INTER.VISTA 6

Page 1

Inter.Vista Magdeburger im Gespräch. Nah. Persönlich. Echt.

Herbert Beesten Gabriele Bolzek Franziska Briese Marina Franz Julia Hohn Uwe Jahn Gabriele Köster Jens Märker Maria Meyer Patrick Möhring Katharina Remiorz Tim Schneider Holger Stahlknecht Matias Tosi

Einer von hundert #6


Hinter jeder Seite stecken viele Stunden Arbeit. ganz besonders trifft das auf spezielle Seiten wie das Cover zu. Auch banal wirkende Aspekte wie die Wahl eines Farbakzentes, einer Schriftart oder den Einsatz von Linien und Satzzeichen nehmen mehr Zeit in Anspruch, als ich es für möglich gehalten hätte. Miriam Bade

Alles über interviews www.alles-ueber-interviews.de


VORwort 100 Interviews Achtung! Trommelwirbel! Wir haben es geschafft: 100 Inter­ views sind mit dieser Ausgabe im Kasten! Wer hätte das ­g edacht, als wir im Winter 2015 mit INTER.VISTA starteten. Im Kasten ist bei diesem Heft auch ein modifiziertes Design, das etwas strenger angelegt ist: Bauhaus, Sachlichkeit und Eleganz lassen grüßen. Aber das Wichtigste bleibt der Inhalt. Unsere Redakteurinnen und Redakteure sind wieder ausge­ schwärmt, um Euch interessante Leute aus Magdeburg vor­ stellen zu können. 14 Persönlichkeiten, und diesmal wirklich paritätisch jeweils sieben Frauen und Männer, präsentieren wir Euch. Wie die Stadt an der Elbe ist auch diese Aus­g abe voller Diversität, Energie und kleiner Geheimnisse, die es zu entdecken gilt. Was macht eine Stadtteilmanagerin? Wie wurde aus einem baufälligen Kino ein Zentrum des Glaubens? Wie sieht der Alltag des Innenministers von Sachsen-Anhalt aus? Und wieso muss der Küster die Domuhr so oft justieren? Wie immer fanden wir überraschende Antworten auf Fragen, die wir bis vor kurzem selbst noch nicht kannten. Das Ergebnis eines weiteren Semesters liegt also in Euren Händen, aber das ist noch nicht alles. Unsere Social-­M ediaBeauftragten waren ebenfalls nicht untätig und haben ­INTER. VISTA auch auf Instagram und Facebook zu noch mehr Glanz verholfen. Da solltet Ihr unbedingt vorbeischauen, denn neue SAG.NIX- und SAG.FIX-Gimmicks sind am Start. Also viel Vergnügen und Gelassenheit beim Entdecken und Schmökern wünscht Euch das INTER.VISTA-Team!


4

»Mein Herz schlägt für Stadtfeld.«

14

»Ich bin kein Musiker, ich bin Mugger.«

24

»Natürlich lernt man aus der Geschichte.«

36

Matias Tosi »Das Theater ist für mich die neue Kirche.«

46

»Ich bin eine Rampensau.«

56

»Mehr Zeit für mich selbst.«

64

»Ich bin so, wie ich bin. Ich lass mich nicht casten.«

Franziska Briese

Uwe Jahn

Gabriele Köster

Herbert Beesten

Katharina Remiorz

Holger Stahlknecht


inhalt

76

»Am wichtigsten ist, empathisch zu sein.«

88

»Ich bin ein trockener Graffiti-Maler.«

100

»Ich muss mein Leben so leben, wie es mir gegeben wird.«

110

»Mit der Zeit wurde aus Fernlust auch Nahlust.«

122

»Gott hat Leute bewusst hierher gesendet.«

132

»Wir machen keinen Schunkel-, sondern Unterhaltungskarneval.«

140

»Am Ende sollte man aber immer noch aus Liebe heiraten.«

Maria Meyer

Jens Märker

Gabriele Bolzek

Tim Schneider

Marina Franz

Patrick Möhring

Julia Hohn



FRANZISKA BRIESE

»Mein Herz schlägt für Stadtfeld.« Eigentlich wollte sie Filme produzieren, doch nun leitet sie in Stadtfeld das Geschäftsstraßenmanagement und ist glücklich damit. Welche Rolle dabei das Studium an der hiesigen Hochschule spielte und was während der Studentenzeit wirklich zählt, verriet uns die gebürtige Potsdamerin an einem Aprilnachmittag in ihrem Büro. Außerdem wissen wir jetzt, was in Stadtfeld wirklich angesagt ist. Geheimtipps inklusive! Interview und Fotos: Björn Reckmann und Nele Wlodasch

7


FRANZISKA BRIESE

»Voll die Tussi«, so hast Du Dich zum Ende der Studienzeit in Eurem Matrikel-Jahrbuch selbst beschrieben. Würdest Du das ­ heute immer noch so sagen? Ich habe das nicht so ernst genommen, aber im Prinzip ja. Ich würde es aber eher als Pingeligkeit beschreiben. Am Ende muss alles perfekt sein.

ich komme seit zwei Jahren jeden Tag konsequent zu spät. Nur im Job oder auch privat? Im Job auf jeden Fall, darum bin ich wahrscheinlich auch bei den kreativen Ingenieuren gelandet. Und privat wähle ich die Dinge, mit denen ich mich umgebe, bewusst aus.

Was fällt Dir als Erstes ein, wenn Du an Deine Studienzeit zurückdenkst? Es war echt bombastisch. Ich hatte tatsächlich die beste Zeit meines Lebens während des Studiums in Magdeburg. Damals war das Ganze auch noch komplett anders strukturiert als heute. Wir waren viel freier, hatten ein größeres Angebot an Kursen und konnten selbst Schwerpunkte setzen. Das Seminar Fünf Phasen der Filmherstellung hat mich besonders fasziniert und auch noch Jahre danach im Beruf beglei-

6

tet. Lyrik-TV mit Gerd Conradt war großartig. Dort drehten wir richtige Kurzfilme und konnten dabei trotz Projektmanagementanspruch frei und künstlerisch arbeiten. In der Studienzeit konnten wir uns überall ausprobieren, sodass wir am Ende komplett ausgebildet waren und alle Medien bedienen konnten. Natürlich nichts so richtig (lacht).

Wie bist Du zum Studium nach Magde­burg gekommen? Schon während der Schulzeit arbeitete ich bei einer Zeitung und einem Fotografen. Film interessierte mich schon immer, das Studium war die logische Konsequenz daraus. Ich bekam dann schnell eine Zusage aus Magdeburg, der Studiengang war damals aber noch in Stendal. Ich dachte: Da machst du Abitur, die Welt liegt dir zu Füßen und dann kommst du nach Stendal. Aber es war großartig. Nach einem Semester wurde der Studiengang nach Magdeburg verlegt und wir mussten alle umziehen. Eigentlich wollte ich schnell studieren und dann wieder zurück nach Potsdam, aber dann lernte ich meinen Mann kennen. Jetzt bin ich hier und habe zwei Kinder. Und wie fühlt sich das an? Nach einer Weile war ich auch beruflich angekommen und hatte ein Netzwerk aufgebaut. Außerdem hatten wir einen tollen Kita-Platz. Jetzt wohnen wir günstig, ich habe einen


FRANZISKA BRIESE

tollen Job und mein Kind kommt bald in die Schule.

Du hast ein Auslandspraktikum in Madrid absolviert. Was hat Dir daran gefallen? Ich habe zwei Auslandssemester gemacht, in Madrid und in Salzburg. Daraus mitgenommen habe ich auf jeden Fall Agentur- und Projekt­ erfahrung und eine gute Zeit. An Madrid hat mich besonders beeindruckt, dass alles viel entspannter ist als hier. Zweieinhalb Stunden Mittagspause waren Standard, Leute schliefen im Anzug auf Parkbänken und machten Siesta. Eine tolle Stadt.

Du hast Journalistik und Medienmanagement studiert, aber jetzt bist Du in einem Architekten­büro. Wie kam es dazu? Ich habe früher als Freelancer gearbeitet und war auch beim Moritzhof tätig. Irgendwann wollte ich als Basis im Monat wenigstens eine 20-Stunden-Stelle, um sicher die Miete zahlen zu können, aber trotzdem noch genug Zeit für eigene Projekte zu haben. Über Facebook fand ich ein Inserat für eine Stelle im Back-Office. Ich bewarb mich und bekam den Job. Nach einer Weile erfuhr ich von meinen Chefs von e­ iner Ausschreibung der Stadt für das

7


FRANZISKA BRIESE

Geschäftsstraßenmanagement. Es war eine Mischung aus Networking, Kommunikation und dem Erstellen eigener Inhalte, alles Dinge die ich aus dem Studium bereits kannte. Wir schrieben gemeinsam ein Konzept, setzten uns damit gegen die Mit­bewerber durch und jetzt bin ich hier.

Du hast private Projekte angesprochen. Gibt es die immer noch? Ja, die Féte de la Musique zum Beispiel. Meine privaten Projekte wurden aber weniger, dafür gibt es jetzt mehr, die wir hier anstoßen. Zurzeit arbeiten wir an dem Projekt Walls of Magdeburg, kurz #WOM. Dabei wollen wir Hauswände in Stadtfeld von Künstlern gestalten lassen. Bei privaten Projekten war das Geld früher immer knapp, es musste so gut wie alles selbst gemacht und finanziert werden. Jetzt muss ich mir darüber nicht permanent Gedanken machen und kann einfach inhaltlich arbeiten. Kannst Du Dir vorstellen, das Management für einen anderen Stadtteil zu machen? Mein Herz schlägt für Stadtfeld. Ich hätte mich für keinen anderen Stadtteil um die Aufgabe beworben. Wie sieht die Zusammenarbeit mit den anderen Stadtteilen aus? Wir sind zu dritt, ein Geschäfts­ straßen­ management existiert für jedes Stadtteilzentrum neben der Innenstadt, also für Stadtfeld, Neu­ stadt und Sudenburg. Darüber

8


FRANZISKA BRIESE

hinaus gibt es noch Quartiers- oder Stadtteil­ manager, die haben allerdings andere Schwerpunkte.

Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei Dir aus? Ich komme seit zwei Jahren jeden Tag konsequent zu spät. (lacht) Üblicherweise beginne ich den Tag mit einer klassischen Presseschau. Anschließend arbeite ich mich durch die Post und beantworte E-Mails. Zurzeit frisst das Urst urbane Straßenfest so ziemlich alle Kapazitäten. Ansonsten treffe ich viele Menschen, netzwerke, sitze in Arbeitsgruppen und -kreisen, bringe Angebot und Nachfrage zusammen, plane Veranstaltungen und so weiter. Nachher treffe ich noch meine Studentengruppe. Mit ihnen muss ich nachher noch am zukünftigen Volleyballplatz zwei Löcher für die Fundamente graben.

Wie läuft die Realisierung einer Idee ab? Nehmen wir mal als Bei­ spiel das Urst urbane Straßenfest? Da arbeite ich mit einer Studentengruppe aus der Uni zusammen. Wir erarbeiten, wie im klassischen Projekt­ management, ein Hauptziel, aus dem sich strategisch alle anderen Ziele ableiten. Aus denen schnüren wir Arbeitspakete, so dass sich jeder an der Stelle einbringen kann, die ihm am besten zusagt. Die Studenten lernen dabei einen Zeitund Kosten-Finanzplan zu erstellen und mit einer Deadline zu arbeiten.

Woher kommen die Ideen für solch ein Straßenfest-Projekt? In diesem Falle tatsächlich von meiner Kollegin Camila und mir. Die Landeshauptstadt fordert beispielsweise dazu auf, am Tag der Städte­bau­förderung etwas zu veranstalten. Wir überlegten, was es hier so noch nicht gab und entschieden uns für die Veranstaltung eines Straßen­festes. Das Büro

Am ende muss alles perfekt sein.

lässt uns für so etwas viel Raum. META ­architektur hat sich ja auf die Fahnen geschrieben, »urbane Zukunft [zu] gestalten« und »urbanes Leben [zu] fördern«. Dazu ge­hören auch solche Projekte. Manchmal weiß man anfangs gar nicht, wie viel Arbeit dahinter steckt. Für den Bau eines kleinen Volleyballplatzes mussten wir beispielsweise einen Bauantrag stellen und 3.000 Euro allein für Sand ausgeben.

In einem Interview hat Dich die Volksstimme als Kommuni­ka­tions­­­ expertin bezeichnet. Bist Du eine Quasselstrippe? Mit Leuten zu sprechen ist die Kern­ aufgabe meiner Arbeit, dafür muss ich eine Quasselstrippe sein. Ob ich eine Kommunikationsexpertin bin, weiß ich nicht. Ich bin ja auch privat letztlich immer in meiner Rolle als

9


FRANZISKA BRIESE

Geschäftsstraßenmanagerin unterwegs und muss für bestimmte Dinge im Stadtteil jederzeit ansprechbar sein.

Wie begegnen Dir die Leute, erkennen Dich viele wieder? Gott sei Dank lesen ja nicht alle die Volksstimme. Ich bin aber bei allen Ladeneröffnungen dabei, um die Leute zu begrüßen, von daher kennen mich viele. Ich will, dass es eine Person mit Gesicht gibt, die sich nicht hinter einer Institution versteckt.

Wie gehen Stadtfelder auf Dich zu? Wie beteiligen sie sich an Deiner Arbeit? Meine Arbeit richtet sich in erster Linie an die Gewerbetreibenden, die Bewohner sind aber auch wichtig.

Produktionsleitung beim Film war ja immer mein Ziel, jetzt leite ich das hier. Beim Straßenfest beispielsweise stehen sie im Mittelpunkt. Händler und Bewohner kommen mit Vorschlägen auf mich zu und ich helfe ihnen dann bei der Umsetzung. Einmal im Quartal gibt es ein Unternehmerfrühstück, zu dem alle Gewerbe­ treibenden Stadtfelds eingeladen sind, um sich auszutauschen.

10

Gibt es Initiativen, die Dich besonders beeindrucken? Viele. Stadtfeld ist ein sehr dank­ barer Stadtteil mit einer engagierten Bewohner- und Händlerschaft. Es gibt die Händlerinitiative Schell­ heimer Kiez, ein Verbund von Händlern rund um den Schellheimer Platz, die gemeinsame Aktionen veranstalten. In der Interessen­ gemeinschaft IG Stadtfeld e.V. bündeln die Händler ihre Interessen, um gemeinsam den Standort zu stärken. Darüber hinaus gibt es auch einen sehr aktiven ­Bürgerverein, den ich sehr schätze und als Partner gewinnen konnte.

Du hast von der Leichtigkeit des Studentenlebens gesprochen. Kommt sie wirklich nicht wieder? Ja, das unterschreibe ich noch genauso. Ich kann Euch allen nur empfehlen: Probiert euch aus, geht ins Ausland, macht Praktika, so viele ihr könnt. Dafür habt ihr später nie wieder den Freiraum. Es geht nicht darum, so schnell wie möglich fertig zu werden. Ich habe sieben Jahre studiert und zwischendurch immer gearbeitet. Welches Deiner Praktika hat Dich am meisten geprägt? Bei den Filmarbeiten war die Lernkurve am höchsten. Im ­ersten ­Semester fing ich mit einem Set-Praktikum an, wodurch ich Einblick in alle Bereiche hatte. Von da an habe ich mich weiter


FRANZISKA BRIESE

spezialisiert und war letzten Endes Regieassistentin. Besonders gefiel mir daran, dass ich die Inhalte aus meinem Filmphasen-Seminar an der Hochschule eins zu eins anwenden konnte. Wo siehst Du Dich in zehn Jahren? Keine Ahnung. Hätte mir vor ein paar Jahren mal jemand gesagt, ich würde bald als Geschäftsstraßenmanagerin in einem Architekturbüro arbeiten, hätte ich ihm den Vogel gezeigt. Früher wollte ich immer zum Film, heute bin ich ganz froh, dass daraus nichts geworden ist. Im besagten Matrikel-Jahrbuch Rückblende 04 wurdest Du gefragt, wo Du Dich in der Zukunft siehst. Deine Antwort lautete:

»Ich bin Produktionsleiterin, die unbestechlich nur das Beste fordert, während Eva Herrmann mein Haus putzt und Harald Schmidt meine Kinder hütet.« Was ist daraus geworden? Produktionsleitung beim Film war ja immer mein Ziel, jetzt leite ich das hier. Jemanden, der mein Haus putzt und meine Kinder hütet, suche ich immer noch, aber damals dachte ich ja auch noch nicht, dass ich so früh Kinder bekomme. Ja, doch, ich bin nah dran. (lacht) Ein Tag in Stadtfeld, hast Du ein paar Geheimtipps für uns? Klar. Stadtfeld ist das besterhaltene Gründerzeitviertel in Magdeburg, allein das ist schon einen Spaziergang wert. Handschuhschmidt ist

11


FRANZISKA BRIESE

für mich der absolute Geheimtipp, das ist ein schon über 60 Jahre alter Maßhandschuhladen, ein Familienbetrieb, der mittlerweile von der Enkelin geführt wird. Einer von zweien in ganz Deutschland, etwas ganz Besonderes. Außerdem backen die Bäcker Ebel und Braune die besten Brötchen der Stadt. Warum ist Stadtfeld zurzeit so im Trend? Ich glaube, der Trend hält schon seit längerem an. Stadtfeld bietet gün­ stige, gute Wohnmöglichkeiten, ist nah am Bahnhof und am ­Zentrum und dicht besiedelt. Es ist der ­jüngste und familienfreundlichste Stadtteil Magdeburgs. Früher wohnten hier die Studenten mit wenig Geld. Heute sind sie fertig ausgebildet, leben immer noch hier, aber mit ihren Familien und gestalten das Stadt­ viertel mit.

ich will, dass es eine Person gibt, die sich nicht hinter einer institution versteckt. Was ist denn momentan das neue Studentenviertel? Gefühltermaßen drängt der Großteil der Studenten mittlerweile nach Buckau. In zwanzig Jahren wird es dort vielleicht ähnlich sein wie

12

in Stadtfeld. Ich habe sowieso das Gefühl, dass mehr Leute nach dem Studium hierbleiben als früher. Gibt es den typischen Stadtfelder? Ich will nicht alle über einen Kamm scheren, aber es gibt ja Statistiken. Der typische Stadtfelder ist jünger als der Großteil der Stadt, hat Kinder, ist Akademiker, wählt wahrscheinlich eher die SPD und die Grünen und hat das im Schnitt höchste Einkommen im Vergleich zu den anderen Stadtteilen. Außerdem fährt er gern Fahrrad.

Wenn es etwas gäbe, das Du an Magdeburg ändern könntest, was wäre das? Ich glaube, der Stadt fehlt noch eine Vision. Alles, was wir momentan in dieser Hinsicht haben, ist ein Tunnel und ein Stadion. Ich wünsche mir, dass die Stadt sich zukunftsfähiger aufstellt, mit Ideen, neuen Verkehrskonzepten, vielleicht sogar mit neuen Ansätzen zum Thema Stadt­ entwicklung. Die Verwaltung muss begreifen, dass es nicht nur darum geht, junge Leute zur Ausbildung herzuziehen, sondern auch darum, sie zum Bleiben anzuregen.

Worauf bist Du in Magdeburg besonders stolz? Nicht Fußball! Mir gefällt, dass auch jemand wie ich, der nicht von hier ist, mit relativ einfachen Mitteln die Stadt mitgestalten kann. Anderenorts stelle ich mir das schwieriger


FRANZISKA BRIESE

vor. In Berlin oder Leipzig beispielsweise gibt es ja alles schon. Mit einem Streetfood-Markt kann ich dort niemanden mehr beeindrucken. Hier ist das alles noch ein bisschen anders, das fiel mir auch anhand des Urst urbanen Straßenfestes letzten Jahres auf. Das war etwas, das es

so noch nicht gab und die Leute waren total dankbar. Dieses Maß an Mitgestaltung ist etwas, das ich sehr schätze. Ob ich darauf stolz bin, weiß ich nicht, aber das macht die Stadt aus. April 2018

Vista.Schon? Franziska Briese ist 1984 in Potsdam geboren. Nach der Schule wollte sie eigentlich beim Film arbeiten und gelangte so an die Hochschule Magdeburg-Stendal, um hier ­Journalistik/Medienmanagement zu studieren. Das Studium beschreibt sie als die ›beste Zeit ihres ­Lebens‹. Mehr durch Zufall wurde sie Geschäftsstraßenmanagerin von Stadtfeld. Ein Beruf, der für sie wie geschaffen ist: sich kreativ einbringen und Stadtfeld nach vorn bringen. In Zusammenarbeit mit dem Büro META architektur GmbH veranstaltet sie unter anderem das Urst urbane Straßenfest. Stadtfeld ist ihr sehr ans Herz gewachsen: Brötchen holt sie bei Bäcker Ebel oder Braune und ihr Lieblingsort im Stadtteil ist der Schelli.

