thomas zeigt uns stolz das Spielbrett, einmal die selbst gezeichnete Variante und dann die gedruckte, fertige Version. „Das sind die echten Windungen der Ruhr, wie sie früher waren. Für die Spieler, deren Opa noch auf der Zeche gearbeitet hat, ist es enorm wichtig, dass wir uns da nichts ausdenken, sondern alles der Realität entspricht.“ Das besondere Spiel aus dem Ruhrgebiet schlug Wellen bis in die USA. Ein Verlag entschied sich, es in einer zweiten Auflage in Amerika erscheinen zu lassen. Unter dem Namen „The Ruhr“ werden 2.000 Spiele verkauft. Um davon zu leben, trotzdem zu wenig. Darum bleibt das Entwickeln von Spielen für ihn ein Hobby, „Ich verdiene pro Spiel zwei Euro. Das ist einfach zu wenig, um das hauptberuflich zu machen. Außerdem sind meine Spiele nicht für die breite Masse geeignet, sie sind schon recht kompliziert und orientieren sich stark an der Geschichte. Das muss man mögen.“ Dieser Nische bleibt Thomas treu: „Wir haben uns für eine Trilogie entschieden. Aktuell arbeite ich an meinem dritten Spiel, über die Brauereigeschichte in Dortmund. Das ist schon cool. Doch man braucht, neben einer kreativen Ader, auch Durchhaltevermögen“, lacht er. „Beim ersten Mal ist alles noch spannend, danach weiß man, wie viel Arbeit das ist, und man muss sich ermahnen, dranzubleiben.“ Dafür wird auch mal eine Nachtschicht eingelegt. Das kennt Thomas aus seinem richtigen Job. Doch es ist die Begeisterung, die ihn wachhält. „Irgendwann habe ich gemerkt: Mir hat das Spielen gefehlt“, sagt er. Und wahrscheinlich denkt er in diesem Moment an die Rollenspiele mit den anderen Kindern in der Hustadt. Es ist die gleiche Begeisterung, die auch Andreas van Vügt in seinem Laden unter Alien- und Drachenköpfen und in Stapeln von Spielen teilt, und mit den beiden eine große und weitverzweigte Community.

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BÜCHER

Gelesen von Bastian Pütter

Wie geht es Marc? Katja Hübner ist Grafikerin und leitet eine Agentur in Hamburg. In der Nähe ihrer Wohnung trifft sie Marc, der auf einer Parkbank lebt. Sie weiß nicht viel über Obdachlosigkeit und nichts über Psychosen. Aber sie will helfen. Sie bringt Marc Essen und versucht vergeblich, ihn zum Verlassen seiner Bank zu bewegen. Sie ist irritiert von der vermeintlichen Gelassenheit der Hilfsorganisationen, liest und lernt über das Hilfesystem und über psychische Erkrankungen. Als vor dem G20-Gipfel das Ordnungsamt beginnt, jeden Morgen Marcs Hab und Gut zu entsorgen, kümmert sie sich täglich um einen neuen Schlafsack. Sie schreibt ForscherInnen an, spürt gar Marcs Familie auf. Und als es auf den Winter zugeht, sorgt sie mit großem Einsatz für eine Einweisung in die Psychiatrie, die Marc das Leben rettet. Katja Hübner hält den Kontakt, begleitet Marc bei seinem Neuanfang: Passfotos, ein neuer Ausweis, ein Konto, Grundsicherung, ein Portemonnaie. Heute lebt Marc in einer Wohngruppe, Katja und er sind Freunde und besuchen sich regelmäßig. Schonungslos ehrlich hat Katja Hübner diese gemeinsame Reise, auf der sie Marcs und ihre eigenen Grenzen überschritten hat, aufgeschrieben, und man beim Lesen mehr über Obdachlosigkeit und psychische Erkrankungen erfährt als aus manchem Fachbuch. Katja Hübner Okay, danke, ciao! Eine Geschichte über Freundschaft und Obdachlosigkeit ISBN: 978-3-453-27292-7 Heyne | 192 Seiten | 16 Euro

