bodo August 2021

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bodo DAS

08 | 21 Die besten Geschichten auf der Straße

IN STRASSENMAGAZ

2,50 Euro Die Hälfte für die Verkäuferin den Verkäufer

DAS EHRENFELD TOD IM BALDENEYSEE D ORTMUND BAUT DIE BIOBRÜDER

Im Interview: Janine Wissler Seite 40

AM HAFEN

Marcus Lobbes Seite 4

L A T I G I D R T H E AT E UKU NFT DIE BÜ H N E DER Z

NUR MIT AUSWEIS

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IMPRESSUM

Herausgeber, Verlag, Redaktion: bodo e.V. , Schwanenwall 36 – 38, 44135 Dortmund 0231 – 950 978 0, Fax 950 978 20 Redaktionsleitung und V.i.S.d.P.: Bastian Pütter, redaktion@bodoev.de 0231 – 950 978 12, Fax 950 978 20 Layout und Produktion: Andre Noll, Büro für Kommunikationsdesign info@lookatnoll.de Veranstaltungskalender: Petra von Randow, redaktion@bodoev.de

INHALT

Im Ehrenfeld

Von Max Florian Kühlem

Anzeigenleitung: Susanne Schröder, anzeigen@bodoev.de 0231 – 950 978 0, Fax 950 978 20 Vertriebsleitung: Oliver Philipp, vertrieb@bodoev.de 0231 – 950 978 0, Fax 950 978 20 Autoren dieser Ausgabe: Annette Bruhns, Alexandra Gehrhardt, Jessica, Wolfgang Kienast, Max Florian Kühlem, Benjamin Laufer, Bastian Pütter, Petra von Randow, Sebastian Sellhorst, Knut Unger, Horst Wnuck Titel: Birgit Hupfeld Bildnachweise: Archiv Ralf Piorr (S. 36, 37, 38), Susanne Diesner (S. 5), Felix Huesmann (S. 8), Birgit Hupfeld (S. 4, 6), Adrees Latif (S. 20, 21), Dirk Planert (S. 23), Reuters / Staff (S. 15), Daniel Sadrowski (S. 3, 13, 14, 18, 22, 28, 30, 32, 33, 34), Katja Saemann (S. 9), Sebastian Sellhorst (S. 2, 7, 8, 9, 10, 11, 45, 46), Shutterstock.com (S. 22, 36), Thilo Schmuelgen / Reuters (S. 18), Fabian Stuertz (S. 27), Lena Uphoff (S. 41) Druck: LN Schaffrath GmbH & Co. KG DruckMedien Auflage, Erscheinungsweise: 20.000 Exemplare, monatlich in BO, DO und Umgebung Redaktions- und Anzeigenschluss: für die Sptember-Ausgabe 10. August 2021 Anzeigen: Es gilt die Anzeigenpreisliste 06. 2019 Verein: bodo e.V. ist als gemeinnützig eingetragen im Vereinsregister Dortmund Nr. 4514 Vereinssitz: Schwanenwall 36 – 38, 44135 Dortmund www.bodoev.de, facebook.com/bodoev

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Mit Dietmar Bleidick zum 700. Stadtjubiläum durch das Bochumer Ehrenfeld zu spazieren bedeutet: Dinge sehen, die nicht (mehr) da sind, die Vergangenheit auferstehen lassen. Das Viertel, das seit ein paar Jahren als trendy gilt, ist Lieblingsort des Historikers und Bochum-Auskenners.

Hier baut die Stadt

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Bezahlbarer Wohnraum ist Mangelware. Kommunen haben lange vergeblich darauf gesetzt, dass der Markt es regelt. Nun gründet Dortmund ein neues städtisches Wohnungsunternehmen. Dr. Tobias Scholz und Markus Roeser vom Mieterverein Dortmund erklären, was das bedeutet. Von Alexandra Gehrhardt

„Denk‘ an das Reich“

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Am 17. August 1933 steigt eine junge Frau aus Herne in den Baldeneysee, Ruth Litzig ist bereits Weltrekordlerin im Dauerschwimmen – und ein Star. 100.000 Schaulustige kommen, um ihren 100-Stunden-Rekordversuch zu verfolgen. Ruth Litzig wird ihn nicht überleben. Von Horst Wnuck

Vorstand: Andre Noll, Verena Mayer, Marcus Parzonka verein@bodoev.de Geschäftsleitung, Verwaltung: Tanja Walter, 0231 – 950 978 0, verein@bodoev.de Öffentlichkeitsarbeit: Alexandra Gehrhardt, Bastian Pütter 0231 – 950 978 0, redaktion@bodoev.de Transporte, Haushaltsauflösungen: Brunhilde Posegga-Dörscheln, 0231 – 950 978 0, transport@bodoev.de Buchladen, Spendenannahme Dortmund: Schwanenwall 36 – 38, 44135 Dortmund 0231 – 950 978 0, Mo. – Fr. 10 – 18 Uhr, Sa. 10 – 14 Uhr Anlaufstelle und Vertrieb Dortmund: Schwanenstraße 38, 44135 Dortmund Mo. – Fr. 10 – 13 Uhr Spendenannahme Bochum: Kleiderkammer Altenbochum und Laer Liebfrauenstraße 8 – 10, 44803 Bochum Mo. 10 – 13 Uhr, Sa. 10 – 12 Uhr Anlaufstelle und Vertrieb Bochum: Henriettenstraße 36, Ecke Bessemerstraße 44793 Bochum, Mo., Do., Fr. 11 – 14 Uhr Di. 11 – 17.30 Uhr, Mi. 8 – 14 Uhr Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE44 3702 0500 0007 2239 00 BIC: BFSWDE33XXX

Jessica, bodo-Verkäuferin in Dortmund Liebe Leserinnen und Leser, nicht nur auf den Straßen und in der Stadt ist jetzt zum Glück wieder mehr los. Es gibt auch endlich wieder Konzerte. Ich hatte bereits das Glück und konnte auf ein Open-Air-Konzert im Westfalenpark gehen. Eine bodo-Leserin hatte ihre Tickets gespendet, da sie selbst nicht zum Konzert gehen konnte. Davon habe ich eins bekommen. Auch wenn ich die Band Bukahara vorher nicht kannte und ich eigentlich eher Hip-Hop Fan bin, war es toll, endlich mal wieder rauszugehen und etwas zu unternehmen. Seit über zwei Jahren hatte ich keine Band mehr live gesehen. Auch wenn auf der Bühne richtig was los war, mussten wir alle noch sitzen bleiben. Der Abend war trotzdem superschön. Musik zu hören, eine Currywurst zu essen und mal was anderes zu sehen hat mir sehr gefehlt. Leider hab ich einen Teil der Zugabe verpasst, da ich mit der Bahn nach Hause musste und sie nicht verpassen wollte. Der Sommer geht jetzt hoffentlich weiter, und das war nicht mein letztes Konzert in diesem Jahr. Bis bald, Ihre Verkäuferin Jessica

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EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser,

04 Menschen | Marcus Lobbes 07 Straßenleben | Spritze & Selfie 08 Neues von bodo 12 Reportage | Im Ehrenfeld 15 Reportage | „Seien Sie bitte vorsichtig!“ 16 Das Foto 16 Mieten & Wohnen | Wohnungs-Monopoly 17 Kommentar | Was kann man denn noch tun? 17 Die Zahl 18 Interview | Kommunaler Wohnungsbau 21 Reportage | Flucht in die USA 22 Wilde Kräuter | Kornelkirsche 23 Nachruf | Mir lebn eybik 24 Kulturkalender 39 Kinotipp | Unter den Sternen von Paris 30 bodo geht aus | Umschlagplatz 32 Reportage | Die Biobrüder 36 Reportage | Ruth Litzig 39 Bücher 40 Interview | Janine Wissler 43 Eine Frage… | Werden Mücken gefährlicher? 44 Rätsel | Leserpost 45 Leserpost 46 Verkäufergeschichten

ohne diese langsam etwas nervende Pandemie wäre dies vielleicht ein ganz anderes Heft. Mehrmals in zurückliegenden Sommern haben wir die besten Geschichten unseres Netzwerks aus mehr als 100 Straßenzeitungen von Helsinki bis Kapstadt und von Bogotá bis Seoul zusammengetragen. Das gab uns Zeit für einen Sommerurlaub und verbreitete Urlaubsstimmung. Außerdem wühle ich wahnsinnig gern in den Geschichten, die unsere KollegInnen weltweit erzählen. Ein paar werden Sie vielleicht doch einmal hier lesen, wie die aus dem „Restaurant of mistaken orders“ in Tokio, wo gegessen wird, was auf den Tisch kommt: An Demenz Erkrankte sind für den Service zuständig – in einem Rahmen, in dem es um Freude, Humor, Wertschätzung und Ressourcenorientierung geht – eine schöne Geschichte, und vielleicht eine Idee zum Nachmachen. Weil die Urlaubssaison nicht so funktioniert wie sonst und weil Corona-Geschichten sich weltweit sehr ähneln (auch das ist Globalisierung), haben wir statt einer Um-die-Welt-bodo ein sehr eigenes und sehr regionales Heft gemacht: Wir sind unterwegs am Dortmunder Hafen und am Baldeneysee, reden über gemeinnütziges Bauen in Dortmund und laufen mit Historikerbegleitung durch das Bochumer Ehrenfeld. Wir lassen uns erklären, wie man sich in Dortmund digitales Theater vorstellt und was eine „Betonkuh“ in Waltrop mit biologischer Ferkelzucht in Recklinghausen zu tun hat. Und siehe da: Auch das hat eine Menge Spaß gemacht.

Vom bodo-Verkäufer zum Betriebsrat

Ihre Meinung ist uns wichtig. Seite 44

Viele Grüße von bodo Bastian Pütter – redaktion@bodoev.de

Von Nothilfe bis Neuanfang: Helfen Sie helfen.

An sechs Tagen in der Woche sind wir sowohl in Bochum als auch in Dortmund mit unseren Versorgungstouren unterwegs: mit Sonnenschutz und kalten Getränken, Masken und Hygienepacks, Schlafsäcken und einem offenen Ohr. Mit Ihrer Hilfe. Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft IBAN: DE44 3702 0500 0007 2239 00

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MENSCHEN

Mit der Corona-Krise wurde Marcus Lobbes praktisch von heute auf morgen zu einem der gefragtesten Menschen im Theaterbetrieb. Der Direktor der neu gegründeten Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund sollte landauf, landab den Häusern helfen, Formate für ein Theater zu entwickeln, das kein Publikum empfangen darf. Doch eigentlich geht es ihm gar nicht in erster Linie darum. Von Max Florian Kühlem | Fotos: Birgit Hupfeld, Susanne Diesner

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Der TheaterDigitalisierer „Die Pandemielage hat bewusst gemacht, dass wir im Theaterbereich ein Feld liegengelassen haben.“ Marcus Lobbes meint das Feld des Digitalen, in dem er sich gerade selbst bewegt: Er sitzt in seiner Wohnung vor einer Webcam. Wie so oft in den vergangenen Monaten findet das Gespräch mit ihm als Video-Telefonat statt. „Es geht darum, eine zusätzliche Bühne zu haben“, sagt er, „in diesem Raum bewegt sich ja schon alles, große Teile der Bevölkerung sind ständig digital unterwegs.“ Seine Aufgabe als erster Direktor nach dem Gründer Kay Voges war zwar eigentlich, digitale Techniken für die Bühnen-Kunst nutzbar zu machen und weiterzuentwickeln – also für das gemeinsame Live-Erlebnis von Menschen, die in einem echten Raum zusammenkommen. „Es geht darum, den Theater-Betrieb ganz neu aufzusetzen, etwa Ton und Licht digital zu steuern, Programme zu haben, die im Unsichtbaren ablaufen. Mich interessiert: Wie kann man das alles in einen modernen Theaterbetrieb übersetzen, zusammenbringen.“ Denn das Theater sei in seiner Geschichte eigentlich immer offen für neue Techniken gewesen, oft Vorreiter bei ihrer Integration. Das Digital-Zeitalter haben die Bühnen allerdings etwas verschlafen. Corona hat da den Finger in die Wunde gelegt, vielen Häusern fiel nichts anderes ein, als Aufführungen mit einer zentralen Kameraperspektive zu streamen. Die Dortmunder Akademie erreichten viele Hilferufe: „Im Moment mischen wir bei allem mit, was mit ,Digital‘ zu tun hat“, sagt Marcus Lobbes. Von den Ruhrfestspielen über die Berliner Festspiele, die das Theatertreffen veranstalten, bis zu einer neuen paneuropäischen Plattform, die sich mit digitalen Techniken im Kinder- und Jugendtheater beschäftigt – alles läuft als Kooperation mit der neuen Institution, die aktuell in der ehemaligen Schreinerei des Dortmunder Theaters untergebracht ist.

Marcus Lobbes geboren 1966 in Köln, wohnt in Düsseldorf und Dortmund Lieblingsorte in Dortmund: „Die Akademie nachts, wenn keiner da ist. Ich sitze da oft noch mit Michael Eickhoff. Da ist Ruhe, das Licht ist bunt, es ist groß und weitläufig. Ansonsten der Westpark im Sommer. Da auf die Wiese zu liegen ist auch nicht zu unterschätzen.“ Tipps im digitalen Theater-Raum: „Ich fand das Showcase-Programm des Berliner Theatertreffens gut. Und ich würde mir immer eine VR-Brille des Theaters Augsburg schicken lassen, um zu sehen, was die da so treiben.“

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MENSCHEN

„Wir sind gerade acht Mitarbeitende und arbeiten unter großer Belastung“, sagt der Direktor. „Wir sind stolz, zu zeigen, was möglich ist, und dass es von der Politik gesehen wird. Wir haben nebenbei noch das Theaternetzwerk Digital gegründet. Dieses Tempo können wir aber nicht durchhalten. Wir sind froh, wenn wir uns bald auf den Umzug in unser neues Gebäude konzentrieren können und wenn der neue Master-Studiengang an der FH Dortmund akkreditiert ist.“ Doch wer ist eigentlich dieser Mann, der gerade mit einem kleinen Team quasi die gesamte deutsche Theaterlandschaft fit macht für das digitale Zeitalter? Marcus Lobbes arbeitet seit 1995 als Theaterregisseur an vielen renommierten Häusern in Deutschland, ist eigentlich für

kompromisslose Klassiker-Inszenierungen oder reduzierte Uraufführungen bekannt, bei denen meistens noch nicht einmal Musik auf der Bühne zu hören ist – „weil es mich unendlich nervt, wenn ich den Text nicht richtig verstehen kann.“ Trotzdem ist ihm eine Technikaffinität in die Wiege gelegt. „Mein Haushalt ist väterlicherseits ein Nerd-Haushalt gewesen“, erzählt der 55-Jährige. Sein Vater hat Computer gebaut und programmiert, unter anderem bei der Airbase der Lufthansa in Frankfurt. „Jedes neue Gerät – Videorekorder, Teletext, PC – wurde immer gleich angeschafft. Das Nerdigste war wahrscheinlich, dass mein Vater als großer Schachfreund die verschiedensten Schachcomputer besaß.“ Marcus Lobbes bekam allerdings auch künstlerische Einflüsse mit, bei einer Generation vor seinen Eltern ging es ums Dirigieren und Komponieren. So machte auch er selbst bereits als junger Mensch Musik und studierte erst einmal Operngesang – „allerdings nicht fertig, weil ich Regie spannender fand.“ Ihn interessierte die Frage: Was ist möglich und was ist nötig in der Kommunikation zwischen Publikum und Ausführenden? Und diese Frage stellt sich eben ähnlich, wenn man Inszenierungen für eine Virtual-Reality-Brille, für die Augmented Reality auf dem Smartphone-Bildschirm oder den heimischen Computer entwirft. Lobbes bringt zwar das Interesse mit, ist allerdings selbst kein IT-Spezialist: „Ich habe 18 Jahre meines Lebens keinen Computer angefasst, von meiner Volljährigkeit an“, sagt er. Erst als ein befreundeter Dirigent ihm einen schenkte, begann er, wieder Schritt zu halten. „Aber vieles kann ich nur beschreiben und weitervermitteln. Ich sehe mich als Streiter für die Kunst und für die Vermittlung.“ Was er zum Beispiel vermitteln will, ist, dass die Bühne heute früh den Einsatz von digitalen Künsten mit bedenken sollte: Wenn Theater nämlich ein Team engagieren, dann gibt es Posten für Regie, Bühne, Kostüm und so weiter, aber für den Videokünstler oder Programmierer ist schnell kein Geld mehr übrig – dabei können Programmierer mit Theateraffinität Tagessätze von 2.000 Euro nehmen, weil sie so gefragt und bisher selten sind. „Es gibt einen großen Investitionsstau in den Häusern. Deshalb ist es wichtig, dass Häuser sich vernetzen, um die teure Technik auch mal hin- und herzuschieben.“ Am Theater Dortmund will man jetzt in allen Sparten jedes Jahr eine Inszenierung mit digitalen Technologien stemmen. Dafür muss dann anders gerechnet werden, es müssen vielleicht mal ein paar tausend Euro aus dem Bühnenbild in Digitalkunst und -technik fließen. Tanz mit Robotern, holographische Geistererscheinungen, elektronische Musik, die von Programmen gesteuert auf das Publikum reagiert – vieles ist denkbar und wurde auch schon ausprobiert. „Ich bin generell ein neugieriger Mensch“, sagt Marcus Lobbes.

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STRASSENLEBEN

Die Impfkampagne ist ins Stocken geraten. Gut 50 Prozent der Bevölkerung ist gegen Covid-19 geimpft, 85 Prozent müssen es sein, um die Delta-Variante ohne eine Überlastung der Krankenhäuser zu überstehen. Bei der Werbung um Unentschlossene werden die Städte kreativ in der Hoffnung, den Ausgang aus der Pandemie zu finden. Von Alexandra Gehrhardt | Foto: Sebastian Sellhorst

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ie Sorge war groß im letzten Frühjahr um die Menschen, mit denen wir zu tun haben. Eine unbemerkte Coronainfektion in einer WohnungslosenUnterkunft, das wussten wir, konnte zu einem kaum kontrollierbaren Ausbruch in der Szene führen, im schlimmsten Fall zu Toten. Entsprechend groß war die Erleichterung, als im Frühjahr die Impfungen für Wohnungslose starteten. Ein Schritt weiter in der Pandemie. Was im Frühsommer Fahrt aufnahm, ist ins Stocken geraten. Impfzentren und Ärztinnen bleiben auf den Vakzinen sitzen. 85 Prozent Impfquote hält das RobertKoch-Institut für notwendig, um einer neuen Überlastung der Krankenhäuser vorzubeugen, gut 50 Prozent sind es. Und wie weiter? Anreize könnten helfen: Die Berliner Humboldt-Universität hat im Mai erforscht, was Unentschlossene zum Impfen motivieren könnte. Jeder der drei Vorschläge – die Rückgabe von Freiheiten, wohnortnahe Angebote und Impfprämien oder -lotterien – kann die Impfbereitschaft um fünf Prozent steigern. Also fährt in Bochum ein Impfbus durch die Stadtteile, in Dortmund gab‘s im Stadion zur Sprit-

Spritze & Selfie ze ein Pokal-Selfie dazu. Es gab Late-Night-Impftage, Impfpartys mit DJ und Cocktails, Impf-Frühshoppen mit Musik, Aktionen in Stadtteilen, Moscheen und an Autobahn-Raststätten. Denn trotz geöffneter Bars, durchgeimpfter Freundeskreise und entlasteter Intensivstationen ist Corona nicht vorbei. Die ansteckendere und aggressivere DeltaVariante macht mehr als 80 Prozent der Neuinfektionen aus. Bei einer Inzidenz von rund 470 verkündete der britische Premier Boris Johnson den „Day of Freedom“ und quasi das Ende der Pandemiebekämpfung. Auch Joachim Stamp, stellvertretender NRW-Ministerpräsident, schlug so einen Tag vor: den 3. Oktober als „Tag der Freiheit und Eigenverantwortung“. In einer Gesellschaft geht es aber nie nur um mich und das eigene, sondern auch um die anderen. Herdenimmunität heißt, mit dem Eigenschutz die zu schützen, die das nicht können. Und das nicht so lange, bis ich keine Lust mehr habe, sondern so lange, bis alle sicher sind.