13


UWE JAHN

»ICH bin kein musiker, ich bin mugger.« Er ist Domküster und Bassist von Magdeburgs ›heißester Coverband‹ Charlies Crew. An einem sonnigen Nachmittag sitzen wir im Garten des Magdeburger Doms, um über Rock’n-Roll-Muggen, Glauben und natürlich den Dom zu plaudern. Mit seinen bunt bemalten Besen Feuerblitz und Nimbus 2000 kümmert er sich um viele Dinge des alten Gemäuers, dessen offizieller Name übrigens Dom zu Magdeburg St. Mauritius und Katharina ist. Außerdem erfahren wir, warum er Küster wurde, wie er einen Suizid verhinderte und was der ultimative Song für ihn wäre. Interview und Fotos: Sophie Traub und Leon Fischer



UWE JAHN

Singst Du unter der Dusche? Nein. Kommt mir selbst gerade erstaunlich vor, aber das mache ich nicht. Eben typisch Mann: nicht multi­taskingfähig.

Zur Entspannung: eher ein C ­ horal von Bach oder doch lieber ZZ Top? Ganz unterschiedlich. Es kommt auf die Stimmung an, manchmal habe ich eben Lust auf Musik und manchmal nicht. Mal hat man morgens schon den Blick für die Schönheit des Doms und mal nicht.

Einmal bin ich nach einer Tour von der Ostsee noch nachts nach Hause gefahren, weil ich hier eben meinen Dom habe. Du hast auch im Domchor gesungen. In welcher Stimmlage? Als Kind war ich dem Alt der Frauen zugeteilt und bin dann nach dem Stimmbruch in den Bass gekommen. Nach der Armee wollte ich nochmal im Chor singen, aber da hatte ich schon Musik mit meiner Band gemacht. Das überschnitt sich dann immer und ich war irgendwann keine Hilfe mehr für den Chor, ­ konnte öfter bei Konzerten nicht mit­singen. Für mich war dann klar: lieber nur eins. Ich wollte lieber Krawall ­machen.

16

Bist Du schon mal mit Deiner Band hier im Dom aufgetreten? Ja, zu einem der jährlichen Sommer­ feste waren wir mal gebucht. Kein großes Ding, aber es gibt Bier und Tanz. Das unterscheidet diese Festlichkeit von anderen im Dom. Auch meinen 50. Geburtstag habe ich hier gefeiert, da gab es natürlich auch unsere Musik. Zu meiner großen Überraschung waren wir als Band auch zum Abschied des Bischofs ein­ geladen, das hat mich wirklich gewundert. Da gab es dann natürlich auch einige ›Dinosaurier‹, die das nicht so toll fanden. Aber der Bischof war ein sehr bodenständiger Mensch, der hat das gut verkraftet. Eine wirklich interessante Atmosphäre. So ändern sich die Zeiten.

Gehst Du noch auf Tour mit ­Charlies Crew? Wir spielen demnächst zum Beispiel auf dem Rathausfest in Wernigerode. Aber Auftreten ist allgemein ruhiger geworden. Es kümmert sich niemand so richtig darum und unsere Bekanntheit nimmt auch so ein bisschen ab. Aber das ist mir gar nicht so unrecht, weil ich ja alle 14 Tage auch Wochenenddienst im Dom habe und sich das öfter über­schneiden würde. Dann muss ich Dienste tauschen und das ist bei einer Zwei-Mann-­ Besetzung nicht einfach. Probt Ihr regelmäßig? Wir proben je nach Anforderung. Heute zum Beispiel. Unser Pro-


UWE JAHN

gramm ist ja auch relativ festgelegt. Das pflegen wir, weswegen wir gar nicht so viel proben müssen.

Ihr spielt Coverversionen. Schreibt Ihr auch eigene Songs? Ja. Also wir haben auch überlegt, ob wir uns jetzt im Alter nochmal hin­ setzen und diese eigenen S­ achen aufmischen. Das ist natürlich schwierig, weil vieles davon schon über zehn Jahre alt ist. Da einen neuen Ansatz zu finden, kann schwieriger sein als etwas ganz Neues zu schreiben. Wir haben schon eigene Sachen und versuchten immer mal, das ins Programm zu übernehmen, aber die Lieder, die wir jetzt spielen, haben sich im Programm durch­gesetzt. Auf Eurer Website steht, Du würdest »unmöglichste« Stimmen zum Klingen bringen. Was verbirgt sich dahinter? Ich habe im Chor viele unterschiedliche Sachen machen müssen und schnell gelernt, eine Stimme zu

finden und dann auch hin und her zu springen. Das ist ganz famos. Wenn wir zu Weihnachten eine Mugge hatten, war es für die Kollegen manchmal gar nicht so einfach. Weihnachtslieder sind von den Akkorden her und auch tonal ganz anders als zum Beispiel Blues oder Soul. So war es für unseren Sänger Hannes, der fast nur Blues und Soul gemacht hat, schwer, diese Art von Gesang zu übernehmen. Insofern bin ich in der Band der, der variabel ist.

Sex, Drugs and Rock’n’Roll. Hast Du nach diesem Motto gelebt? Also es war schon alles dabei. Die Frage ist, warum macht man Musik? Letztlich ist es einfach der Drang, auf die Bühne zu wollen. Ich bin kein Musiker, ich bin Mugger. Das bedeutet, gerne Musik zu machen, aber nicht den schöpferischen Drang zu haben, etwas Eigenes zu hinterlassen. Das mag auch an unserer Geschichte liegen. Im Osten konnte man gut und viel spielen

17


UWE JAHN

18


UWE JAHN

und brauchte nicht unbedingt was Eigenes. Das hat mir gereicht. Und wenn man dann erstmal oben steht und mitkriegt, wie man die Leute begeistern kann, dann wird man übermütig und leichtsinnig. Hotelzimmer habe ich auch schon mal auseinandergenommen. (lacht)

Das klingt so, also wäre es im ­Osten ganz einfach gewesen, ­Musik zu machen? Man musste sich von Anfang an irgendwelchen Einstufungs­ kommissionen stellen, was einem echt auf den Wecker gehen konnte. Und ich dachte dann: Mach mal eine anständige Ausbildung. Es gab für alles einen zweiten Bildungsweg, insofern auch für mich, da ich aufgrund meiner Herkunft und auch meiner Leistungen nicht studieren konnte. In Magdeburg gab’s für mich die Möglichkeit an der Musikschule eine Ausbildung zu machen. Ich stand dann also vor so einer Einstufungskommission, die mir ebenfalls die Berufsqualifikation als Musiker zusprach. Ich dachte, jetzt wäre ich unabhängig, aber letztlich war‘s dann als Profi genauso: Diese Kommissionen ­ haben alle Gelder festgelegt. Aber wir machten weiter und spielten viel. Auch schöne große Sachen, wie zum Beispiel Rock für den Frieden. Viele Kollegen verstanden nicht, warum ich nicht mit meinem Job aufhörte, denn immerhin hatte ich ja einen Berufsausweis als Musiker. Ich hätte als Domküster

aufhören können, da kriegte ich 430 Ostmark, wovon man schon leben konnte. Aber die ganzen Mugger sind auch ein eingefahrener Haufen. Viele hatten wirklich nichts anderes als Sex, Drugs and Rock’n Roll im Kopf, oder den neuesten Verstärker, die teuerste E-Gitarre. Das habe ich nie wirklich verstanden. Einmal bin ich nach einer Tour von der Ostsee noch nachts nach Hause gefahren, weil ich hier eben meinen Dom habe. Es ist eine andere Welt, Musik ist ein schöner Ausgleich. Letztendlich habe ich hier ja auch meine Bühne. Leute kommen in den Dom, das ist super interessant und abwechslungsreich, man lernt viele verschiedene Menschen kennen.

Wie bist Du zu Deinem Beruf ­gekommen? Mein Vater war hier schon Küster, ich bin damit groß geworden. Als ich von der Armee wiederkam, hatte ich mir das richtig in den Kopf gesetzt. Zuerst arbeitete ich in einem Metall­ baubetrieb, kündigte dann aber. Ich hatte zwar damals die Orakel Blues Band, um die ich mich schon während der Armeezeit ge­ kümmert hatte. Aber im Osten ging es natürlich gar nicht, ohne Arbeit zu sein. Da galt man sofort als asozial. Die ganzen Mugger hatten öfter mal Hausmeisterjobs. In der Zeit war mein Vater gerade alleine, wes­ wegen ich begann, im Dom auszuhelfen. Mein Vater war einer, der vieles lieber selbst erledigte.

19


UWE JAHN

Und ich war auch zufrieden, wenn ich hier mit meinem Besen alleine sein konnte. Am Wochenende arbeitete mein Vater oft lieber allein, das passte dann perfekt für mich zum

an sich bin ich ein besserer hausmeister.

Spielen mit der Band. Es gab Zeiten, da gab es hier sogar vier Küster, weil so viel Tourismus stattfand, gerade auch aus Freundesland, zum Beispiel sowjetische Reisegruppen. Dafür machten wir damals extra einen kleinen Russischkurs.

Auf der Website steht auch, dass Du Russisch lernst. Wie läuft’s denn so? Meine jetzige Frau kommt aus Weißrussland, deshalb bin ich ohnehin genötigt, da immer ein bisschen dran zu bleiben. Richtig notwendig wird es dann, wenn wir dort zu Besuch sind. Sagen wir mal so, sehr große Fortschritte habe ich noch nicht erzielt, aber wenn wir ein paar Tage dort sind, dann höre ich mich so ein bisschen rein. Bei meiner Schwiegermutter komme ich allerdings überhaupt nicht mit. (lacht) Im Netz fanden wir auch die Info, dass Du einen guten Tropfen sehr schätzt. Wein oder Bier? Eigentlich bin ich mehr der Biersäufer. Im Moment stehe ich total

20

auf kleine bayrische Brauereien, die Helles machen. Pils kann ich gar nicht mehr ab und die ganzen Starkbiere auch nicht.

Zurück zum Dom. Was sind Deine Aufgaben? An sich bin ich ein besserer Hausmeister, allerdings hat sich in den letzten Jahren in diesem Beruf einiges geändert. Recht und Sicherheit spielen eine viel größere Rolle. In erster Linie sorge ich für Ordnung und Sicherheit und betreue verschiedene Veranstaltungen, natürlich vor allem Gottesdienste. Bist Du gläubig? Naja, heutzutage muss man das fast sein. (lacht) Ich denke, man sollte der Konfession schon angehören. Ich mache ja auch Führungen und denke, wie will man denn so ein Gotteshaus verkaufen, wenn man nicht auch etwas ganz Wesentliches mitgeben kann. Das geht am besten, wenn man das auch verinnerlicht und dahintersteht.

Hörst Du den Predigten während des Gottesdienst noch zu? Ich muss zuhören, weil ich auch die Tonanlage betreue. Das mache ich meistens sogar gern. Ich muss allerdings nur alle 14 Tage sonntags arbeiten. In meiner freien Zeit klemm’ ich mir natürlich den Gottes­ dienst. (lacht) Hier predigen ganz unterschiedliche Leute. Insofern muss man sich nicht an einen Stil


UWE JAHN

gewöhnen, es ist oft interessant und abwechslungsreich. Man sieht auch am Gottesdienstbesuch, wer beliebt ist und die Leute abholen kann.

Gibt es ein Ereignis im Dom, das Dir besonders in Erinnerung geblieben ist? Hier habe ich mal Peter Maffay getroffen (lacht) und auch schon die philippinische Botschafterin durch den Dom geführt. Und ich hielt mal jemanden davon ab, vom Turm zu springen.

Willst Du uns die Geschichte kurz erzählen? Das passierte vor zehn Jahren. Die Orgel wurde gerade gebaut. Die Orgel­ bauer fuhren freitags immer nach Hause und packten ihr wichtigstes Werkzeug wieder ein. Dafür mussten die Türen offen bleiben, auch nach den offiziellen Besichtigungszeiten. Einer der Arbeiter rief mir im Gehen zu, dass ein Mann reingekommen und hochgelaufen sei. Eigentlich sind auf jeder Etage des Doms Türen, die auch abgeschlossen sind, aber an diesem Tag war wirklich alles offen. Und dann war er eben oben. Der achteckige Turm war zu der Zeit eingerüstet, weil er renoviert wurde. Ich bin also hinterher und hörte auf dem Gerüst etwas klappern. Als ich oben ankam, rief er schon, dass ich nicht weiter gehen solle. Es war ein junger Bursche, 21 Jahre alt. Er hatte sich bereits die Pulsadern aufgeschnitten, stand auf

dem Gerüst und drohte, zu springen. Das blieb natürlich von unten nicht unbeobachtet, die Leute riefen die Feuerwehr. Ich war nicht sicher, was ich machen sollte. Irgendwie versucht man dann, sich einzufühlen und irgendwas zu erzählen. Aber sehr schnell merkt man auch, dass man sowas nicht einfach kann. Es gibt zurecht dafür aus­ gebildete

Leute. Ich rief dann meinen Chef an, dessen Frau war Kranken­hausSeelsorgerin. Die beiden kamen hoch und sie redete mit dem jungen Mann. Feuerwehr und Polizei trafen dann auch ein. Das Ganze zog sich ewig hin, gegen 22 Uhr wurde er dann unaufmerksam und Spezialleute der Feuerwehr haben ihn dort weggeholt und ins Uniklinikum gebracht. Das war wirklich eine harte Nummer. Die letzte Person, die vom Dom sprang, war Sophie Masting, eine jüdische Frau. Das war 1934.

21


UWE JAHN

Hast Du einen Lieblingsort im Dom? Ja, zum Beispiel hier im Innenhof einfach auf der Wiese sitzen. Es muss ja nicht immer alles so geistlich sein. Was die Leute hier im Dom hinterlassen haben, ist nicht nur Glaube, sondern auch ihr Leben. Im Dom steckt so viel Lebendigkeit. Manchmal kann man erahnen, was da noch ist. Ich denke, es ging ihnen beim Bau oder in ihrer Arbeit nicht nur um die Rettung ihres Seelenheils. Manchmal sehe ich das alles, manchmal fehlt mir aber auch der Blick dafür. Morgens, wenn ich reinkomme, ist beispielsweise schon der Organist da und haut total in die ­Tasten. Da hat man schon fast die Nase voll, denn es ist nicht alles Bach. Also so einen richtigen Lieblingsplatz habe ich eigentlich nicht. Aber immer wieder Momente, in denen ich alles hier neu sehen kann.

22

Würdest Du Deinen Beruf gegen einen anderen eintauschen? Nein, niemals. Natürlich habe ich manchmal wenig Lust, aber grundsätzlich gehe ich gern zur Arbeit.

es muss ja nicht immer alles geistlich sein.

Der Dom ist das Wahrzeichen Magdeburgs, aber was macht die Stadt noch für Dich aus? Die Elbe. Das hat sich bei mir erst in den letzten Jahren so entwickelt, vielleicht auch mit der Tatsache, dass sie eben jetzt schön begehbar und richtig wahrnehmbar ist. Und auch super schön zum Radeln. Das ist ganz wesentlich für mich. An der Elbe sitzen und ganz entspannt dem Fluss zuschauen. Die Elbe ist so lebendig, die fließt nicht jeden Tag gleich.


UWE JAHN

Machst Du Dir Sorgen um den Magdeburger Rocknachwuchs? Nein. Vorgenommen habe ich mir, zum Talentverstärker zu gehen und mal wieder zu horchen, was so los ist in der Musikszene. Nach dem, was ich so lese, muss man sich keine Sorgen machen. Traurig finde ich aller­ dings, dass es hier keine ­richtige Institution gibt, wo man sich als Musiker treffen kann. Es gibt natürlich Gelegenheiten, zum Beispiel in der Festung Mark im Stübchen, da sind ab und an mal Sessions. Gäbe es aber einen richtigen Treffpunkt, dann würden sich die ›alten Säcke‹ ­– so wie ich – da bestimmt ab und zu mal hinbequemen. Da könnte man dann auch einen Draht zu jungen Musikern kriegen. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber generationsübergreifend gibt’s hier nichts mehr. Manchmal habe ich den Eindruck, dass das Ganze zerbröckelt. Vielleicht bekommt man das heutzutage nicht mehr alles unter einen Hut und es muss so unterschiedliche Lager geben. Die Sparten sind ja viel offener, bunter und vielfältiger geworden.

Sind Deine Kinder Fans Deiner Musik? Mittlerweile sind sie selbst­ ständig und haben so viel von der Welt gesehen, dass sie mir keinen Honig mehr ums Maul schmieren. Ein Sohn ist jetzt in Kanada. Was Charlies Crew macht, tut keinem weh und ist ja auch nicht so eine enge Sparte, also kein ganz besonderer Pfad. Bei anderer Musik ist das schon eher der Fall. Gut gemacht ist es ja. Auf jeden Fall gefällt es ihnen und das können sie auch mit ruhigem Gewissen sagen. Stell Dir vor, Du lägest nach einem Unfall auf der Straße und hast nur noch Zeit für einen Song. Welcher wäre das? Vielleicht »Willin’« von Little Feat. Eigentlich läuft die Zeit in dem ­Moment ja rückwärts. Juni 2018

Vista.Schon? Uwe Jahn ist Domküster in Magdeburg. 1969 wurde er in Bad Freienwalde geboren Als er neun Jahre alt war, zog die Familie nach Magdeburg in das Küsterhaus direkt am Domplatz, denn schon sein Vater arbeitete als Küster im Magdeburger Dom. Nach seiner ­Armeezeit begann er mit der Band Charlies Crew aufzutreten. Uwe Jahn ist verheiratet, hat Kinder und ist auch schon einmal Opa. Übrigens, in der Regel justiert er alle zwei Wochen die große Uhr am Dom neu, da sich diese aufgrund der klimatischen Veränderungen verstellt.

23


Gabriele Köster

»natürlich lernt man aus der geschichte.« Seit 2013 ist sie die Direktorin des Kulturhistorischen Museums Magdeburg. Die Rede ist von Dr. Gabriele Köster: eine Frau, die in ihrem Job wohl mehr in der Vergangenheit leben kann, als jeder andere von uns. Doch wie sieht es bei so viel Geschichte mit der Zukunft aus? Was sind die nächsten Projekte und was passiert eigentlich auf einer Leihreise? All dies konnten wir die Kunsthistorikerin fragen, die uns an einem sonnigen Junitag einen entspannten Blick in ihre Geschichte gewährte. Interview und Fotos: Bashir Swabury und Marvin Michitsch



Gabriele Köster

Geboren sind Sie in Mönchengladbach. Sind Sie eine rheinische Frohnatur? Ja, das glaube ich schon, es braucht schon ziemlich widrige Umstände, damit ich meine gute Laune verliere.

Sie haben in Berlin und Rom studiert. Gibt es etwas Besonderes, das Sie im Studium in Italien ­geprägt hat? Im Rahmen meines Studiums war das Jahr dort in der Tat sehr w ­ ichtig, weil ich Tag für Tag in die Stadt hinausgegangen bin und mir Dinge angeschaut habe. Natürlich besuchte ich auch Hochschulkurse, aber es wurde sehr schnell deutlich, dass die Denkmalkenntnis der z­ entrale Punkt für dieses eine Jahr sein würde. Es gab eine kleine Gruppe von Freunden, die organisierten, dass wir auch in Galerien kamen, die nicht unbedingt für Besucher offen waren. Das war unglaublich faszinierend. Haben Sie ein italienisches Lieblingsgericht? Nach meiner Zeit in Rom bin ich für meine Doktorarbeit häufig und ­lange in Venedig gewesen und dort zum großen Risotto-Fan geworden. Blicken wir auf die Magdeburger Museen. Haben Sie ein Sach­gebiet oder eine Epoche, die Ihnen ­be­sonders am Herzen liegt? In unserem Museum ist es natürlich das Mittelalter, mit dem ich mich am intensivsten auseinandergesetzt

26

habe, weil ich schon als Mitarbei­ terin, bevor ich Direktorin wurde, in den großen Ausstellungsprojekten dieses Hauses für viele Jahre engagiert war. Also im Prinzip ist es das Mittelalter in Sachsen-Anhalt. Im Sinne des Integrations­gedan­ kens zeigt die Sonderausstellung Willkommen in Deutschland seit Juni 2018 gemalte Bilder von Kindern aus Deutschland mit Migrationshintergrund. Positio­ niert sich das Museum damit sozialpolitisch? Wir verstehen uns als ein Aufenthaltsort neben dem politischen und privaten Raum, in dem man zusammentreffen kann. Das M ­ useum ist nicht unbedingt der erste Anlaufpunkt für Immigranten. Aber Integrationskurse nutzen das Museum gerne für einen Vor-Ort-Termin. Hier kann man wunderbar lernen, wie die Stadt funktioniert, wie sie so geworden ist und wie sie heute wahrnehmbar ist.