Wer quer denkt Wo unten, wo oben Es ist interessant, wie staubig und irgendwie ideologisch verkniffen die Kategorie „Klasse“ neben denen von „Race“ und „Gender“ wirkt – und wie unterrepräsentiert sie gleichzeitig in den Diskussionen um Teilhabe ist. Maria Barankow, Lektorin und Programmleiterin bei Ullstein und Christian Baron, Journalist und Autor („Ein Mann seiner Klasse“, bodo 04.20), haben in ihrem Sammelband „Kampf und Klasse“ literarische und sehr persönliche Perspektiven großartiger SchriftstellerInnen auf die feinen Unterschiede und die massiven Barrieren zwischen oben und unten versammelt. Beklemmend wütende Texte von Anke Stelling und Lucy Fricke sind dabei, Maloche-Miniaturen von Arno Frank, Parteinahmen und Liebeserklärungen von Pınar Karabulut, Clemens Meyer oder Katja Oskamp, präzise Erinnertes von Olivia Wenzel und Bov Berg. Und weil das Lösen des Herrschaftsknotens (Frigga Haug) nicht funktioniert, wenn nur an einem Strang gezogen wird, sind auch komplementäre Perspektiven etwa der Autorin Kübra Gümüşay, der Geschlechterforscher*in Francis Seeck oder der Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo Teil dieser „Einladung zur Empathie“. Maria Barankow, Christian Baron Kampf und Klasse ISBN: 978-3-546-10025-0 Claassen | 224 S. | 20 Euro

„EsoterikerInnen in Pluderhosen, die teils auf mitgebrachten Yogamatten meditieren, Impfgegner, Neonazis, die halb ironisch Grundgesetze verteilen, ,Reichsbürger‘, rechte Hools, Verschwörungsfans mit eigener Symbolik“. Vor knapp einem Jahr schrieben wir in bodo über die Anfänge der Corona-Proteste in Dortmund. Im vergangenen Jahr hat diese irritierend heterogene, und dabei oft als bürgerlich wahrgenommene Protestbewegung bundesweit Großdemonstrationen durchgeführt, Bündnisse geschlossen und sich weiter formiert. Die JournalistInnen Heike Kleffner und Matthias Meisner sind ausgewiesene ExpertInnen für die extreme Rechte in Deutschland. Gemeinsam haben sie bereits die Bände „Unter Sachsen“ (bodo 06.17) sowie „Extreme Sicherheit“ über Rechtsradikale in Sicherheitsbehörden herausgegeben. Ihr soeben veröffentlichter Sammelband über die bundesweiten Corona-Proteste versammelt rund 40 Texte einer beeindruckenden Reihe von erfahrenen FachjournalistInnen. Sie beleuchten die wichtigen Aspekte, Konzepte, AkteurInnen und Angegriffenen einer Bewegung, die sich vor allem durch eins auszeichnet: den fehlenden Mindestabstand zu Antidemokraten, Antisemiten und Neonazis. Heike Kleffner, Matthias Meisner Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde ISBN: 978-3-451-39037-1 Herder | 272 S. | 22 Euro

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Interview der Straßenzeitungen zur Bundestagswahl 2021

„Herr Scholz, was bringt das Recht auf Arbeit?“ Herr Scholz, dieses Interview führe ich für 20 Magazine, die in 20 deutschen Städten von Menschen verkauft werden, die obdachlos waren oder sind. Hand aufs Herz: Wann haben Sie zuletzt eine Straßenzeitung gekauft? Oh, das ist einige Zeit her! Das ergibt sich meistens, wenn ich in einem Restaurant sitze und eine Verkäuferin oder ein Verkäufer an meinen Tisch kommt. Seit Corona geht beides nicht. Früher wählte vor allem der „kleine Mann“ Ihre Partei; heute ist der Anteil der WählerInnen aus einkommensarmen Schichten vergleichsweise gering. Fehlt es der SPD an Bodenhaftung? Nein, im Gegenteil. Wie oft habe ich an InfoStänden die Klage gehört: „Um einen wie mich geht's ja nicht.“ Doch! Wir machen Politik für dich! Das ist der Grund, warum ich überhaupt in der Politik bin. Die Corona-Krise ist da auch eine Chance: Denn der Beifall für die Corona-HeldInnen darf nicht einfach nur verhallen, die Anerkennung muss sich auch im Portemonnaie niederschlagen.