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NEUES VON BODO

Ausgebildet! Wir gratulieren unserer Auszubildenden Jaqueline Butterbrodt (r.) zum erfolgreichen Abschluss! Trotz der schwierigen Bedingungen durch Corona-Schließungszeiten und aus Infektionsschutzgründen getrennt arbeitenden Kleinst-Teams hat Jaqueline mit Bravour die zweijährige Ausbildung zur Verkäuferin, die bodo in Kooperation mit dem Grone-Bildungszentrum Dortmund durchführt, abgeschlossen. Erste Gratulantin: bodo-Ausbilderin Julia Cöppicus, die als alleinerziehende Mutter in einem Kooperationsprojekt mit dem Jobcenter Dortmund ihre Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau bei bodo gemacht hat – als eine der besten ihres Jahrgangs. Nun hat sie das erste Mal selbst erfolgreich ausgebildet. Sie, das Buch-Team und ganz bodo wünschen Jaqueline alles Gute für ihre berufliche Laufbahn.

TERMINE Anna Mayr: Die Elenden Lesung im bodo Buchladen 7. August, 19.30 Uhr Schwanenwall 36 – 38 Dortmund Jeff Silvertrust präsentiert von bodo Sommer am U 8. August, 17 Uhr Leonie-Reygers-Terrasse Dortmund Betriebsferien im Buchladen Dortmund 9. bis 14. August 8

Anna Mayr

Jeff Silvertrust

Am 7. August um 19.30 Uhr liest die Journalistin Anna Mayr im Rahmen des Festivals „Literatour 100“ in unserem Dortmunder Buchladen am Schwanenwall aus ihrem Buch „Die Elenden“. In ihrem kämpferischen, thesenstarken Buch zeigt Mayr, ausgehend von ihrer eigenen HartzIV-Kindheit, warum wir die Geschichte der Arbeit neu denken müssen: als Geschichte der Arbeitslosigkeit. Und wie eine Welt aussehen könnte, in der wir die Elenden nicht mehr brauchen, um unserem Leben Sinn zu geben. Abhängig von der geltenden Coronaschutzverordnung steht ein beschränktes Platzangebot zur Verfügung. Die Ticket-Buchung ist über unsere Homepage möglich: www.bodoev.de

Mit 10 Jahren begann der 1956 in Chicago geborene Jeff Silvertrust mit einer klassischen Trompetenausbildung, mit 14 lernte er den Jazz lieben. Neben seinem Studium spielte er in Jazzclubs und entschied sich bald danach, seinen festen Job zu kündigen und von der Musik zu leben. Was Anfang der 1980er Jahre als ausgedehnte Europareise geplant war, wurde ein Lebensmodell. Seit 40 Jahren reist Jeff durch Europa und spielt überall dort, wo Menschen es hören möchten, als Ein-Personen-Straßenmusik-Jazz-Trio. Für Sonntag, den 8. August um 17 Uhr haben wir ihn zum „Sommer am U“ nach Dortmund eingeladen. Der Eintritt ist frei. Mehr auf www.bodoev.de


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Unter dem Dach des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Dortmund haben sich rund 200 gemeinnützige Vereine, Organisationen und Initiativen zusammengeschlossen. Sie bieten Unterstützungsleistungen in allen Lebensbereichen an:

Straßenbefragung Im Auftrag des Landes führt die Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS) eine Untersuchung zu Obdachlosigkeit in ausgewählten Städten NRWs durch. Wir unterstützen bei den Befragungen in Dortmund. Ein Schwerpunkt liegt auf verdeckter Obdachlosigkeit. Ergebnisse werden für November erwartet.

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Beratung bei Ehe- und Lebenskrisen Unterstützung bei der Betreuung von Kindern Angebote für Jugendliche und junge Erwachsene Unterstützung bei psychischen Erkrankungen Hilfen für Menschen mit Behinderungen Hilfen in Notlagen und bei besonderen sozialen Schwierigkeiten Selbsthilfeunterstützung

Kontakt über Paritätischer Wohlfahrtsverband NRW Kreisgruppe Dortmund Ostenhellweg 42-48/Eingang Moritzgasse | 44135 Dortmund Telefon: (0231) 189989-0, Fax: -30 dortmund@paritaet-nrw.org | www.dortmund.paritaet-nrw.org

Entdecken Sie die Vielfalt des Lernens! Mit über 2.000 Veranstaltungen bietet die VHS Dortmund wieder ein abwechslungsreiches Programm:

Elementarbildung, Mathematik und Schulabschlüsse Beruf und Wirtschaft Sprachen und interkulturelle Bildung Politik, Gesellschaft und Ökologie Kunst, Kultur und Kreativität Psychologie und Pädagogik Gesundheit

Saša Stanišić Am 13. September liest der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Saša Stanišić auf Einladung der AWO-Integrationsagentur Dortmund in Kooperation mit bodo. Der Roman „Herkunft“, für den Stanišić den Deutschen Buchpreis erhielt, ist eine Erinnerung an eine Kindheit in Bosnien und eine Jugend in Deutschland nach der Flucht vor dem Bürgerkrieg. Die eigene Herkunft ist nur in Geschichten zu fassen, weiß Stanišić. Sein Roman ist ein Plädoyer für das Vielstimmige, das Viel- und Uneindeutige, für das Abschweifen und Fabulieren. Lesung und Gespräch finden digital statt, bodo-Redaktionsleiter Bastian Pütter moderiert. Beginn ist um 19.30 Uhr, mehr auf www.bodoev.de.

vhs.nach Maß Es erwarten Sie Kurse und Seminare, Workshops und Exkursionen, interessante Vorträge und vieles mehr ...

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DIE BÜHNE DER ZUKUNFT

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NEUES VON BODO

„Kraniche für Knifte“ Eigentlich war es ein Hobby, im Corona-Winter ist für zwei Dortmunderinnen ein Spendenprojekt daraus geworden: Kerstin Aubke und Andrea Wilking basteln Kraniche aus buntem Papier – und verkaufen sie gegen Spende für einen guten Zweck. „Kraniche für Kniften“ heißt die Aktion, mit der die beiden bodos „Kaffee & Knifte“-Versorgungstouren unterstützen. Jeder Kranich – gut als Dekostück für zu Hause oder als Mitbringsel für FreundInnen – ist liebevoll verpackt und mit einem Flyer versehen, der erklärt, worum es bei „Kraniche für Kniften“ geht. Über 1.000 Euro sind in den letzten Monaten schon an Spenden zusammen gekommen. „Die Resonanz ist durchweg positiv“, freut sich Kerstin Aubke, die auch ehrenamtlich im „Kaffee & Knifte“-Team aktiv ist. Galerien, Cafés, Nachbarschaftsinitiativen und Geschäfte machen schon als Verkaufsorte mit – und auch unsere Buchläden in Bochum und Dortmund. Herzlichen Dank!

SOZIALES Deutsche Wohnen wird nicht Vonovia: Der Plan des Bochumer Wohnungskonzerns, die Berliner Konkurrentin Deutsche Wohnen aufzukaufen, ist vorerst gescheitert. Bis zur Frist hatten sich zu wenige AktionärInnen entschlossen, ihre Aktien an Vonovia abzugeben. Mit der Übernahme wollte Vonovia, Eigentümerin von 415.000 Wohnungen in Deutschland, Europas Nummer eins auf dem Wohnungsmarkt werden. Abschiebungen aus NRW nach Kabul gehen weiter, trotz des Aufrufs der afghanischen Regierung, wegen der wachsenden Gewalt durch Taliban Abschiebungen in das Land für drei Monate auszusetzen. Währenddessen ist unklar, was die Bundesregierung unternehmen wird, um afghanische Ortskräfte zu unterstützen, die für die Bundeswehr gearbeitet haben und nun in Lebensgefahr sind. Sie müssen ihre Ausreise selbst organisieren und zahlen. Corona killt Minijobs: Nach Angaben des DGB Dortmund sind im vergangenen Jahr 3.800 Minijobs in der Stadt weggefallen, 1.500 allein im Gastgewerbe. Minijobber sind prekär beschäftigt, nicht sozialversichert und erhalten kein Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld – in Corona wurden diese Stellen zuerst gestrichen. DGB und IG Bau fordern die Umwandlung von Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen. Grundsicherung schützt nicht vor Kinderarmut, konstatiert Der Paritätische Wohlfahrtsverband in einer aktuellen Studie. Demnach ist die Kinderarmutsquote seit 2010 von 18,2 auf 20,5 Prozent gestiegen, obwohl weniger von ihnen Hartz-IVLeistungen erhielten. „Einem Paar mit zwei Kindern im Grundsicherungsbezug fehlen etwa 214 Euro monatlich, um die statistische Armutsschwelle zu überwinden“, so ein Befund. 10

Vielen Dank! Inzwischen beraten wir auch wieder in geschlossenen Räumen, doch ein Großteil unserer Wohnungslosen-Arbeit findet weiterhin auf der Straße statt. Dabei geht es sowohl um sozialarbeiterische Hilfen als auch um Versorgung mit „Kaffee & Knifte“, mit Schlafsäcken, Masken und Hygieneartikeln. Wir freuen uns über die Unterstützung, die dieser spendenfinanzierte Teil unserer Arbeit aus den Stadtgesellschaften erfährt. Etwa durch den Rotary-Club Bochum-Constantin, der unsere aufsuchenden Angebote mit einer vierstelligen Summe bedachte. (v.l.: Vorstandsmitglied Konrad Ruprecht, die neue Präsidentin Susanne Hüttemeister und der scheidende Präsident Mario Schiefelbein).


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Ansprechpartner

0231 – 950 978 0

Geschäftsleitung: Tanja Walter verein@bodoev.de

Zentrale Rufnummer 0231 – 950 978 0 Mo. bis Fr. 10 – 14 Uhr Mail: info@bodoev.de Buchladen Dortmund Schwanenwall 36 – 38 44135 Dortmund Mo. – Fr. 10 bis 18 Uhr Sa. 10 bis 14 Uhr Buchladen Bochum Königsallee 12 44789 Bochum Mo. – Fr. 14 bis 18 Uhr Sa. 10 bis 14 Uhr

Redaktion und Öffentlichkeitsarbeit: Alexandra Gehrhardt Bastian Pütter redaktion@bodoev.de Anzeigen: Susanne Schröder anzeigen@bodoev.de Vertrieb: Oliver Philipp vertrieb@bodoev.de

vor Ort, telefonisch oder digital!

Westenhellweg 81 • 44137 Dortmund Tel./WhatsApp*: (0231) 84 01 00 90 schwanen@ausbuettels.de *Bitte beachten Sie bei der Benutzung von WhatsApp unsere Hinweise zum

Datenschutz. Diese erhalten Sie in unseren Apotheken oder unter www.ausbuettels.de/datenschutz.

bodos Bücher: Julia Cöppicus buch@bodoev.de Haushaltsauf lösungen und Entsorgungen: Brunhilde Posegga-Dörscheln transport@bodoev.de

bodo Transport

Auf der Baustelle

Unser Team führt Haushaltsauflösungen durch – von der Einzimmerwohnung bis zum großen Wohnhaus –, entrümpelt Keller- und Dachböden besenrein, transportiert Kartons und Kisten, entsorgt Gartenabfälle und entfernt Tapeten und Bodenbeläge. Möchten Sie die Unterstützung unseres Teams? Wir freuen uns auf Ihren Anruf. Jeder Auftrag ist anders. Zwar können wir Ihnen am Telefon noch nicht sagen, welche Kosten genau auf Sie zukommen, jedoch verabreden wir gerne kurzfristig einen Besichtigungstermin mit unserer Teamleiterin Brunhilde Posegga-Dörscheln und erstellen einen unverbindlichen Kostenvoranschlag: 0231 – 950 978 0 oder transport@bodoev.de.

Mit dem Auto zu unserem Dortmunder Buchladen zu kommen, ist zurzeit mal Erlebnis, mal Geduldsprobe. Die großangelegten Bauarbeiten am Schwanenwall führen leider zu Beeinträchtigungen für Buchkunden und -spenderinnen. Mit der Bahn und zu Fuß kommt man weitgehend unbeeinträchtigt zu uns. Wenn Sie Fragen zur Anfahrt haben, rufen Sie uns gerne an. Wir hoffen auf Ihr Verständnis. Wir erhalten den Betrieb aufrecht – mit einer Ausnahme: Vom 9. – 14. August, auf dem mutmaßlichen Höhepunkt der Kanalarbeiten, legt unser Buchladen eine Woche Betriebsferien ein. Alle anderen Arbeitsbereiche und auch der Bochumer Buchladen machen wie gewohnt weiter.

en lassen.“ „Nicht ärgern. Berat © by Photocase.de

bodo ist für Sie da

Mieter schützen · Mietern nützen!

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Mieterverein

Bochum, Hattingen und Umgegend e.V.

Brückstraße 58 44787 Bochum Tel.: 0234 / 96 11 40 mieterverein-bochum.de

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Öffnungszeiten Mo - Do 9:00 - 18:00 Fr 9:00 - 12:00

Öffnungszeiten Mo - Do 8:30 - 18:00 Fr 8:30 - 14:00

Mitglieder im Deutschen Mieterbund

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REPORTAGE

Mit Dietmar Bleidick zum 700. Stadtjubiläum durch das Bochumer Ehrenfeld zu spazieren bedeutet: Dinge sehen, die nicht (mehr) da sind, die Vergangenheit auferstehen lassen. Das Viertel, das seit ein paar Jahren als hipp oder trendy gilt, ist Lieblingsort des Historikers und Bochum-Auskenners. Von Max Florian Kühlem | Fotos: Daniel Sadrowski, Sammlung Dirk Ernesti

Nur das Beste im Ehrenfeld Bevor der Spaziergang startet, muss Dietmar Bleidick, der unter anderem das Buch „Bochum für Klugscheißer“ geschrieben hat, erstmal vermeintliche Klarheiten beseitigen: „Das Ehrenfeld gibt es eigentlich gar nicht“, sagt er. Und meint damit, dass „Bochum-Ehrenfeld“ kein offizieller Begriff für einen so benannten und klar eingegrenzten Stadtteil ist. Es ist ein Teil des großen Stadtteils Wiemelhausen und liegt ungefähr zwischen Universitätsstraße, Wasserstraße, Wiesental und Bahnlinie. „Man kann sagen: Das Ehrenfeld ist immer da, wo man meint, dass es ist.“ Eine andere vermeintliche Tatsache ist der Anlass des Spaziergangs: Der 700. Geburtstag der Stadt Bochum. Auf der Burg Blankenstein, die zwar im Besitz Bochums ist, geographisch aber zu Hattingen gehört, wurden 1321 mit einer Urkunde von Graf Engelbert II.

von der Mark die Marktrechte an Bochum übergeben. „Dieses Datum wird als Stadtwerdung gefeiert“, sagt Dietmar Bleidick. „Offiziell steht in der Urkunde allerdings nichts von einer Stadt. Es ist nicht überliefert, ob es damals schon einen Bürgermeister oder Stadtrat gab.“

Bürgerstadt in der Arbeiterstadt Der kurzen Desillusionierung folgt allerdings Begeisterung, denn Dietmar Bleidick kann Vergangenheit lebendig werden lassen. Vor den Pforten des Schauspielhauses, man kann sagen: dem Herzzentrum des Ehrenfelds, sieht man mit ihm vor dem geistigen Auge die Vergangenheit auferstehen. „Bis um 1900 war hier nur Feld, Wald und Wiese“, erzählt der Historiker. Die Stadt Bochum lag jenseits der Eisenbahnlinie, die entlang der Rotunde verläuft, die früher der Hauptbahnhof war, und wurde

Unten: Das 1925 errichtete „Bürohaus Bochum“ in der Clemensstraße bot Unternehmen ohne eigenes Gebäude einen repräsentativen Firmensitz, damals noch nahe am Bahnhof. Nach dem Krieg nutzte der Industrieverband Bergbau das Gebäude, heute sind es IG BCE, GEW und SPD.

Oben: Die Gaststätte Otto Wegener, Hunscheidtstraße / Kreuzung Drusenbergstraße um 1930.

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Links: Dietmar Bleidick auf dem Hans-Ehrenberg-Platz. „Bis um 1900 war hier nur Feld, Wald und Wiese.“ Am Reißbrett entworfen, wurde das Ehrenfeld in der Folge zur Stadt in der Stadt. Oben: Die beiden Postkartenmotive auf der gegenüberliegenden Seite heute.

immer größer – ohne in der Fläche zu wachsen. Bald drohte sie unter einer Bevölkerungsdichte von 10.000 Menschen pro Quadratkilometer zu bersten. Um Entspannung zu schaffen, wurde 1904 Wiemelhausen eingemeindet. Das dazu gehörende Gebiet, das heute Ehrenfeld genannt wird, hieß bis zum Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 im Volksmund noch „Kleine Tocke“ – ein Begriff, den sich der Historiker noch weniger erklären kann als den aktuellen, der möglicherweise in Erinnerung an die Kriegszeit zum „Feld der Ehre“ erklärt wurde. Eins der wenigen Häuser im Gebiet war der Adelssitz Haus Rechen, der ungefähr dort stand, wo sich heute die Kammerspiele des Schauspielhauses befinden. Nach der Eingemeindung wurde das Ehrenfeld für die schnell wachsende Industriestadt Bochum allerdings rasend schnell zum urbanen Raum entwickelt – und zwar am planerischen Reißbrett. Deshalb unterscheidet es sich vom ansonsten oft wild gewachsenen Stadtraum des restlichen Ruhrgebiets. Die Straßen verlaufen rechtwinklig, es gibt angelegte Parks wie den Südpark beziehungsweise Rechener Park, die Straßen werden durchbrochen von Plätzen wie dem Romanusplatz mit seinem großen Kreisverkehr.

Das Ehrenfeld wurde zu einer Stadt in der Stadt – von Anfang an gedacht für die Besserverdienenden: Beamte, Angestellte, Eisenbahner, Manager, große Handwerker. Es gab alles, was zum Leben wichtig war: ein Krankenhaus, Schulen, Geschäfte, Sitze der Bergbau-Berufsgenossenschaften und die Knappschaft. Im Gegensatz zu den fünfstöckigen Gebäuden im Norden dominierte hier Villenbebauung im menschlicheren Maßstab. So lässt sich auch geschichtlich erklären, warum das Ehrenfeld bis heute den Ruf des „besseren Viertels“ hat und neben dem klassischen Bildungsbürgertum, das sich um das Schauspielhaus versammelt, auch junge Kreativarbeiter anzieht, die zwischen kleinen Läden, schicken Bars und hippen Restaurants flanieren.

Bauhaus, Jugendstil, Nachkriegssünden „Die Kreuzung hier vor dem Schauspielhaus ist eine Neuschaffung nach dem Zweiten Weltkrieg“, erklärt Dietmar Bleidick. Vorher gab es direkt gegenüber noch einen weiteren Kulturschatz: Die Lichtburg, ein schönes Kino im Bauhaus-Stil, das bis zur Straßenmitte der heutigen Königsallee reichte.