Wie sind Sie zum Magdeburger Museum gekommen? Der erste Schritt war, dass ich einen Job brauchte und Studienkollegen die erste Otto-Ausstellung mit vorbereiteten und noch Verstärkung brauchten. Ich musste meine Doktorarbeit finanzieren, das kam mir sehr entgegen. Danach war ich Feuer und Flamme für das Museum. Die erste Otto-Ausstellung 2001 hat mehr als 300.000 Besucher nach


Gabriele Köster

Magdeburg geholt. Es war ein tolles Erlebnis, dort mit dabei gewesen zu sein. Das hat den Grundstein für meine Beschäftigung hier gelegt. Vorher war ich nur ein einziges Mal in Magdeburg gewesen, um mir den Dom anzuschauen.

Ich habe irgendwann festgestellt, dass ich mein schönstes Bild wohl mit vier Jahren gemalt habe. Welcher Magdeburger Ort ist neben dem Museum für Sie von historischer Bedeutung? Haben Sie einen Geheimtipp? Mittlerweile könnte ich unzählige Orte nennen, wie zum Beispiel den Magdeburger Reiter, von dem wir das Original bei uns im Museum haben. Das ist ein absolut faszinierendes Objekt, weil es als frei­stehendes Denkmal auf dem Markt im Mittel­ alter errichtet wurde. Apropos europäische Vernetzung. Wie hat das im Mittelalter mit den Sprachen funktioniert? Waren die Menschen mehrsprachig? Die Lingua Communis war damals das Latein, wie dieser Ausdruck auch erahnen lässt. Das konnte man aber nur in einer bestimmten Bildungsschicht sprechen und lesen. Die regionalen Sprachen waren

sogar sehr viel unterschiedlicher. Ob ein Franke damals einen Sachsen verstehen konnte, das weiß man gar nicht genau.

Die Stadt Magdeburg hat eine turbu­lente Geschichte, wurde 1631 und 1945 vollständig zerstört, durchlebte die friedliche Revolution 1989 und wurde schließ­­ lich Landeshauptstadt Sachsen-­Anhalts. Sind diese Ereignisse eine Chance für Ihre Arbeit? Der Gründungsdirektor dieses Hauses hat bereits vor dem Zweiten Weltkrieg gesagt, dass man aufgrund der Zerstörungen und Verluste die Stadtgeschichte gar nicht museal ausstellen könne. Heute sehen wir das anders, da wir in größerem Maße archäologische Funde und Alltagsgegenstände sowie neue Medien in die Präsentation einbeziehen. Wir zeigen eine Dauerausstellung zur Stadtgeschichte von der Ersterwähnung Magdeburgs im Jahr 805 bis heute. Als Geschichte, als Narrativ sind die krisenhaften Momente und Zerstörungen der Geschichte natür­ lich unglaublich spannend, weil es für die Magdeburger prägend geworden ist, immer wieder einen Neuanfang leisten zu müssen. Aber der Verlust von Kunstwerken und historischen Zeugnissen der Geschichte Magdeburgs ist erheblich und sehr beklagenswert.

27


Gabriele Köster

Gibt es etwas, was Ihnen zur Magde­ burger Stadtgeschichte unter den Nägeln brennt, was Sie noch nicht wissen? Ja, da gibt es viele Punkte. Wir wollen 2025 eine große Ausstellung zur DDR-Zeit machen. Das ist ein großes Thema. In den neunziger Jahren wollte man das nicht an­ packen, denn da waren viele, die hier arbeiteten, selbst noch viel zu stark involviert. Jetzt langsam wird es zu einer historischen Epoche, die wir unbedingt mal beleuchten müssen.

Es gibt museen, die sichgedanken­machen, wie sie ­zukunft ­sammeln können. Ab wann ist ein Ereignis reif fürs Museum? Wir Museumsleute wünschten uns alle, dass wir in dem Moment, wenn etwas geschieht, direkt überlegen könnten, wie wir das Ereignis ins Museum bringen. Aber das würde einen sehr hohen Reflektionsgrad erfordern. Es gibt aber auch Museen, die sich 2015 darum gekümmert haben, den Koffer eines Flüchtlings in ihren Bestand aufzunehmen. Es gibt Museen, die sich Gedanken machen, wie sie Zukunft sammeln können. Diese Ansätze finde ich sehr interessant. Ich würde gerne auch Sammlungskonzepte zusammen mit

28

Bewohnern einer Stadt erarbeiten. Ich halte es unbedingt für erforderlich, Strukturen zu entwickeln, dass man auch Bürger jenseits von uns Fachwissenschaftlern integrieren kann. Wir Historiker schauen vor allem in die Vergangenheit. Wenn man sich mit der Gegenwart museal beschäftigen will, muss man enger mit der Gesellschaft in der Diskussion stehen und nach wichtigen Themen fragen. Das wollen wir in den nächsten Jahren stärker berücksichtigen. Eigentlich sollen wir aus Ge­ schichte lernen. Was denken Sie, ist der Mensch lernfähig? Natürlich lernt man aus der Geschichte. Das Problem ist, dass jeder Mensch einzeln für sich auch lernen muss und wir als Gesellschaft wieder gemeinsam zu einem Konsens kommen sollten. Was man aus der Geschichte lernen kann, ist, ­komplexe Vorgänge zu analysieren. Diese sind nie identisch, aber wenn man sich einmal einen solchen histo­ ri­ schen Vorgang vergegenwärtigt, erkennt man Dinge wieder und kann sie vielleicht schneller einordnen. Gibt es eine besondere Ausstellung, die Sie sehr berührt hat? Ja, ich war gerade in Danzig im ­Museum des Zweiten Weltkrieges. Das ist sehr stark durch die Medien gegangen, weil der Gründungsdirektor dort ein Konzept verwirklichte, das nicht ganz auf das Wohlgefallen der jetzigen Regierung stieß. Man


Gabriele Köster

entfernte ihn dann aus seinem Amt und seither gibt es Auseinandersetzungen. Er beharrt auf seinem Copyright und der Erhaltung der Gesamtausstellung, aber der Nachfolger greift schon ein und setzt die Schwerpunkte anders. Diese Ausstellung setzt in ihrer Grund­ konzeption auf ein sehr breit angelegtes Bild vom Zweiten Weltkrieg und zeigt, wie in den verschiedenen Weltreligionen nationalistische Tendenzen sichtbar wurden, insbesondere mit originalen Dokumenten, die sehr vielfältig sind. Das ist neutral und gleichzeitig so rezipierbar dargeboten, dass man sich dort sehr viele Stunden wunderbar mit dem so schwierigen Thema beschäftigen kann.

Was macht eine gute Ausstellung aus? Es ist wichtig, sich einerseits auf die Sachen einzulassen, gefesselt zu sein, aber andererseits sich auch analytisch damit zu beschäftigen, also sich nicht ganz vereinnahmen zu lassen. Durch dieses Zusammenspiel, dass es sowohl ästhetisch aufgeht als auch nicht unreflektiert einer Erzählung folgt, funktioniert es. Es war nicht ganz einfach, einen Termin mit Ihnen zu finden. Sie scheinen viel um die Ohren zu haben. Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus? Ich habe einen sehr engen Terminkalender. Zum einen gibt es die Abstimmung innerhalb der Stadt-

29


Gabriele Köster

verwaltung sowie mit den Kollegen, da ich in jedes Projekt involviert bin. Des Weiteren gibt es den kultur­ politischen Raum, in dem wir operieren. Also sehr unterschiedliche Dinge, so dass meine Tage zwar erst gegen 9 Uhr anfangen, aber bis 18.30 Uhr durchlaufen und meistens voll gefüllt sind. Hinzu kommen ­natürlich auch Abendtermine.

alterstadt gebaut, die Megedeborch. Das ist die historische Namensform von Magdeburg. Man kann einen Tag im Mittelalter erleben. Pro Tag kommen zwei Schulklassen und in jeder Saison nehmen wir eine spezifische historische Epoche in den Blick.

Wie wird das Museum von den Magdeburgern angenommen? Sehen Sie noch Potenzial? Wie kann man bei breiten Bevöl- Wir wünschen uns natürlich, dass kerungsschichten Interesse für alle immer ins Museum wollen. diesen historischen Erlebnisraum (lacht) Ich persönlich würde allerdings auch nicht unbedingt jedes anregen? Sehr wichtig ist es natürlich, bei Kin- Wochenende ins Museum gehen dern und Jugendlichen anzusetzen. wollen. Wir sehen da ein SteigeSeit mehr als 20 Jahren haben wir rungspotenzial insofern, als dass wir ein museumspädagogisches Spiel-­ vielleicht unsere Vermittlungsarbeit Projekt, das in einem unserer Innen- noch weiter auffächern sollten, um höfe stattfindet. Da ist so eine Mittel- neue Gruppen anzusprechen. Das

30


Gabriele Köster

Kinderprojekt ist gut, weil daraus tatsächlich auch eine emotionale Bindung an diesen Ort erwächst, was meistens dann auch durchs Leben weiterläuft. Mittlerweile ­ haben wir tatsächlich Kinder in der Megedeborch, deren Eltern auch schon dort waren. Haben die Leute zum Teil wegen der Digitalisierung weniger Lust, ins Museum zu gehen, weil alles irgendwie auch online abrufbar ist? Es ist ein naheliegendes Mittel, ins Internet zu gehen und da Informa­ tion und Beschäftigung zu finden. Ich glaube aber nicht, dass es Besucher abhält, ins Museum zu gehen. Vielleicht ist das Bedürfnis sogar größer, sich mit analogen Objekten zu beschäftigen, die zum Teil als komplexe Kunstwerke einen Gegenpol zu dieser virtuellen Welt darstellen. Ich sehe unsere Aufgabe noch größer werden, weil wir eben Sachen dieser dinglichen Welt bei uns bewahren.

kinder vermutlich auch wieder irgendwo anders siedeln werden. Und das finde ich sehr schön, das führt zu einer gewissen Offenheit dieser Stadt. Man kann hier auch sehr schnell ins Gespräch kommen und Kontakte schließen. Was erwartet die Besucher der Sonderausstellung Faszination Stadt. Die Urbanisierung Europas im Mittelalter und das Magde­ burger Recht im nächsten Jahr? Das werden Portraits von Fernkaufleuten sein, wie sie auch in Krakau

Es braucht schon ziemlich widrige Umstände, damit ich meine gute Laune verliere.

oder in Breslau tätig waren. Außerdem archäologische Funde. Also da gibt es zum Beispiel eine kleine Siedlerstadt im Ermland, das ist kurz vor Wie würden Sie ›den Sachsen-­ Danzig. Dort sind im 14. Jahrhundert Anhaltiner‹ allgemein ­beschreiben? mehrere Planwagen hingezogen und Naja, erstmal würde ich sagen, haben eine Stadt aus gefällten Bäudass es den Sachsen-Anhaltiner gar men errichtet. Man muss sich das nicht gibt. Vielleicht ist das, was wie eine Wildwest-Stadt vorstellen. uns alle vereint, dass wir aus ganz Sie hatte 25 Jahre Bestand und eines unterschiedlichen historischen Zu- Tages gab es dann einen Überfall sammenhängen hier hergekommen von Litauern. Die Keller dieser Häusind. Es ist Normalität, dass unsere ser sind komplett erhalten, natürlich Vorfahren irgendwo anders waren komplett unter dem Boden. Es wird und unsere Kinder und Kindes­ auch das Pompeji des Ermlandes

31


Gabriele Köster

genannt. Man kann das Alltagsleben sehr genau rekonstruieren. Das ist sehr faszinierend.

Bei so viel Kultur am Arbeitsplatz, bleibt noch Zeit für einen Besuch des Theaters oder der Oper? Ich gehe hier sehr gerne in die Oper, auch recht regelmäßig. Eine ganz besondere Vorliebe verbindet mich natürlich mit der italienischen Oper.

Gibt es eine ganz besondere Anschaffung, die Sie für das Museum getätigt haben? Ja, Sie haben vielleicht beim Hereinkommen gesehen, dass eine Vitrine mit silbernen Kelchen und Kannen im Kaiser-Otto-Saal steht. Die stammen alle aus der Katharinenkirche, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Die prunkvollen historischen Altargeräte aus der Katharinen­kirche befinden sich heute im Besitz der Altstadtgemeinde. Doch ein Kelch und eine Abendmahlskanne gingen in der Nachkriegszeit auf ungeklärte Weise verloren. Sie sind im vergangenen Herbst auf dem Kunstmarkt aufgetaucht und wir konnten sie in Abstimmung mit der Altstadtgemeinde für das Museum erwerben und so nach Magdeburg zurückholen. Sie waren zuletzt auf einer Leihreise in Litauen, wie muss man sich so eine Reise vorstellen? Wir trafen uns dort mit Kolle­ ginnen und Kollegen und sprachen über mögliche Leihgaben für die

32

Ausstellung Faszination Stadt, das war quasi eine vertrauensbildende Maßnahme. Natürlich kennt in Vilnius, Rom oder Paris nicht jeder unser Museum. Wenn wir das Gefühl haben, dass es wichtig ist, dass man mit uns ein Gesicht in Verbindung

Gerade dieses ­viele Grün ­verleiht der ganzen Stadt ein bisschen ­Gelassenheit. bringen kann, dann fahren wir dorthin. Es sind bedeutsame Leihgaben, die nicht ganz unkompliziert auf Reise gehen können. In Gesprächen wird dargelegt, warum ein Kunstwerk oder ein historisches Zeugnis wesentlich für diese Ausstellung ist. Das ist ganz großartig und macht sehr viel Spaß. Welche Rolle spielt das Museum bei Magdeburgs Kulturhaupt­ stadt-Bewerbung? Das Museum wird 2025 eine DDR-Ausstellung machen. Wir sind natürlich auch an den Vorbereitungen beteiligt, wir hatten Kultur­ beiräte, um das Ganze schon mal konzeptionell zu durchdenken. Da hatte ich das Glück, Sprecherin von einem dieser Beiräte zu sein. Es geht um Identität und kulturelles Erbe. Wir haben überlegt, was die histo-


Gabriele Köster

rischen Linien in Magdeburg sind, die auch noch eine Bedeutung für uns heute haben und die vielleicht auch für die Zukunft genutzt werden können. Die Kulturhauptstadt selbst soll ja ein zukunftsorientiertes, künstlerisches Projekt sein. Das heißt, da sind die Historiker und die Kunsthistoriker so ein bisschen im zweiten Glied, es sei denn, man nimmt es als Fundament für Sachen, die dann folgen. Wenn Sie den ganzen Tag von ­›altem Kram‹ umgeben sind, ist Ihr zu Hause dann eher modern oder klassisch eingerichtet? Bei mir gibt es schon ganz schön ­viele alte Sachen. (lacht) Das habe ich mir gar nicht mal selber ausgesucht, aber mein Vater war Galerist und Kunsthändler, die Familie immer schon sehr kunstorientiert. Jetzt haben wir mein Elternhaus aufgelöst und vieles ist bei mir ­gelandet.

Als Frau bin ich heilfroh, in unserer Zeit zu leben. Bewahren Sie denn auch Teile Ihrer Familiengeschichte auf? Ja, also für meine Nichten und Neffen. Es ist ein bisschen wie bei einem Museum: Verantwortung für die Dinge zu haben, die noch da

sind. Das lässt mich dann auch im Privaten nicht ganz los. Aber ich bin keine Sammlerin.

Wir haben recherchiert, dass Sie viel zur Stadtgeschichte publi­ ziert haben. Wann haben Sie überhaupt Zeit zum Schreiben? Die muss schon sein, ja. Das mache ich aus einem Grund: Um auch etwas für die Wissenschaft zu tun. Das ist für mich unverzichtbar. Haben Sie selbst auch eine künstlerische Ader? Nein, ich habe irgendwann fest­ gestellt, dass ich mein schönstes Bild wohl mit vier Jahren gemalt habe. (lacht) Dabei habe ich es dann auch belassen.

Teilt die Familie Ihr Interesse an der Kunstgeschichte? Klar, es ist mir ein bisschen in die Wiege gelegt worden. Mein Vater hat mich, was meine Interessen dahingehend anbelangt, immer gefördert. Meine Geschwister ­machen das anders. Mein Bruder ist Jurist geworden, meine Schwester Sozial­ arbeiterin. Das hat sich so ein bisschen verteilt. Wenn Sie in der Zeit zurückgehen könnten, gäbe es eine Epoche, in die Sie gern tieferen Einblick erhalten würden? Als Frau bin ich heilfroh, in unserer Zeit zu leben. Ich würde mir wenige andere Epochen aussuchen wollen.

33


Gabriele Köster

Wie ist es, wenn Sie mal in Urlaub fahren, haben Sie ein Lieblingsziel? Ja. Ich fahre tatsächlich gerne und immer wieder nach Italien, möchte aber auch vieles andere sehen.

Was schätzen Sie an Magdeburg? Mir gefällt, dass diese Landschaftsparks sich bis mitten in die Stadt hineinziehen. Ich wohne auf dem Werder, das bedeutet, Stadt und Park direkt nebeneinander. Gerade dieses viele Grün verleiht der ganzen Stadt ein bisschen Gelassenheit. Es ist hier nicht so angestrengt, man muss echt lange suchen, bis man einen Stau findet. Parkplätze gibt es auch immer und überall.

Finden Sie denn die Magdeburger auch gelassen? Ja. Ich habe lange in Berlin studiert. Da ist, ähnlich wie in Magdeburg, auch dieses sehr Handfeste, aber da kommt auch schneller mal Aggressivität rein. Ich finde, hier in Magdeburg ist es schon eher wohlwollend, wie man sich gegenseitig begegnet. In der Geschichte stützt man sich oft auf Tagebucheinträge, führen Sie auch eins? Ich führe kein Tagebuch. Als 13-­Jährige habe ich mal für mehrere Tage den Versuch unternommen und danach war ich zu faul dazu. (lacht) Juni 2018

Vista.Schon? Dr. Gabriele Köster ist 1964 in Mönchengladbach geboren. Nach dem Abitur zog es sie zum Kunstgeschichtsstudium nach West-Berlin, wo sie 1993 ihren Magister machte, 2003 promovierte sie. Seit 2013 ist sie die Direktorin der Magdeburger Museen und leitet auch das Kulturhistorische Museum Magdeburg. Die Landeshauptstadt beschreibt die Rhein­ länderin mit den drei Worten: grün, facettenreich und gelassen.

34


Studieren im Grünen

www.hs-magdeburg.de

www.studieren-im-gruenen.de

Gute Gründe für uns:

Du hast die Wahl:

-

-

Über 50 Studiengänge Studieren in kleinen Gruppen Top ausgestattete Labore Grüner Campus mit 37 m2 Wiese für jeden Studenten

www.hs-magdeburg.de

Gesundheit, Soziales und Bildung Energie und Technik Umwelt und Ressourcen Medien und Design Wirtschaft und Sprache

www.studieren-im-gruenen.de


MATIAS TOSI

»DAS THEater ist für mich die neue kirche.« Sänger, Schauspieler, Tänzer, Künstlerischer Leiter. Schon seit jungen Jahren hat sich der gebürtige Argentinier der Kunst verschrieben, verliert dabei aber nicht die Realität aus den Augen. Mit uns spricht er über seinen Beruf als Künstlerischer Leiter und Opernsänger, darüber, wie er mit Vorurteilen umgeht und wo man unverschämt gutes Essen bekommt. Außerdem verrät er uns, welchen kuriosen Weltrekord er anpeilt. Interview und Fotos: Adele Helfrich



MATIAS TOSI

Hast Du Dich schon immer als Opernsänger auf der Bühne ge­ sehen? Ja, als kleines Kind schon. Dann fing ich an zu tanzen und wurde professioneller Tänzer, später nahm ich Gesangsunterricht und man sagte mir, ich hätte eine Opernstimme und solle Opern singen und so habe ich mich mit 16 Jahren erstmals damit befasst.