„Wenn ich Kanzler werde, wird als eine der ersten Entscheidungen der Mindestlohn auf mindestens 12 Euro angehoben.“ Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der diejenigen, die in einem schicken Viertel ihren Café Latte trinken, sich mit denen politisch verbinden, die ihnen den Kaffee an den Tisch bringen. Die TheaterRegisseurin ist genauso Teil der Gesellschaft wie der Altenpfleger oder die Ingenieurin. Wenn ich Kanzler werde, wird als eine der ersten Entscheidungen der Mindestlohn auf mindestens 12 Euro angehoben. Wir stehen für bessere Löhne und sichere Arbeitsplätze: in der Pf lege, an den Discounterkassen, in den Logistikzentren.

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678.000 Menschen haben laut der letzten Schätzung hierzulande keine eigene Bleibe – doch Ihr Wahlprogramm erwähnt wohnungslose Menschen nirgends. Sind das keine Wähler für die SPD? Natürlich taucht das Thema Wohnungsnot in unserem Programm auf. Wir setzen uns massiv dafür ein, dass in Deutschland mehr Wohnungen gebaut werden, bezahlbare Wohnungen. Bevor ich in Hamburg Bürgermeister wurde, habe ich verlangt, dass wir viel mehr Wohnungen bauen müssen, weil viele unter den steigenden Mieten sehr leiden.

„Wir setzen uns massiv dafür ein, dass in Deutschland mehr Wohnungen gebaut werden, bezahlbare Wohnungen.“ Wir haben den Wohnungsbau in Hamburg richtig angekurbelt, mit 10.000 Baugenehmigungen pro Jahr – ein Drittel Eigentums-, ein Drittel Miet- und ein Drittel Sozialwohnungen. Als Bundesfinanzminister habe ich mit durchgesetzt, dass eigens das Grundgesetz geändert wird, damit der Bund den sozialen Wohnungsbau weiterhin unterstützen kann. Mein Ziel: 100.000 neue Sozialwohnungen in Deutschland pro Jahr. Wohnen ist die soziale Frage unserer Zeit. Und was ist mit den Menschen ohne deutschen Pass? Die heutigen Obdachlosen sind mehrheitlich nichtdeutsch, sondern etwa aus Polen, Rumänien, Bulgarien. Im Sommer malochen viele auf Baustellen oder in der Landwirtschaft, im Winter fängt unser soziales Netz sie oft nicht auf. Wie will die SPD das ändern? Unser Ansatzpunkt: Der Kampf gegen die Ausbeutung von Arbeitskräften und illegale Beschäftigungsverhältnisse. Die Zustände in der Fleischindustrie oder auf dem Bau sind schlimm – deshalb haben wir reagiert. Der Zoll hat neue Kontrollkompetenzen erhalten und mehr Personal, um die Branchen strikter zu überprüfen. Mich empört es, wie viele lange Zeit hingenommen haben, dass so etwas mitten in Deutschland geschieht – Knebelverträge, die den Beschäftigten fundamentale Rechte vorenthalten und sie unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht haben. Es muss darum gehen, jenen das Handwerk zu legen, die an solcher Ausbeutung verdienen.


Erster Teil: Robert Habeck

Im nächsten Heft: Christian Lindner

Vor der Bundestagswahl am 26. September haben die deutschen Straßenzeitungen Fragen. Mit Partei- und Fraktionsspitzen demokratischer Parteien im Bundestag führen sie deshalb Interviews zu Sozialpolitik, Wohnungspolitik und Armutsbekämpfung. In diesem Monat stellt sich der amtierende Vizekanzler, Finanzminister und SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz den

„Mich empört es, wie viele lange Zeit hingenommen haben, dass so etwas mitten in Deutschland geschieht – Knebelverträge, die den Beschäftigten fundamentale Rechte vorenthalten und sie unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht haben.“

Fragen zur Ausbeutung von ArbeitsmigrantInnen, zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit, zu Bürgergeld und Recht auf Arbeit. Von Annette Bruhns | Foto: Lutz Jäkel / Laif