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REPORTAGE

Vorbei am ältesten noch erhaltenen Haus des Ehrenfelds an der Ewaldstraße 9 (es ist von 1896) folgen wir dem Historiker durch die Schachbrett-Blocks: An der Ecke Ewaldstraße/Weiherstraße steht die Keimzelle der Schiller-Schule, die als reines Mädchen-Gymnasium gegründet wurde. In der Zentrale der Ökobank GLS war einst die Firma Dr.-C-Otto angesiedelt, die „Kokerei-Anlagen made in Ehrenfeld“ fertigte, wie der Historiker weiß. Und im schönen 1950er-Jahre-Bau des Finanzamts schräg gegenüber residierte einst die Ruhr-Stickstoff AG. Noch davor stand dort das Parkhotel, die nobelste Adresse zum Logieren für Gäste in Bochum. „Für das Ehrenfeld war das Beste immer gerade gut genug“, sagt Dietmar Bleidick.

Pomp und Gloria Pomp und Gloria des Ehrenfelds kommen an einem Ort ganz besonders zusammen: Am monumental barocken Bau der heutigen Knappschaft Bahn-See mit seinen zwei Türmen und der „Beamtenlaufbahn“ – also dem Gebäudegang über die Wilhelm-Stumpf-Straße. Vorbei an der Meinolphuskirche, deren expressionistische Innenmalereien den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg zum Opfer fielen, spaziert der Historiker natürlich auch noch zum aktuell tagsüber belebtesten Zentrum des Ehrenfelds: Auf dem Hans-Ehrenberg-Platz mit seinen beliebten Gastronomien und dem Markt am Donnerstag kommt das Viertel zusammen. „Die Butterbrotbar ist im ältesten noch erhaltenen Gründerzeithaus“, erklärt er mit Blick auf das im floralen Jugendstil erbaute Gebäude. Die etwas heruntergekommene Spielhalle „TAO“ war früher das „Theatre de TAO“ und hat eine moderne Laserlicht-Disko beherbergt, den Vorgänger des Tarm-Centers. Und ein paar Meter weiter steht auch schon Bleidicks „Hassobjekt“: Das meist leerstehende Garagenhaus an der Alten Hattinger Straße. „Das ist eine Ausgeburt der Verfehlungen des Bauwahns der 1960er- und 70er-Jahre.“ Wenigstens steht nicht weit weg auch gleich das liebste Haus des Historikers: Der 50er-Jahre-Bau an der Königsallee 1 mit dem originalen Agfa-Schriftzug. „Die Strukturelemente in der Fassade, die Balkone, das Dach – da stimmt einfach alles.“ Gegenüber ist ein Friseur. Das passt, denn Dietmar Bleidick merkt irgendwann an: „Man kann sagen: Heute ist das Ehrenfeld der Stadtteil der Friseure.“

Von oben: In dem um 1910 gebauten Wohnhaus an der Ecke Ewaldstraße / Saladin-Schmitt-Straße war bis Ende der 1920er Jahre eine Mädchenschule, die Vorläuferin der Schillerschule, untergebracht. „Die Kreuzung vor dem Schauspielhaus ist eine Neuschaffung nach dem Zweiten Weltkrieg“, erklärt Dietmar Bleidick. An der Geschosshöhe lassen sich die unterschiedlichen Entstehungszeiträume ablesen. Die zwischen 1913 und 1917 erbaute Drusenbergschule gehört zu den bedeutendsten Beispielen der Schularchitektur des ausgehenden Kaiserreichs.

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Der Historiker Dietmar Bleidick forscht unter anderem zur Bochumer Unternehmens- und Stadtgeschichte. Er ist Vorsitzender des Historischen Vereins Ehrenfeld. Mit Dirk Ernesti betreibt er die Website www.historisches-ehrenfeld.de. Im Dezember 2020 erschien: Dietmar Bleidick und Dirk Ernesti Beamte – Bürger – Bürokraten Bochum und das Ehrenfeld vor dem Ersten Weltkrieg ISBN: 978-3-9815189-2-4 | 3satz | 100 S. | 18,90 Euro


REPORTAGE

Noch immer ist das Ausmaß der Schäden, die die Juli-Unwetter angerichtet haben, unvorstellbar. Mehr als 200 Tote in Deutschland, den Niederlanden und Belgien, massiv zerstörte Straßen, Schienen, Energienetze und Wohnungen. Nun wird diskutiert, wie solche Katastrophen in Zukunft verhindert werden sollen – und wie es um den Katastrophenschutz steht. Von Alexandra Gehrhardt | Fotos: Reuters / Staff

„Seien Sie bitte vorsichtig!“ Der Satz ist nicht gut angekommen. „Als noch die Sonne schien und niemand erahnte, dass etwas passieren konnte, hat man hier in Hagen schon die ersten Vorbereitungen für den Krisenstab gefällt.“ Armin Laschet hat ihn gesagt, in der Halle der Feuerwehr Hagen am 15. Juli, nach der ersten Hochwassernacht dort. Aber er stimmt nicht. Denn man konnte ahnen, was da von oben kommt. Seit Tagen hatte es Warnungen gegeben, vom europäischen Hochwasserwarnsystem Efas und vom Deutschen Wetterdienst, der extreme Niederschläge, überflutete Flüsse und Keller prognostizierte. „Seien Sie bitte vorsichtig“, appellierte Meteorologe Sebastian Schappert noch am Mittag des 14. Juli auf dem Youtube-Kanal des DWD. Nach dem Wasser kommen die Fragen. Hat der Katastrophenschutz versagt? Es mehrt sich Kritik, Warnungen seien nicht bei der Bevölkerung angekommen. Von einem „monumentalen Systemversagen“ spricht Hannah Cloke, Professorin für Hydrologie an der Universität Reading und Mitentwicklerin des Efas. „Irgendwo ist die Warnkette gebrochen“, sagte sie dem ZDF. Die Frage ist: Wo und warum? Und: Wurde das Unwetter auf die leichte Schulter genommen? Als in NRW das Wasser stieg, machte Laschet Wahlkampf in Stuttgart. Einen Landes-Krisenstab gab es nicht. Herbert Reul, als NRW-Innenminister zuständig für den Katastrophenschutz, sah Tage nach dem Unwetter keine Fehler bei seiner Behörde, wohl aber bei Menschen, die Warnungen ignoriert hätten. Auch Reul befand, dass das Wesen von Katastrophen sei, „dass sie nicht voraussehbar sind“. Der Eindruck, der mitschwingt: Dann muss man auch nichts ändern.

Das sieht Hartmut Ziebs, früherer Chef des Deutschen Feuerwehrverbands und CDU-Bundestagskandidat im EnnepeRuhr-Kreis, anders. „Man kann Katastrophen nur dann beherrschen, wenn man im Vorfeld das Undenkbare, ja das Unmögliche durchspielt und sich darauf vorbereitet“, schrieb er auf Facebook. Jahrelang habe der Bund in Übungen auch abwegige Szenarien durchgespielt. „Konsequenzen? Fasst Null!“ (sic)

sich […] mit Hochwasserschutz, Gesundheitsschutz und dem Schutz kritischer Infrastrukturen intensiver beschäftigen“, die Katastrophe auswerten und „Lehren ziehen“. Das zu tun ist teuer, aufwendig und dauert, könnte aber Leben retten. Und über politisches und verwalterisches Handeln, das den Klimawandel und seine Folgen ernst nimmt, wurde da noch gar nicht gesprochen.

Katastrophen- oder Hochwasserübungen an NRW-Schulen sind nicht vorgesehen, Feueralarm einmal jährlich. Der erste bundesweite „Warntag“ im Herbst 2020 wurde zum Rohrkrepierer, als Sirenen ausfielen und Warnapp-Meldungen verspätet kamen. Anderswo gibt es keine Sirenen mehr. Die Fluten haben im Ahrtal Energie-, Wasser und Mobilfunknetze für Monate zerstört. „Es ist ja nicht so, als hätten Fachleute nicht vor dem Ausfall kritischer Infrastrukturen gewarnt“, ärgert sich Ziebs auf Facebook. Und fordert: „Man muss

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DAS FOTO

Aufräumarbeiten nach der Hochwasserkatastrophe in Bad Münstereifel. Mindestens 163 Menschen sind in NordrheinWestfalen ums Leben gekommen, der Schaden an der Wohnund Verkehrsinfrastruktur geht in die Milliarden. Foto: Thilo Schmuelgen / Reuters

MIETEN & WOHNEN

Schluss mit dem Wohnungs-Monopoly! Von Knut Unger, MieterInnenverein Witten; Plattform kritischer ImmobilienaktionärInnen Das Hin und Her um die Übernahme der Deutsche Wohnen SE durch die Vonovia SE zeigt einmal mehr, wie sehr die Wohnverhältnisse den Finanzmärkten unterworfen sind. Mitten in der größten Krise des bezahlbaren Wohnens seit der Nachkriegszeit hängt die Zukunft hunderttausender Mietwohnungen von den Regeln der Aktienfonds und den Kalkülen der Hedgefonds-Manager ab. Nicht

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nur die Berliner UnterstützerInnen des Volkentscheids „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ fragen sich: Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit „reif “ für die demokratische Alternative, die Vergesellschaftung des Wohnungswesens? Auch ohne Einverleibung der Deutsche Wohnen: Noch nie gab es ein börsennotiertes Wohnungsunternehmen, in dem so viel Kapital gebündelt ist wie in Vonovia.

Deren Expansion ist noch lange nicht abgeschlossen. Nach Übernahmen in Österreich und Schweden, nach ersten Ankerpunkten in Frankreich und den Niederlanden führte die Vonovia in diesem Jahr Gespräche mit der irischen Regierung. Dort wie auch in Deutschland bietet sie sich als Empfängerin öffentlicher Wohnungsbausubventionen an. Noch perspektivenreicher ist der Einstieg in die CO2-reduzierte Bewirtschaftung ganzer


KOMMENTAR

Was kann man denn noch tun? Von Bastian Pütter Stoffbeutel gegen brennende Permafrostböden, Avocadoverzicht gegen Wetterextreme, das Ablenken mit „CO2-Fußabdrücken“ statt dem Stellen der Machtfrage in der Energie- und Industriepolitik: Die Individualisierung von Verantwortung in der Klimakrise ist vielleicht der größte Fehler der Wohlmeinenden und die erfolgreichste Strategie ihrer Feinde. Was wir seit Hoimar von Ditfurths Auftritten im westdeutschen Fernsehen der späten Siebziger, seit dem Spiegeltitel mit versinkendem Kölner Dom vor 35 Jahren und seit Michael Manns Hockeyschlägerkurve aus dem Jahr 1999 mit immer besserer Datenbasis wussten, ist nun tägliches Nachrichtenthema. Die Klimakrise macht die Welt zu einem zunehmend unangenehmen Ort. Ja, klar. Hunderttausende Menschen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten engagiert – in Schülerinnengruppen und Bürgerinitiativen, in global agierenden Nichtregierungsorganisationen, in Parteien – um dieses Wissen zu popularisieren und in Handlungen zu übersetzen, die die Katastrophe abwenden. Der Erfolg der Umwelt- und Klimaschutzbewegung, ein erst esoterisches Nischenthema bis zum Pariser Klimaschutzabkommen geführt zu haben, ist beeindruckend – und er reicht nicht aus. Die „Nach uns die Sintflut“-Fraktion gruppiert sich in den Industriestaaten um Machtkerne, die Lobby- mit Partikularinteressen verbinden: Die Entscheidergeneration betreffen die Folgen der Klimakatastrophe aufgrund ihres Alters und ihres sozialen Status nicht. So einfach. Sie müssen nicht gewinnen, sie können langsam verlieren. Was es ihnen einfach macht, ist so etwas wie eine doppelte Individualisierungsfolge, symbolisiert etwa durch Gandhis „Sei Du selbst die Veränderung“ als Versprechen von Selbstwirksamkeit auf der einen und Margaret Thatchers neoliberales Dogma „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht“ auf der anderen. Teile der Klimaschutzbewegten hat es in eine Logik geführt, in der individueller Konsumverzicht als Weg zum Erfolg gepriesen und immer wieder als Enttäuschung erfahren wird. Es ändert sich erstaunlich wenig durch den Verzicht auf Steak und Flugreise. (Mit 350 Euro im Jahr subventioniert jede Steuerzahlerin im Schnitt das Fliegen, auch wenn sie nicht fliegt.) Gleichzeitig lässt sich mit der behaupteten Diktatur von Lebensstilen ein Teil der Gesellschaft gegen Klimaschutz mobilisieren, der selbst unter den Folgen der Erderwärmung leiden wird. Klimaschutz ist politisch und damit kollektiv. Die Verantwortung für seine unzureichende Umsetzung und die Mittel zur Abmilderung der Katastrophe sind klar zu lokalisieren. Instrumente sind Wahlentscheidungen und Protest.

Wohngebiete. Wohnungen aufzukaufen, um sie schnell auszuschlachten, war gestern. Heute geht es dem Konzern um die Übernahme ganzer Infrastrukturen und um politischen Einfluss. Am 26. September sind nicht nur Wahlen. In Berlin wird auch über den Vorschlag der Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ abgestimmt, die Berliner Wohnungen großer Privateigentümer in das Gemeineigentum des Landes zu überführen. Zuvor wird am 11. September in Berlin da-

Die individualisierte Klimakrise

für demonstriert, dass Mieten bundesweit gedeckelt werden, dass jeder Mensch einen verbindlichen Anspruch auf eine bezahlbare Wohnung erhält und dass die Immobilien der Finanzindustrie nach Artikel 15 Grundgesetz überall in Gemeineigentum überführt werden.

DIE ZAHL

3,95 Billionen

3.950.000.000.000 Euro wird die Klimakrise im Jahr 2050 allein die G7-Staaten kosten, wenn die Gegenmaßnahmen zur Erderwärmung auf dem Niveau der bisherigen Klimaschutz-Zusagen verharren. Die würden einen Temperaturanstieg von 2,6 Grad bedeuten. (Oxfam / Swiss Re Institute)

Info: www.mietenwahnsinn.info

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INTERVIEW REPORTAGE

In Dortmund ist bezahlbarer Wohnraum Mangelware. Kommunen haben lange darauf gesetzt, dass der Markt es regelt, sozialer Wohnungsbau hat aber den Ruf, unrentabel und unattraktiv für InvestorInnen zu sein. Nun bewegt sich was: Mit der „Dortmunder Stadtentwicklungsgesellschaft“ (DSG) wird ein neues städtisches Wohnungsunternehmen mit Leben gefüllt, das Wohnraum schaffen soll, der dauerhaft in städtischer Hand bleibt – und damit dauerhaft bezahlbar. Dr. Tobias Scholz und Markus Roeser vom Mieterverein Dortmund erklären, was das bedeutet. Von Alexandra Gehrhardt | Foto: Daniel Sadrowski

„Es ist ein erster Schritt“

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Gefühlt wird seit Jahren überall gebaut. Der Mieterverein aber beklagt seit Langem, dass es vor allem an bezahlbarem Wohnraum mangelt. Wie ist die Situation im Moment in Dortmund? Markus Roeser: Der Wohnungsmarkt ist immer noch angespannt, wir haben immer noch einen sehr geringen Leerstand. Das ist trotz der vielen Bauaktivitäten nicht besser geworden. Vor allem der Anteil der Sozialwohnungen ist immer weiter zurückgegangen. Gerade da müsste man noch mehr nachbauen. Tobias Scholz: Beim geförderten Wohnungsbau gelten die Mietpreisbindungen nur eine bestimmte Anzahl von Jahren, aktuell 20 bis 30 Jahre. Danach kann der Eigentümer zum aktuellen Marktpreis neu vermieten sowie auch Bestandsmieten entsprechend des Mietspiegels und im Rahmen der Kappungsgrenzen erhöhen. Darum ist es so wichtig, dass es Wohnungen gibt, die der Stadt gehören, weil sie Einfluss auf die Mieten und auf die Belegung für Gruppen am Wohnungsmarkt nehmen kann, die Schwierigkeiten haben, sich selbst zu versorgen. All das kann Politik steuern, wenn sie möchte. Bevor sich Bund, Land und Kommunen vor gut 20 Jahren mehr und mehr von ihren Beständen verabschiedeten, war Wohnraum in staatlicher Hand ja üblich. 2016 hat die Stadt Dortmund den Bau von 200 städtischen Wohnungen angestoßen, dann aber nicht weitergemacht. Warum nicht? Markus Roeser: Ausgangspunkt war, dass DOGEWO21 als Tochterunternehmen der Stadtwerke keine städtischen Grundstücke übertragen werden können. Darum sollte die Dortmunder Stadtentwicklungsgesellschaft als direkte Stadttochter diese Rolle übernehmen, jedoch ohne eigenes Personal. Die Neubauaktivitäten sollten dann in Kooperation mit DOGEWO21 erfolgen. Dieses Modell funktionierte rückblickend nicht. Die DSG hat nicht gebaut.


Dr. Tobias Scholz (r.) ist Geschäftsführer beim Mieterverein Dortmund und Umgebung e.V., Markus Roeser ist wohnungspolitischer Sprecher des Vereins.

Tobias Scholz: Thomas Westphal als neuer Oberbürgermeister hat sein Wahlversprechen, Wohnungsbau zum Top-Thema zu machen, ernst genommen und vorangetrieben. Die neuen politischen Beschlüsse, die sogar von der CDU-Fraktion mit getragen werden, sind vor dem Hintergrund der Hängepartie in den Vorjahren zu sehen. Im Juni hat der Rat der Stadt nun beschlossen, die Stadtentwicklungsgesellschaft mit Personal, finanziellen Mitteln und Grundstücken auszustatten. Damit entsteht ein neues städtisches Wohnungsunternehmen. Was soll die künftige DSG können? Markus Roeser: Die DSG kann mit eigenem Personal jetzt selbstständig handeln und soll bald selbst Kredite aufnehmen und selbst bauen können. Im Herbst sollen die Aktivitäten konkretisiert werden. Wir sind sehr gespannt. Tobias Scholz: Es gab in den vergangenen Jahren noch nie einen so konkreten Stand wie jetzt: Es gibt endlich konkrete Grundstücke, auf denen die DSG bauen soll. Zum Teil haben diese schon Baurecht, und man kann im Prinzip sofort loslegen. Es gibt auch einen Wirtschaftsplan und Berechnungen zur Wirtschaftlichkeit. Diese zeigen, dass geförderter Wohnungsbau wirtschaftlich möglich ist, auch bei einem Anteil von 50 Prozent. Die Rentierlichkeit ist zwar etwas geringer, aber am Ende steht unterm Strich mehr als die schwarze Null. Und das Geld ist ja nicht weg. In den Büchern der Stadt Dortmund stehen am Ende Gebäude und bebaute Grundstücke. Der Mieterverein hat die Forderung nach einer Stärkung der DSG schon lange gestellt. Wie bewerten Sie das Ergebnis? Tobias Scholz: Wir als Mieterverein haben immer wieder daran erinnert, die Forderung aber auch

im Netzwerk „arm in Arm“, zugleich auch Bündnis „Wir wollen wohnen“, breiter aufgestellt. In der Lokalpolitik ist es, glaube ich, eine Parallelität, dass sich alle Akteure auf den Weg gemacht haben, weil die bestehenden Maßnahmen den Rückgang der geförderten Wohnungen nicht ausreichend aufhalten konnten. Wenn man versuchen will, einen gewissen Sockel zu halten, muss man loslegen. Markus Roeser: Außerdem ist das Problem, dass Wohnraum knapp ist und die Mieten steigen, bei mehr Menschen angekommen. Wir sprechen schon seit mehreren Jahren darüber, die meisten hatten es aber selbst nicht erlebt. Das ist jetzt anders. Was macht das mit der Stadttochter DOGEWO21? Tobias Scholz: Im Raum steht ein Wechsel der Gesellschafterstruktur. Es gibt Interesse der Sparkasse, die aktuell zehn Prozent an der DOGEWO21 hält, massiv in DOGEWO21 zu investieren. Durch damit verbundene Neubewertungen des Wohnungsbestandes sind erhöhte Gewinnausschüttungen zu erwarten, die über die Mieten verdient werden müssen. Hier gibt es auch das Interesse der Stadtwerke, weil durch erhöhte Buchwerte das Eigenkapital erhöht würde. Der politische Einfluss auf die Sparkasse ist zudem als noch geringer einzuschätzen als auf DSW21. Wir sehen diese Überlegungen daher als überaus kritisch an. Man sollte nicht über die Freude über kommunalen Wohnungsbau die 16.000 DOGEWO-Wohnungen vergessen. Was fehlt aus Sicht des Mietervereins? Tobias Scholz: Es ist der erste substanzielle Vorschlag, das Thema kommunaler Wohnungsbau voran zu bringen. Es zeigt aber zugleich: Auf DOGEWO21 als nicht mehr direkt städtisches Unternehmen hat die Stadt scheinbar nicht mehr genug politischen Einfluss. Damit stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis 19


INTERVIEW

zwischen der Stadt und dem Konzern Stadt mit den Dortmunder Stadtwerken . Markus Roeser: Im Gesamtblick ist die Zahl der geplanten Wohnungen immer noch zu gering. Es müssten weitere Grundstücke für den kommunalen Wohnungsbau zur Verfügung gestellt werden. In Münster zum Beispiel wird ein Bebauungsplan nur aufgestellt, wenn der Eigentümer einen Teil des Grundstücks an die Stadt verkauft. Das war auch eine Variante ursprünglichen Dortmunder Modells, bis 2013 die Quote für geförderten Wohnungsbau in den Fokus gestellt wurde und die Verantwortung mehr in die Hände der Privatinvestoren gelegt. Darum könnte man das durchaus diskutieren: Bevor ein Investor sozialen Wohnungsbau macht, wird ein Teil zu einem angemessenen Preis an die DSG verkauft, die darauf Wohnungen baut.