Das Leben als Schauspieler, Tänzer oder Sänger gilt oft als ein harter Weg, hattest Du manchmal Zweifel an Deinem Traum? Nein, nie. Es ist hart, aber kulturbedingt sind wir Argentinier sehr selbstbewusst. Man geht einfach seinen Weg. Bei uns gibt es eine Fabel, die sagt, zwei Frösche, ein Argen­ tinier und ein Nicht-Argentinier fallen in einen Topf mit Sahne. Der Nicht-Argentinier sagt, ich ­ werde sowieso sterben und gehe unter, wieso sollte ich großartig paddeln? Der Argentinier aber sagt: Ja ich werde sterben, aber ich paddel’ bis zur letzten Sekunde. Aus der Sahne wird dann Butter und er kann doch raus. (lacht) Warum bist Du für Deine künstlerische Weiterbildung aus­gerechnet nach Deutschland ge­kommen? Weil es hier die besten Ausbildungsmöglichkeiten gibt und weil wir Argentinier Deutschland auch sehr lieben. Ich bin ein jüdisches Kind, aber nicht mal die Vorgeschichte

38

des Landes hält uns davon ab, wir kommen einfach gerne hierher. Wir lieben Deutschland.

Was war Dein erster Eindruck von Deutschland? Ich war zuerst in München, was für mich wie ein Märchen war. Als ich das Rathaus sah und die ganzen Gebäude aus dem 17. und 18. Jahrhundert, da war ich einfach ›weg‹. So blieb ich sechs Jahre in München und lebte anschließend in verschiedenen Städten Deutschlands. Du kommst aus Buenos Aires, warst aber trotzdem so beeindruckt von München? Es ist einfach ganz anders. In Buenos Aires herrscht Chaos, in Deutschland ist Ordnung. Mittlerweile ist es nicht mehr so chaotisch, aber man führt trotzdem nicht so ein Leben wie hier, wo die Regeln knallhart gehalten werden. Bei uns ist das nicht ganz so. Alles ist etwas lockerer, das hat positive und negative Seiten.

Wie war es für Dich, als Du Dein erstes großes Engagement am Theater bekommen hast? Meine erste große Rolle war in Regens­ burg, Escamillo in Carmen. Ich war sehr sehr dünn und wog 55 Kilo. Ich kam raus, sang und die Leute guckten, woher diese Stimme kommt, denn aus dem dünnen Kerl könne die ja nicht kommen. (lacht) Ich hatte auch das Glück, in einem kleinen Theater anzufangen, wie


MATIAS TOSI

das in Magdeburg. Da bekommt man einen persönlichen Draht zu allen. Dann ist man nicht einfach nur einer von den ›Sängern‹, sondern es ist ein kleines Ensemble, alle halten zusammen und das war schön. Wie bereitest Du Dich auf ein neues Stück vor, wie lange dauert das? In der Regel braucht ein Stück ein halbes Jahr, wenn es ein schwieriges ist, bis zu einem Jahr. Bei neuen Wer­ken mit moderner Musik sogar manchmal länger. Ein Stück lässt sich schnell lernen, aber es muss auch im Körper sitzen und das ­dauert eine Weile.

Hast Du noch Lampenfieber und wie gehst Du damit um? Oh ja, jedes Mal. (lacht) Mit Fleiß und Disziplin. Das Einzige, was gegen Lampenfieber hilft, ist, sich einzusingen und gut vorzubereiten, eine schöne Stimmung um sich zu

Für mich ist jeder, der auf die Bühne geht und das durchsteht, ein Held. haben und zu versuchen, bei sich zu bleiben. Alles andere ist Quatsch. Man muss einfach die Strukturen halten, denn Lampenfieber hat man sowieso. Wenn man anfängt zu

s­ingen und merkt es funktioniert, dann verschwindet die Nervosität und man will sich ausdrücken und dann ist alles anders.

Durch zahlreiche Engagements hast Du schon viele Städte bereist. Welcher Ort hat Dir besonders gefallen? St. Petersburg, weil es so eine monumentale Stadt ist. Sie hat eine Architektur, die einfach so unglaublich ist, so groß und überdimensional und trotzdem schön. Es ist nicht wie New York. New York ist zwar groß und auch imposant, aber St. Petersburg hat so etwas richtig Kaiserliches. Das ist eine Stadt, in der ich immer wieder gern singen würde. Aber München war am beeindruckend­ sten, weil der Kontrast zum ersten Mal so groß war. Was vermisst Du besonders an Argentinien? Eindeutig das Essen. (lacht) Ich habe nicht so viel Zeit. Wenn ich frei habe, sehe ich mein Kind. Aber im Oktober bin ich wieder da. Das Essen ist unglaublich, wir haben eine M ­ ischung aus Italienisch, Spanisch und Kreo­ lisch und alles ist auf den maximalen Exponenten gebracht. Dann hat die Pizza dreifach so viel Käse, ein Eintopf viel bessere Zutaten. Des­ halb schmeckt es unglaublich. Die Tortillas schmecken anders, das Fleisch ist das beste Fleisch der Welt und das Eis ist einfach unverschämt lecker. (lacht)

39


MATIAS TOSI

Wie findet Deine Familie das, was Du machst? Ich bin mit 14 von Zuhause weg­ gegangen. 1994 war der Computer­ boom und jeder hatte plötzlich einen, aber keiner wusste, wie man ihn repariert. Die Kids in meinem Alter hatten viel Zeit und haben selber gebastelt. So verdiente ich als Computertechniker Geld, bin alleine in ein Armenviertel gezogen und machte meinen gymnasialen Abschluss. Meine Familie muss es gut finden, weil ich ihnen nie Ärger gemacht habe. Meine Mutter ist Ärztin, mein Vater Kaufmann und keiner von ihnen ist besonders musi­kalisch.

Wie hast Du die Stelle als Künst­ lerischer Leiter der Grünen Zitadelle in Magdeburg bekommen? In der Oper trifft man Leute aus einer bestimmten sozialen Ebene und man hat Freunde, die Groß­unternehmer sind. Es wurde jemand für die Zitadelle gesucht. Vieles war geschlossen, es gab keine Ansprechperson, kein rundes Marketing­ konzept. Es ist nicht einfach, weil es auch eine Nachlassverwaltung in Wien gibt, wo jeder Schritt der Zita­delle kon­ trolliert und ganz genau beobachtet wird. Man suchte einen Künstler mit unternehmerischem Denken. Also trafen wir uns und beschlossen, dass wir das drei ­Monate ausprobieren und gucken, was p ­ assiert. Jetzt sind es schon zwei Jahre.

40


MATIAS TOSI

Was gehört zu Deinen typischen Aufgaben als Künstlerischer Leiter? Ich bin Ansprechpartner für politische und kulturelle Institutionen sowie für alle anderen Unternehmen. Ich entscheide, wann die Zitadelle mit einbezogen wird, ob etwas gemacht wird oder nicht. Ich sorge für die Öffentlichkeitsarbeit der Zita­ delle und bin auch für die ganzen Events zuständig. Ich arbeite mit Künstlern und Schulen zusammen und bin sogar der Ansprechpartner für Aktionäre. Zwar bin ich der Künstlerische Leiter und so nenne ich mich auch, aber ich mache vor allem Management. Es ist also eigentlich Kultur- und Investmentmanagement. Wir haben 55 Wohnungen und 40 Gewerbeeinheiten, ein Hotel und ein Theater. Ich schaue, dass es allen gut geht. Das letzte Sagen habe ich, aber trotzdem bin ich lieber der Künstlerische Leiter, dann muss ich kein Chef sein. (lacht)

An welchen Projekten arbeitest Du gerade? Für die Zitadelle entwickeln wir gerade eine neue Art von Führung, das ist eine große Sache. Wir wollen uns ganz anders nach außen präsentieren. Die Führungen sind in der Zitadelle im Moment reich an Informationen, wir wollen, dass Sie reich an Erlebnissen sind. Die Leute sollen etwas mit nach Hause nehmen, sodass ein ganz anderer Wohlfühlfaktor entsteht. Sie sollen sich in die Philosophie des Hauses

und von Hundertwasser versetzen und eintauchen können. Deswegen arbeiten wir auch mit Ikea und anderen Unternehmen zusammen.

Die Hundertwasserhäuser sind umstritten, genauso wie der Künstler. Was hältst Du von ihm und seiner Architektur? Er war eindeutig ein Genie, das ist unbestreitbar, er setzte seine Vorstellungen durch. Ich habe ihn immer geliebt und finde ihn unglaublich. Hundertwasser ist eine Bereicherung für jede Stadt und passt gut zu mittelgroßen Städten, nicht zu den ganz großen, da würde er verloren gehen. Das Tolle ist das Publikum, das Hundertwasser anzieht, es sind Individualisten, keine Max-Mustermann-Menschen. Wenn Du gerade nicht in der Zitadelle bist, wo findet man Dich? Entweder beim Singen oder beim Sport oder ich bin mit meinen Künstlern unterwegs. Ich habe hier eine Künstlergemeinde, die sich immer trifft: Bildhauer, Maler, Instruk­ teure. Das macht mir am meisten Spaß. Kunst ist zwar Kunst, aber es ist nicht das Gleiche. Ich bin Sänger, nicht Maler, aber ich genieße die Male­rei und so ist es auch andersrum. Meine Künstler bereichern die Zitadelle auch immer wieder. Wenn ich also nicht hier bin, bin ich Künstler.

41


MATIAS TOSI

Hast Du noch Zeit für Theater und Oper? Ja, ich mache zwei bis drei Produktionen im Jahr, das will ich nicht einfach weglassen, das sind 17 Jahre Karriere. Wir machen das Eröffnungskonzert in Dortmund für die Oper und die neue Intendanz, dann gebe ich den Barbier von Sevilla und dann geht’s wieder nach Tallin in Estland mit La Bohème. Wie verbindest Du das mit Deinem Job hier? Ich habe in meinem Job ein bisschen Urlaub von dem Singen und beim Singen ein bisschen Urlaub von meinem Job, so verbindet sich das. Das ist sozusagen mein Urlaub. Ich habe keinen Urlaub. (lacht)

Die Zitadelle ist ein Kulturhaus. Denkst Du, sie kann einen Beitrag zur Kulturhauptstadt 2025 leisten und wie gut sind die Chancen für Magdeburg? Ich glaube, die Chancen stehen nicht schlecht. Man muss vielleicht manche Nachteile von Magdeburg als Vorteile sehen, wie die Größe. Es ist alles familiär und eine kleine Hauptstadt. Da Verantwortung das Thema ist, könnte man sagen, wir haben eine Verantwortung, Alternatives und Kulturelles zu bieten und einen Unterschlupf für Individualisten zu schaffen. Wir wollen auf jeden Fall mit dabei sein, ob wir ein wichtiger Bestandteil sind, werden die Zuständigen des Kulturhauptstadt-Büros

42

entscheiden. Wir versuchen gerade, den Weltrekord der längsten Reihe von Vogelhäuschen zu knacken. Das ist die Aufwärmphase für die Kulturhauptstadt-Bewerbung. Es sind schon 40 Schulen dabei, die Vogel­ ­ häuschen basteln und wir haben schon über 4.000. Er wird ­ also gebrochen, wenn es so weitergeht.

Wirst Du oft mit Klischees konfrontiert und wie begegnest Du Vorurteilen? Ein berühmter Satz ist: Ein gesunder Mensch ist großzügig, vorurteilsfrei und gelassen. Wenn man versucht, das zu sein, merkt man, wie nah man am Glücklichsein ist. Wenn ich Vorurteilen, Egoismus, Un­ gelassenheit oder Selbstsucht begegne, weiß ich, dass mein Gegenüber kein ›gesunder‹ Mensch ist, der bestimmt viele ungelöste Probleme hat. Ich versuche zu helfen, damit es ihm besser geht oder ich gehe ihm aus dem Weg, weil ich merke, dass es eine gefährliche Person ist, die mit sich selber viel zu ringen hat, aber nichts dafür kann. Ich habe ziemlich schnell Deutsch gelernt und mich angepasst, deswegen hatte ich auch sehr schnell Freunde und wenig Feinde, ich bot keine Angriffsfläche an. Aber zu Argentiniern sagen viele Frauen gleich ›Macho‹ und sowas. Ich sehe ja auch so aus und kann das halt nicht ändern. (lacht) Aber umso schöner ist es, wenn die Erkenntnis kommt, dass es nicht so ist.


MATIAS TOSI

43


MATIAS TOSI

Welche Eigenschaften schätzt Du besonders an anderen Menschen? Bescheidenheit, Großzügigkeit und Selbstlosigkeit, die haben alle miteinander etwas zu tun. Ach ja, und Fleiß auf jeden Fall!

man muss einfach die strukturen halten, denn lampenfieber hat man sowieso. Was fasziniert Dich am Theater? Ich finde für Zuschauer die Möglichkeiten toll, aus dem Alltag auszusteigen, wenn es mal nicht so gut läuft, den Alltag zu unterstützen, indem man Energie tankt oder um sein inneres ›Ich‹ durch eine Darstellung besser zu verstehen. Oft darf man im Alltag die emotionale Welt nicht zulassen, weil man funktionieren muss. Das Theater ist ein Ort, wo man als Zuschauer nicht funktionieren muss. Du gehst einfach hin und bist Bestandteil des Ganzen. Auf Seiten der Darsteller beeindruckt mich, dass sie mit Emotionen funktionieren müssen. Man jongliert mit den eigenen Emotionen und es soll aussehen, als ob man es im Griff hat, obwohl einem jederzeit eine Emotion ›herunterfallen‹ könnte. Manche Rollen packen einen. Don Giovanni ist so eine Rolle, er hat so viel Sehnsucht in sich, dass man schwer aussteigen kann, das dauert

44

eine Weile, bis man danach wieder bei sich ist.

Mit welcher Figur konntest Du Dich am meisten identifizieren, welche war besonders schwierig für Dich? Don Giovanni. Für mich ist er kein Frauenheld, sondern ein Typ, der mit sich ringt, welche Frauenfigur er in sich trägt. Das war immer meine Lieblingsrolle und wird auch so bleiben. Auch Jago in Otello und Macbeth mochte ich sehr. Diese drei Rollen könnte ich mein Leben lang problemlos singen. Ich finde Shakespeare unglaublich toll und wenn sich Shakespeare und Verdi zusammentun, ist das einfach unglaublich. Mit eindimensionalen Rollen ist es schwerer umzugehen. Mit der Rolle des Figaro in Figaro’s Hochzeit, die ich auch sehr oft gesungen habe, bin ich beispielsweise nie warm geworden.

Was war für Dich das prägendste Ereignis in Deiner bisherigen Lauf­bahn als Künstler? Das war als ich das erste Mal mit einem Ensemble singen durfte. Ich war noch im Opernstudium in Argentinien und man verschwieg mir, dass ich schon als Hauptpartie gecastet war. Ich ging also als Student dahin. Mit meiner Rolle begann das Stück und ich hielt Ausschau nach dem Sänger, weil ich ihn unbedingt sehen wollte, aber er war nicht da. Da drehte sich der Dirigent zu mir um und meinte:


MATIAS TOSI

Komm, sing. Also sang ich einfach. Ich wusste, da ich diese Prüfung bestanden habe, werde ich jegliche Art von Druck aushalten. Wenn man nicht weiß, dass man singen muss, steht man natürlich erst mal da. (lacht)

Hast Du ein Idol, an dem Du Dich orientierst? Für mich ist jeder, der auf die ­Bühne geht und das durchsteht, ein Held. Da gibt es keine guten oder schlechten Sänger. Es gibt Darsteller und Nicht-Darsteller. Ich habe kein einzelnes Idol. Ich orientiere mich immer an mehreren und gucke, was mir am besten gefällt oder was derjenige besonders gut macht. Welche Rolle spielt Theater in der heutigen Gesellschaft für Dich? Das Theater ist für mich die neue Kirche. Heute gibt es ja nicht mehr so viele Kirchgänger. Das Theater hat die Aufgabe, die seelische, geistige und mentale Bildung fortzuführen und zu unterstützen. Für mich ist

das Theater die Kirche der Nicht-­ Religiösen und Religiösen, ein Treffpunkt für alle. Deshalb hat es heute eine ›wahnsinnige‹ Verantwortung. Die Zahl der Gläubigen nimmt ab, die Anzahl der Zuschauer nimmt zu, nicht die vom Theater an sich, sondern allgemein durch die Film- oder Internetkultur. Das Theater ist wie schon bei den Griechen ein Begegnungsort, das weiterbildet und nicht nur unterhält. Wenn es den Weg in andere Ebenen wie Bildung und Politik nicht findet, werden die Möglichkeiten für das Theater gekürzt. Das Tolle in Deutschland ist, dass es in jedem Theater eine Theater­ pädagogikabteilung gibt. Das ist nicht überall so, aber hier wird das sehr ernst genommen. Wo siehst Du Dich in zehn Jahren? Ich lerne jetzt, ein Unternehmer zu sein. In zehn Jahren will ich in eine leitende Position in einem Theater. Mai 2018

Vista.Schon?

Matias Tosi wurde 1980 in Buenos Aires geboren, wo er auch seine Ausbildung als Tän­ zer machte, ein Schauspielstudium absolvierte und Gesang studierte. 2000 kam er nach Deutschland, wo er sein Gesangsstudium an der Musikhochschule München beendete. Als Bassbariton sang er bereits Don Giovanni und Leporello in Don Giovanni, Denissow in Krieg und Frieden, Jago in Otello, Marcello in La Bohème und viele weitere Rollen seines Stimmfaches. Er tritt auf den großen Bühnen Deutschlands und international auf und hat mit namhaften Dirigenten und Regisseuren seiner Branche zusammengearbeitet. Seit 2016 ist er mit »Schweiß und Blut« der Künstlerische Leiter der Zitadelle und kümmert sich liebe­voll um das Hundertwasserhaus. Übrigens: Im Juni 2018 hat er mit der Kam­pa­gne Otto bricht Rekorde 4389 Vogelhäuschen um das Hundertwasserhaus bis zum Dom aufgereiht und damit einen neuen Weltrekord für die längste Vogelhauskette aufgestellt.

45


Herbert Beesten

»Ich bin eine Rampensau.« Aus der Kulturszene Magdeburgs ist Herbert Beesten nicht mehr wegzudenken. Als Literat, Poetry-Slammer, Vorsitzender des Fördervereins für Schriftsteller und Gründer von kreALTiv ist er seit vielen Jahren außerordentlich umtriebig. Aber auch als Unternehmer ist er hier eine feste Größe. INTER.VISTA erzählt er, wie das mit seinem Studium lief, warum Umwege gut sind, welche Prägungen aus seiner Münsteraner Heimat auch in Sachsen-Anhalt gut funktionieren und was Magdeburg anderen Städten voraus hat. Interview und Fotos: Florina Ademi und Kyra Bartel



Herbert Beesten

Von jedem gibt’s ein typisches Kinderfoto. Wie sieht Deins aus? Ich sehe mich mit drei oder vier meiner Geschwister, stark arrangiert, in Eintracht auf einem typischen Schafwollkissen sitzen. Ende der fünfziger Jahre fotografierte man nicht einfach drauf los, sondern ging zum Foto­grafen, um zu Weihnachten dem Vater oder Opa ein schönes Geschenk zu machen. Auf einem zweiten Bild war ich dann etwas älter, auch wieder im gleichen Setting. Das war Mitte oder Ende der sechziger Jahre. Damals wollte ich längere Haare haben, aber meine

auch wenn man belächelt wurde, wir hatten viele Freiheiten. Mutter war darauf bedacht, dass alles ganz streng aussieht. Ich war aber so stolz, dass man den Scheitel nicht erkennt. Damals war das mein erster kleiner Protest gegen die Bürger­lichkeit. Mittlerweile werden die Haare auch wieder länger. (lacht)

Du bist 1953 geboren und warst zur aufregenden Zeit 1968 gerade 15 Jahre alt. Was kam bei Dir an, was bist Du gewesen: Hippie, Draufgänger? Zu der Zeit lebte ich in Rheine: tiefstes Münsterland, katholisch,

48

Provinz. Von den Bewegungen 1968 habe ich selber nicht viel mitbekommen. Als die Bewegung dort ankam, war es schon 1970, ich erinnere mich noch daran. Was ich aber überhaupt nicht verstanden habe, ist, dass meine Mutter nach der Springer-Geschichte in Hamburg oder der BILD-Blockade überhaupt noch eine BILD-Zeitung gekauft hat. Ich habe mir nie eine BILD gekauft.