Berlin hat begonnen, Obdachlosen Wohnungen ohne Vorbedingungen anzubieten, Stichwort „Housing first“. Hamburg tut das nicht. Was halten Sie von dem Modell? Erst mal ist es wichtig, dass die Kommunen für alle, die auf der Straße leben, gut erreichbare und niederschwellige Angebote vorhalten. Jetzt in der CoronaKrise bleiben vielerorts die Unterkünfte über die kalte Winterzeit hinaus offen bis in den Frühling ... ... also sind Sie nicht für „Housing First“? Finnland feiert damit bereits Erfolge. Diese Fragen liegen in der Entscheidungskompetenz der Städte und Gemeinden – und dort gehören sie auch hin. Da gibt es viele gute Ansätze. Zwei Herausforderungen sollten wir aber unterscheiden: Zum einen die wachsende Migration innerhalb der EU, die die Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt steigen lässt. Und zum zweiten diejenigen, die seit Jahren auf der Straße leben. Was aus der Perspektive der jeweils Betroffenen der richtige Weg ist, kann nur vor Ort sachgerecht entschieden werden. Die SPD will Hartz-IV in ein „Bürgergeld“ verwandeln. Sozial fänden die Sozialverbände, wenn der Regelsatz auf 600 Euro ansteigen würden. Gehen Sie da mit? Die Corona-Krise hat eins gelehrt: Plötzlich sind BürgerInnen in eine unverantwortete finanzielle Krise geraten, die zuvor nie damit gerechnet hätten. Das hat uns allen gezeigt, wie wichtig es ist, dass der Staat helfend zur Seite steht und nicht noch Steine in den Weg legt. Darin liegt eine große Chance für unser Bürgergeld: Fördern, fördern, fördern – ohne mit nickeligen Sanktionen auszubremsen. Wenn etwa ein Selbstständiger Grundsicherung in Anspruch nimmt, muss er sich deshalb nicht einen neuen Job suchen, sondern kann sein Geschäft wieder auf den richtigen Weg bringen.

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Interview der Straßenzeitungen zur Bundestagswahl 2021

Er muss auch nicht aus seiner Wohnung und darf seine Rücklagen behalten. Der US-Philosoph John Rawls hat mal treffend gesagt: Wenn eine Gesellschaft neu konstruiert wird – und das wollen wir mit dem Bürgergeld –, möge man bedenken, dass man nicht weiß, ob man künftig arm oder reich sein wird. Bitte Butter bei die Fische: Hartz-IV auf 600 Euro anheben, ja oder nein? Klar ist: Bei den Regelsätzen gibt es Steigerungsbedarf. Um die Schwächsten vor politischer Willkür zu schützen, darf der Regelsatz aber nicht auf Zuruf – auch nicht via Interviews – festgesetzt werden, sondern muss sich aus den dahinterliegenden Regeln ergeben.

„Klar ist: Bei den Regelsätzen gibt es Steigerungsbedarf.“ Und warum kein bedingungsloses Grundeinkommen? Weil ich den Verdacht nicht loswerde, dass es vor allem dazu führt, Leute abzufinden, statt sich um sie so zu kümmern, dass sie in Arbeit kommen. Ihre Partei will stattdessen das Recht auf Arbeit einführen. Wo kann man dieses Recht dann einklagen? Es formuliert einen Anspruch des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft. Die Bundesagentur für Arbeit muss zu einer Arbeitsversicherung ausgebaut werden, die aktiv dafür sorgt, dass man mit einer neuen Qualifikation auch einen neuen Beruf ausüben darf. Ich bin dafür, dass auch eine 40-Jährige oder ein 50-Jähriger nochmal einen komplett neuen Job erlernen kann und dass es darauf einen Rechtsanspruch gibt.

Ein Finanzskandal aus Hamburg verfolgt Sie: Kürzlich wurde bekannt, dass der Chef der Warburg Bank einen Bettelbrief, den er Ihnen im November 2016 übergeben hatte, auf Ihre Anregung hin auch an den damaligen Finanzsenator und heutigen Bürgermeister Peter Tschentscher schickte. Wenige Tage danach hat die Finanzbehörde entschieden, Ansprüche auf 47 Millionen Euro verfallen zu lassen – Gelder, die sich die Bank via Cum-Ex-Geschäfte erschlichen hatte. Wie erklären Sie diese zeitliche Nähe? Die Kurzfassung: Es hat keinerlei politische Einflussnahme auf die Entscheidung des Finanzamtes Hamburg gegeben. Sie haben den Deutschen bis Juni bis zu zehn Millionen Covid-19-Impfdosen pro Woche versprochen, Sie haben Hamburg mal den G20-Gipfel als eine Art Hafengeburtstag verkauft. Zocken Sie gerne? Sie werden sicherlich genau hingehört haben: Ich habe darauf hingewiesen, dass wir wohl bald den Punkt erreichen werden, an dem wir mehr Impfstoff haben werden, als wir mit unseren jetzigen Kapazitäten verimpfen können. Darauf müssen wir uns vorbereiten. Ab April werden wir mehrere Millionen Impfungen pro Woche machen müssen, bis Ende Juni werden es bis zu zehn Millionen Impfdosen sein – so habe ich es gesagt. Ich möchte nicht erleben, dass wir Impfstoff auf Halde haben statt in den Oberarmen der Patienten. Letzte Frage: Was werden Sie tun, wenn Sie nicht Kanzler werden? Ich werde Kanzler.