An der Grenze in Mexiko tauchen immer mehr rumänische Roma auf. Sie wollen in die USA. Dort hoffen sie auf ein besseres Leben. Von Januar bis Mai registrierten die Grenzbehörden der USA mehr als 2.000 rumänische StaatsbürgerInnen an der Grenze zu Texas, so viele wie seit 14 Jahren nicht mehr.

Wie sieht es in Sachen kommunaler Wohnungsbau in anderen Städten im Ruhrgebiet aus? Markus Roeser: Auch in anderen Städten bauen die Kommunen zwar nicht selbst, aber die mittelbaren kommunalen Wohnungsunternehmen sind im Neubau aktiv. Bei der VBW in Bochum und der Allbau in Essen sind die Städte über eigene Töchter Hauptgesellschafter. Beide Unternehmen bauen auch verstärkt im Sozialen Wohnungsbau. In Bochum entstehen bei Neubauprojekten fast 50 Prozent öffentlich geförderte Wohnungen. Dortmund holt in diesem Punkt also zu den Nachbarstädten auf. Es zeigt aber auch, dass in den bisherigen Strukturen Neubau möglich gewesen wäre.

ie kamen in der Nacht, waren größer und trugen andere Kleidung als die meisten MigrantInnen, die sonst den Grenzfluss Rio Grande zwischen Mexiko und den USA überqueren. Ein Reporter der Nachrichtenagentur Reuters beschreibt, wie sie den US-GrenzschützerInnen anhand von Äußerlichkeiten aufgefallen seien. Als die „Border Patrol“ sie auf Spanisch ansprach, blickte sie in ratlose Gesichter. Bis ein Mann in gebrochenem Englisch erklärte: „Wir sind aus Rumänien.“

Ist dann bald alles gut? Tobias Scholz: Wohnungsbau braucht Zeit. 2018, 2019 und 2020 wurden ja keine neuen Projekte auf den Weg gebracht. Markus Roeser: Die Wohnungen, die die Stadt baut, werden den Wohnungsmarkt nicht drehen. Es ist trotzdem sehr wichtig, dass es sie gibt. Die Stadt kann so langfristig Einfluss auf Mieten und Belegung der Wohnung nehmen. Kommunaler Wohnungsbau ist ein Generationenprojekt, wie wir an den 16.000 Wohnungen von DOGEWO 21 sehen.

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REPORTAGE

Von Benjamin Laufer Fotos: Adrees Latif / Reuters

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Später beantragten die Menschen Asyl in den USA. Die Begründung: Als Roma seien sie vor dem Rassismus in Rumänien geflohen. Angehörige der Roma-Minderheit werden in vielen europäischen Ländern systematisch ausgegrenzt und benachteiligt, auch in Rumänien. In den


Geflohen vor Rassismus in Europa USA sei ihre Situation deutlich besser, sagt die Politologin Margareta Matache von der Universität Harvard: „Ich kenne junge Roma, die in rumänischen Schulen gemobbt, ignoriert und von LehrerInnen schlecht behandelt wurden und die in amerikanischen Schulen und Universitäten förmlich aufblühen.“ Das spricht sich rum. Matache, die in Harvard ein Roma-Programm am Zentrum für Gesundheit und Menschenrechte leitet, beobachtet bereits seit 2007 eine Einwanderungswelle in die Vereinigten Staaten. Getrieben wird diese von der Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit, Würde und Wohlstand. Die Corona-Pandemie scheint den Wunsch noch zu verstärken: Von Januar bis Mai registrierten die Grenzbehörden der USA mehr als 2.000 RumänInnen an der Grenze zu Texas, so viele wie seit 14 Jahren nicht mehr. Margareta Matache kann gleich mehrere Gründe dafür nennen: Zu den bestehenden Vorurteilen in Europa sei durch Corona ein weiteres hinzugekommen: Roma als Superspreader, gerade aus einem Land wie Rumänien, das mit hohen Inzidenzen zu kämpfen hatte. Außerdem seien viele Jobs für Roma weggefallen, nicht einmal

Flaschensammeln funktioniere in der Pandemie. „Viele haben nichts zu essen für ihre Kinder“, sagt Matache.

Oben: Rumänische Flüchtlinge warten in La Toya, Texas, auf den Abtransport durch US-Grenztruppen,

Auch der Brexit spiele eine Rolle: Nach Großbritannien einreisen, um dort zu arbeiten, können RumänInnen nun nicht mehr so leicht. Bislang lag Rumänien aber hinter Polen auf Platz zwei der EU-Länder, aus denen Menschen dorthin einwandern. Viele Gründe also, die die USA besonders attraktiv erscheinen lassen. Zumal dort inzwischen mehr Menschen geimpft sind als in Europa und die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Pandemie größer ist, meint Matache.

nachdem sie auf einem Floß den Rio Grande von Mexiko in die USA überquert haben.

Rumänische Medien berichten: Viele MigrantInnen reisten derzeit von Paris aus per Flugzeug nach Mexiko und machten sich von dort auf den Weg in die USA. „Manche verkaufen ihr Hab und Gut, sogar ihre Häuser, und riskieren alles, um ins Land geschmuggelt zu werden“, sagt die Wissenschaftlerin. Wer trotzdem nicht genug Geld zusammenbekomme, müsse die Dienste der FluchthelferInnen oft noch lange Zeit nach der Ankunft teuer bezahlen. Diese Familien erwartet dann das, was unzählige Roma auch in Europa erleben: ein Leben in Lohnsklaverei.

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WILDE KRÄUTER

Unsere monatliche Exkursion in die urbane Welt der wilden Kräuter. Mit nützlichen Informationen, pointierten Fußnoten, vielen Geschichten – und immer einem originellen Rezept. Von Wolfgang Kienast

KORNELKIRSCHE

N REZEPT Von 125 g Kornelkirschen einige schöne zum Dekorieren zurückhalten. Den Großteil der Früchte in ein wenig Wasser etwa 5 Minuten weichkochen, die anfallende Flüssigkeit abgießen und die Kirschen durch ein Sieb streichen. 1 Zwiebel und 1 Möhre, beide grob gewürfelt, in Butter und Olivenöl anschwitzen, mit 250 ml Gemüsebrühe ablöschen, mit Thymian und Rosmarin würzen und auf kleiner Flamme um ¼ reduzieren. 2 TL Zucker in 1 EL Balsamico karamellisieren und die Brühe durch ein feines Sieb angießen, das Kornelkirschmus und 1 EL Gin zugeben. 1 Barbarie-Entenbrust von beiden Seiten braten (ca. 5 und 3 Minuten), salzen und zum Durchziehen zugedeckt für etwa 10 Minuten im Herd auf kleiner Flamme warmhalten. Die Sauce noch einmal erhitzen, die Brust aufschneiden, die Sauce über das Fleisch geben und das Gericht vor dem Servieren mit den zurückgehaltenen Kirschen dekorieren. Dazu passen Basamtireis und Spitzkohl-Ananas-Salat mit einer Himbeeressig-Vinaigrette.

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atürlich kann nicht jedes Experiment gelingen. Im Coronafrühling 2020 hatte ich mich, unter anderem, an Goldnessel-Kartoffelplätzchen versucht. Das Ergebnis war ein Desaster in Farbe, Form und Geschmack. Ich musste Pizza bestellen. Zum Glück hatte ich keine Gäste geladen, gegenseitiges Besuchen war ja aufgrund der Kontaktbeschränkungen nicht erlaubt. Unbrauchbar war das gebackene Etwas auch für die Kolumne. In der Regel aber kommt aus meiner Wildkrautküche Essbares auf den Tisch. Neue Geschmackserlebnisse sind eine Seite der Medaille, auf der anderen stößt man beim Kochen mit wilden Kräutern immer wieder auf faszinierende Geschichten, Sagen und Legenden. Und gelegentlich stolpert man über irritierend schöne, nie zuvor gelesene oder gehörte Worte. „Lustgehege“ ist ein solches. Entdeckt habe ich es bei Adelbert von Chamisso, in seinem Buch über die „nutzbarsten und schädlichsten Gewächse, welche wild oder angebaut in Norddeutschland vorkommen“. Chamisso verfasste es in den 1820er Jahren im Auftrag des preußischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, es war als Schulbuch gedacht und hat dem Dichter und Naturforscher offenbar einiges abverlangt. Von seiner Plackerei dürfen wir heute noch profitieren. Bei der Kornelkirsche lobt er vor allem das harte Holz, aus welchem, wie er schreibt, die seinerzeit beliebten Ziegenhainer Wanderstöcke gefertigt wurden. Unter Kennern gilt ein original Ziegenhainer wohl als der beste aller denkbaren Stöcke. Auch das wusste ich bislang nicht, dass es tatsächlich Liebhaber historischer Wanderstöcke gibt. Wer mich kennt, weiß, dass ich anfällig bin. Ich sollte vorsich-

Cornus mas

tig sein und tunlichst nicht mit dem Sammeln dieser Objekte beginnen. Obwohl…? Nein! Unter gar keinen Umständen! Finger weg! In der botanischen Systematik gehört die Kornelkirsche zur Gattung der Hartriegelgewächse; drei Arten dieser Gewächse waren zu Chamissos Lebzeiten in unseren Breiten heimisch – daran hat sich nichts geändert – und „etliche amerikanische werden in unseren Lustgehegen angepflanzt“. Es klingt nach halbwegs geregeltem Lustwandeln. Wohl sollte dort Augenweide sein – bei den Hartriegelgewächsen finden sich etliche hübsche Vertreter. An wie vielen dieser Arten essbare Früchte hängen, weiß ich nicht. Bei der Kornelkirsche ist es so, wie auch Chamisso schreibt. Ganz ausgereift sind sie eine echte Delikatesse.

In dem um 1920 erschienenen Standardwerk „Illustrierte Flora von Mittel-Europa“ von Gustav Hegi heißt es, die Kirschen würden entweder roh oder kandiert genossen oder mit Zucker oder Essig zu Kompott verarbeitet. Auch Marmeladen und Fruchtsäfte ließen sich daraus bereiten. Auch als Fischköder würden die reifen Früchte benützt. Aus den Kirschkernen fertigte man billige Rosenkränze. Die im Kern eingeschlossenen Samen könnten geröstet als Kaffee-Ersatz dienen und würden sich dann durch einen vanilleartigen Geruch auszeichnen.


NACHRUF

Esther Bejarano ist tot. Als Mitglied des Mädchenorchesters überlebte sie Auschwitz, ging nach Israel und kehrte zurück ins Land der Täter. Ein halbes Jahrhundert lang kämpfte sie mit bis zuletzt nicht abnehmender Energie für die Erinnerung an die Shoah – „Es ist meine Rache, dass ich an die Schule gehe“, sagte sie. Auf Hunderten Veranstaltungen und, seit sie 84 war, auch als Sängerin einer multikulturellen Hip-Hop-Band stellte sie sich den neuen Nazis entgegen. Am 10. Juli starb die große, kleine Frau im Alter von 96 Jahren in Hamburg. Von Bastian Pütter | Foto: Dirk Planert

Mir lebn eybik „Wie schaffst du das?“ Die sorgende, bewundernde und oft unausgesprochene Frage hat Esther Bejarano ein Leben lang begleitet. Dass sie vorgibt, Akkordeon zu spielen, rettet ihr das Leben. Ihr Orchester muss die Ankunft der Transporte in Auschwitz begleiten. „Die Musik hat Esther gerettet, Musik führte die anderen in den Tod. Mit diesem Widerspruch weiter zu leben, mit Musik zu leben, es ist unvorstellbar, welch eine Kraft“, schrieb Maria Ossowski in ihrem Nachruf. Esther übersteht mit Typhus und Keuchhusten auch die Zwangsarbeit in Ravensbrück, auf dem Todesmarsch am Kriegsende gelingt ihr die Flucht. Aber wie überlebt man das Überleben? Esther Bejarano geht nach Israel, heiratet, bekommt zwei Kinder. 1960 siedelt die Familie nach Deutschland um, sie eröffnet eine Boutique. Der Versuch eines normalen Lebens. Bis irgendwann die NPD vor ihrem Laden einen Infostand auf baut. Die Polizei geht gegen den Gegenprotest vor, Esther protestiert, die Neonazis fordern ihre Verhaftung, alle Auschwitz-Häftlinge seien Verbrecher gewesen. Das Initial für das, was ihr Leben bis zu ihren Tod prägen wird: Esther Bejarano widmet ihr Leben dem Kampf gegen den Neonazismus und gegen das Vergessen der Shoah. Gemeinsam mit ihren Kindern spielt sie mit der Band Coincidence jüdische antifaschistische Lieder. Sie wird Vorsitzende des Auschwitz-Komitees und tritt der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" bei. Noch 2019, als der VVN/BdA vorübergehend die Gemeinnützigkeit entzogen wird, schreibt sie an Finanzminister Olaf Scholz: „Das Haus brennt – und Sie sperren die Feuerwehr aus!“ Ihr Bundesverdienstkreuz und die breite Anteilnahme an ihrem Tod bis zum Bundespräsidenten verdecken, wie entschieden ihr Antifaschismus

und ihre Kritik am Umgang der Bundesrepublik mit den neuen Nazis, mit Rassismus und Antisemitismus war: „Wer gegen die Nazis kämpft, der kann sich auf den Staat überhaupt nicht verlassen", war sie sicher. Die Frage: „Wie schaffst du das?“ richtet sich mit zunehmendem Alter immer mehr auf ihre unendlich scheinende Energie. Sie reist unermüdlich, steht vor Schulklassen, spricht auf Demonstrationen, gibt noch mit 95 lange, kämpferische, hellwache Interviews – und sie singt. 2007 ruft Kutlu Yurtseven sie an. Der Kölner Rapper fragt, ob sie Lust habe, mit seiner Hip-Hop-Formation „Microphone Mafia“ zu arbeiten. Sie sagt zu und steht bis zuletzt mit der Band auf der Bühne. „Ich will so lange singen, bis es keine Nazis mehr gibt“, sagte sie oft. In all ihrer Kraft, ihrem Lebensmut und ihrem Charisma hat man ihr beinahe sogar das zugetraut. 23


Kulturkalender August | 2021

Wir freuen uns, für diesen Kalender so aus dem Vollen schöpfen zu können wie seit Langem nicht mehr. In diesem Sommer gibt es in unseren Städten wieder eine Vielzahl an Kulturveranstaltungen in allen Sparten, die den Bedingungen, die die Pandemie stellt, mit neuen Formaten, Entschlossenheit und guten Ideen begegnen. Wir wünschen einen schönen Kulturhochsommer!

SO 01 | 08 | 21 Kinder | Ferien in der DASA Eine Reise ins Innere verspricht das Ferienprogramm der DASA. In jeder Ferienwoche gibt es ein anderes Thema zum Kreativ-schlauerWerden. Da kürzlich die neue Ausstellung „Heilen und Pflegen“ an den Start gegangen ist, bündeln sich die aktuellen Bastelideen rund um das Thema Gesundheit zum Mitmachen vor Ort und zu Hause nachmachen. Da geht es um Röntgenbilder zum Selberbauen, ein pumpendes Herz zum Selbstmachen oder ein Blutdruck-Messgerät für die Hosentasche.

Das Programm richtet sich an Kinder ab dem Grundschulalter. Bis 17. August. DASA, Dortmund Kunst | Geführte Radtouren auf dem Emscherkunstweg Bis September gibt es in diesem Jahr jeden Sonntag von 14 bis 17 Uhr gleich zwei kostenfreie Radtouren. Es werden jeweils dieselben Kunstwerke angesteuert, gestartet wird entweder von Ost nach West oder von West nach Ost, so dass die Touren die gleiche Route abdecken. Alle Ausflüge führen zu mindestens drei Kunstwerken und werden von geschulten

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KunstvermittlerInnen begleitet. Die genauen Treffpunkte werden mit der Teilnahmebestätigung bekanntgegeben. Für die kostenfreie Teilnahme mit eigenem Fahrrad ist eine Anmeldung bis Donnerstag vor dem Termin über www.emscherkunstweg.de erforderlich. Emscherkunstweg, 14 bis 17 Uhr

MI 04 | 08 | 21 Lesung | Campino präsentiert „Hope Street“ Campino ist einer der populärsten Musiker Deutschlands. Aber das ist nur die halbe Geschichte. Die andere Hälfte fängt mit


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Open-Air-Kinos

Programme und Tickets: fiegekino.de psd-bank-sommerkino.de dortmund.filmnaechte.de

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Klassiker, Kulturfilme, aktuelle Blockbuster und Kino-Feinkost – gleich drei Veranstaltungsreihen auf Großleinwänden locken in BO und DO an Sommerabenden ins Freie. Im Innenhof der Bochumer Privatbrauerei Moritz Fiege in Laufdistanz zum Hauptbahnhof findet noch bis zum 15. August das beliebte „Fiege Kino Open Air“ (Foto) statt. In Dortmund belebt Konkurrenz das Geschäft: Das Anfang Juli abgesagte Kinoevent an der Seebühne im Westfalenpark feiert mit altem Sponsor und neuem Veranstalter eine plötzliche Auferstehung als „PSD Bank Sommerkino“. Bis zum 22. August versprechen die Macher einen bunten Programmix in Strandatmosphäre. Keinen Kilometer entfernt starten am 5. August vor der beeindruckenden Kulisse des alten Hochofens auf Phoenix-West die „Filmnächte Dortmund“. Das Abendprogramm soll durch Familienfilme am Tag auf LED-Leinwand ergänzt werden.