Gab es deswegen Probleme bei Dir zu Hause? Bei uns gab es nicht viele Kon­ flikte. Im katholischen Münsterland war alles bis in die Sechziger sehr konservativ. Da musste man zur Kirche gehen: zweimal in der ­Woche Schulmesse vor der Schule, am Wochenende Beichte und sonntags nochmal in die Kirche. Viele Leute, gerade auch hier im Osten, denken ja: Mensch, bei euch war alles so locker und frei. Aber wenn ich dann mal erzähle, wie es bei uns noch Anfang der siebziger Jahre so war, dann wundern die sich. Es gab ja immer diese alte Rivalität: Stones oder Beatles. Wie war es bei Dir? Ist doch klar, oder? Obwohl die Stones damals auch schon ein ­ bisschen Mainstream waren. Ich habe damals auch experimentellere Musik gehört, zum Beispiel die Band Embryo. Es war wichtig, dass andere wenig Verständnis für meinen Musik­ geschmack hatten, da fühlte


Herbert Beesten

ich mich ein bisschen als Avant­ garde. (lacht)

Du bist ja über Umwege zum ­Studium gekommen. Ich bin jetzt noch Student und bei Studieren ab 50 dabei. Philosophie. Ich habe ja den zweiten Bildungsweg absolviert. Über die Lehre bekam man damals noch die Möglichkeit, auf eine Ingenieurschule zu gehen. Manchmal kokettiere ich ein bisschen damit, dass mein höchster allgemeinbildender Abschluss die Hauptschule ist. Also ich sehe mich da schon als Kind dieser Bundes­republik, dieser WillyBrandt-­ Geschichte: Bildung auch für untere Schichten. Mein Vater

war Loko­motiv­führer, Beamter, sehr einfach und kam aus einem bäuerlichen Umfeld. Kein Intellektueller, aber trotzdem aufgeschlossen und interessiert für Literatur und Kunst, manchmal auch für Museen.

War es rückblickend für Dich richtig, auch mal Umwege zu ­gehen? Ja, zuerst hatte ich ein Stipendium der Deutschen Bahn und lernte Stark­stromelektriker. Irgendwann sagten sie, entweder ich arbeite danach weiter bei der Bahn und könne die Inspektorenlaufbahn im mittleren Dienst machen oder ich müsse weg. Kein Geld mehr von der Bahn. Ich bekam dann BaföG. Ich

49


Herbert Beesten

50


Herbert Beesten

konnte mir auch nicht vorstellen, einen Job zu suchen und dann musst du gleich ein Kraftwerk oder einen Kran konstruieren. Das kannst du gar nicht, dachte ich. Und ob man als Ingenieur überhaupt einen Job findet? Aber rückblickend war das damals eine Zeit, wo das doch relativ einfach war.

Was macht denn den typischen Studenten Deiner Generation aus und hast Du Dich selbst dazu gezählt? Heute ist das Studium so verschult. In unserem Studium war alles relativ frei. Wir konnten Scheine machen, kommen und gehen, wann wir wollen, Praktika waren nicht erforderlich, Credit Points kannten wir nicht. Diese Freiheit nutzten wir auch, um politisch was zu machen. Damals war Johannes Rau, unser späterer Bundespräsident, Kultusminister. 1974 wurde unsere Schule ein­ geweiht, da haben wir uns alle mit einem Brett vor die Schule gesetzt, auf dem »Sack­ gassenjonny« stand. Jedes Semester wurde gestreikt, manchmal wusste man gar nicht genau warum. Wir waren Studenten der technischen Bereiche, die anderen waren die Designer, Sozial­pädagogen, das war so ein bisschen getrennt. Ich war in unserem Bereich kein normaler typischer Student. Die sind heute immer noch sehr technisch geprägt und Kunst, Politik oder Literatur sind nicht so wichtig, aber für mich

war es schon wichtig, den Blick zu öffnen. Wir gründeten damals eine Sonnenenergie AG. Die Professoren haben uns verlacht und meinten, dass das nie etwas würde, wir müssten Atomkraftwerke bauen. Aber, auch wenn man belächelt wurde, wir hatten viele Freiheiten. Das ­finde ich gut, aber das ist heute leider nicht mehr so.

er ist das brain, ich bin die Voice.

Auf Deiner Website ist das Zitat »… und Anfang glänzt an allen Bruchstellen unseres Miss­ lingens« von Rainer Maria Rilke zu finden. Warum hast Du gerade das verwendet? Weil Scheitern zum Leben gehört. Es geht darum, was man schafft und was nicht. Ich hatte nie einen Plan, was genau ich machen will oder welchen Karriereweg ich vor mir habe, sondern bei mir hat sich alles einfach ergeben und ich griff zu. Dadurch bin ich auch manchmal gescheitert. Fallen Dir Abschiede schwer? Es ist leichter für mich, neue Dinge anzufangen, als Dinge loszulassen.

Was gibt Dir Rilke? Es gab von Schönherz & Fleer diese CD´s, auf denen Rilke-Texte vertont wurden, wodurch ich den Zugang

51


Herbert Beesten

dazu fand. Dadurch ist Rilke auch relativ bekannt. Wenn die Stones spielen, dann muss natürlich »Satisfaction« kommen und so ist das auch bei Literaturveranstaltungen. Um Rilkes »Panther« oder »Karussell« kommt man nicht herum. Aber ich weiß auch, das Rilke als Mensch nie wirklich glücklich wurde. Andererseits, als Mann weiß ich, dass man das andere Geschlecht auch durch Poesie beeindrucken kann.

Deine Tochter hat Dir Poetry Slam nahegebracht. Würdest Du sagen, dass sie Deine Muse ist? Nein. Von meinen drei Kindern ist sie sicherlich das Kind, welches mir

52

am ähnlichsten ist. Beeinflusst hat sie mich nicht, das waren dann eher andere Frauen.

Wo findest Du Inspirationen? Überall. Ich lese und höre viel Radio. Meine Inspiration ist tatsächlich das tägliche Leben. Ich habe mal einen Text aufgrund eines Rückgabezettels von der Stadtbücherei geschrieben. Ich sah, da sind Titel von CDs und Büchern, wenn ich die abschleife, dann ergeben die schon eine kleine Geschichte. Ganz begeistert bin ich von dem Buch Uncreative writing von Kenneth Goldsmith, weil er beschreibt, dass man etwas aufnimmt und verändert aufschreibt, um


Herbert Beesten

daraus etwas Schönes zu machen. ­Träume sind auch schöne Inspira­ tionen.

Du hast Dich mal als »Bühnenferkel« beschrieben. Bist Du das immer noch? Ich bin eine Rampensau. Ich kann schon Gas geben und das gehört auch dazu.

Nach Deinem Studium hast Du Dich selbstständig gemacht, was ja immer mit einem gewissen Risiko verbunden ist. Warst Du ­ Dir dessen bewusst? Es war nie mein Ziel, mich selbstständig zu machen, das hat sich einfach ergeben. Das Risiko war mir nicht so bewusst. Ich kann es eigentlich empfehlen, da man wenig Grundkosten hat. Am Anfang musste ich auch nicht viel verdienen, denn ich war BaföG-Niveau vom Studium gewohnt, aber mit Familie und Haus war es dann schon schwieriger.

Als Mann weiSS ich, dass man das andere Geschlecht auch durch Poesie beeindrucken kann. Welche Vorteile bringt die Selbstständigkeit? Man hat viel Gestaltungsfreiraum. Ich sehe das bei vielen Leuten mei-

ner Generation. Die machen ihren Job schon viele Jahre und sind davon gefrustet. In meiner Position habe ich mehr Freiraum, auch wenn ich als Chef natürlich viel Verantwortung trage. Du bist Vorsitzender vom Förder­ verein für Schriftsteller e.V. in Magdeburg. Was gibt Dir die Arbeit mit jungen Künstlern? Ich war erstmal ein Fremdkörper. Es gibt bestimmte Bereiche, da ist es wie in einem kleinen Aquarium, wo verschiedene Mentalitäten zusammenkommen. Aber ich fand das ganz gut. Wir haben eine Schreibwerkstatt, wo man mitmachen und dazulernen kann. Man bekommt Rückkopplung. Ich bin aber jemand, der ab irgendeinem Punkt mitgestalten möchte. Und das hat sich dann ergeben.

Lernst Du auch was dazu, wenn Du mit jungen Leuten zusammenarbeitest? Klar. Manchmal muss ich bei Begriffen nachhaken, ich bin ja nicht so medienaffin. Aber das ist ok, jede Zeit hat ihre Sprachen und Geschichten. Worüber hast Du das letzte Mal herzlich gelacht? Gestern hatte ich ein Gespräch mit einem Autoren für Theaterstücke und da gab es ein paar Situationen über die wir sprachen. Beim Improvisieren passieren manchmal lustige Sachen.

53


Herbert Beesten

Fällt man da nicht leicht aus der Rolle? Wenn man so improvisiert, gibt es trotzdem ein paar Rahmenvorgaben. Passende Kleidung hilft aus seiner normalen Welt rauszukommen. Beim Theater gibt es Momente, in denen es ganz ernst ist, aber wenn man sie so reflektiert, kann man über bestimmte Situationen auch lachen.

es ist leichter für mich, neue dinge anzufangen, als dinge loszulassen. Nebenbei bist Du noch Gründer von kreALTiv – Agentur für ver­ rücktes Alte®(n). Wie wird dieses Projekt aufgenommen? Am Anfang ist es nur eine Idee gewesen, das war auch dem Alter geschuldet. Ich kenne viele Leute in meinem Alter, die kreativ sind und sehe, dass sie das nutzen möchten. Es ist nur eine kleine Gruppe, aber genug, damit man etwas tun kann. Ich möchte das mit Leuten machen, die auch Spaß daran haben. Was war die größte Panne, die Dir beim Poetry Slam passiert ist? Da gibt es so einige. In Münster hatte ich mal meine Lesebrille vergessen und musste die Zuschauer nach einer fragen. Zum Glück sind neben

54

dem jungen Publikum auch Ältere da gewesen, von denen ich mir eine ausleihen konnte. (lacht)

Hat Magdeburg Slammer-Poten­­zial? Ein bisschen schon. Ich selbst bin zu wenig in der jungen Szene unterwegs, um das richtig beurteilen zu können.

In welcher Hinsicht können sich andere Städte in Sachen Kultur etwas von Magdeburg abgucken? Ganz besonders ist die Aerosol-­ Arena. Was mich auch sehr überrascht hat, war, wie viele Leute von außerhalb die Oper als Highlight sahen. Ich bin kein Musical- oder Opernspezialist, aber das hat mich schon gewundert, wie toll es einige von außen fanden. Wie war Dein erster Eindruck von Magdeburg und den Menschen hier? Ich war direkt nach der Wende hier, da war die Stadt noch in einem kata­ strophalen Zustand. Die Leute waren aber aufgeschlossen. Die Sachsen-Anhaltiner haben eine ähn­ liche Mentalität wie die aus Westfalen, die gehen zum Lachen in den Keller. Ich bin ja auch einer. Im ­ Großen und Ganzen sind sie nicht die Entertainer, sondern eher boden­ ständig, und hier in Magdeburg ganz besonders. Magdeburg in drei Worten? Herzlich. Spröde. Nicht selbst­ bewusst genug.


Herbert Beesten

Was hat Magdeburg, was dem Münsterland noch fehlt? Offene Entwicklungsräume. Dort ist alles sehr dicht und zusammen. Da hat alles mehr Struktur und die Kirche hat einen großen Einfluss. Ich finde, hier ist mehr Freiraum und es gibt mehr Möglichkeiten. So etwas wie der Kulturanker wäre in anderen Städten wie Münster gar nicht denkbar. Günstiger ist es hier auch. In Deiner alten Heimat wirst Du liebevoll als »Seewolf in der Herzhöhle« bezeichnet. Hast Du so einen Namen auch in Magdeburg? Ich denke nicht. Einige Leute meinen, ich wäre hyperaktiv und mache zu viel, was vielleicht auch stimmt. Wenn ich zusammen mit Karsten Steinmetz auftrete [als Duo Die KiloGraphen, Anm.d.Red.], dann ist das manchmal so. Er ist das Brain, ich bin die Voice, weil ich die lautere Stimme habe und der Berserker bin.

Im MDR wurde über Dich gesagt, Du bist ein Macher, kein Meckerer. In welcher Situation meckerst Du doch mal? Manchmal gibt es Situationen, wo etwas nicht funktioniert und das ärgert mich dann. Ich bin aber nicht so ein offener Meckerer und Lästerer. Wenn man harmoniebedürftiger ist, dann macht man das versteckt.

Du denkst an einen Abschied von Tarakos GmbH. Weißt Du schon, wie Du Deinen Terminkalender danach füllen wirst? Ich mache so weiter wie bisher. ­Neben dem Unternehmen habe ich ja noch den Kulturanker, den Förderverein und das kreALTiv. K ­ onkrete Pläne habe ich nicht. Das wird sich ergeben. Mai 2018

Vista.Schon? Der Unternehmer, Künstler, Kulturmanager und Literat Herbert Beesten wurde 1953 in Rheine/Münsterland geboren. Er absolvierte eine Lehre als Starkstromelektriker. Nach seinem Ingenieurstudium machte er sich vor mehr als 30 Jahren selbstständig. Seine ­Software-Firma Tarakos GmbH, deren Geschäftsführer er ist, hat ihren Sitz in Magdeburg und ist international aufgestellt. Er kam in den nuller Jahren hierher und sagt von sich selbst, dass er »ein multilokales Leben zwischen Münster, Magdeburg und sich selbst« ­führe. Er verfasst Geschichten, Lyrik, Lit-Mixe, Poetry-Slam-Texte und ist unter anderem Vorsitzender des Fördervereins für Schriftsteller e.V. mit Sitz im Literaturhaus Magde­ burg, Mitglied der Schreibkräfte, seit 2015 Mitorganisator des Buchmesseauftritts der ­Landeshauptstadt Magdeburg und Initiator diverser Kunst- und Kulturveranstaltungen.

55


Katharina Remiorz

»mehr zeit für mich selbst.« Man könnte sie auch als Workaholic bezeichnen. Katharina Remiorz arbeitet in der Pressestelle der Hochschule Magdeburg-Stendal. Nicht nur dort ist sie kreativ. Sie spricht über Zahnfeen, Abenteuerhörspiele und familiäre Arbeitsteilungen, aber vor allem über verschlungene Berufswege. Als echtes Sachsen-Anhalter-Mädchen zog es sie nach einem Auslandsaufenthalt wieder zurück in die Magdeburger Heimat. Was sie an Wien schätzt, warum Sachsen-Anhalt Familie ist und was sie manchmal in Magdeburg noch vermisst, erzählt die Mediengestalterin und mehrfache Preisträgerin im INTER.VISTA-Interview. Interview und Fotos: Lara-Sophie Pohling und Felizia Maertens



Katharina Remiorz

Du arbeitest in der Pressestelle. Wie viele Anrufe hast Du heute schon getätigt? Ich glaube, bisher hatte ich drei Anrufe. Das ist wenig, eigentlich ungewöhnlich für einen Montag. Das ist einer der Tage, an dem das meiste los ist und scheinbar alle ihre To-doListen abarbeiten.

Was gehört zu den Aufgaben der Pressestelle? Als Kommunikationsschnittstelle sind wir dafür zuständig, die Geschichten und Projekte der Hochschule Magdeburg-Stendal nach innen und außen zu transportieren. Mein Fokus liegt im Printbereich. Ich leite das Magazin treffpunkt campus, koordiniere die studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, schreibe Artikel sowie Presse­ mit­ teilungen und unterstütze die audio­ visuelle Medienproduktion.

sachsen-anhalt ist für mich familie.

Du hast schon das Magazin angesprochen. Inwiefern kannst Du Kreativität in Deinen Berufsalltag einbinden? Wenn ich die nicht hätte, würde mir schnell langweilig werden. Insbesondere bei treffpunkt campus gibt es wirklich viele Freiräume. Jedes Heft hat ein anderes Leitthema. In der Februarausgabe beschäftigen

58

wir uns beispielsweise mit Gefährten im Alltag. Das können Menschen und Tiere, aber auch lebens­ verändernde Momente oder besondere Gegenstände sein. Auch im Genre sind wir frei und über­legen, wie wir die einzelnen Beiträge am ­besten aufziehen: Bericht, Interview, ­Repor­tage, Portrait oder Kommentar. Alles ist möglich.

Wie äußert sich Deine Kreativität im Privaten? Mein Partner hat den gleichen Beruf erlernt wie ich. Wenn wir zu Hause etwas machen, dann hat das sehr oft mit Medien zu tun. Das letzte Projekt, woran wir gemeinsam arbeiteten, war ein Lego-Film für die Videoexpo der Uni, bei dem ich zwei kleine Rollen gesprochen habe. Ansonsten erstellen wir Hörspiele, allerdings nur privat für meinen Bruder. In welchem Genre? Abenteuer. Das erste Hörspiel handelt von der Zahnfee. Mein Bruder ist sehr viel jünger als ich und wir wollten ihm eine Geschichte passend zu seinem ersten Wackelzahn erzählen, aber nicht so, wie man die Geschichten um die Zahnfee bereits kennt. In unserer Geschichte geht es um einen Jungen, der seinen ersten Zahn verliert und ihn unter sein Kissen legt, damit die Zahnfee ihn gegen eine Münze austauscht. Er ist total aufgeregt und kann kaum einschlafen. Als die Zahnfee nachts in sein Zimmer kommt, klemmt er sie


Katharina Remiorz

aus Versehen im Schlaf ein und wird dadurch natürlich wach. Zusammen fliegen sie dann ins Reich der Fantasie, in dem die Zahnfee, aber auch der Sandmann lebt. Gemeinsam müssen sie das Schloss der Zahnfee retten, das aus kaputten Zähnen besteht.

Du hast eine mediengestalterische Ausbildung, aber auch in der medienpädagogischen Richtung gearbeitet. Warum hast Du das nicht weiter verfolgt? Die Ausbildung zum Mediengestalter für Bild und Ton ist eine Möglichkeit, überhaupt in diesen Bereich reinzukommen. Aber Mediengestalter sind die ›Eier legenden Wollmilchsauen‹. Von Kamera, Ton über Redaktion bis hin zu Licht machen sie irgendwie alles. Ich habe mich dann auf die redaktionelle Arbeit spezialisiert, ­ war zuerst beim Radio und danach beim Fernsehen. Weil ich das Gefühl hatte, noch nicht genug gesehen zu haben, fing ich an, zu studieren. Im Studium probierte ich viel aus, auch im medienbildnerischen Bereich. Das hätte ich gern weitergemacht, aber der Arbeitsmarkt ist schwierig. Ich war einige Zeit selbstständig, doch mir fehlte die berufliche ­Sicherheit. Du hast bei uns Journalistik und Medienmanagement studiert. Wie ist es, wieder hier zu sein? Ich war eigentlich nie weg. 2012 begann ich mein Studium, vor allem

59


Katharina Remiorz

60


Katharina Remiorz

um den Freiraum zu nutzen. Die Hoch­ schule ist sehr praxisorientiert, es gibt tolle Lehrende, die aus der Praxis kommen und wissen, wovon sie reden. 2013 fing ich bereits als freie Mitarbeiterin in der Pressestelle an.

es ist gar nicht so blöd, vor dem Studium eine aus­bildung zu machen. Zunächst hast Du eine Ausbildung zur Wirtschaftsassistentin für Fremdsprachen und Korrespondenz absolviert. Kannst Du kurz erklären, was man da macht? Sinn der Ausbildung ist es, zwischen verschiedenen Einrichtungen auch in anderen Sprachen zu kommunizieren. Ich hatte viel BWL und Marketing, wollte aber immer in den Medienbereich. Das ergab sich mit einem Praktikum im Funkhaus Halle bei Radio Brocken und 89.0 RTL. Inwiefern hat Dir die medien­ gestalterische Ausbildung im Studium geholfen? Sehr. Es ist gar nicht so blöd, vor dem Studium eine Ausbildung zu machen. Mir hat dies vor allem technisch viel gebracht, wodurch ich mich auf andere Dinge konzentrieren konnte. Das war ein großer Vorteil.

Wie würdest Du Deine Beziehung zu Magdeburg oder Sachsen-­ Anhalt beschreiben? Sachsen-Anhalt ist für mich Familie. Ohne sie würde ich nicht mehr hier sein. Außerdem würde ich Sachsen-­ Anhalt als kreativ bezeichnen; es gibt viele engagierte Köpfe, die etwas in der Kultur bewegen. Und es gibt tolle, immer wieder überraschende Landschaften. Selbst in Magdeburg habe ich Stellen entdeckt, wo ich dachte: Wow, wie schön es hier ist. Was schätzt Du besonders an Sachsen-Anhalt und was vermisst Du vielleicht in kultureller Hinsicht? Ich schätze vor allem die Menschen. Ich glaube, dass es wirklich viel Engagement und einen langen Atem braucht, um hier etwas zu bewegen. Ich lebte eine Zeit lang in Wien. Dort nahm ich es als viel selbstverständlicher wahr, engagierte Leute zu unterstützen. Das fehlt mir noch in Magdeburg.