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Eine Frage, Herr Merkelbach:

Wie sehen Farbenblinde? Nur zwei- bis dreitausend Menschen sind in Deutschland von Achromatopsie betroffen und wirklich farbenblind. Nicht zu verwechseln ist die seltene Achromatopsie mit den sehr viel verbreiteteren Farbsinnstörungen wie zum Beispiel der Rot-Grün-Sehschwäche, von der rund fünf Prozent aller Menschen betroffen sind. Doch was sind die Unterschiede dieser Erkrankungen, und wie nehmen Menschen mit diesen Sehstörungen ihre Umwelt wahr? Hans-Werner Merkelbach, Vorsitzender der Achromatopsie Selbsthilfe e.V.

„Bei uns Achromaten ist es so, dass die Zapfen im Zentrum der Netzhaut aufgrund eines Gendefekts außer Betrieb sind“, so Hans-Werner Merkelbach, Vorsitzender der Achromatopsie Selbsthilfe e.V. „Wir sehen nur mit den Stäbchen am Rande der Netzhaut.“ Diese Stäbchen sind bei normal sehenden Menschen nur für das Sehen bei Dunkelheit zuständig. Sie können keine Farben wahrnehmen und sie verfügen über ein sehr viel geringeres Auflösungsvermögen als die Zapfen in der Netzhautmitte. „Das führt dazu, dass Achromaten nur über rund zehn Prozent der Sehfähigkeit eines gesunden Menschen verfügen. Neben der fehlenden Sehschärfe ist eine extreme Lichtempfindlichkeit ein weiteres Problem“, so Merkelbach. Bei der sehr viel verbreiteteren, Dyschromatopsie genannten Farbfehlsichtigkeit ist nur einer der drei Farbkanäle Rot, Blau

oder Grün gestört, was Probleme beim Unterscheiden der betroffenen Farben bereitet, aber die Sehfähigkeit sonst nicht weiter einschränkt. Während Menschen mit Farbsinnstörungen ihre Erkrankung vielleicht gar nicht bemerken und nur bei der Berufswahl eingeschränkt sind, etwa keine Berufe wie Lo-

Nicht zu verwechseln ist die seltene Achromatopsie mit der sehr viel verbreiteteren Rot-Grün-Sehschwäche, von der rund fünf Prozent aller Menschen betroffen sind. komotivführer, Pilot oder Polizist ergreifen können, haben „richtige“ Farbenblinde mit einigen Problemen zu kämpfen. Schwierig sei zum Beispiel die Auswahl von Speisen an einem Buffet oder das Bestimmen des Reifegrads von Gemüse und Obst. „So kommt es gelegentlich vor, dass ich etwas kaufe, und zu Hause sagt meine Frau, da hätte sie jetzt eher nicht mehr zugegriffen“, so Merkelbach. Eine der größten Hilfen im Alltag sei seit einigen Jahren das Smartphone. „Mit der Kamera kann ich Dinge fotografieren und heranzoomen. Eine spezielle App hilft mir dabei, Farben zu bestimmen.“

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RÄTSEL

LESERPOST & MEINUNGEN

bodo 04.21

18 Kameras | Die Straße grüner bekommen Welch feine Ironie! Im aktuellen Heft berichtet Ihr über die Kameraüberwachung der Münsterstraße in der Dortmunder Nordstadt. Und direkt im Anschluss über eine Machbarkeitsstudie „Lebenswerte Straßen, Orte und Nachbarschaften“ im Kreuzviertel. Da habt Ihr die Lebenswirklichkeiten einer gespaltenen Stadt schön zusammengefasst. Die Armen bekommen zu den kreisenden Mannschaftswagen und den hochgerüsteten Streifentrupps jetzt noch technische Überwachung. Die anderen dürfen „sich einbringen“ in der Frage, ob Ihre Gründerzeit-Wohnstraße nicht gleich ein bisschen nach Parklandschaft aussehen soll. Der kinderreichste Stadtteil hingegen behält den Verkehr, die dreckigste Luft – und bekommt Kameraüberwachung. F. R. bodo 04.21