Kevin Keegan an, dem englischen Stürmer mit den wilden Locken. Der wurde in den 70ern zu Campinos großem Idol: Als zehnjährigem Sohn einer englischen Mutter und eines Richters aus Düsseldorf war ihm dieser Keegan Erlösung und Vorbild zugleich – ein cooler Engländer, der ihm zeigte, auf welcher Seite er zu stehen hatte. Seitdem verbinden sich in der Entscheidung für den besten Fußballverein der Welt die ganze Widersprüchlichkeit seiner Herkunft und die Liebe zu einem Land, das irgendwo zwischen Beatles und Brexit steht. Von alldem, seiner Familie und der rasenden Leidenschaft zum Liverpool FC erzählt Campino in diesem Buch. Juicy Beats Park Sessions An der Buschmühle 3, Dortmund, 20 Uhr

SA 07 | 08 | 21 Show | „Hurra, wir sind wieder da!“ Mit der neuen Show „Hurra, wir sind wieder da!“ und einem umfassenden Hygienekonzept meldet sich das Varieté et cetera im August zurück. Zauberei trifft auf Comedy, Bauchreden verschmilzt mit Gesang, Improvisation und Poesie, und all das gespickt mit atemberaubender Artistik. Moderator Luke Dimon entführt die ZuschauerInnen in die unvergessene Welt des Varietés. Mit dabei sind Igor Boutorine (Hula-Hoop), Alex & Liza (Partnerakrobatik), Roman & Slava (Stepptanz), Ingrid Korpitsch (Luftring) und Kai Hou (Hoop Diving). Weitere Termine unter www.variete-et-cetera.de Varieté et cetera, Bochum, 16.30 Uhr (auch 20 Uhr)

Kath St Paulus Gesellschaft Jugendhilfe St Elisabeth Dortmund

Essen & Lernen St. Antonius Deutsch, Mathe, Bio oder Geschichte … Helfen Sie Kindern in unserer Hausaufgabenbetreuung!

SO 08 | 08 | 21 Kinder | Kulturbiergarten: Fritzi Benders Zwergenlala mit Karlotta und Herr Kauz Fritzi Benders Zwergenlala ist eine KabarettLiedershow mit Fritzi und den Puppen Karlotta und Herr Kauz. Fritzi singt vom Vogelmännlein, vom Anderssein, von vergessenen Texten und der müden Maus. Sie rappt, tanzt und quasselt aus dem Bauch heraus – auch mit ihrem Publikum. Sie vermittelt Freude an Musik und lädt zum Mitmachen und Mitsingen ein. Immer wieder mit von der Partie sind Herr Kauz und Karlotta. Der vergessliche Herr Kauz, der eigentlich ein Uhu ist, erzählt bekannte Märchen. Zumindest versucht er das. Kulturbiergarten, Klinikstraße 41 – 43, Bochum, 15 Uhr (auch 28. August) Musik | Sommer am U: Jeff Silvertrust Jeff Silvertrust aus Chicago/USA ist seit ewigen Zeiten als One-Man-Band in Europa unterwegs. Mit seinem charakteristischen Sound aus Casio-Keyboard, Hi-Hat, Trompete und Gesang hat er auf unzähligen Marktplätzen und Festivals das Publikum begeistert. Jeff plündert schamlos die Musikgeschichte – ob Klassik, Jazz, Pop, Rock oder Volkslied – und erweitert die Songs um bissige, sozialkritische Texte in diversen Sprachen. Präsentiert von bodo e.V. Dortmunder U, Dortmund, 17 bis 19 Uhr 2021_06_15

FR 13 | 08 | 21 Komödie | Das Schweigen der Frösche Kleinkrieg in der Nachbarschaft: Mit einer feucht-fröhlichen Gartenparty unter NachbarInnen fängt es an. Zu diesem Zeitpunkt

Nehmen Sie Kontakt auf Martina Buchbinder Projektleiterin Tel.: (0160) 74 42 333 E-Mail: Martina.Buchbinder@ jugendhilfe-elisabeth.de

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paars Brockmeier noch in derselben Nacht ein neuer Mieter einziehen wird, ein ziemlich kleiner, ziemlich laut quakender Frosch. Den AnwohnerInnen aus dem Mietshaus raubt er den Schlaf, für die Brockmeiers in ihrem Eigenheim jedoch entwickelt er sich zu einer Art Kind-Ersatz. Und schon bald können die 25


KULTURKALENDER ZuschauerInnen mit großem Vergnügen erleben, wie die Emotionen hochkochen und aus einer Mücke – oder in diesem Fall aus einem Frosch – ein Elefant wird. Weitere Termine unter www.mondpalast.com Mondpalast, Herne, 20 Uhr

FR 13 | 08 – SO 15 | 08 | 21 Festival | MURX Festival Vom 13. bis 15. August 2021 findet erstmals das Reparaturfestival „MURX – repariert was euch kaputt macht“ statt. In der Bochumer Rottstraße erwartet das Publikum ein vielseitiges Programm aus Workshops, Kunstaktionen, Vorträgen und Diskussionen.An mehreren Tagen bringt das atelier automatique gemeinsam mit verschiedenen ReparaturkünstlerInnen, Initiativen und AktivistInnen das Thema Reparatur auf den Tagesplan und lädt zum Mitmachen ein. Programm und Infos: www.atelierautomatique.de atelier automatique, Bochum

SA 14 | 08 | 21 Tanz | Kulturbiergarten: Urbanatix Open Circle – Tanz Battle Ein Battle ist in der urbanen Tanzszene die direkteste Form, sich miteinander zu messen.

Beim Urbanatix OC Battle treten die Tänzer 1vs1 in den Kategorien „HipHop Freestyle“ oder „Me Against The Music“ an. Bei „HipHop Freestyle“ wird zu verschiedenen Musikstilen aus dem Bereich Hiphop getanzt. Der Style der Bewegungen ist dabei frei und von der Individualität des Tänzers geprägt. Bei „Me Against The Music“ ist alles möglich. Der DJ greift auf einen umfassenden Pool aus MainstreamHits, Klassikern und überraschenden Songs zu. Es entstehen verrückte Kombinationen unterschiedlichster Tanzstile, gemixt mit einer interessanten Songauswahl. Kulturbiergarten, Klinikstraße 41 – 43 Bochum, 16 Uhr Performance | Die Lücke im Ablauf Der UmweltKulturPark und ein angrenzender Waldweg im Stadtteil Barop werden Mitte August zur Bühne: BesucherInnen sind eingeladen, sich im Rahmen eines Spaziergangs Sprechkunst, Literatur und Natur zu „erwandern“. Der Sprechchor Dortmund – bekannt aus zahlreichen Dortmunder Schauspielinszenierungen – macht Sommer-Theater. Da murmelt und orakelt es entlang des Waldwegs jenseits der Marie-Curie-Allee, da singt der Weinberg, auf der Obstbaumwiese wird es lyrisch. Der Sprechchor Dortmund „stört“ den Ablauf eines ganz normalen Sommernach-

mittags im Park mit szenischen Interventionen – Kleingruppen und Chöre von bis zu 20 Personen sprechen an verschiedenen Stationen Adaptionen von Texten bekannter Autoren wie Daniil Charms, Wolfgang Borchert oder Heiner Müller sowie vom Sprechchor Dortmund kollektiv entwickelte Mini-Dramen, die das Ausgeliefertsein in Raum und Zeit thematisieren und gleichzeitig den Blick auf die Kraft von Kunst und Kultur lenken. UmweltKulturPark, Dortmund, 15 Uhr (auch 15. August)

FR 20 | 08 | 21 Musik | Tango Argentino Die Musiker Ruslan Maximovski (Bandoneon), Alexander Gabriel (Klavier) und Peter Spaeth (Kontrabass) kommen aus Dortmund und Münster. Fasziniert vom Wesen des Tangos und seinen vielfältigen Erscheinungsformen, haben sie sich ein breites Repertoire erarbeitet, von der Época de Oro der großen Tanzorchester bis hin zu den Werken Astor Piazzollas und zeitgenössischen Kompositionen. Das Trio arrangiert sie für ihre kammermusikalische Kleinbesetzung. Der gebürtige Argentinier, Guillermo Ortega, sorgt als Sänger und Gitarrist für den typischen Tango-Sound. Das Konzert wird durch

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Sabine Poschmann & Jens Peick Gemeinsam für ein soziales Dortmund. Gemeinsam für gute Arbeit. Aufstockung und Verlängerung des Kurzarbeitergeldes Neue Qualifizierungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten Abschaffung des Soli für fast alle Bessere Arbeitsbedingungen und Löhne in der Pflege

Was wir erreicht haben

Öffentlich geförderte Jobs für Langzeitarbeitslose

Was wir fordern

Recht auf Arbeit Mindestlohn auf 12 € erhöhen Tarifbindung stärken Bürgergeld statt Hartz IV Minijobber*innen sozial besser absichern Leiharbeiter*innen genauso entlohnen wie Festangestellte Abschaffung der sachgrundlosen Befristung

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BODO-TIPP

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Bochum geht vor die Tür: Acht VerstalterInnen, Kultureinrichtungen und die Stadt bewerben gemeinsam ein dezentrales Draußen-Kulturprogramm.

Bochumer Kultursommer Alle Termine unter bochumer-kultursommer.de

Auf den Open-Air-Bühnen des Kulturbiergartens im Stadtpark gibt es Spartenübergreifendes von Lioba Albus über Oliver Uschmann und Patrick Salmen (Foto) bis zu den Bochumer Symphonikern. Das Prinz Regent Theater bespielt eine Open-Air-Bühne mit Theater – im August unter anderem „Squash“, „Reigen“ und „Heute Abend: Lola Blau“, mit Lesungen und Musik. Das Planetarium lädt am letzten Augustwochenende zu „Planetarische Nächten“ in den Stadtpark. Thealozzi und Zeche Hannover sind dabei, die Bobiennale verspricht „pandemietaugliche Kunsthäppchen in der Innenstadt und vor Ihren Fenstern“, und an mehreren Tagen bringt Urbanatix seine urbane Artistik auf die Straße und in die Parks.

tänzerische Einlagen mit dem Tanzpaar Ángel und Vanessa zur stilvollen Performance. Eine Anmeldung ist erforderlich unter: www.auslandsgesellschaftev.de Café Orchidee, Dortmund, 19 Uhr

SA 21 | 08 | 21 Kunst | KunstRasen V – Raus aus der Hütte! Am 21. und 22. August 2021 lädt der Dortmunder Gartenverein Buschmühle zum fünften Mal zur Freiluftausstellung KunstRasen ein. Seit 2009 bringt die Triennale alle drei Jahre zeitgenössische Kunst in die außergewöhnliche Anlage zwischen Rombergpark und Westfalenpark – Skulptur und Malerei, Fotografie und Videoarbeiten, Installation und Performance zwischen Acker, Astern und Apfelbaum. Die oftmals speziell für die örtlichen Gegebenheiten in den Gärten entwickelten Arbeiten vereinen sämtliche Sparten der bildenden Kunst. Und ebenso vielfältig setzen sie sich mit dem Naturraum auseinander, schaffen spielerisch oder ernsthaft Verbindungen und Kontraste, verwandeln und irritieren. Eintritt frei. Infos: www.gartenverein-buschmuehle.de Gartenverein Buschmühle e.V., Dortmund, 12 – 18 Uhr (auch 22. August) Theater | Nachdem der Himmel glühte 2018, 2019, 2020 – Sommer. Warm, ausgedehnt und lange nicht so verregnet wie einige Sommer zuvor. Sonne satt. Das Gras nahm sogar die Farbe der Sonne an. Und selbst aus dem Weltall war die Dürre in Europa sichtbar. Der sonst so grüne Planet hatte eben genau diese Farbe verloren. Ob durch Wasserknappheit oder Überschwemmungen, anhand von Wasser lassen sich die Folgen des

Klimawandels ganz unmittelbar beobachten. Wasser ist Leben – und für Menschen, Tiere, Pflanzen sowie jede Art von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung unabdingbar. Amelie Barth, Norman Grotegut und Clara Minckwitz von pulk fiktion begeben sich auf das Gelände der Kokerei Hansa und entwickeln ein spezielles Theaterformat: eine installative Ortsbegehung. Die Zuschauenden erkunden das Gelände der Kokerei, folgen dem Wasser und verlieren es, begegnen RegenmacherInnen, kämpfen sich durch eine Dürre und suchen nach Lösungen. Kokerei Hansa, Dortmund, 18 Uhr Musik | Fee Badenius – Solo Fee Badenius wandelt auch in ihrem neuen Programm zwischen den Welten, sowohl musikalisch als auch textlich. Ihre Lieder pendeln zwischen Sehnsucht und Melancholie, zwischen Zartheit und Stärke, haben aber auch immer Bodenhaftung und intelligenten, hintersinnigen Witz. Fee Badenius hält uns und sich selbst den Spiegel vor, zertrümmert ihn aber nicht, sondern malt mit einer ordentlichen Portion Optimismus ein Lächeln auf die beschlagene Scheibe. Zauberkasten, Bochum, 20 Uhr

SO 22 | 08 | 21 Theater | Open Air Bühne: Lola Blau Die junge Schauspielerin Lola Blau freut sich auf ihr erstes Engagement in Linz, das in wenigen Tagen beginnen soll. Doch Lola Blau ist Jüdin, und auch wenn sie sich nicht für Politik interessiert, interessiert sich die Politik immer mehr für sie… Prinz Regent Theater, Bochum, 18 Uhr (auch 31. August, 19.30 Uhr)

KULTUR ENDLICH WIEDER LIVE! Freut euch auf: DJELEM DJELEM 8. Dortmunder Rom*nja Kulturfest vom Depot bis zum Nordmarkt 21. bis 29. August 2021 Mit Musik Theater Film Fortbildung Begegnung

Vollständiges Programm unter: www.facebook.com/ DJELEM.DJELEM.Dortmund BALKANFEST @ Kultursommer 21.08.2021: Deno Records 25.08.2021: Adrian Gaspar & Band

UNVOLLKOMMEN

meets Kopf.Herz.Hand Theater-Performance mit einer Sonderausgabe der Talkreihe Kopf.Herz.Hand 13.08.2021 um 19.30 Uhr

VERGISS DEINEN NAMEN NICHT Die Kinder von Auschwitz

02. September bis 02. Oktober 2021 Vernissage und Ausstellung Mehr Infos sowie ein abwechslungsreiches Online-Programm gibt es – wie immer – auf unseren Social Media Kanälen. Klickt rein! facebook.com/DietrichKeuningHaus keuninghausofficial YouTube "Keuninghaus to Go" Dietrich-Keuning-Haus Leopoldstr. 50-58 | 44147 Dortmund Fon 0231 50-25145 | Fax 0231 50-26019 27


KULTURKALENDER

BODO-TIPP Vom 14. August bis 25. September feiert das jährliche Festival der Künste an neun Spielorten in den Städten Bochum, Duisburg, Essen und Gladbeck ein Programm an den Schnittstellen von Musiktheater, Konzert, Schauspiel, Tanz, Performance, Installation, Literatur und Dialog.

DO 26 | 08 – SO 29 | 08 | 21 Kleinkunst | Welttheater der Straße Das „Schwerter Welttheater der Straße“ geht 2021 in die nächste Auflage und sichert coronakonformen Spaß und ein abwechslungsreiches Programm. Das Welttheater 2021 wird etwas anders als gewohnt: Die Dauer des Festivals wird um zwei Tage verlängert. Die Spielorte bekommen feste Sitzplätze. Die ZuschauerInnen müssen vorher für die einzelnen Vorstellungen kostenfreie Tickets online buchen. Das Programm wird Anfang August veröffentlicht. Die Buchung ist ab dem 5. August über die Website des Welttheaters möglich: www.welttheater-der-strasse.de diverse Orte in Schwerte

Ruhrtriennale

Programm und Karten: ruhrtriennale.de

Die diesjährige Ruhrtriennale ist die erste unter der Intendanz der Schweizer Theaterregisseurin Barbara Frey (Foto). Barbara Frey befragt gemeinsam mit ihrem Team gegenwärtige Bruchlinien, verunsicherte historische Konstruktionen von Identität, kollektive und individuelle Erinnerungsprozesse und das komplexe Verhältnis des Menschen zur Natur. Geplant sind 37 Produktionen und Projekte, darunter elf Eigen- und Koproduktionen. Mit acht Uraufführungen und fünf deutschen Erstaufführungen lädt das international ausgerichtete Festival sein Publikum zu verschiedensten künstlerischen Erfahrungen ein.

FR 27 | 08 | 21 Comedy | Kulturbiergarten: Nikita Miller – „Auf dem Weg ein Mann zu werden“ Nikita Miller, auf der Suche nach der großen Liebe, durchlebt dabei einen Fehlschlag nach dem anderen, bis ihm gesagt wird: „Hör endlich auf, deine Zeit damit zu verschwenden, nach der richtigen Frau zu suchen. Versuch stattdessen, endlich Anzeige

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mal zum richtigen Mann zu werden.“ Doch was macht einen Mann aus? Nikita Miller, in Kasachstan geboren, in Stuttgart aufgewachsen, bezeichnet sich selbst als comedic Storyteller. Er ist anders deutsch, ist anders komisch, ist philosophisch und direkt. Wenn er mit leichtem russischen Akzent beginnt, seine erste Geschichte

auf der Bühne zu erzählen, stehend, mehr als zwei Meter groß, Haare so lang wie ein Streichholzkopf und durchtrainiert wie ein Mönch der Shaolin, ist man froh, wenn er sich setzt, damit er keine Schneise schlägt, falls er mal ins Publikum fällt. Kulturbiergarten Klinikstraße 41 – 43, Bochum, 19 Uhr


KINO-TIPP Kabarett | René Sydow – „Heimsuchung“ René Sydow sucht wieder die Kabarettbühnen heim. Sein viertes Programm sollte gleichzeitig sein heiterstes werden. Ein fröhliches Feuerwerk der Boshaftigkeit gegen Politiker, Prominenz und Political Correctness. Doch leider steht auch noch die „Heim-Suchung“ für den eigenen Opa an, und angesichts des aktuellen Pflegenotstands gibt es zumindest aus privater Sicht keinen Anlass zur Heiterkeit. Wie können wir in Würde altern? Was ist ein Menschenleben überhaupt wert? Und sind das nur private Fragen oder ist das Private doch politisch? Ist das noch Kabarett oder geht es schon um Leben und Tod? Und warum ist dieser Abend trotzdem so erschreckend lustig geworden? Zauberkasten, Bochum, 20 Uhr

DI 31 | 08 | 21 Lesung | Ursula Maria Wartmann „Der Bourbon des Grafikers“ Der Mann, der heimlich zwei badende Mädchen beobachtet, die Mutter, die ihr Kind liebt und es dennoch verrät. die junge Frau, die aus der missglückten Ehe in die Arme einer Liebhaberin flieht, der Familienvater, der jahrelang ein Doppelleben führt… Die Menschen in Ursula Maria Wartmanns gesammelten Erzählungen versuchen, auf die ein oder andere Art etwas vom Glück abzukriegen, sie ringen darum, strampeln sich ab. Sie handeln richtig und handeln falsch, sie machen sich schuldig oder verhalten sich heldenhaft. Sie scheitern oder gewinnen, sie spielen das Spiel wie wir alle: so gut es eben geht. Studio B, Stadt und Landesbibliothek, Dortmund, 19.30 Uhr

DO 02 | 09 | 21 Theater | Mensch und Kunstfigur im Kugeltheater Das „Theater der Klänge“ aus Düsseldorf zeigt seine neue Produktion „Mensch und Kunstfigur im Kugeltheater“ im September im Planetarium Bochum. Das „Theater der Klänge“ folgt den Theaterutopien der 1920er Jahre. Damals stellten sich KünstlerInnen neue Theaterräume vor, in denen zukünftig neue Theaterformen zu sehen sein sollten, die mit dem „alten“ Begriff von Theater kaum noch etwas zu tun haben sollten. Nie gesehene technische Aufbauten, rotierende Bühnen oder zahlreiche filmische Projektionen und Lautsprecherbeschallungen sollten ein Totaltheater ermöglichen, wie es die Welt nie zuvor gesehen hatte. Planetarium, Bochum, 20 Uhr (auch 3. und 4.9., 20 Uhr und 5.9., 19 Uhr)