Wien ist eine imposante Stadt. Was hast Du für Dich persönlich aus Wien mitnehmen können? Die Leidenschaft. Ich habe in einem Team gearbeitet, das wirklich wusste, wie man junge Filmemacher­ innen und Filmemacher unterstützt und motiviert. Ja, man kann hier in Magde­ burg auch Technik aus­ leihen und beraten werden, aber die ­Wiener Atmosphäre, auch bei dem Film­festival, bei dem ich gearbeitet

61


Katharina Remiorz

habe, ist viel intensiver, leidenschaftlicher und auf einer persönlicheren Ebene.

ich habe den eindruck, dass viele als einzelkämpfer unterwegs sind. Was wünschst Du Dir für die ­Zukunft? Mehr Unterstützung und Verknüpfungen untereinander. Ich habe den Eindruck, dass viele als Einzel­ kämpfer unterwegs sind. Dabei gibt es so viele Schnittstellen. Man muss miteinander sprechen, dann wäre man sehr viel stärker, auch wenn es um finanzielle Probleme geht. Kannst Du Dir vorstellen, dass es Dir hier wieder langweilig wird? Die Gefahr besteht grundsätzlich immer, aber ich habe einen tollen Chef,

62

der mir viele Freiräume ermöglicht. Aktuell arbeite ich an einer neuen Videoserie für Facebook, mit der wir unsere Studiengänge bewerben möchten. Die Filme sollen kurz­ weilig und weniger imagelastig sein, unterhalten und Lust auf das Studium machen. Ein anderes ­großes Projekt ist der Relaunch von treffpunkt campus. Im Oktober 2018 erscheint die 100. Ausgabe und die soll komplett neu werden; lockerer, frischer mit Fotoserien und anderen Formaten.

Du bist Preisträgerin für den Europapreis für Bürgermedien in Sachsen-Anhalt und das von Dir konzipierte Projekt Lesekino – von der Geschichte zum Film erhielt den Medienkompetenzpreis Mitteldeutschland. Inwiefern haben die Preise Deinen Werdegang beeinflusst? Die Preise haben mir gezeigt, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Jeder möchte gern ein Feedback für seine


Katharina Remiorz

Arbeit erhalten. Ich meine damit nicht nur Lob. Wenn man nur gelobt wird, dann kommt man im Leben nicht weiter. Konstruktive Kritik zu bekommen und diese anzunehmen, ist wichtig.

Bleiben wir beim richtigen Weg. Irgendwelche persönlichen Ziele? (überlegt) Ich möchte auf jeden Fall mehr Zeit für mich selbst haben. Lesen, schwimmen, spazieren ge­ hen, die Sonne genießen, ins Kino oder auf Filmfestivals gehen. Mir

einfach dafür Zeit nehmen, das ist mein persönliches Highlight, aber auch eine Herausforderung.

Wohin gehst Du denn in Magdeburg, wenn Du entspannen willst? An die Elbe und zur Wiese hinter dem Prester See. Das ist eine unglaublich schöne Ecke und ruhige Seele, die ich in Magdeburg vor einem Jahr entdeckt und gar nicht erwartet habe. Dort ist meine Ruhe­ zone, wo ich mit meinem Hund spazieren gehen und die Natur genießen kann. November 2017

Vista.Schon? Katharina Remiorz, 1990 in Zerbst geboren, entschied sich zunächst für zwei Aus­ bildungen: Wirtschaftsassistentin und Mediengestalterin. Anschließend begann sie ein ­Journalistik-Studium an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Zweimal wurde sie mit dem Europapreis für Bürgermedien in Sachsen-Anhalt ausgezeichnet. Das von ihr konzi­ pierte Projekt »Lesekino – von der Geschichte zum Film« wurde zudem mit dem Medien­ kompetenzpreis Mitteldeutschland gewürdigt. Heute arbeitet sie in der Pressestelle der Hochschule. In ihrer Freizeit produzieren sie und ihr Partner Hörspiele und Animationsfilme.

63


Holger Stahlknecht

»ich bin so, wie ich bin. ich lass mich nicht casten.« Er spielt Klavier und ist seit 2011 Sachsen-Anhalts Innenminister. Die Klaviatur des Politischen beherrscht er mittlerweile perfekt, obwohl es nicht sein Plan war, in die Politik zu gehen. INTER.VISTA erzählt er, wie aus einem politisch interessierten Menschen ein Politiker wurde, worin der Unterschied zwischen Freundschaft und Freundlichkeit besteht und wie seine ersten Eindrücke von den Sachsen-Anhaltern waren. Zudem verrät er uns, was er demnächst vorhat und woran Magdeburg noch arbeiten sollte. Interview und Fotos: Franziska Peinelt und Adele Helfrich



Holger Stahlknecht

66


Holger Stahlknecht

Es ist 14.05 Uhr. Welchen Tee haben Sie heute schon getrunken? Ich habe heute morgen einen Ostfriesensonntagstee getrunken. Ein schwarzer Tee mit leichtem Vanillegeschmack, da kommt ein bisschen Sahne und ein Kluntje Kandis rein.

Abseits von Terminen sieht man Sie Pfeife rauchen. Was verbinden Sie denn damit? Das ist ein Stück weit Genuss und Ruhe, was ich mir gönne. Es gehört allerdings nicht zu den Dingen, die als besonders gesund gelten.

Sie sind 2000 in die Partei eingetreten, zwei Jahre später in den Landtag, nochmal neun Jahre später waren Sie Innenminister. Was kommt als Nächstes, Minister­ präsident? Zunächst ist das Entscheidende, dass man im Amt, das man hat, sein Bestmöglichstes gibt. Gerade das Innenministerium ist kein leichtes, weil sie immer unterschiedliche Themen haben. Was als Nächstes käme, ist parteipolitisch. Ich bin im Augenblick Stellvertretender Landesvorsitzender der CDU und es wird so sein, dass ich mich im November zur Wahl als Vorsitzender der Partei stelle. Das ist das nächste Ziel, Landesvorsitzender dieser ­Partei zu werden. Nach dem Blick nach vorn, ein Blick zurück: Wie wurde aus

einem politisch interessierten Menschen ein Politiker? Ich bin Jurist und habe seit 1995 als Staatsanwalt für Wirtschaftskriminalität gearbeitet. In meinem Wohnort Wellen fanden 1999 Kommunalwahlen statt. Ich war partei­ los und in dem Ort gründete sich eine Wählergemeinschaft, die hieß ­Bürger für Wellen. Die Gründer fragten mich, wie man so etwas macht. Ich sei doch Jurist und müsste das doch wissen. Ich sagte ihnen aber auch, dass ich keineswegs aktive Politik machen wolle. Am dritten Abend gab‘s Rotwein und das war letztlich der Einstieg in die Politik. Ich habe mich überreden lassen zu kandidieren. Und dann machten wir Wahlkampf. Das fand ich erst gar nicht so schön, irgendwo klingeln und sagen, dass wir alles anders und besser machen werden. Aber wir gewannen die Wahl, mit 56 Prozent, glaube ich, ein ziemlich epochales Ergebnis. Im Oktober 1999 entschied ich dann auch die Bürgermeisterwahl für mich und somit hatte ich den Fuß in der ­Politik. 2000 kam Herr Webel, der war damals Landrat und Kreisvorsitzender der CDU und fragte mich, ob ich in die Partei eintreten und 2002 für den Landtag kandidieren möchte. Also war es ein Zufall? Ja, ich hatte das nie vor. Ich war nicht in der Jungen Union. Das hat mich gar nicht interessiert. Ich bin immer wählen gegangen, war poli­

67


Holger Stahlknecht

tisch interessiert und las Zeitung. Aber wenn mir einer gesagt hätte, dass ich nach Ablegung des zweiten Staatsexamens nur sechs Jahre in diesem Beruf arbeite und dann später Innenminister würde, den hätte ich zum Arzt geschickt.

Sie sind Jurist. Was unter­scheidet einen Politiker von einem Anwalt? Das sind völlig unterschiedliche Bereiche. In der Juristerei gilt aus­ schließlich ein Sachverhalt. A schlägt B. Da gibt es eine nüchterne Subsumtion unter einem Gesetz, ob der Tatbestand erfüllt ist und ob man sich strafbar gemacht hat. Das ist die Lehre der Logik. Selbst in Gerichtsverfahren gelten klare Regeln, wie man miteinander umgeht. Es ist ein in sich sehr strukturierter Gedankenablauf mit allen Taktiken, die dazugehören. Das ist in der Politik anders. In der Politik ist es hilfreich, Jurist zu sein, aber es ist keine Voraussetzung. Ich habe lernen ­ müssen, dass Wahrheit unterschiedlich ausgelegt wird. Die tatsächliche Wahrheit und die Wahrheit der öffentlichen Wahrnehmung. Um gewählt zu werden, muss man bei den Leuten ankommen. Wie haben Sie als gebürtiger Niedersachse die Bürger aus der Börde von sich überzeugt? Das hat für mich nie eine Rolle gespielt. Ich zog damals in den kleinen Ort Wellen und auf die Menschen bin ich freundlich zugegangen. Wir

68

haben uns unterhalten und wenn sie mal einen juristischen Rat brauchten, dann habe ich gern geholfen und hatte manchmal am nächsten Morgen Eier oder Blumen vor der Tür. Den Unterschied zwischen Ost und West habe ich nie erlebt. Das fing erst an, als ich in die Politik ging. Meine Kinder verstehen das überhaupt nicht mehr. Ich habe zwei Jungs, 15 und 18. Die sind hier in Magdeburg geboren. Das sind Ur-Magdeburger. Mein Großer hat gerade Abitur gemacht und studiert jetzt Jura in Leipzig. Ich habe ihm gesagt, er könne in Halle studieren. Der hat mich fast zum Arzt geschleppt, weil Halle die ›verbotene Stadt‹ für jeden Magdeburger ist. (lacht) Er ist von der DNA her, wenn man so will, ›Ossi‹. Natürlich haben wir unterschiedliche Sozialisationen und hier mussten die Menschen nach der Wende mit Sicherheit manche schwierige Phase mit Arbeitslosigkeit und veränderten Lebensläufen durchlaufen. Aber für mich zählt der Mensch und ich habe mich nie verstellt. Ich bin so, wie ich bin. Ich lass mich nicht casten. Als Politiker macht man sich nicht nur Freunde. Sie wurden von jungen Menschen zum Abschiebe­ minister 2018 gewählt. Was macht das mit Ihnen? Ach wissen Sie, das habe ich ganz entspannt gesehen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich für die Anwendung von Recht einen Preis


Holger Stahlknecht

69


Holger Stahlknecht

bekommen. Wenn ich als Staatsanwalt eine vernünftige Anklage machte, hat mir keiner einen Koffer hingestellt und gesagt, dass ich gut bin. Jetzt wenden wir Recht an. Es ist die Rechtslage. Wenn wir das anders machen wollen, müssen wir die Gesetze ändern. Das hat auch nichts mit konservativ zu tun. Ich finde es nur beachtlich, dass man einen Preis dafür kriegt, dass man Gesetze einhält.

Das ist die Rechtslage. Wenn wir das anders machen wollen, müssen wir die Gesetze ändern. Meistens sind Politiker eher ältere Herrschaften. Wie steht’s ­ um den politischen Nachwuchs? Wie wichtig ist Ihnen ein Generationswechsel? Es ist wichtig, dass sich junge Menschen politisch interessieren. Am Ende gibt es nicht den Staat, sondern wir sind der Staat. Das ist der Unterschied zu l’état c’est moi von Ludwig XIV. Jeder Einzelne hat die Chance, etwas im Kleinen zu bewegen. Insofern wünsche ich mir eine politisch engagierte und auch streitbare Jugend, die mitgestaltet, der wir auch frühzeitig in der Partei Verantwortung übertragen. Wir können nicht sagen, ihr kommt nur

70

zum Plakate kleben und bringt der Oma zum Kaffeekränzchen Kaffee, dafür geht keiner in die Partei. Dort wollen sie Politik machen! Wenn es uns nicht gelingt, junge Leute dafür zu gewinnen, dann wären wir ein apolitischer Staat und überließen den Minderheiten das Krakeelen. Da fallen mir gerade die knapp 25 Prozent ein, die im Landtag sitzen, die ich nicht so gerne habe, die AfD. Das sage ich ganz deutlich. Ohne Nachwuchs wird es keine Volksparteien mehr geben, dann haben wir ein System, vielleicht mit Fünf- oder Sechs-Prozent-Parteien, da wird ein 80-Millionen-Land unregierbar. Sie sagten am 3. März 2018 der MZ: »Wir müssen stärker eine Mitmachpartei werden, wir müssen jünger, weiblicher und erkenn­ barer werden«. Derzeit stehen im Landtag 19 Frauen 68 Männern gegenüber. Wie läuft es Ihrer ­Meinung nach mit der Emanzipation in der Politik? Ich gehe mal davon aus, dass die Frauen, die im Landtag sitzen, schon emanzipiert sind. Die Frage ist, warum so wenige Frauen in politischen Ämtern sind. Das hat einerseits was damit zu tun, dass eine Zeit lang, Männer Frauen weggedrückt haben. Andererseits nehme ich aber wahr, dass viele Frauen kommen und gerne in Ämter möchten. Man rückt aber nicht automatisch in den Landtag.


Holger Stahlknecht

Gibt es denn nicht genug Frauen, die so motiviert sind? Ich würde mir mehr wünschen.

Sie sind auch Sportminister. Wann haben Sie das letzte Mal mit Ihren Söhnen Fußball gespielt? Das ist drei Wochen her. Wir haben im Garten ein großes Fußballtor, die Kinder haben immer die Sorge, dass ich über das Grundstück ballere. (lacht) Als Minister sind Sie mittlerweile eine stark geschützte Person. Wie hat das Ihr Leben verändert? Es ist eine Umgewöhnung. Man lernt sich zu disziplinieren. Wenn wir in einer Runde irgendwo am Tisch sitzen und mal einen Witz machen, da müssen Sie erst mal links und rechts gucken, dass keiner mitschreibt, weil manchmal ein Halbsatz reicht, um Theater auszulösen. Mit solchen Sachen fängt es an. Man kann nichts mehr machen, ohne dass es auffällt. Da willst du Zahncreme kaufen und

dann stehen da zwei Autos mit Blaulicht und die Leute denken, es sei ein Banküberfall. Mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt. Schwieriger war das für meine Kinder. Die hatten es in der Schule nicht immer leicht, das muss man deutlich sagen. Das verändert ein Familienleben. Und wie ist Ihr Verhältnis zu Journalisten? Professionell und fair. Wenn die Kamera aus ist, sage ich aber den Journalisten manchmal auch, dass sie hätten anders agieren können. Sie sagen es mir ja auch. Journalismus ist ein eigenes Thema. Ich beobachte schon eine Veränderung. Früher gab es die reine Berichterstattung und den Kommentar. Das ist für mich klassischer Journalismus. Heute hat man größtenteils einen kommentierenden Journalismus, was ich verkehrt finde, weil er der Geschichte einen Spin gibt und wertet. Dann haben die Medien natürlich auch

71


Holger Stahlknecht

Perso­nalnot. Da sind sie im Mantelteil Journalist, an einem Tag schreiben sie einen Kommentar über eine medizinische Untersuchung, tagsdrauf über den Wolf und am nächsten Tag über innere Sicherheit. Immer der gleiche Kommentator, der weiß alles. Ich kann mich aber über die Presse in Bezug auf meine Person nicht beschweren, wir gehen sehr pfleglich miteinander um. Wer aber als Politiker glaubt, mit Journalisten befreundet zu sein, der irrt – das ist die Vorstufe vom Ende. In dem Augenblick, in dem man selbst Objekt der Berichterstattung wird, ist die Freundschaft zu Ende. Man muss sich immer vor Augen halten, dass man in unterschiedlichen Professionen unterwegs ist. Wir haben gesehen, dass Sie beim Benefizkochen für an Mukoviszidose erkrankte Menschen in der Küche standen. Wie oft stehen Sie zuhause am Herd? Wenn ich Urlaub habe, koche ich eigentlich ganz gerne. Wir fahren nicht immer ins Hotel und dann koche ich. Ich finde das ganz entspannend.

Was kochen Sie denn gerne? Wenn ich Zeit hätte, dann würde ich ein richtig gutes Menü machen. Als Vorspeise ein gemischter Salat, danach Nudeln. Als Hauptgang einen frischen Fisch mit Reis dazu. Und zum Nachtisch können wir uns noch was überlegen. Dazu einen schönen kalten Weißwein.

72

Apropos Weißwein, was halten Sie denn von Saale-Unstrut-Weinen? Die Weißweine finde ich richtig gut. Ich trinke aber auch gerne Frankenweine.

Sie spielen Klavier. Wann haben Sie damit angefangen und wie war Ihr Klavierlehrer? Mit fünf Jahren. Ich hatte mehrere Klavierlehrer, am Anfang einen strengen. Da musste ich Czerny und sowas spielen. Das war furchtbar langweilig. Dann bekam ich jemand Nettes. Während des Studiums war ich mit einem Konzertpianisten befreundet. Das war dann aber kein Unterricht mehr, sondern ausschließlich Freude. Strenge Lehrer sind am Anfang nicht gut, weil sie das Kind eher von etwas abschrecken. Musik ist eine Neigungssache und soll Spaß bringen.

Für das letzte INTER.VISTA-Heft interviewten wir Umweltministerin Claudia Dalbert. Sie hat auf ihrem Schreibtisch einen grünen Teddy stehen. Besitzen Sie auch so einen Glücksbringer? Ich habe drei Sachen auf meinem Schreibtisch. Einen holzgeschnitzten Engel, den ich von der Kirche geschenkt bekam und eine blaue Kiste, in der ein Clown an einer Feder ist. Wenn man den Deckel zumacht, springt der Clown wieder raus. Das war ein Geschenk meiner Frau. Sie sagte mir, dass nach einem gelösten Problem gleich das nächste


Holger Stahlknecht

kommt. Zudem steht auf meinem Schreibtisch eine Eule, die ja Weisheit symbolisiert.

Sie kommen ursprünglich aus Hannover. Was hat den Umzug von Niedersachsen nach S ­ achsen-­ Anhalt überlebt? Mein Klavier, Bilder, die ich gesammelt habe, alte Möbel aus der Familie sind auch noch da. Es ist ­ eher die Frage, was neu ist, denn ich habe viele Sachen mitgenommen. Welche familiären Bindungen oder Traditionen sind Ihnen wichtig? Zum Beispiel mit meinem Cousin. Wir waren beide Einzelkinder und sind wie Brüder aufgewachsen. Er wohnt noch in Hannover. Wir treffen uns regelmäßig. Zum Geburtstag meiner Großmutter, in memoriam an diese großartige Frau findet jedes Jahr ein Familientreffen statt.

Was waren Ihre ersten Eindrücke, als Sie zum ersten Mal beruflich nach Magdeburg gekommen sind? Die Menschen hier fand ich sehr unkompliziert und freundlich. Ich erzähle Ihnen mal von einer Begebenheit. Ich esse für mein Leben gerne Heide-Honig auf dem Brötchen. Beim Einkaufen im Markt stand ich vor einem Regal, da kostete ein Glas Honig acht Mark und die Verkäuferin sagte: Nehmen Sie den billigeren, den haben wir hier. Das hätten Sie in Hannover nicht

erlebt. Die hätten eher gefragt, ob es von dem teuren noch ein zweites Glas sein kann. (lacht) Das war nicht so gestelzt, weil die Gesellschaft nicht so saturiert war. Wenn Sie im Westen in einer Stadt sind, haben Sie eben auch Ecken, wo Sie merken, dass Vermögen manchmal auch oberflächlich macht. Das war hier

Den Unterschied zwischen Ost und West habe ich nie erlebt. Das fing erst an, als ich in die Politik ging. nicht so und das fand ich alles sehr angenehm. Ehrlich und unverstellt. Die Stadt sah 1995 anders aus. Als ich hier aus dem Zug ausstieg, war unglaublich viel kaputt. Ich finde, Magdeburg hat sich gut entwickelt.

Kannten Sie Magdeburg schon vorher? Ich war 1995 das erste Mal hier. Zufall. Ich war damals noch als Bundes­ wehr-Stabsoffizier mit Befähigung zum Richteramt tätig und hatte mich beworben. Ich wollte mich beruflich verändern und hatte im Mai hier ein Vorstellungsgespräch und konnte auch sofort anfangen. Magdeburg liegt strategisch günstig. Ich bin schnell in Berlin, Leipzig, Halle und in Hannover. Die größte Herausforderung war 1995 ein Haus

73


Holger Stahlknecht

zu finden. Ich hatte keine Lust, wenn ich mal um 23 Uhr Chopin oder Jazz höre, dass einer mit dem Besen klopft. Deshalb bin ich in Wellen gelandet, weil es dort die einzigen freistehenden Häuser gab, die schon fertig waren. Sie waren eine Zeit lang als Dozent an unserer Hochschule ­ tätig. Vermissen Sie manchmal ­ das Dozentendasein und den Kontakt zu jungen Leuten? Ich habe Grundlagen Recht gelehrt und das ausgesprochen gerne gemacht.