„Tolles Heft“ Liebe Redaktion, das ist wieder ein richtig tolles Heft, das ich von vorne bis hinten gelesen habe! Ich wünsche dem Straßenmagazin viele, viele Leser. Und meinem bodo-Verkäufer und allen seinen Kollegen viele, viele Kunden in dieser schwierigen Zeit. Ihr macht eine tolle Arbeit. P. A. bodo 04.21

Martin Kaysh schreibt für die AWO Liebe bodo-Redaktion, wie immer habe ich mit viel Begeisterung die letzte bodo-Ausgabe gelesen und wurde wieder einmal nicht enttäuscht. Man unterstützt nicht nur ein gutes Projekt, man bekommt auch gut geschriebene, gut recherchierte, interessante Artikel. Danke dafür. Auch die Kolumne von Martin Kaysh gefällt mir meistens gut. Gerade als Gewerkschafterin gefiel mir der Beitrag in der April-bodo, in dem kritisch darüber gesprochen wurde, dass Caritas und Diakonie den bundesweit verbindlichen Tarifvertrag für die Altenpflege verhindert haben – in der Tat ein Skandal. Und auch wenn die AWO sich für einen solchen bundesweiten Tarifvertrag ausspricht, darf dabei nicht verschwiegen werden, dass auch die AWO – für die Martin Kaysh ja schreibt – nicht all ihre Beschäftigten nach Tarifvertrag bezahlt. Von 60.000 AWO-Beschäftigten in NRW gilt nur für 35.000 ein Tarifvertrag – auch das ist ein Skandal, der erwähnt werden muss!

AUFLÖSUNG HEFT 04.21

Solidarische Grüße, K. H.

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Schreiben Sie uns: redaktion@bodoev.de Telefon: 0231 – 950 978 0


„Es ist gut, dass ich die ganzen Fotos habe.“ Jessica erinnert sich an ihren verstorbenen Vater Klaus, an schwere Zeiten, gemeinsame Freunde bei bodo und an die Wertschätzung, die Kundinnen und Kollegen Klaus entgegenbrachten. Heute verkauft Jessica das Straßenmagazin an seinem ehemaligen Verkaufsplatz. (s.S.11) Foto: Sebastian Sellhorst

Bücher schaffen Stellen

bodos Bücher online bodo e.V. schafft Arbeitsplätze mit der Annahme, Sortierung, Bewertung und dem Verkauf von Buchspenden. Neben den beiden Buchläden in Bochum und Dortmund bietet bodo Bücher auf allen großen Antiquariats-Portalen und im eigenen Onlineshop. Allein auf dem größten Buchportal haben wir bisher mehr als 14.000 positive Bewertungen erhalten (bei einer Zufriedenheitsquote von mehr als 99 Prozent). Viele KundInnen schreiben uns aber auch direkt. Hier einige aktuelle Beispiele. Liebes bodo-Team, heute hat mich meine Bestellung erreicht, wie von Ihnen versprochen! Die Bücher befinden sich in einem top Zustand! Preis-Leistungs-Verhältnis ist unschlagbar. Ich möchte mich auf diesem Wege nochmal bei Ihnen für die prompte Lieferung bedanken. Liebe Grüße, M. M. Die Lieferung ging drei Tage früher als voraussichtlich angegeben bei mir ein. Super! Das Buch ist für einen Gebrauchtzustand einwandfrei, sauber, keine Knicke in den Seiten und keine sichtbaren Gebrauchsspuren. Dafür gebe ich gern 5 Sterne. Vielen Dank! Mit besten Grüßen, H. D. Hallo, gestern habe ich telefonisch bei Ihnen Bücher bestellt, und schon heute wurden sie geliefert. Ich danke Ihnen für die unkomplizierte Abwicklung! Gerne bestelle ich wieder bei Ihnen. Bleiben Sie gesund! Mit freundlichen Grüßen, Prof. Dr. G. M.