DO 09 | 09 – SO 12 | 09 | 21 Festival | visual sound outdoor festival dortmund Visual sound – das sind visuelle und animierte Theaterformen, die mit Musik und Klangkunst in spannende Wechselbeziehungen gesetzt werden. Jazz, Rock ‘n‘Roll, Glam-Grunk, Industrial und Ambient geben sich ein Stelldichein mit Licht- und Schattentheater, Objektperformances und bildender Kunst. Vier Tage lang treten beim zweiten visual sound outdoor festival zahlreiche KünstlerInnen auf zwei Bühnen im Hof des Kulturortes Depot auf. Das Line-Up verspricht eine hochkarätige Mischung aus regionaler Kulturszene, einer gehörigen Portion internationaler Größen und jeder Menge multikultureller Power, die sich nicht in Schubladen stecken lässt. Infos und Programm: www.parzelledortmund.de Außengelände Depot, Dortmund

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sweetSixteen Unter den Sternen von Paris Vor einigen Jahren beschäftigte sich Claus Drexel auf dokumentarische Weise mit dem Leben von Obdachlosen in Paris, nun führt er diese Arbeit auf fiktive, fast märchenhafte Weise weiter. In „Unter den Sternen von Paris“ treffen verlorene Seelen aufeinander und überwinden ihre Unterschiede. Christines Leben war in letzter Zeit nicht einfach. Völlig isoliert lebt sie seit vielen Jahren unter einer Pariser Brücke, ohne Freunde, Bekannte und Familie. In einer kalten Winternacht findet sie einen achtjährigen Jungen schluchzend vor ihrem Unterschlupf. Der kleine Suli aus Eritrea ist hoffnungslos verloren, er spricht kein Wort Französisch und wurde von seiner Mutter getrennt. Zusammen machen sie sich auf die Suche nach ihr. Während Catherine und Suli durch die Straßen von Paris irren, kommen sich die beiden näher und entwickeln eine große Zuneigung für einander. Dabei entdeckt Christine eine tiefe Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft wieder, die sie lange verloren glaubte. In den stärksten Szenen des Films zeigt Claus Drexel fast dokumentarisch, wie die Gesellschaft Personen, die ihr unliebsam erscheinen, an den Rand drängt und nutzt die visuellen Kontraste zwischen dem atemberaubend schön gefilmten Paris und den vermüllten Behausungen der Obdachlosen, um der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Bundesstart am 19. August. Weitere Termine: www.sweetSixteen-kino.de sweetSixteen-Kino im Kulturort Depot Immermannstr. 29, 44147 Dortmund Telefon 0231 – 910 66 23 info@sweetsixteen-kino.de

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Umschlagplatz Speicherstraße 64 – 66 44147 Dortmund

Umschlagplatz

Der Charme der Improvisation Milena Rethmann lebt im Dortmunder Norden, liebt den Stadtteil mit all seinen widersprüchlichen Facetten und sieht auch sich in der Verantwortung, wenn Lebensqualität im Quartier das Thema ist. Auf dem Nordmarkt gründete sie mit ihrer Schwester den Grünen Salon, etwas später kam mit dem Umschlagplatz im Hafen eine ebenso beliebte Bar hinzu. Saisonal und wetterabhängig lädt diese seit 2018 zum Verweilen ein. „Die Gäste suchen gezielt und loben den improvisierten Charakter“, sagt Rethmann. „Es ist die reduzierte, unkomplizierte Version von Gastronomie. Viele Gäste kommen direkt von ihrer Arbeit, gucken aufs Wasser und sind nach zehn Minuten entspannt.“ Quasi ein Richtfest für den Umschlagplatz gab es bereits beim Hafenspaziergang 2017. Da standen die beiden umgebauten Container, vis-à-vis dem alten Hafenamt, schon am Ufer längs der Speicherstraße. Das Fest glich einem Happening mit Campingcharakter – Regengüsse inklusive. Das hat niemanden gestört. Im Gegenteil, die Spontanität, das Aufgehen im Augenblick machen den Umschlagplatz aus, der sich

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Von Wolfgang Kienast Fotos: Daniel Sadrowski

zudem als Location für Ausstellungen, kleine Konzerte und DJ-Nachmittage einen Namen machte.

einigem Wirbel begleitet, eine diesbezüglich gestartete Kampagne „Umschlagplatz bleibt!“ fand breite Unterstützung.

Das Problem: alles nur auf Zeit. Es gab einen Vertrag für eine Zwischennutzung des Geländes, der am Ende monatlich gekündigt werden konnte. Im Jahr 2020 musste der Umschlagplatz umziehen. Seither stehen die blauen Container, die Liegestühle und Palettenmöbel nördlich am Schmidinghafen, wo auch das Eventschiff Herr Walter seinen Platz gefunden hat. Gleichwohl wurde besagter Umzug von

„Dabei ging es nie darum, dass das mein Laden ist“, sagt Rethmann. „Wir leben im Viertel und wir finden, dass urbane, inhabergeführte und seitens der Anwohner akzeptierte Konzepte unbedingt in den Hafen gehören, ganz egal, ob es der Umschlagplatz ist, das Tyde, Herr Walter oder Speicher 100.“


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Bewegung im Hafen Der Dortmunder Hafen, 1899 in Anwesenheit von Kaiser Wilhelm II eröffnet, gilt als größter Kanalhafen Europas. Kanal-, nicht Binnenhafen. Wichtig war er zunächst für die ansässige Montanindustrie. Heute spielt der Umschlag von Eisenerz und Kohle keine Rolle, als logistische Drehscheibe kommt dem Hafen jedoch internationale Bedeutung zu. Diese Entwicklung hängt mit der Gründung des Containerterminals Dortmund (CTD) zusammen. Seit geraumer Zeit wird überlegt, das vorrangig industriell genutzte Terrain auch für kulturelle und gastronomische Zwecke zu öffnen. Noch in den 1990er Jahren schloss die Dortmunder Hafen AG als Betreiber eine solche Nutzung kategorisch aus. Von dieser Haltung ist man mittlerweile abgerückt. Anwohner begleiten den Prozess der Öffnung freilich kritisch. Beispielsweise wurde eine Hafeninitiative gegründet, die einen rein profitorientierten Umbau verhindern möchte. Ziel der Initiative ist es, den Hafen als öffentlichen Raum für alle Schichten der Bevölkerung zu erhalten.

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REPORTAGE

„Wir können uns das nicht mehr anders vorstellen“ Hunderte Schweine und eine Betonkuh, Hightech und Nachhaltigkeit, ein Bauernhof mit zwei Standorten, zwei Brüder und eine Philosophie. Christoph und Elmar Heimann haben ihren zuvor konventionell bewirtschafteten Familienbetrieb nach den strengen Vorgaben des Bioland-Verbandes ausgerichtet. Einfach war die Umstellung vor vier Jahren nicht – doch am Ende hat sie sogar mehr bewirkt, als nur die Praxis in den Ställen und auf den Feldern zu verändern. Von Wolfgang Kienast Fotos: Daniel Sadrowski

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Ingeborg-Marie ist am 1. Mai Mama geworden. Sie hat abgeferkelt, wie das in der Fachsprache heißt, denn IngeborgMarie ist ein Schwein und lebt als solches in einem Stall der „BioBrüder“ Heimann in Recklinghausen. Christoph Heimann kümmert sich, unter anderem, um die Öffentlichkeitsarbeit auf dem Hof. Also hat er hübsche Fotos von den Ferkeln und ihrer Mama ins Netz gestellt. Eigentlich sollen Besucherinnen und Besucher das Treiben in den Ställen live vor Ort beobachten können, aber das hat Corona vereitelt. Bedauerlicherweise, denn auf dem Hof gibt es viel zu sehen. Gerade vor dem Hintergrund, dass man beim Thema landwirtschaftliche Nutztierhaltung leider ganz andere Bilder im Kopf hat. Immer wieder werden Missstände publik gemacht. Christoph Heimann mag die Branche nicht in Bausch und Bogen verdammen. Er hat selbst über Jahre als konventioneller Züchter gearbeitet und sich im Rahmen dessen, was möglich war und normal erschien, um die Tiere gekümmert. Doch seine Zweifel wuchsen. Am Ende waren es moralische, ökologische und unterm Strich sogar handfeste ökonomische Motive, die ihn und seinen Bruder auf Bio umschwenken ließen.

„Die konventionelle Schweinehaltung ist nicht zukunftsfähig“ „Wir haben in der Vergangenheit Ställe zupachten müssen“, erklärt er. „An sechs Standorten waren wir mit unserer Schweinemast vertreten. Trotzdem waren wir an einem Punkt, an dem wir feststellen mussten, dass auch das bald nicht mehr reichen würde. Wir hätten weiter expandieren müssen, um wirtschaftlich zu überleben. Schließlich soll unsere Arbeit noch für lange Zeit drei Familien ernähren“, sagt er und stellt fest: „Die konventionelle Schweinehaltung ist nicht zukunftsfähig. Das ganze System funktioniert nicht mehr, weil wir äußerst abhängig vom Weltmarkt sind. Deutschland exportiert zum Beispiel sehr viel Schweinefleisch nach China. Wir wollten aber nicht mehr in der Situation sein, dass, wenn sich die Außenpolitik streitet, eine Woche später der Schweinepreis im Keller ist. Oft genug war das so. Und abgesehen davon wollten wir auch nicht mehr für ein Land produzieren, in dem es um die Menschenrechte schlechter bestellt ist als um die Tierrechte hier.“ Als Christoph und Elmar Heimann ihre Pläne öffentlich machten, kamen von den konventionell arbeitenden Höfen ringsum


Die „BioBrüder“ Christoph und Elmar Heimann betreiben zwei Biohöfe mit einem Kreislauf aus Ackerbau, Ferkelzucht und Energiegewinnung. Links das „Schaufenster“ der Recklinghäuser Ferkelzucht, oben die chipgesteuerte Fütterungsanlage. „Ohne Hightech könnte eine Landwirtschaft dieser Größenordnung nicht funktionieren“, sagt Christoph Heimann.

eher verhaltene Reaktionen. Ein „Ihr seid ganz schön mutig“ gehörte zu den positiven Kommentaren. Anfangs gab es tatsächlich diverse Rückschläge, obwohl sich die beiden Novizen gut informiert ins Bio-Abenteuer gestürzt hatten. Dennoch fehlte es ihnen schlicht an Know-how, an Routine und Organisation. Generell sind im Bio-Anbau die Erträge auf den Feldern geringer – und leider auch die für die Produkte zu erzielenden Preise während der Umstellungsphase. Üblicherweise dauert sie zwei Jahre. Die BioBrüder haben sie gemeistert. Einstige Skeptiker stellen mittlerweile neugierige Fragen. „Heute denke ich manchmal, hey Leute, das ist doch logisch, aber wenn ich mich zurückerinnere, muss ich mir eingestehen, dass ich vieles von dem, was uns jetzt selbstverständlich erscheint, damals auch nicht wusste.“ Christoph Heimann steht auf einer verglasten Plattform im großen Stall. Von hier oben sollen bald Besucherinnen und Besucher die Schweine beobachten können. Die dösen unten im Stroh, räkeln sich, grunzen, spielen, schlafen. Man versteht unwillkürlich, wo der Begriff „sauwohl“ seine Herkunft hat. „Wenn man das so sieht und dann an das Andere denkt, an die konventionelle Haltung, dann geht

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REPORTAGE

das Andere nicht mehr. Damit bin ich fertig“, bringt er alle gemachten Erfahrungen auf einen einfachen Punkt.

Hi-Tech statt Bauernhofromantik Den Schweinen könnte man stundenlang beim Schweinsein zuschauen. Es wirkt nahezu meditativ. „Bei manchen Leuten steht ein Aquarium im Wohnzimmer, …“ Den Satz muss er nicht zu Ende bringen. Erklären aber muss er die Konstruktion aus Gittern, vielen Rohren und Klappen in der Mitte des Stalls. „Das ist die automatisierte Fütterung. Jede Sau muss individuell passend mit Kraftfutter gefüttert werden. Man darf nicht vergessen, das sind Hochleistungstiere. Wenn eine Sau die Station betritt, schließt sich hinter ihr sofort die jeweilige Tür. Per Chip im Ohr wird sie erkannt und bekommt genau das, was sie bekommen soll, um fit zu bleiben. Das ist Hightech. Eine Landwirtschaft dieser Größenordnung könnte ohne diese Technik nicht funktionieren.“

Auf dem Waltroper Hof zeigt Christoph Heimann die Biogasanlage – „unsere Betonkuh“, sagt der Landwirt. Gefüttert wird sie mit Schweinemist und auf den Äckern angebautem Kleegras. In einem Gärprozess entsteht Methan, das in einem Blockheizkraftwerk verstromt wird. Der zurückbleibende Schlamm dient als Dünger.

Die BioBrüder betreiben kein romantisch kleines Gehöft, wo sich Kuh und Katze eine gute Nacht wünschen, sondern das größte Unternehmen seiner Art in ganz NordrheinWestfalen. Im Stall tummeln sich etwa 120 Schweine, parallel befindet sich etwa die gleiche Anzahl in sogenannten Deck-, Abferkel- und Ferkelbereichen – und in diesen noch etwa eintausend Ferkelchen. Um die geht es hier eigentlich. „Die Bio-Ferkelerzeugung ist eine echte Herausforderung“, sagt Heimann. „Rein vom Handling her wäre das Mästen einfacher. Die meisten Landwirte bevorzugen diesen Teil der Produktion. Wir wollten uns der Aufzucht stellen.“

Kreislauf aus Ackerbau, Tierzucht und Energiegewinnung Vor vier Jahren, resümiert er, hätten sie nicht geahnt, wie weit der eingeschlagene Weg sie führen würde. „Das kommt erst mit der Zeit. Man wird immer überzeugter von der Sache. Bio findet bei uns nicht nur hinter den Kulissen statt, wir propagieren diese Philosophie aus vollem Herzen. Nicht zuletzt geht es um Regionalität und Transparenz. Und noch etwas ist uns sehr wichtig. Wir möchten, dass Bioprodukte für alle bezahlbar sind. Es würde bestimmt Spaß machen, alte Haustierrassen zu züchten. Doch dann müsste der Preis 50 Prozent höher liegen.“

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In Waltrop, Luftlinie zwölf Kilometer entfernt von ihrem Hof in Recklinghausen, befindet sich das zweite Standbein der Brüder: eine Biogasanlage. Über eine Kraft-WärmeKopplung erzeugt sie jährlich etwa 270 kW Strom, das reicht für durchschnittlich 650 Haushalte. „Man muss die beiden Betriebe aber unbedingt als einen sehen“, sagt Christoph Heimann, „als einen sinnvollen und nachhaltigen Kreislauf aus Ackerfläche, Tierzucht und Energiegewinnung.“ Das Zusammenspiel ist ausgetüftelt. Auf den Äckern wird zwar nicht das Kraft-, aber immerhin ein Teil des Grünfutters für die Schweine angebaut. Die von den Schweinen produzierte Gülle wiederum dient den Pflanzen auf dem Acker als Dünger. Der von den Schweinen produzierte Mist kommt zusammen mit dem Gros der angebauten Pflanzen in die Biogasanlage. In einem Gärprozess entsteht hier einerseits Methan, das im Blockheizkraftwerk verstromt wird. Zurück bleibt eine Art Schlamm, der ebenfalls einen vorzüglichen Dünger abgibt. „Wir nennen die Biogasanlage von daher unsere Betonkuh“, meint

Christoph Heimann. „Wir füttern sie mit Gras, das wird vergoren. Sie gibt zwar keine Milch, aber Dünger und Methan. Ihr Futter besteht aus einem geringen Anteil Mais, dem erwähnten Mist und in erster Linie aus Kleegras. Kleegras könnte man natürlich direkt als Gründünger verwenden, doch dann schöpft man sein Potenzial nicht aus. Ganz im Gegenteil. Aus Gründünger entsteht beim Humusaufbau auf dem Acker auch Lachgas, und Lachgas verstärkt den Treibhauseffekt. Und Biogasanlagen haben noch einen großen Vorteil. Die so gewonnene Energie muss nicht zwischen Produktion und Nutzung gespeichert werden. Leider werden beim Erneuerbare-Energien-Gesetz derzeit nahezu ausschließlich Wind- und Solarenergie berücksichtigt. Wir hoffen, dass sich das demnächst ändern könnte.“ Verändert hat sich in den vergangenen Jahren auch der Garten von Christoph Heimann. Englischer Rasen ist passé, Löwenzahn und Gänseblümchen dürfen sprießen. Sogar über Blattläuse freut er sich mittlerweile. Er weiß: Den Läusen folgen Marienkäfer und den Käfern die Vögel.

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REPORTAGE

„Denk an das Reich!“

Der Tod der Rekordschwimmerin Ruth Litzig Wer aus Dortmund die A 42 Richtung Duisburg fährt, kann erkennen, dass die Autobahn vor der Baustelle am Kreuz Herne lange schnurstracks geradeaus verläuft. Hier wurde der Emscherschnellweg auf einem ehemaligen Kanal, dem Stichkanal, gebaut. In diesem Kanalabschnitt, der zur Autobahntrasse wurde, beginnt eine tragische Geschichte. Von Horst Wnuck | Fotos: Archiv Ralf Piorr, Stadtarchiv Herne, Shutterstock

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ie handelt von einer schwimmenden jungen Frau, und schwimmende Frauen waren einst mindestens so populär wie heute männliche Fußballer. 1926 feierten zwei Millionen Menschen Gertrude Ederle mit einer Konfetti-Parade in New York. Sie hatte als erste Frau den Ärmelkanal durchschwommen, schneller als alle Männer zuvor. Ederle war ein Weltstar und löste einen unvorstellbaren Schwimmboom aus. Ein Jahr später bezwang Mercedes Gleitze aus London als erste Britin den Ärmelkanal. Bei einem Schwimmen im Kanal hatte sie eine wasserdichte Rolex dabei und be-

Als im August 1933 ihr 100-Stunden-Schwimmen im Baldeneysee angekündigt wurde, war Ruth Litzig bereits Weltrekordhalterin – und ein Star.

gründete so den Weltruhm dieser Marke. Auch sie war ein Superstar mit lukrativen Werbeverträgen. 1931 traf sie in Sydney bei einem der damals sehr populären Dauerschwimmwettbewerbe auf eine Schwimmerin aus Neuseeland, die unter dem Geburtsnamen ihrer Mutter startete und sich Katerina Nehua nannte. Die hiesige Presse stilisierte sie zur namenlosen MaoriSchwimmerin. Sie selbst war stolz auf ihre indigene Herkunft, hatte erst neun Wochen zuvor ihr viertes Kind bekommen und nahm aus purer materieller Verzweiflung an dem Schwimmen teil. Am Ende waren nur noch Weltstar Mercedes Gleitze und Katerina Nehua im Wasser. Gleitze schwamm 23 Minuten länger, doch Nehua steigerte den Weltrekord im Dauerschwimmen später auf 72 Stunden und 21 Minuten. Die Bochumerin Luise Koch schwamm im Sommer 1932 über 50 Stunden in der Ruhr. Dies galt als europäischer Rekord im Dauerschwimmen.