Wenn wir Ihren Nachbarn über Sie ausfragen würden, was erzählt er uns dann? (lacht) Mir fällt keine Antwort dazu ein. Haben Sie gute nachbarschaft­ liche Verhältnisse? Ja. Ich begegne Menschen freundlich, rede aber ungern über meine Eigen­ schaften. Das ist schwierig, weil ja immer Eigen- und Fremdwahr­ nehmung existieren. Aber wir haben ein gutes Verhältnis, wir unterhalten uns über den Gartenzaun und trinken auch mal ein Bier zusammen. Ich habe einen Nachbarschaftsgrundsatz: Be friendly, but no friendships. Das ist besser, weil sich das Leben verändern kann.

74

Sie haben keine Freunde am ­Arbeitsplatz? Nein, in diesem Sinne nicht. (lacht) Es ist eine Frage, wie Sie Freundschaft definieren. Ich bin Chef. Sie müssen sich gute Leute zu Freunden machen, aber jetzt nicht in dem Sinne, dass Sie ihnen alles erzählen. Wenn Sie versuchen, Freunde in einem Unternehmen zu guten Leuten zu machen und die Sache scheitert, haben Sie ein großes Problem. Wenn Sie mit jemandem freundlich um­ gehen und sich gut verstehen, haben Sie die Möglichkeit, dem auch mal zu sagen, was blöd gelaufen ist. Ein gutes Verhältnis, aber es gibt keinen emotionalen Vorlauf. Das muss jeder für sich entscheiden. Sie gelten als guter Netzwerker. Ist das eine wichtige Grundlage? Natürlich gehört das dazu, pfleglich und freundlich miteinander umzugehen. Das ist auch wichtig im Leben. Wenn ich morgens aufwache, habe ich gute Laune. Es gibt welche, die wachen morgens auf und überlegen sich, wem sie eine reintreten können. Das ist nicht meins. Nie jemanden zuerst ärgern. Ich bin Langstreckenläufer, habe einen langen Atem, aber ich fange nie an. Wenn mich einer ärgert, dann kann ich auch schon sportlich werden. Man muss den Menschen so akzeptieren wie er ist, mit seinen Stärken und Schwächen. Eugen Roth hat das ganz kurz gefasst: Ein Mensch fühlt


Holger Stahlknecht

oft sich wie verwandelt, sobald man menschlich ihn behandelt.

Sie haben einen Fahrer. Wie ist Ihre Beziehung zu ihm? Auch ­friendly? Genau. Ich habe Personen­ schützer und einen Fahrer. Wir sind ja meistens von morgens 7 bis 22 Uhr zusammen. Sie sagten mal, Konservativismus sei nicht, alles so zu bewahren, wie es ist, sondern sich zu fragen, was bewahrenswert und was fortzuentwickeln ist. Was bedeutet das für Magdeburg? Bewahrt und erhalten werden sollten die historischen Bauwerke. Es ist gut, dass sie saniert wurden. In Sachen Fortentwicklung wünsche ich mir, dass die Elbe stärker in das Leben einbezogen wird. Ich verstehe nicht, dass der Fluss größten­ teils nicht so richtig in die Stadt inte­ griert ist. Da würde ich mir wesentlich mehr wünschen. Auch auf der gegenüberliegenden Seite, wo das MDR-Funkhaus ist, könnte man

überlegen, ob man da mal eine Bebauung zulässt, um da mehr Leben reinzukriegen. Dann unterstütze ich eindeutig die Kulturhauptstadt-­ Bewerbung. Da ist noch mehr machbar. Es ist schön und gut, was auf dem Magdeburger Domplatz passiert, auch dieses Jahr mit Jesus Christ Superstar. Aber man müsste mal die Netrebko herholen. Das kostet zwar Geld, lohnt sich aber. Das sind Alleinstellungsmerkmale. Wir bräuchten hier noch etwas, das mehr überregional zündet. Da hat Magdeburg Potenzial, es hat sich in 20 Jahren super entwickelt. Aber ich glaube, ein Hauch von mehr Weiträumigkeit oder Weltengelassenheit würde ich mir noch wünschen. Denken Sie, Magdeburg wird 2025 Kulturhauptstadt? Die Chancen sind vorhanden. Das muss jetzt aus- und aufgebaut werden. Warum denn nicht? Juni 2018

Vista.Schon?

Holger Stahlknecht, geboren 1964, kommt aus Hannover. Er absolvierte ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Osnabrück und arbeitete bis 2002 als Staats­ anwalt für Wirtschaftskriminalität in Magdeburg. Zwischen 2006 und 2011 hatte er zu­ dem einen Lehrauftrag (Recht) an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Seine politische ­Karriere begann er als Bürgermeister in Wellen (Sachsen-Anhalt), 2000 trat er in die CDU ein und ist seit 2002 auch Mitglied des Landtages. Seit 2011 ist er Innenminister von ­Sachsen-Anhalt. Im November 2018 wurde er zum Landesvorsitzenden der CDU gewählt. Für ihn spielt Familie eine große Rolle, aber auch Klavier spielen, Pfeife rauchen und Tee­ trinken kommen bei ihm nicht zu kurz. Gefragt, welche drei Begriffe ihm zu Magdeburg einfallen, antwortete er: Dom, Elbe, FCM.

75



Maria Meyer

»am wichtigsten ist, empathisch zu sein.« Wir alle genießen ihn. Er macht Partys lustiger, Menschen hemmungsloser und das Aufstehen schwerer. Die Rede ist natürlich vom Alkohol. Doch wir wissen auch: Es gibt viele Schattenseiten. Dass Alkohol Zungen löst, aber keine Probleme, weiß wohl niemand besser als Maria Meyer, die Leiterin des Saftladens Magdeburg. Was ist ein nasser Alkoholiker? Wie erkenne ich die Sucht bei mir selbst? Und was für ein Mensch muss man sein, um sich tagtäglich mit alkoholkranken Menschen umgeben zu können? Auf das und noch viel mehr gibt sie uns glasklare Antworten. Interview und Fotos: Bashir Swabury


Maria Meyer

Jede Stunde im Saftladen ist eine Stunde ohne Alkohol, so lautet das Motto des Ladens. Gibt es etwas, worauf Du eine Stunde lang nicht verzichten könntest? Gute Frage. Nein, da fällt mir gerade nichts ein. Ich bin ja eher flexibel, was Umstellungen anbelangt. Also würde mir jemand sagen, dass ich auf etwas eine Stunde lang verzichten soll, würde ich es kurz hinter­ fragen und wenn es für mich einen Sinn ergibt, machen. Wie ist Deine persönliche Beziehung zum Alkohol? Oft ist es so, dass man einen alkohol­ kranken Menschen in der Familie hat und sich deswegen in diesem

78

Bereich engagiert. Bei mir war das nicht so. Was mich reizt an diesem Job, ist das – in Anführungszeichen – ›abnormale‹ oder ›unnormale‹ Ver­ halten. Ich komme aus dem sozialen Bereich, habe Kindheitswissenschaften in Stendal studiert. Dort war ich auch im sozialen Sektor tätig und interessierte mich immer für das Außergewöhnliche. Eine normale Kita ist ganz schön, aber eine integrative Kita ist eine größere Herausforderung. Und genau das gefällt mir auch an dem Job im Saftladen. Hier sind Menschen, die Probleme haben, die Herausforderungen überstehen müssen. Dieser Beruf wird nie langweilig.


Maria Meyer

Bist Du trocken oder trinkst Du Alkohol? Ja, ich trinke Alkohol, aber seit ich mit Alkoholkranken zu tun habe, trinke ich definitiv bewusster. In meiner Studienzeit gab es natürlich Partys, die ohne Alkohol gar nicht funktionierten. Das gehörte irgendwie zum guten Ton. Aber seitdem ich aus dem Studium raus bin und seit ich die Geschichten von diesen Leuten kenne, habe ich mich angepasst. Ich stelle mir immer wieder die ­ Frage: Warum trinke ich eigentlich? Das Trinkverhalten hat bei den meisten Menschen in der Jugend­ zeit angefangen. Dann steigert sich der Alkoholkonsum, meist mit der Jugendweihe. Einige

Auch wenn man wieder und wieder enttäuscht wird. ­Motivieren, motivieren, ­motivieren. Menschen trinken zu viel und zu oft Alkohol, sodass sich aus dem Genuss eine Gewöhnung und irgendwann eine Abhängigkeit entwickelt. Wir sollten also immer überlegen, was wir gerade tun. Ich stelle fest, dass ich genauso gut ohne Alkohol Fernsehen gucken oder mich mit Freunden treffen kann.

Was hältst Du vom allgegenwärtigen Alkoholangebot in Deutschland? Bist Du der Meinung, dass sich etwas an unserer Trinkkultur ändern muss? Trinken ist in Deutschland zur Kultur geworden. Allein schon beim Fußball gucken wird es einem ja nicht leicht gemacht, auf Alkohol zu verzichten. Die Bierwerbung suggeriert ja förmlich, mit dem Trinken beim Fernsehen zu beginnen. Das Angebot ist echt groß, dagegen kann man erstmal nichts machen. Wenn ich in den Supermarkt gehe, sehe ich an der Kasse für Kinder Süßigkeiten und für Erwachsene gleich daneben die kleinen Alkoholflaschen. Ich finde, es sollte im Kassenbereich keinen Alkohol geben. Diese Art der Werbung finde ich unmöglich, vor allem, wenn man an die Leute denkt, die tagtäglich damit kämpfen, keinen Alkohol zu trinken. Das ist ja immerhin ein Zellgift, also eine Sache, die uns umbringen kann. ­ Dass Getränkehändler Alkohol verkaufen ist vollkommen in Ordnung, aber in einem Lebensmittelladen finde ich Alkohol fehl am Platz. Das Ganze nennt sich Lebensmittel­laden, ­warum verkaufen sie Zellgifte?

Wie bist Du zum Saftladen ­gekommen? Nach meinem Studium in ­ Stendal wollte ich meinen Master machen und bewarb mich an der ­ ­Otto-von-Guericke-Universität für Internationale und Interkulturelle

79


Maria Meyer

80


Maria Meyer

Bildungsforschung. Ich musste dann aber arbeiten, weil das BAföG endete und da ruhte erstmal meine Masterarbeit. Ich konzentrierte mich aufs Bewerben. Ich wollte unbedingt eine 40-Stunden-Stelle in der sozialen Arbeit haben und bin nach einigem Hin und Her in den Saftladen gekommen.

Kannst Du auf der Straße eine alkoholkranke Person identifizieren? Welche besonderen Merkmale gibt es, nach denen man Ausschau halten kann? Man erkennt die ›nassen Alkoho­ liker‹, also die klassisch am Kiosk trinken und sich nicht mehr ver­ stecken, weil es ihnen egal geworden ist. Die Schamgrenze ist überschritten. Man möchte nur noch seine Sucht befriedigen, egal wie man dann auch aussieht.

Nasse Alkoholiker? Ja, es gibt Personen, die wirklich trinken und es gibt abstinente Alkoholiker. Die trockenen Alkohol­ kranken trinken nicht, sind aber trotzdem von der Krankheit befallen. Das ändert sich ein Leben lang nicht. Die nassen Alkoholiker findet man vor Supermärkten, in Park­ lücken oder vor Kiosken am Trinken. Dann gibt es eine Gruppe, die trinken zu Hause zum Beispiel ihren Whiskey aus Kristallgläsern. Oft hat sie die Sucht schon gezeichnet, man erkennt das zumeist daran, dass die Blutgefäße an der Nase erweitert

sind und, dass sie vermehrt schwitzen. Oft haben sie auch gelbliche Haut, gerötete Augen, Nase und Wangen. Bei akutem Leberversagen stellt man auch gelbe Augen fest.

Das Ganze nennt sich Lebensmittelladen, warum verkaufen sie Zellgifte? Dann gibt es diejenigen, die ganz normal arbeiten gehen und denen man es nicht direkt ansieht. Diese Personen fangen ganz plötzlich am Arbeitsplatz an, Fehler zu machen und jeder wundert sich. Richtige Alkoholkranke können nicht kontrolliert trinken, es ist eine Sucht. Die trinken immer mehr und mehr ohne Regulation. Inwiefern ist man alkoholkrank, wenn man trocken ist? Es ist ein täglicher Kampf, trocken zu bleiben, während du immer noch dein Suchtgedächtnis hast. Da geht es nicht, dass man nach drei oder vier Jahren mal ein Schlückchen Wein beim Essen trinkt. Die Sucht schaltet sich sofort ein und du kannst nicht mehr aufhören zu trinken. Es ist eine nicht steuerbare psychische Krankheit. Alkoholkranke Personen ver­ halten sich anders als wir. Wenn wir zu viel getrunken haben, bekommen wir einen Kater und brauchen erst

81


Maria Meyer

mal eine Pause, aber Suchtkranke trinken einfach weiter.

Ich habe mal gelesen, dass nicht die Sucht das Leben scheiße macht, sondern, weil man ein Scheißleben hat, wird man süchtig. Ist da was dran? Es gibt verschiedene Gründe, warum man trinkt: eine schwere Kindheit, Trennung oder irgendein Verlust. ­ Allein schon geringes Selbstbewusstsein reicht bei manchen Menschen aus, um süchtig zu werden. Genauso wenig wie es den einen Weg in die Sucht gibt, gibt es den einen Weg aus ihr heraus.

Man sollte mindestens zwei Tage die Woche auf Alkohol verzichten können. Gab es besonders nervenauf­ reibende Situationen in Deinem Arbeitsalltag? Ja, beispielsweise eine, in der jemand echt dieses Craving [großes Verlangen, Anm. d. Red.] hatte und schon fast flatterig wurde. Das ist sehr anstrengend. Solche Leute wollen dann ganz schnell weg vom Saftladen, weil es da ja keinen Alkohol gibt. Er ist dann gegangen und hat irgendwo seine Sucht befriedigt und mir dann per WhatsApp ein

82

paar nicht so schöne Dinge geschrieben. Da war es sehr schwierig für mich, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Davon mal abgesehen ist es natürlich nicht ganz einfach, organisatorisch alles unter einen Hut zu bekommen. Hier muss die soziale Arbeit mit den Teilnehmern und die Saftladen-Organisation täglich gut ausgeglichen werden. Man will diesen Menschen helfen, aber sie sind eben krank und können auch nicht alles tun. Welche Charaktereigenschaften braucht man, um im Saftladen zu arbeiten? Organisationstalent! (lacht) Selbst­ bewusstsein schadet auch nicht, man muss auf die Menschen zugehen können. Beim Umgang mit Suchtkranken ist Flexibilität sehr wichtig. Ein pädagogischer Hintergrund ist das A und O. Am ­ wichtigsten ist, empathisch zu sein.

Erzähl doch bitte auch mal von Deinen Erfolgen. Da fallen mir zwei Leute ein. Dem einen ging es echt schlecht als er hierher kam. Er war mit seinem Leben nicht zufrieden. Er war zwar trocken, aber es war keine zufriedene Abstinenz. Sein soziales Umfeld hatte sich geändert, seine Saufkumpels schmiss er raus. Er war einfach nur frustriert. Als er zu uns kam, merkte ich sofort, dass er wirklich was tun wollte. Er kam dann immer öfter und es ging ihm


Maria Meyer

besser, er wurde glücklicher. Er sei wirklich froh, dass es den Saftladen gebe. Das hat mich total motiviert. Ein Anderer kam in den Saftladen, als er kurze Zeit trocken war. Er bat mich irgendwann um eine Bewerbungshilfe. Er wollte sein Leben in den Griff kriegen und er bekam dann den Job, den er wollte.

Hat Magdeburg im Vergleich zu anderen Städten ein größeres Problem mit Alkoholismus? Laut dem Alkoholatlas von Deutschland 2017 gibt es in jeder Stadt Alkoholkranke. Leider kenne ich keine genaue Zahl aus Magdeburg, aber bei einer Anzahl von mehr als 1,3 Millionen Alkoholkranken in Deutschland, so die Drogen­ beauftragte der Bundesregierung, ist es schade, dass so ein Angebot wie unseres nicht breit gefächert vorhanden ist. Der Internationale Bund, der den Saftladen als Projektträger betreibt, agiert ja deutschlandweit. Ich werde oft gefragt, warum es beispielsweise in Halle keinen Saftladen gibt. Dieses Freizeitangebot ist in Magdeburg wirklich wichtig. Aus diesem Grund wurden wir auch in das Suchthilfesystem der Stadt aufgenommen, da die Einzigartigkeit des Projektes sowie der Bedarf groß sind. Im Alkoholatlas weist das Land Sachsen-Anhalt hohe Zahlen in verschiedenen Rubriken auf. So sind beispielweise erwachsene Männer häufig wegen einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus gekommen

und auch an Folgeschäden gestorben. Daraus könnte man schließen, dass die Landeshauptstadt Magdeburg zu den Betroffenenzahlen viel beiträgt. Sieht man sich aber nur die Einwohnerzahlen des Statistischen Landesamtes an, so könnten auch Halle oder die Harzregion viele alkoholkranke Menschen auf­ weisen, da dort auch viele Leute leben. Alkoholkranke gibt es nicht nur in den Städten. Auf den Dörfern ist die Krankheit ebenso vertreten, nur wird sie dort nicht so sehr zum Thema gemacht. Sind die Saftladen-Betroffenen alles Magdeburger? Wir haben durch Projektvorstellungen vermehrt Magdeburger in den Kliniken oder Beratungsstellen vor Ort angesprochen. Natürlich sind auch Personen aus dem Umland vertreten, aber vermehrt kommen Magdeburger aus fast allen Stadtteilen zum Saftladen. Wenn man alkoholkrank ist, möchte man gerne sein toxisches Umfeld verlassen und sich mit Leuten umgeben, die nicht süchtig sind. Daher ist kein Weg zu weit, um das Projekt im Süden der Stadt aufzusuchen. Einige Personen sind aus dem Norden der Stadt oder von östlich der Elbe, die das Angebot sehr dankbar annehmen. Wenn man einen Platz gefunden hat, wo man sich wohlfühlt und die Betroffenen die Möglichkeit haben, sich zu entspannen und mit anderen auszu­ tauschen, dann kommen sie

83


Maria Meyer

gerne her und nehmen einen längeren Weg in Kauf. Ist ja auch eine gute Vorbereitung auf das Arbeitsleben.

Was gefällt Dir an Deinem Beruf am meisten? Es ist die Vielfalt. Ich fing als Sozial­ arbeiterin hier an und habe das Projekt vorangebracht. Dadurch haben sich fünf Ehrenamtler gefunden, die uns unterstützen und so bin ich in diese Leiterfunktion gerutscht. Am Anfang entwickelte ich die Flyer für den Saftladen mit, ich musste Koopera­ tionen akquirieren, manchmal überregionale Projektvorstellungen leiten. Das heißt, ich bin nicht nur an meinem Schreibtisch. Einen reinen Bürojob könnte ich gar nicht machen. Jeden Abend ein kühles Bier trinken, ist das schon ein Anzeichen für Alkoholsucht? Wenn es bei einem Bier bleibt, ist es okay, aber es ist ein suchtgefährdetes Verhalten. Wenn es am Wochenende nicht ohne ein paar Bier geht, dann würde ich mir mal langsam Gedanken machen, warum das so ist. Wenn man anfängt, die Dosis zu steigern, dann hat man eine Sucht. Man sollte mindestens zwei Tage die Woche auf Alkohol verzichten können. Du merkst, dass du süchtig bist, wenn du Alkohol brauchst, um den Alltag zu bestreiten. Alkohol betäubt. Er macht dich redseliger und geselliger.

84

Alkohol als soziales Schmier­ mittel auf Partys, das kennt jeder. Man ist lockerer. Das ist das Fatale. Immer wieder machst du positive Erfahrungen im betrunkenen Zustand. Du weißt, dass du lockerer bist und es dir gut geht. Die Leute mögen dich dann. Alkohol ist gesellschaftsfähig. Eine Party ohne Alkohol? Das macht doch keinen Spaß! Aber im Saftladen organisieren wir unser eigenes ­ ­Public Viewing zur WM 2018. Wir haben Spaß beim Fußball schauen, aber wir betäuben uns nicht.