Buchladen Dortmund Schwanenwall 36 – 38 44135 Dortmund Mo. – Fr. 10 bis 18 Uhr Sa. 10 bis 14 Uhr Buchladen Bochum Königsallee 12 44789 Bochum Mo. – Fr. 14 bis 18 Uhr Sa. 10 bis 14 Uhr Online stöbern: bodoev.shopnetzwerk.com

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VERKÄUFERGESCHICHTEN

Eigentlich treffen wir Metin regelmäßig: beim Erscheinen der neuen Ausgabe am Ausgabetag, an seinem Verkaufsplatz auf dem Dortmunder Westenhellweg oder auch einfach auf einen Kaffee an einer unserer Anlaufstellen. Doch im vergangenen Jahr war alles anders. Nach einem Jahr selbstauferlegter bodoZwangspause hat uns Metin das erste Mal wieder besucht und uns von seinem Jahr ohne bodo, seiner Impfung und seiner Mitarbeit an einem Theaterprojekt erzählt. Text und Foto: Sebastian Sellhorst

Ein Jahr Zwangspause „Das ist wahrscheinlich die erste bodo, die ich in der Hand halte, die ich nicht selbst verkaufe“, begrüßt uns Metin lachend, während er vor bodos Buchladen an der Bochumer Königsallee in der aktuellen Ausgabe blättert. Vor einem Jahr hat er die letzte bodo verkauft. Danach hat er sich dazu entschieden, den Verkauf erst mal ruhen zu lassen, das Risiko erschien ihm zu groß. „Ich habe es noch ein paar Tage auf der Straße probiert. Ich hab mich wirklich bemüht, zu allen Passanten Abstand zu halten und niemandem im Weg zu stehen. Aber das war einfach zu kompliziert. Viele Menschen haben überhaupt keine Rücksicht genommen und haben noch nicht mal versucht, Abstand zu halten. Also hab ich mir gedacht, jetzt lass ich es einfach erst mal sein, bis das alles vorbei ist“, erinnert er sich an den März 2020. Seit 2016 lebt Metin in einem kleinen Zimmer im Bochumer Kolpinghaus am Rand der Innenstadt. „Dort hab ich es mir gemütlich gemacht und versucht, möglichst niemandem mehr über den Weg zu laufen.“ Einmal wöchentlich geht er einkaufen, hat sonst nur per Telefon Kontakt. „Wir durften keinen Besuch mehr empfangen, und die Kontaktbeschränkungen haben natürlich allen, die dort wohnen, ziemlich die Stimmung versaut. Ich kam damit allerdings ganz gut zurecht, ich hab ja Erfahrung damit, allein zu sein und mich mit mir selbst zu beschäftigen“, beschreibt er seine Zeit in der selbst gewählten Isolation. Nach einem schweren Autounfall in seiner Kindheit musste Metin immer wieder lange Krankenhausaufenthalte über sich ergehen lassen.

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Vor einigen Wochen dann endlich die gute Nachricht: Impfungen für alle Bewohner. „Im Innenhof war ein großes Zelt aufgebaut, und wir kamen einer nach dem anderen an die Reihe. Nach all den Monaten, in denen ich nur vorm Radio gesessen und mir Infektionszahlen angehört habe, war das schon ein toller Moment“, erzählt er. Auch wenn sich sonst noch nicht viel verändert hat, sei die Stimmung seitdem bedeutend besser. Ganz untätig war Metin in den letzten Wochen allerdings dann doch nicht. „Als ich vom Bochumer Theaterkollektiv Progranauten gefragt wurde, ob ich als bodoVerkäufer bei einem Projekt mitarbeiten wollte, konnte ich nicht nein sagen.“ Schon mehrfach war Metin als Laiendarsteller im Rahmen von Theaterprojekten aktiv. „Natürlich war auch das alles wegen Corona nicht ganz einfach. Aber letztendlich haben wir dann doch einen Termin gefunden, an

dem ich zu Themen wie Armut, Gerechtigkeit und Gemeinschaft interviewt wurde“, beschreibt Metin die Zusammenarbeit. Seine und die Geschichten anderer ProtagonistInnen werden ab dem 1. Mai online auf www.progranauten.de als Theaterfilm Premiere feiern. „Wer also nicht warten kann, mit mir auf der Straße zu quatschen, der kann mir ja vorher schon mal im Internet zuhören“, sagt er und lacht.


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Rose Hartman (American, born 1937). Bethann Hardison, Daniela Morera and Stephen Burrows at Valentino’s Birthday Party, May 12, 1978. Courtesy of the artist. © Rose Hartman

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Die glamouröse Geschichte der berühmtesten New Yorker Discothek aller Zeiten. Diversity und sexuelle Toleranz treffen auf Stars, Styles und Dekadenz im 1970er Discobeat.

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