Weltrekord im Stichkanal Am 23. August 1932 stieg nun eine 18-jährige Frau namens Ruth Litzig in den Herner Stichkanal, dort, wo heute die A 42 verläuft. Als die Jugend-Stadtmeisterin das brackige Kanalwasser verließ, war sie Weltrekordlerin im Dauerschwimmen. Ihre Zeit wurde mit 73 Stunden und 52 Minuten angegeben. Sie war plötzlich nicht nur in einer Liga mit den großen weiblichen Weltstars, sie hatte alle übertroffen. Locker hätte sie auch 80 Stunden schwimmen können, sagte sie später und war angeblich sauer, weil sie schon aus dem Wasser sollte. Ihr Schwimmen entwickelte sich zu einem Spektakel. Von über 50.000 Menschen an der Böschung wird berich-

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tet. Die Stimmung stellte selbst die Cranger Kirmes in den Schatten.

Für kurze Zeit war Ruth Litzig eine Sportlerin mit Weltruhm. Die Trauerfeier zu ihrem Tod war noch

Die 18-jährige Schwimmerin wurde umjubelt im geschmückten Auto nach Hause gefahren und führte zwei Tage später gut gelaunt den Anstoß beim Spiel zwischen Schalke und Westfalia Herne aus. Später gab sie den Startschuss beim Dortmunder Sechstagerennen, erhielt in Herne die Goldene Stadtplakette, und der Westdeutsche Rundfunk widmete ihr eine Sondersendung. Als Ruth Litzig acht Jahre alt war, wurde ihr Vater als Lehrer gefeuert, weil er sich an Schülerinnen vergangen hatte. Seither lebte die Familie in prekären Verhältnissen, ohne Aussicht auf Besserung. Ruths einzige Schwester starb als Kind. Ihr Elternhaus wurde später als „Hölle“ beschrieben. Auch der neue Promi-Status änderte nichts. Trotz des Ruhms blieb nichts hängen. Sie wollte Bademeisterin werden.

100.000 am Baldeneysee Mittlerweile waren die Nazis an der Macht, und es kam zu einer verheerenden Liaison. Der 20 Jahre ältere Albert Heßler erkannte das Potenzial der jungen Schwimmerin und wurde zu ihrem Verlobten und Manager. Die Partnerschaft mit Ruth Litzig half ihm wohl bei der Beförderung zum SA-Standartenführer. Zäh wie Leder und hart wie Krupp-Stahl wollte der Führer seine neue deutsche Jugend. Da traf es sich perfekt, dass in Essen unterhalb der Krupp-Villa gerade der Baldeneysee als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme fertig geworden war. PR-Strategen würden sagen, eine „Event-Location“, die

einmal eine Großveranstaltung. Dann wurde es still um sie und ihren Sport.

nur darauf wartete, „bespielt“ zu werden. Brot und Spiele – das war auch Teil der Strategie der neuen Machthaber. So wurde für Donnerstag, den 17. August 1933, ein 100-Stunden-Schwimmen angekündigt. Ruth Litzig sollte den eigenen Rekord brechen. Am Ufer wurden Tribünen und ein Festzelt aufgebaut, es gab Würstchenbuden und Eiswagen. Der Eintrittspreis betrug 20 Pfennige, für alle Tage 50 Pfennige. Die Massen wurden mit Bussen aus dem halben Ruhrgebiet angekarrt. Nachts hallten Walzer und Marschmusik aus dem Zelt. Es wehten Hakenkreuzflaggen, und als Ruth Litzig ins Wasser sprang, wurde sie von SA-Männern begleitet. Albert Heßler hatte ganze Arbeit geleistet, Hernes Oberbürgermeister war angereist, um den Startschuss zu geben. Die weit über 100.000 Schaulustigen hatten offenbar ihren Spaß. Die Presse berichtete täglich. War beim Rekord im Kanal noch argwöhnisch von einem „sonderbaren Mädchen“ die Rede, das vielleicht nur darauf aus war, eine „gute Partie“ zu machen, war es nun „unsere Ruth“, die da schwamm. Geschmückte Kähne, Anfeuerungsrufe vom Ufer und von Ausflugsdampfern sowie Wasserpantomimen sollten sie aufheitern. Zuerst lächelte sie, gab Interviews im Wasser, sang Lieder aus dem Festzelt mit, begrüßte den OB, der sich nochmals zeigte, freudig mit „Heil Hitler“.

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REPORTAGE

„Denk an das Reich!“ In der Nacht zum Sonntag soll sie dann einen „toten Punkt“ gehabt haben. Ein Arzt habe verlangt, sie aus dem Wasser zu nehmen. „Ich will raus“, soll sie gefleht haben. Am Sonntag lief es dann zunächst wieder besser, doch schließlich trieb sie zeitweise wohl leblos im Wasser. Ein „Bild des Jammers“, wie es hieß. „Denk an das Reich“, soll Heßler ihr zugerufen haben. Ihre Mutter, die sich laut Herner Lokalpresse „aufopferungsvoll“ um sie kümmerte und sie mit Leckereien fütterte, soll sie an die versprochene Italienreise erinnert haben, neben 5.000 Reichsmark wohl die Prämie. Am Sonntag, den 20. August um 18.08 Uhr endete ihr Versuch. Als neuer Weltrekord wurde die Zeit von 78 Stunden und 42 Minuten verkündet. Helfer legten ihr ein Tuch unter den Körper und zogen sie aus dem Wasser. Die Schwimmerin war zu diesem Zeitpunkt wohl nicht mehr bei Bewusstsein. Heßler gab Pistolenschüsse ab, vielleicht aus Freude oder um sie aufzuwecken. Sie wurde in die Huyssen-Klinik gefahren. Vor dem Auto marschierte noch eine Kapelle und spielte das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied. Der Lautsprecher verkündete, Ruth sei in bester Verfassung, das Fest gehe weiter. „Ich bringe Ihnen die beste Schwimmerin der Welt“, soll die Mutter bei der Einlieferung gesagt haben. „Nein, sie bringen mir eine Sterbende“, habe der Arzt erwidert. Während die Ärzte um das Leben der jungen Frau kämpften, titelte die Herner Lokalpresse: „Unsere Ruth

hat‘s wieder mal geschafft.“ Doch vor dem Krankenhaus versammelte sich schon eine unruhige Menschenmenge, viele zeigten Empörung über das Spektakel. Gertrud Litzig teilte mit, ihrer Tochter gehe es gut und richtete schöne Grüße an ihre Herner Fans aus. Die Ärzte bemühten sich vergeblich um das Leben von Ruth Litzig. Sie starb am Dienstag, den 22. August um 16 Uhr, ohne zuvor noch einmal aufzuwachen.

„Junge Burschen denken nicht so“ Nach Bekanntwerden des Todes erschienen dann Extrablätter. Zeitungen rund um Globus druckten die Meldung vom Tod Ruth Litzigs. Bei ihrer Beerdigung in Herne säumten Tausende die Straßen. Die Todesursache ist bis heute unklar. Von Lungenentzündung, Gehirnblutung und totaler körperlicher Erschöpfung ist die Rede. Das Wasser im Baldeneysee soll problematisch gewesen sein. Die als Kälteschutz gedachte Fett- und Ölschicht, mit der sie eingerieben war, habe verhindert, dass Gifte über die Haut entweichen konnten. Die Presse berief sich auf das öffentliche Interesse. Polizei, Behörden und Veranstalter bestritten die Verantwortung. Hatten die Mutter und der Verlobte sie zu sehr gedrängt? Ermittlungen gegen beide blieben ergebnislos. Ihr Vater soll das Vorhaben der noch minderjährigen Tochter skeptisch gesehen haben, verhindert hatte er es nicht. Ein Essener NSDAP-Blatt hatte es schon immer gewusst. Es empfahl Ruth Litzig – die zum Zeitpunkt des Erscheinens im Sterben lag – den „Besuch der Küche einer kinderreichen Familie“ und endete: „Junge Burschen denken nicht so, von einem 19-jährigen Dauerrekordschwimmer ist (…) noch nichts bekannt geworden. Immer sind es Frauen, und nur Frauen.“ Vielleicht ahnte er damals schon, was heute als gesichert gilt: Frauen sind Männern mit steigender Distanz und Dauer im Wasser ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen. Auch Reichssportführer Tschammer gab sich empört und verbot ähnliche Veranstaltungen für die Zukunft. Am Baldeneysee wurde die Rekordstrecke noch lange Ruth-Litzig-Bucht genannt. An anderer Stelle des Sees wurde 2017 nach 46 Jahren mit großer Eröffnung das Baden wieder erlaubt. Auf das Spektakel von einst weist nichts mehr hin. Ähnlich verhält es sich mit dem Dauerschwimmen, das nie als Wettkampf-Disziplin anerkannt wurde.

50.000 Schaulustige säumten den Herner Stichkanal, als die 18-jährige Ruth Litzig zur Weltrekordhalterin einer Modesportart der 1920er-Jahre wurde. 73 Stunden und 52 Minuten blieb sie im Wasser.

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Mitte der 1980er gab es eine kleine Renaissance dieser Geschichte. Jürgen Lodemann behandelte sie in dem Krimi „Essen Viehofer Platz“, und Willi Thomczyk brachte sie als Antwort auf „Starlight Express“ in dem Werk „Über‘n Jordan“ auf die Bühne. Im Heimatmuseum Wanne-Eickel erinnert eine kleine Vitrine an Ruth Litzig. Der Museumsleiter, Historiker Ralf Piorr, forschte intensiv nach ihrer Geschichte. Ihr Grab in Herne wurde eingeebnet. In der Vereinshistorie auf der Webseite ihres Schwimmvereins findet sich kein Hinweis auf Ruth Litzig.


BÜCHER

Gelesen von Bastian Pütter

Über Fluten „Wütendes Wetter“ ist ein aktuelles, kein neues Buch. Die in Oxford arbeitende Klimaforscherin, Physikerin und promovierte Philosophin Friederike Otto hat es vor gut zwei Jahren veröffentlicht, was Teile der gegenwärtigen Debatte über die Unwetterkatastrophe im Juli noch absurder erscheinen lässt. Denn eigentlich ist erstaunlich viel klar. Und vor allem eben auch durch Friederike Otto und das von ihr mitentwickelte Feld der „Weather Attribution Science“, der Zuordnungswissenschaft, die, vereinfacht gesagt, ermittelt, wie viel Klimawandel im Wetter steckt. In Echtzeit, berechnet durch ein riesiges Netz privater Computer, deren Rechenleistung User den ForscherInnen zur Verfügung stellen. Seit Jahren erstellen Otto und ihr Team immer präzisere Modelle, die vorwegnehmen, welche Auswirkungen die kommenden Zehntel-Grad-Anstiege der Durchschnittstemperatur haben werden. Friederike Otto erklärt die Grundlagen dieses Wissenschaftsansatzes so klar wie die Basics der Klimaforschung, sie benennt offene Forschungsfragen und formuliert ohne Alarmismus, aber auch ohne die Lage zu beschönigen klare Ziele. Denn zumindest das „Drei-Grad-Wetter“ können wir noch verhindern, „das weiten Teilen der Welt ein neues Gesicht geben würde – und zwar kein sehr schönes“. Friederike Otto, Benjamin von Brackel Wütendes Wetter. Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen, Hochwasser und Stürme ISBN: 978-3-550-05092-3 Ullstein | 240 S. | 18 Euro

Rendite und Miete Gut, man kann natürlich darüber streiten, ob ein Titel, der eher an das Fronttransparent einer linksradikalen Demo erinnert, eine breite Einladung zur Debatte über den Wohnungsmarkt ist. Aber das ist vielleicht auch die Perspektive der tiefwestdeutschen Diaspora, in der MieterInnenkämpfe auf sehr viel schmalerer Basis geführt werden. Der Autor Philipp Metzger schreibt zu Recht, dass die gegenwärtige Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ die wohl wichtigste linke Kampagne der vergangenen Jahrzehnte sei. Trotz der Verbindung mit der Bochumer Vonovia ist sie bisher hier ein Randthema. Um zu erklären, warum das vielleicht ein Fehler ist, hat der feine Mandelbaum-Verlag soeben diesen interessanten Hybriden veröffentlich. Die erste Hälfte ist Philipp Metzgers kenntnisreiche – und durchaus anspruchsvolle – Geschichte des deutschen Immobilienmarktes, der Privatisierung des sozialen Wohnungsbaus, des Verkaufs der öffentlichen Wohnungsgesellschaften an Finanzmarktakteure. In der zweiten Hälfte wird das Buch zum Sammelband und öffnet sich aktivistischen Positionen auf eine demokratische und soziale Wohnungspolitik. Philipp P. Metzger | Wohnkonzerne enteignen! Wie Deutsche Wohnen & Co ein Grundbedürfnis zu Profit machen ISBN: 978-3-85476-695-7 Mandelbaum | 294 S. | 17 Euro

Viele sein „Ich heiße Fatima. Ich trage den Namen einer symbolischen Figur des Islam. Ich trage einen Namen, den man ehren muss.“ In Variation beginnt fast jedes der kurzen Kapitel des Romandebüts der französischen Autorin Fatima Daas so. Mit ihrer Protagonistin teilt sie Namen und Herkunft, die Eltern beider Fatimas stammen aus Algerien. Zuerst ist alles an diesem Text Form: Das Repetitive der Kapitelanfänge, die Klarheit der reduzierten Sprache. Alles ist verdichtet wie Lyrik, liegt wie Rap gleichsam auf einem Beat, ist melodisch wie Koransuren und dabei ganz eigen und, ja: ziemlich cool. Virginie Despentes (Das Leben von Vernon Subutex, bodo 8/18) sagt, Fatima Daas „schreibt wie eine Sprengmeisterin in dem Bewusstsein, dass jedes Wort alles bedeuten, alles freilegen kann, und dass man sie mit unendlicher Sorgfalt wählen muss.“ Der deutschen Übersetzung von Sina de Malafosse gelingt es, das alles zu bewahren. Um die so dominante Form windet sich eine Erzählung um die Gleichzeitigkeit von Identitäten, von Migrationsgeschichte und Bildungsaufstieg, vom muslimischen Glauben und lesbischer Sexualität. Und eigentlich ist „Die jüngste Tochter“ eine Liebesgeschichte. Was für ein tolles Buch. Fatima Daas | Die jüngste Tochter ISBN: 978-3-546-10024-3 Claassen | 192 S. | 20 Euro

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Interview der Straßenzeitungen zur Bundestagswahl 2021

„Frau Wissler, warum wollen Sie Immobilienkonzerne enteignen?“ Frau Wissler, als Spitzenkandidatin einer Partei, die für soziale Gerechtigkeit steht, dürften Sie gerade bei StraßenzeitungsverkäuferInnen Erwartungen wecken. Was würden Sie für obdachlose Menschen tun, wenn Sie in die Regierung kämen? An erster Stelle müssen wir Wohnungen vermitteln. Wir setzen uns außerdem dafür ein, dass Menschen ohne Krankenversicherung medizinisch behandelt werden. Das hat für mich Priorität: Housing First und die medizinische Versorgung, und zwar jetzt. Denn durch die Coronakrise hat sich die Lage obdachloser Menschen noch zugespitzt.

Das hat für mich Priorität: Housing First und die medizinische Versorgung, und zwar jetzt. Denn durch die Coronakrise hat sich die Lage Obdachloser noch zugespitzt. Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow hat gerade die Partei ermahnt, nicht nur über eine Vermögenssteuer zu reden, sondern sich für diejenigen einzusetzen, die durch die Coronakrise zu verarmen drohen. Hat er Recht? Wir weisen immer wieder auf die Situation hin, dass einige wenige durch die Pandemie reicher geworden sind und sehr viele ärmer. Viele wissen nicht, wie sie die Miete nach Monaten in Kurzarbeit noch bezahlen sollen, Menschen in der Gastronomie, Minijobber, die ihre Jobs verloren haben, Selbstständige ohne Perspektive. Die Lufthansa hat neun Milliarden Euro bekommen, auch für die TUI gab es Milliardenhilfen – bei den Solo-Selbstständigen gab es dagegen absurde bürokratische Begründungen, wegen derer man ihnen angeblich nicht helfen kann. Was ist mit den ArbeitsmigrantInnen, von denen nicht wenige auf unseren Straßen stranden: Unter welchen Bedingungen sollten ausländische EU-BürgerInnen in den Genuss des von der Linken visionierten Sozialstaats kommen, der jeder und jedem eine Mindestsicherung von 1.200 Euro bietet? Die Situation osteuropäischer ArbeitsmigrantInnen ist vielerorts dramatisch. Wir fordern, dass es Boardinghäuser mit Einzelzimmern geben muss zur Unterbringung von Saisonkräften, und natürlich: soziale Absicherung und Schutz. Viele arbeiten ohne

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Krankenversicherung. Das ist Wahnsinn. ErntehelferInnen dürfen in Normalzeiten 70 Tage ohne Sozialversicherung arbeiten, das hat die Bundesregierung – unter Verweis auf die Coronakrise – auf mehr als 100 Tage ausgeweitet. Dabei ist es gerade in einer Pandemie und bei harter körperlicher Arbeit mit hohem Verletzungsrisiko nicht hinnehmbar, ohne Krankenversicherung zu arbeiten. Gewerkschafter von der IG BAU berichten von Menschen, die hier wochenlang arbeiten und dann wegen einer medizinischen Behandlung verschuldet nach Hause fahren. Hier in Wiesbaden haben rumänische Bauarbeiter für 1,02 Euro pro Stunde gearbeitet. In Hessen, nicht in Katar! Und oft zahlen Saisonkräfte und WanderarbeiterInnen für ein Bett im Sechsbettzimmer den gleichen Quadratmeterpreis wie in einem Penthouse in Berlin-Friedrichshain, was ihnen vom Lohn abgezogen wird. Das ist Ausbeutung pur. Was muss passieren? Wer hier arbeitet, muss ab dem ersten Tag sozialversichert sein. Das ist auch wichtig für die Rentenansprüche sowie dafür, dass das allgemeine Lohnniveau nicht sinkt. Um dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum zu begegnen, würden Sie Immobilienkonzerne sogar enteignen. Was würde das bringen? Wir unterstützen das Berliner Volksbegehren „Deutsche Wohnen, Vonovia & Co enteignen“. Es geht uns nicht um gemeinnützige Wohnungsgesellschaften, auch nicht um private Eigentümer, sondern um riesige, börsennotierte Immobilienkonzerne. Wohnungen sind nicht dafür da, Rendite zu erzielen. Vonovia hat im letzten Jahr 2.045 Euro pro Wohnung an seine Aktionäre ausgeschüttet, das heißt, jeder Vonovia-Mieter zahlt rein rechnerisch jeden Monat 170 Euro an die Aktionäre. Diese Konzerne vernichten eher Wohnraum als dass sie neuen schaffen: Sie kaufen Wohnungen auf, sanieren sie teilweise und vermieten sie teurer weiter. Die öffentliche Hand muss wieder mehr Einfluss auf Wohnungen bekommen.

Die öffentliche Hand muss wieder mehr Einfluss auf Wohnungen bekommen. Wieso glauben Sie, dass deutsche Kommunen gute Vermieter wären? In Berlin hat sich die Verwaltung schon bei Großunterkünften für Geflüchtete so über


Letzter Teil: Janine Wissler

Vor der Bundestagswahl am 26. September haben die deutschen Straßenzeitungen Fragen. Mit Partei- und Fraktionsspitzen demokratischer Parteien im Bundestag führen sie deshalb Interviews zu Sozialpolitik, Wohnungspolitik und Armutsbekämpfung. Zum Abschluss der Reihe stellt sich die Spitzenkandidatin der Partei Die Linke, Janine Wissler, den Fragen zum Steuerkonzept ihrer Partei, zu Enteignungen und Mietendeckel, zur von der Linken ausgerufenen „Energierevolution“ sowie zu AfD und NSU 2.0. Von Annette Bruhns | Foto: Lena Uphoff

den Tisch ziehen lassen wie das Bundesgesundheitsministerium bei Masken. Das stimmt leider! Kommunale Wohnungsgesellschaften sind vielerorts Teil des Problems und nicht der Lösung, weil sie selbst hochpreisig bauen. Aber immerhin haben sie eine Satzung und den Auftrag, für das Gemeinwohl zu handeln. Bei der Aktiengesellschaft ist das nicht der Fall, die müssen Rendite abwerfen für die Investoren – im Gegensatz zur kommunalen Wohnungsgesellschaft, die anders agieren könnte. Es sei denn, die Stadt will Profite abschöpfen... ...kommunale Wohnungsgesellschaften sollten kein Geld an den städtischen Haushalt abführen müssen, sondern bezahlbare Wohnungen schaffen. Sie würden Berlins gescheiterten Mietendeckel gern in ganz Deutschland einführen. In der Hauptstadt sind zuletzt weniger Neuvermietungen zustande gekommen als zuvor; Wohnungsbauprojekte liegen auf Eis. Könnte ein Mietenstopp in Ballungszentren womöglich zu weniger statt zu mehr Wohnraum führen? Das glaube ich nicht. Als Mittel gegen Wohnungsknappheit wird immer „Bauen, bauen, bauen“ angepriesen. Nur kann das nicht funktionieren, wenn wir ständig bezahlbare Wohnungen verlieren; es ist auch klimapolitisch nicht klug. Fakt ist: Alle zwölf Minuten fällt eine Sozialwohnung aus der Sozialbindung. Diese Wohnungen sind ja nicht weg, sondern werden so teuer, dass man sie sich nicht mehr leisten kann. Wir müssen also etwas tun im Gebäudebestand! Da ist zum Beispiel die Rentnerin, die seit 40 Jahren in der Familien-Fünfzimmerwohnung wohnt und jetzt alleine lebt. Sie hätte gern eine barrierefreie Zweizimmerwohnung, kann sie sich aber nicht leisten, weil ihre Miete sich verdreifachen würde. Wieso ermöglichen wir ihr keinen Wohnungstausch mit dem jungen Paar, das das zweite Kind erwartet?

Alle zwölf Minuten fällt eine Sozialwohnung aus der Sozialbindung. Diese Wohnungen sind ja nicht weg, sondern werden so teuer, dass man sie sich nicht mehr leisten kann. Und was bringt da der Mietendeckel? Er ist ein Instrument, um eine Verschnaufpause auf dem überhitzten Markt zu gewinnen; Berlin hat ihn als „Akt der Notwehr“ bezeichnet. Nur darf so einen Deckel laut Bundesverfassungsgericht eben nur der Bund verhängen. Dass in Berlin wenig gebaut worden

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Interview der Straßenzeitungen zur Bundestagswahl 2021

ist, lag nicht am Mietendeckel, der galt ja gar nicht für Neubau, sondern unter anderem an der Steigerung der Bodenpreise durch Spekulation.

Deutschland muss Bahnland werden, mit einem attraktiven, günstigen ÖPNV, auch im ländlichen Raum. Ihre Partei will sogar vor den Grünen Deutschlands CO2-Neutralität erreichen, nämlich 2035, Sie fordern eine „Energierevolution“. Also: Dicke Pullis statt heizen? Wir werden das 1,5-Grad-Klimaziel verfehlen ohne ein Umsteuern. Selbst wenn alle beschlossenen CO2-Einsparziele umgesetzt würden, kämen wir laut neuesten Berechnungen auf eine Erwärmung von 2,4 Grad. Deutschland muss Bahnland werden, mit einem attraktiven, günstigen ÖPNV, auch im ländlichen Raum. Nach der Coronakrise soll niemand mehr von Frankfurt nach Stuttgart fliegen! Auch die Liberalisierung der Logistik treibt irre Blüten. Wir brauchen keinen Wettbewerb bei Paketdiensten mit der Folge, dass mehrere Zusteller in dieselbe Straße fahren. Wir brauchen ein anderes Wirtschaften und einen sozialen Ausgleich. Die Kosten für den Klimaschutz dürfen nicht denen aufgebürdet werden, die ohnehin wenig haben, sondern den Verursachern. Ein sozial-ökologischer Umbau kann die Lebensqualität steigern und führt eben nicht zu dem, was Sie an die Wand malen: dass wir frieren müssen. Bei der letzten Bundestagswahl verlor Ihre Partei 400.000 Zweitstimmen gegenüber 2013 an die AfD. In Sachsen-Anhalt hat sich dieser Trend jetzt fortgesetzt. Wie wollen Sie diese WählerInnen zurückgewinnen?

Die AfD ist überall da stark, wo sie ihre Themen auf die Agenda setzen konnte – dort, wo die Unionsparteien rechte Themen besetzen. Wir als Linke müssen deutlich machen, dass wir in Opposition stehen zu den herrschenden Verhältnissen: zur sozialen Ungerechtigkeit, zur ungleichen Verteilung von Reichtum. Die AfD ist eine zutiefst rassistische Partei, die keine Antworten auf diese Probleme hat. Viele PolitikerInnen sind von Rechtsradikalen angegriffen worden, vor zwei Jahren ist der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke sogar ermordet worden. Sie haben anonyme Drohbriefe von einem „NSU 2.0“ erhalten. Was muss passieren? Die Gefahr von rechts betrifft alltäglich vor allem nicht prominente Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Religionszugehörigkeit oder schlicht ihres Namens angefeindet werden. Auch wenn im Fall „NSU 2.0“ ein Verdächtiger festgenommen worden ist: Wir wissen noch nicht, ob der Mann zu einem Netzwerk gehört hat. Nach den Attentaten in Kassel oder Hanau gab es einen öffentlichen Aufschrei, die Innenminister rüsten verbal auf – aber an die Strukturen dahinter geht niemand. Reflexhaft ist die Rede von „Einzeltaten“, von „Einzeltätern“. Dabei muss man die rechte Szene entwaffnen, Haftbefehle auch vollstrecken, die Zivilgesellschaft stärken. Was machen Sie, wenn Ihre Partei nicht die Fünfprozenthürde schafft? Wir schaffen sie! Wir sind die Partei des Straßenwahlkampfes, der Kundgebungen – all das fehlte uns während der Pandemie. Aber wir kämpfen um Direktmandate und stehen in den Umfragen bei sechs bis acht Prozent: Wir kommen wieder in den Bundestag.

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Eine Frage, Herr Dr. Lühken:

Macht der Klimawandel Stechmücken gefährlicher? Lange Zeit waren durch Stechmücken übertragende Erreger von Tropenkrankheiten nur ein Thema bei Fernreisen in andere Klimazonen. Doch seit einigen Jahren werden immer mehr tropische Stechmückenarten in Deutschland heimisch. Wie kommt es dazu und welche Risiken gehen von ihnen aus?

Dr. Renke Lühken vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin

„Im Wesentlichen sind es zwei Faktoren, die dafür verantwortlich sind, dass neue Stechmückenarten in Deutschland heimisch werden“, sagt Dr. Renke Lühken vom BernhardNocht-Institut für Tropenmedizin. „Zum einem sorgen sich verändernde klimatische Bedingungen wie mildere Winter und sehr heiße Sommer dafür, dass neue Arten sich hier sehr wohl fühlen. Darüber hinaus hat auch der internationale Warenverkehr dafür gesorgt, dass sich viele Stechmückenarten international ausbreiten konnten.“ Wasserpfützen in alten Autoreifen zum Beispiel stellen für exotische Stechmücken den optimalen Lebensraum dar, in dem sie um die Welt reisen können. 2007 ist die Asiatische Tigermücke erstmals in Deutschland nachgewiesen worden. Über zwanzig, vor allem aus den Tropen bekannte Krankheitserreger kann diese Art nachweislich übertragen – darunter das Dengue-, Gelbfieber- oder Zika-Virus. Doch auch die heimische Stechmücke kann bedingt durch

den Klimawandel mittlerweile als Vektor für viele Krankheiten wie zum Beispiel das Usutu- und West-Nil-Virus dienen. „Die meisten tropischen Krankheitserreger brauchen mehrere Wochen dauernde Phasen anhaltend hoher Temperaturen, um sich in den Stechmücken zu vermehren. Solche Bedingungen können sich durch den Klimawandel immer häufiger in Europa einstellen“, so Lühken.

Wasserpfützen in alten Autoreifen stellen für exotische Stechmücken den optimalen Lebensraum dar, in dem sie um die Welt reisen können. Auch wenn die individuellen Risiken durch solche Viren überschaubar sind, kann man natürlich auf die üblichen Schutzmechanismen wie Mückengitter, Sprays oder Cremes zurückgreifen. „Da die meisten Stechmückenarten einen sehr geringen Flugradius besitzen, kann man darüber hinaus auch darauf achten, im eigenen Umfeld auf künstliche Wasserquellen zu verzichten“, rät Renke Lühken. „Für viele Arten stellen zum Beispiel die Regentonne oder der Blumentopf, in dem etwas Wasser steht, oder dergleichen noch viel eher als der Gartenteich mit Fröschen einen optimalen Lebensraum dar.“

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Immer plastikfrei, nicht nur im Juli ! 43


RÄTSEL

LESERPOST & MEINUNGEN

bodo 07.21

Marian und das Memphis Liebe bodo, weil Ihr nach „meinem“ Club gefragt habt: Ich finde, das Beste am Wohnen im Ruhrgebiet ist, wie gut man „wech“ kommt. Ich hab Freunde, die heute erzählen, wie man früher im Emsland stundenlang auf dem Rücksitz eines Mofas saß, um in die einzige Disco der Gegend zu kommen. Wir haben uns am Freitag- oder Samstagabend die Großstadt aussuchen können, in der wir ausgegangen sind. Mit S-Bahn und Bus war auch noch ohne Führerschein eigentlich jeder Club zwischen Dortmund und Duisburg in Reichweite. Eine ganze Region mit schönen Erinnerungen. Schöne Grüße, F. G. Hallo, Ihr habt gefragt! Ich hatte einen Club in Bochum: Der Rockpalast. Fünf Jahre, praktisch jedes zweite Wochenende. War geil. Die Musik mindestens o.k. und das Drumherum cool. In den 80ern natürlich... LG, E. W. Hallo und guten Tag, als bekennender bodo-Fan möchte ich gerne eine klitzekleine Reklamation loswerden. Aus meinem Verständnis heißt bodo bodo, weil sich in diesem Begriff die Städtenamen Bochum und Dortmund als Verbreitungsgebiet verstecken. Leider ist mir meine Heimatstadt Bochum in der letzten Ausgabe etwas kurz gekommen ... ;-) Das war‘s dann auch schon mit der Kritik. In der aktuellen Ausgabe werden die bodo-LeserInnen aufgefordert, sich zu „ihrem“ Club zu outen. Da hätte ich etwas aus der Historienkiste: ein altes Plakat der legendären Band Colosseum, die am 24.11.1970 im ebenfalls legendären Dortmunder Fantasio aufspielten. Was war das für ein großartiger Musiktempel, was spielten da für großartige Bands! Natürlich war das seinerzeit nicht „mein“ Club, aber ab und zu musste man einfach dorthin und wagte sich als Jugendlicher über die Grenzen seiner Stadt. Ruud van Laar war damals der kreative Kopf hinter dem Fantasio, mit dem er aber leider nur etwa zwei Jahre Furore machen konnte. Herzliche Grüße aus Bochum, J. W.

AUFLÖSUNG HEFT 07.21

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Treffen bei Tana: Inzwischen beraten wir auch wieder in Innenräumen. Doch immer, wenn es geht, sind wir auch in diesem Sommer draußen unterwegs. Ob für die Einzelberatung oder für unsere Verkäuferversammlungen, wie hier am Tana-Schanzara-Platz nahe unserem Bochumer Buchladen. Foto: Sebastian Sellhorst

Bücher schaffen Stellen

bodo 07.21

Armin Laschet im Interview Liebe bodo-Redaktion, ich respektiere Eure Entscheidung, auch Armin Laschet in Eurer Reihe zur Bundestagswahl zu interviewen. Wie bei den Kandidaten zuvor waren die Fragen kritisch und gut informiert. Trotzdem habe ich mich geärgert. Denn das Interview zeigt, wie wenig man Politikprofis beikommt. Euer ganzes Heft würde nicht genügen, die Reihe an Fehlern, behaupteten Unwahrheiten und Lobbyismus-Skandalen aufzuzählen, die dieser Ministerpräsident – mit seinen Ministerinnen und Ministern – seit Beginn seiner Amtszeit angehäuft hat. D. S.

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bodo 07.21

Mo. – Fr. 10 bis 18 Uhr Sa. 10 bis 14 Uhr

Bürgerliches Trauerspiel Danke für den abgewogenen Artikel zum Fletch Bizzel. Es macht mich immer noch wütend, wie unnötig und unprofessionell hier auf vielen, wenn nicht allen Seiten agiert wird – zum Schaden der Kulturszene, des Publikums und der ganzen Region. Warum ist Aussitzen eigentlich das einzige, das Ruhrgebietsverwaltungen einfällt, wenn Probleme auftauchen? Um zu verhindern, dass das Kind in den Brunnen fällt, muss man manchmal vielleicht einfach den bequemen Sessel verlassen. Nun ist der Schaden da, durch Wegschauen wird er nicht verschwinden. H. W.

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VERKÄUFERGESCHICHTEN

Vor zwanzig Jahren war die Welt eine andere: Die Akkus unserer Nokia-Handys hielten wochenlang, statt vor Corona sorgte man sich vor BSE, der 11. September hatte noch nicht die Welt und die Hartz-Kommission noch nicht Deutschland verändert. Für Andreas erscheint das Jahr 2001 besonders weit entfernt: Der Familienvater und Betriebsrat schlief damals auf der Straße und verkaufte das Straßenmagazin. Text und Fotos: Sebastian Sellhorst

Die bodo im Büro A

uf der Straße bin ich eigentlich durch einen Job in der Veranstaltungsbranche gelandet“, erinnert sich Andreas. Als großer Peter-Maffay-Fan jobbt Andreas zur Jahrtausendwende auf dessen Konzert in seiner Heimatstadt Bad Segeberg. Ein Konzertveranstalter spricht ihn an, ob er nicht mit zu anderen Konzerten kommen möchte. „Ich war zu der Zeit als Betonbauer beschäftigt, aber nahm mir drei Wochen Urlaub, um das Abenteuer mitzumachen. Ich bin nicht zurückgekommen.“ In seinem neuen Job reist er durch Deutschland und England, verkauft Merchandise oder Konzertbedarf wie Leuchtstäbe und Wunderkerzen. „Man ist jeden Abend in einer anderen Stadt“, beschreibt er die Arbeit. „Morgens bezieht man eine Location, an der man tagsüber aufbaut,

um dann abends zu verkaufen. Nachts packt man alles in den LKW und fährt in die nächste Stadt. No Angels, AC/DC, Peter Maffay. Sascha, The Dome, DJ Ötzi, die letzten Modern-Talking-Konzerte, ich hab viel gesehen. Die Zeit möchte ich nicht missen, auch wenn es dann irgendwann ein ungünstiges Ende nahm.“ 2001 verliert Andreas seinen Job. Seine Wohnung hatte er aufgelöst, da er nur noch in Hotels wohnte. „Ohne Bleibe und ohne Geld stand ich in Dortmund. An der Jägerstraße in der Nordstadt war eine Überdachung, an der ich mich abends hingelegt habe. Es wurden dann zwei Jahre.“ In der Zeit fängt er an, das Straßenmagazin zu verkaufen. „So etwas konnte ich ja. Ich erinnere mich noch, wie ich jeden Abend meine Hefte in eine Plastiktüte wickelte, damit sie trocken blieben.“

Auf der Straße lernt der damals 33-Jährige seine jetzige Frau kennen „Zwischen uns hat es relativ schnell gefunkt. Ich konnte bei ihr einziehen. Einzige Bedingung: Ich sollte mein Leben in den Griff bekommen. Ich hatte das Glück, dass ich nie Probleme mit Alkohol oder harten Drogen hatte. Es war nur unglaublich viel Behördenkram zu erledigen.“ Zurück im Berufsleben erkrankt er an einem Lungenemphysem. „Meinen ersten neuen Job als Lackierer musste ich direkt wieder aufgeben, aber wenigstens habe ich dadurch jetzt schnell meine CoronaImpfung bekommen“, sieht er es positiv. „Das Arbeitsamt meinte, ich solle mich bei Amazon bewerben. Erst war ich skeptisch, aber dann habe ich dort als ,Picker‘ angefangen. Ein harter Job, aber zum Glück bin ich dabei geblieben und hab mich hochgearbeitet.“ Seit zehn Jahren ist Andreas jetzt bei Amazon beschäftigt. In der Dortmunder Niederlassung hat er 2018 den Betriebsrat mit aufgebaut, für den er seitdem in Vollzeit tätig ist. Das Versprechen, sein Leben in den Griff zu bekommen, hat gehalten. Die nunmehr 18 Jahre dauernde Ehe mit seiner Frau auch. Mittlerweile leben die beiden in Huckarde. Zwei Kinder und ein Hund sind noch dazugekommen. Eine bodo kauft er immer noch jeden Monat. „Die liegt jetzt immer bei mir im Büro und erinnert mich daran, dass alles auch ganz anders hätte laufen können.“

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Anzeige Arbeiterwohlfahrt Bezirksverband Westliches Westfalen e.V.

Martin Kaysh schreibt für die Arbeiterwohlfahrt

Schon wieder haben wir ein Problem gelöst, versprechen jedenfalls die Überschriften. Das Bundesarbeitsgericht billigte jetzt einer bulgarischen 24-Stunden-Pflegekraft in einem deutschen Privathaushalt den deutschen Mindestlohn zu. Man sollte allerdings nach der Schlagzeile mit dem Lesen aufhören, denn sonst schrumpft die Lösung zum Lösungchen. Diese Allzeit-bereit-Pflegenden, das sind Frauen aus Polen, Bulgarien, Rumänien, die bei der hilfebedürftigen Person einziehen, rund um die Uhr für sie da sind, 168 Stunden die Woche. Man muss nicht in der Gewerkschaft sein, um darauf zu kommen, dass man für so ein Pensum selbst dann mindestens vier Kräfte braucht, wenn diese auf Urlaub verzichten und gerne mal eine Stunde länger bleiben. Unbeirrt wird im Internet auch nach dem Urteil weiterhin eine „Rund-um-Betreuung in den eigenen vier Wänden“ immer noch für 2.185,00 Euro monatlich angeboten. Das klappt, weil in diesem Universum Pflege schon rein physikalisch andere Gesetze gelten, mutmaßlich gibt es dort so eine Lohn-ZeitKrümmung. Bei der überholt der Profit die Arbeitszeit, Lohnforderungen verschwinden dadurch in den schwarzen Löchern des Abzokera-Nebels. Das Urteil trifft nur die wenigen in dieser Pflegesparte, die das Existieren von Regeln allein deshalb anerkennen, weil man sonst Martin Kaysh (Geierabend) schreibt jeden Monat in bodo für die AWO.

gar nicht gegen sie verstoßen könnte. Es klingt, als wolle man die Mafia zwingen, Auftragsmorde ab einem gewissen Killerlohn künftig europaweit auszuschreiben.

Sie Mitglied Werden auch in der AWO! eder die AWO li g it M r h e m Je hr kann sie in hat, desto me ft bewirken. der Gesellscha en nn sie Mensch Desto eher ka fe brauchen. helfen, die Hil

Dieses Geschäftsmodell existiert, weil man immer noch leichter rumänische Pflegekräfte nach Deutschland importieren als deutsche Pflegefälle nach Polen exportieren kann. Auf dem Weg zum beschämend kleinen Geld schuften Polinnen bei uns, Ukrainerinnen statt ihrer dann in Polen und Moldawierinnen in der Ukraine, eine Elendsstaffel, die sich fortsetzen ließe bis zu einem Billigstlohnland kurz hinter Alpha Centauri.

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