Wenn man alkoholkrank ist, möchte man gerne sein toxisches Umfeld verlassen und sich mit Leuten umgeben, die nicht süchtig sind.

Man will nicht die Spaßbremse auf Partys sein, also trinkt man mit. Man gehört nur dazu, wenn man trinkt. Ein Bekannter von mir wurde tatsächlich angesprochen, weil er ein alkoholfreies Bier beim Public Viewing trank. Er wurde von einem Fremden die ganze Zeit angepöbelt, dass es ihm so auf den Sack ginge, dass er nicht trinke. Irgendwann fing mein Bekannter an, das Etikett mit


Maria Meyer

der Hand zu verdecken, um in Ruhe gelassen zu werden.

Liegt das an unserer Kultur? Ja, ein wenig. Es ist aber auch schon besser geworden. Nimm zum Beispiel den klassischen Sektempfang. Neben den Sektgläsern stehen auf dem Tablett heute auch alkoholfreie Getränke. Ich denke, die Gesellschaft wird schon offener. Aber beim Fußball ist das anscheinend noch nicht so.

die schönste Variante. Meistens ist es jedoch nicht so. Manchmal reagieren sie aggressiv. Und dann bist du entweder stark genug und hältst dieses Gewitter aus oder eben nicht. Oder du konfrontierst die Person offensiv, dass sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen muss und bietest deine Hilfe an. Da braucht man Ausdauer und Verständnis. Man

In alkohol­ freiem Bier ist auch ­Alkohol enthalten. Ist das gefährlich für Alkoholkranke? Ja, auf jeden Fall. Dein Suchtgedächtnis wird sofort aktiviert. Deshalb muss man auch bei vielen Lebensmitteln darauf achten, was drin ist. In Kindermilchschnitten ist beispielsweise Alkohol enthalten. Darf ich Weihnachten Marzipankugeln essen oder nicht? Wir haben eine ganze Liste von Lebensmitteln, die Alkohol enthalten können, einfach nur um vorzubeugen. Die Leute gucken sich echt jedes Mal alle Zutaten von bestimmten Süßigkeiten an, nur um keinen Alkohol zu sich zu nehmen. Als Betroffener hat man es einfach sehr schwer. Innerlich muss man sich sagen: Nein, ich widerstehe. Wie weise ich meine Freunde auf ihr Suchtverhalten hin? Immer das Einzelgespräch suchen. Wenn derjenige oder diejenige es einsieht, dann ist das auf jeden Fall

85


Maria Meyer

muss suchtkranken Personen auch viel Vertrauen entgegen­ bringen. Auch wenn man wieder und wieder enttäuscht wird. Motivieren, motivieren, motivieren. Man sagt, dass es zwischen zehn und fünfzehn Jahren dauert, bis eine Person wirklich alko­ holkrank wird. Erst dann tauchen Schäden oder Störungen auf. Das ist das Gefährliche am Alkohol. Bei Drogen geht alles meist viel schneller, aber vom Prinzip her ist es dasselbe. Deshalb sollte man Alkohol nur in Maßen zu sich nehmen und aufpassen, dass es nicht aus­ artet. So schnell wie du in eine Alko­ holsucht hineinrutschst, kommst du leider nicht wieder hinaus. Aber gerade hier in Magdeburg haben wir ein gutes Suchthilfe­system zur Suchtbekämpfung. Da findet man ganz leicht Beratungsstellen zum Thema Alkohol. Warum ist der Saftladen erst ab 27 Jahren zugelassen? Das kommt durch die dama­ lige Förderstruktur des ESF [Euro­ ­ päischer ­Sozial­fond, Anm. d. Red.],

das sogenannte BIWAQ-­ Projekt: ­ ildung Wirtschaft Arbeit im B Quartier. Es wird unter ­ anderem finanziert durch die ISF-Förderungen [Innere­sicherheitsfonds, Anm. d. Red.]. Seit der Entstehung des Saftladens bis zum April 2018 wurden wir dadurch gefördert. Jetzt sind diese Förder­ungen ausgelaufen. Eine der Bedingungen dabei war, Personen erst ab dem 27. Lebensjahr einzulassen. Es gibt andere Träger und Geldtöpfe für jüngere Menschen. Es ist also einfach nur ein Finanzierungshintergrund.

Gibt es irgendetwas, das Du den Lesern von INTER.VISTA noch sagen möchtest? Ich will jetzt nicht spießig klingen, wenn ich sage: Passt auf euren Alko­ ho­ l­ konsum auf. Aber bewusstes Trinken ist schon nicht schlecht. Stellt euch einfach immer die Frage: Warum trinke ich jetzt eigentlich? Mai 2018

Vista.Schon?

Maria Meyer wurde 1986 in Lutherstadt Wittenberg geboren und lernte dort zunächst Restau­rantfachfrau, später studierte sie Angewandte Kindheitswissenschaften an der Hochschule Magdeburg-Stendal. An der Otto-von-Guericke-Universität erwarb sie zu­ dem einen Masterabschluss in Internationale und Interkulturelle Bildungsforschung. Seit 2015 leitet sie den Saftladen in Magdeburg Salbke, der eine Anlauf- und Begegnungsstätte ist, die sich an alkoholkranke und sozial benachteiligte Menschen richtet, die abstinent leben wollen. Den Stadtteil Salbke, in dem sie auch lebt, findet sie gut, weil er einen dörf­ lichen Charakter hat und ruhig ist. In letzter Zeit liest sie Dale Carnegie »Sorge dich nicht - lebe!« um Motivationen für die Gespräche mit ihren Teilnehmern zu finden.

86


Maria Meyer

»Im Social-media-bereich gibt es likes. im Stadion die Fans.« Wer hat’s gesagt?

Norman Seidler, Ausgabe 5

Lösung:

Das ganze Interview gibt es auf www.inter-vista.de 87


Jens Märker

»Ich bin ein trockener Graffiti-Maler.« Unter dem Namen PEST war Jens Märker Mitte der Achtziger in Dortmund ein Graffiti-Künstler der ersten Stunde. Etwa 25 Jahre später hat er mit der Aerosol-Arena in Magdeburg die größte Graffiti-Hall of Fame Europas eröffnet. INTER.VISTA erzählt er von einer Vergangenheit inmitten von waghalsigen Sprayeraktionen, diversen Gerichtsverhandlungen sowie einer frühen Vaterschaft, und von einer Gegenwart zwischen authentischen Szene-Events und fehlendem kommunalen Support. Explizite Worte gehen ihm dabei leicht über die Lippen. Ein Gespräch über Träume, Ärger, Hip-Hop-Milieus, Famebitches und Grenzerfahrungen. Interview und Fotos: Leon Fischer



Jens Märker

Wann hast Du Deinen ersten Zug besprüht und woran erinnerst Du Dich noch besonders? Das war 1987. In Erinnerung geblieben sind mir noch heftige Schweiß­ attacken, Angst vor jeglichem Geräusch und am nächsten Morgen ein Gefühl der Glückseligkeit.

Sah es wenigstens gut aus? Natürlich nicht. Es war super schlecht und hat auch null meinem eigenen Anspruch genügt. Aber ich war glücklich, weil ich ein nächstes Level betreten habe.

Wie bist Du mit Graffiti in Berührung gekommen? Ich habe in der Dortmunder Vorstadt gelebt und Kollegen ­sahen Wild ­Style! [einflussreicher ­Graffiti-Film von 1983, Anm. d. Red.] und begannen dann mit Edding ein

90

paar Schmierereien zu machen. Das hat mich irgendwie angeturned, ­alles vollzu­schmieren. Damit fing’s an.

Gab es damals schon eine Szene? (lacht) Nein. Breakdance ist in Deutschland vor Graffiti populär geworden, vor allem durch Beat Street, der 1984 herauskam. In dem Film gibt es sehr viele Breakdance-­ Sequenzen. Als Wild Style! 1983 rüber­ kam, war das die Initial­ zündung für uns. Bei Wild Style! ging es nur um Graffiti. Das ganze Storyboard ist zwar total dumm, aber es war der erste Film, in dem du New York und die Züge gesehen hast. Du konntest sehen, wie die Writer in ihrer Familie Probleme haben und dann feststellen: Das ist genauso wie bei mir. Anfang der Achtziger war Graffiti noch absolut neu. Vor Gericht konnte der Richter damit


Jens Märker

nichts anfangen. Wenn man erwischt wurde, weil man eine Straßenbahn von innen angeschmiert hat, musste man ihm erklären, was das sein soll. Wenn man öfter denselben Richter hatte, wurde teilweise gedroht, dass man zu einer psychologischen Untersuchung muss. Alles, was nicht erklärbar ist, muss erst mal psychologisch untersucht werden. Heute weiß vermeintlich jeder, was Graffiti ist.

Hip-Hop besteht ja neben Graffiti auch aus DJing, Breakdancing, und MCing. Was ist Dein zweitliebstes Element? Gibt’s nicht. Schon früher, als ich noch aktiv dabei war, habe ich keine Rap-Musik gehört. Haut mich nicht weg. Ich habe damals Electronic gehört. Ich finde Breakdance an sich sehr interessant. Nicht so geil wie Graffiti, aber für einen guten Breaker ist es genauso wie für einen guten Writer wichtig, immer wieder an seine Grenzen zu kommen. Du hörst auf, gut zu sein, wenn du denkst, dass du gut bist. Das gilt vielleicht noch fürs DJing, aber das Rappen geht an mir wirklich komplett vorbei. Um auf Deine Ursprünge in Dortmund zurückzukommen: Du warst bei der Crew YCKB (You Can’t Keep It Back). Der Lange a.k.a. AtomOne von der legen­ dären Dortmunder Hip-HopGruppe Too Strong hat ein gleich-

namiges Album herausgebracht. Welche Verbindung gibt es da? Anfang der Neunziger habe ich viel mit AtomOne gemacht. Auch mit den anderen Too Strong-Jungs. Man kennt sich halt, das sind Dortmunder Jungs. Wir haben zusammen gemalt, auch die Plattencover an die Wand gemacht und dann abfotografiert. Die Kumpels waren lustig, bis zu einem gewissen Grad. Von 1986 bis 1996 habe ich intensiv Graffiti gemalt, europaweit alles gesehen und alles gemacht. Mit 17 bin ich schon 1987 in Amsterdam gewesen. Einfach nur weil: Graff! Irgendwann kommt der Punkt in deinem Leben, an dem du dich entscheiden musst. Entweder stürzt du jetzt voll ab und machst dein Graff oder du kriegst die Kurve und lässt die Finger davon. Bei mir war es halt so, dass mir klipp und klar signalisiert wurde: Hier ist jetzt Feierabend. So Typen wie AtomOne sagten dann: Hey, du bist ’ne Fotze, du bist ein Weichei, hast Angst vor dem Knast.

Der Volksstimme hast Du erzählt, wer Graffiti-Kunst betreibe, ­müsse mit Ärger mit dem Gesetz rechnen. Wie oft wurdest Du schon von der Polizei geweckt? Zu meinen Hochzeiten konnte ich mit dieser blauen Post – du kriegst ja immer so eine Zustellungspost in einem blauen Umschlag – mindestens eine Wand in meinem Kinderzimmer tapezieren. Schlimm wurde es bei mir, als ich mich perspektivlos

91


Jens Märker

92


Jens Märker

gefühlt habe. Ich bin sehr jung und unverhofft Vater geworden. Alles was danach kam, war für mich sehr verstörend. Ich konnte das wirklich nur durch Graffiti bewältigen. Das war für mich das Ventil, um diesen ganzen Scheiß herauszulassen. Aber irgendwann kommt das Ende, bei mir war das im August 1995. Da habe ich ein halbes Jahr und zwei harte Aktionen in Polen und Hamburg gebraucht, um zu erkennen: Ich muss jetzt leider damit aufhören. Egal, ob dein Hobby Graffiti oder Briefmarken sammeln ist, wenn du etwas über Jahre hinweg mit Leiden­ schaft machst, dann kann das zu einer Art Sucht werden und dich für andere Sachen blind machen. Dementsprechend schwer ist es, sich von dem Ganzen zu lösen, was vorher deine Welt war. Wie kam die Entscheidung? Ich hatte 1995 meine letzte Verhandlung wegen eines Graffiti-­Delikts. Eine mir vollkommen ­ fremde Person, die zwei Stunden vorher für meinen Bewährungs­ helfer ein­ sprang, hat mich aus dieser Situa­ tion herausgeholt, in der ich dachte, dass ich noch im Gerichtssaal die Handschellen angelegt bekomme. Diese Person meinte, sie sei seit 25 Jahren Bewährungshelferin und sie wisse, dass es mir gar nichts ausmachen würde, wenn ich in den Knast komme. Aber danach hätte die Gesellschaft einen spitzen-organisierten Kriminellen mehr. Sie sagte,

ich solle begreifen, dass ich nun eine letzte gelbe Karte bekommen habe. Das hat mir zu denken gegeben, auch, dass sie nur aufgrund eines Gesprächs meine Wertvorstellungen kannte. Alle wollten mich für fünf Jahre wegsperren, weil ich schon das dritte Mal in der Bewährung erwischt worden war.

Wie ging es dann weiter? Ich war im Sommer 1995 für eine Hardcore-Action in Polen, das damals noch nicht EU war. Da hätte auch das Geld für Bestechung nicht gereicht. Und dann noch einmal 1996 in Hamburg bei so einer Zug­ aktion. Erst danach begriff ich: Wenn sie mich jetzt erwischen, komme ich nicht mehr raus. Dann war es auch er­schreckend, mitzubekommen, dass das Hip-Hop-Milieu, die ganzen Kumpels, mit denen du zehn Jahre lang Karren gemacht, Partys gefeiert und Europa gesehen hast, auf ihrem Hip-Hop-Film hängen­ geblieben sind. Nur die richtigen Profis wie Loomit, CanTwo oder Chintz sagten, sie wüssten, dass ich an die Kante gegangen bin. Und dann hast Du aufgehört, ­quasi ein kalter Entzug? Sich von diesem ganzen Hip-HopMobiliar in Dortmund zu trennen, war schon schwer. Ich habe komplett aufgehört. Das war auch die Angst bei der Aerosol-Arena. Ich bin ein trockener Graffiti Maler. Ich habe damals bewusst nicht eine Dose ge-

93


Jens Märker

nommen, um einen Style zu malen. Ich wusste, dann mache ich zwei, drei legale Bilder und es schmeckt wieder. Ich habe zwar noch mit den Jungs abgehangen, aber ab 1997 trennten sich unsere Wege komplett.

wir wissen: der liebe gott sieht alles, dein nachbar noch mehr. Lebt Graffiti nicht auch ein Stück weit von der Illegalität? Für mich war das damals so. Als junger Mensch denkst du, dass du nichts zu verlieren hast. Du kennst noch nichts, also ist die Zukunft scheißegal. Das Jetzt zählt, eventuell noch das Morgenfrüh. In Amsterdam habe ich mal auf’s Gleis gepisst, als wir eine U-Bahn gemacht haben. Auf einmal sprangen alle weg, bis jemand fragte, ob ich bekloppt sei, denn das seien stromführende Schienen. Na und? Dann gehe ich halt kaputt. Aber dafür habe ich hier im Yard eine Karre gemacht. Ich habe das damals so gesehen: Ich bin hier, um zu bomben. Wenn ich jetzt krepiere, habe ich alles erreicht. Über meinen Fame habe ich mir auch nie Gedanken gemacht. Erst durch die Aerosol-Arena bekam ich mit, was ich für einen Namen hatte, dass ich ein Oldschool King bin. Aber, es war immer nur für mich, ich habe

94

es nie für andere gemacht. Ich kannte bloß fünf Leute in meiner Crew, hatte auch kaum Kontakt zu anderen deutschen Städten. Was sollte ich denn in München malen? Wenn, dann einen Zug, aber eine Wand? Dafür fahre ich nirgendwo hin. Aber in andere Länder gab’s Connections. Wie kam das zustande? 1990, als ich das erste Mal in Stockholm war, bist du aufgefallen, wenn du Superstars [Schuh von Adidas, Anm. d. Red.] mit dicken Laces drin getragen hast. Kumpels sind damals nach New York geflogen, haben dann den ganzen Koffer mit Schuhen vollgepackt und dann hast du mal eben 200 D-Mark für ein Paar bezahlt. Wenn du 1990 mit den Schuhen und Schnürsenkeln am Hauptbahnhof in Stockholm standest und fotografiertest, wurdest du automatisch von einem Writer angesprochen. Weil der auch Superstars trug. Heute sehen die Hip-Hop-Leute alle gleich aus.

Zurück zur Aerosol-Arena. Trotz des großen Geländes werden die Pieces regelmäßig übermalt. Wie läuft der Entscheidungsprozess ab, welche Bilder weichen müssen? Wir kuratieren hier nichts. Auf der Wand hinter mir waren bestimmt schon drei, vier Bilder drauf. Wenn Du jetzt sagst, dass du gern an dieser Wand malen würdest, mach! Ist es hinterher Scheiße, sorgen wir dafür, dass das nicht lange dran bleibt.


Jens Märker

Nicht nur an vergänglichen, legalen Wänden wird immer öfter ›für das Bild‹ gemalt. Statt auf Zügen erreicht Graffiti heute über s­ oziale Medien eine breitere Öffentlichkeit. Wie stehst Du zu dieser Entwicklung? Das Schlimmste für die gesamte Entwicklung der Graffiti-Szene war die Erfindung des Internets. Das Netz hat natürlich viele Vorteile, aber für Famebitches ist es einfach geworden, sich so zu positionieren, als sei man der Coolste. Ich habe früher nie irgendein Foto irgendwo hingeschickt. Ich weiß auch nicht, wo die Bilder, die im Netz zu finden sind, alle herkommen. Ich habe erlebt, dass in irgendwelchen Maga­ zinen Pieces von mir waren und sich irgend­ welche Peoples damit profiliert haben. Natürlich freute ich mich, dass ich Fotos von Wholecars hatte, die ich nie fotografieren ­konnte. Dieses Profilieren gab es auch schon früher, aber heutzu­ tage ist es erheblich einfacher. Wir erleben hier oft, dass angesagte Internet-­Famebitches bei uns vorbeikommen und ›den Dicken‹ raushängen lassen, aber dann hinterher einen ganz kleinen Schwanz kriegen, weil sie gar nicht so gut sind. Wie sehr bestimmt Deine Arbeit in der Aerosol-Arena Deinen Alltag? Meine gesamte Freizeit, meine gesamte Lebenszeit und mein gesamtes Portemonnaie. (Pause) Ich sehe

95


Jens Märker

hier nicht allzu viel von außerhalb der Arena, dafür ist nicht die Zeit. Ich wohne ja in Dortmund. Wenn wir hier in Magdeburg sind, dient das ausschließlich dazu, alle Zeit in die Arena reinzustecken. Ich bin hier mindestens alle 14 Tage und dann für drei, vier Tage am Stück. Je nachdem, wie ich im Vorfeld planen kann, was für Arbeiten hier anstehen.

Ende 2015 wurdest Du in der Volksstimme in Bezug auf die Zusammenarbeit mit der Stadt zitiert mit: »Es wird uns richtig gut geholfen.« Jetzt habe ich gehört, dass Du nicht einmal mehr willst, dass die Stadt mit der Aero­ sol-Arena wirbt. Was ist passiert? Diese Aussage war damals vermutlich auf den Wirtschaftsbeigeordneten und den Kulturbeigeordneten bezogen. Ich kann mich definitiv nicht daran erinnern, jemals gesagt zu haben, dass die Zusammenarbeit mit der Stadt super sei. Wir haben über die ganzen Jahre schon viel Besuch aus anderen Kommunen gehabt. Keiner versteht, warum es keine Zusammenarbeit mit der Stadt gibt. Eigentlich wäre das hier etwas, worauf man als Kommune stolz sein kann. Die Zusammenarbeit mit den unteren Ebenen der Stadt – also die Sachbearbeiter beim Ordnungs­amt, der normale Polizist und der Feuer­ wehrmann – läuft spitzenmäßig. Und das von Anfang an. Aber sobald es eine Etage höher geht, zum Bereichs- oder Dezernatsleiter, kannst

96

du das komplett knicken. Ich habe den Eindruck, dass, bis auf zwei Personen, die Führungsmannschaft der Stadt Magdeburg einfach für Kunst im dritten Jahrtausend noch nicht bereit ist. Unsere Nachbarn hier waren anfangs super reserviert. Und wenn sich ein Industrie- oder Gewerbenachbar beschwert, ist das eine andere Hausnummer, als wenn sich dein Nachbar in seiner Wohnung beschwert. Letztendlich stehen jetzt unsere Nachbarn, die aus Unwissenheit zuerst gegen das Projekt waren, zu 110 Prozent hinter der Geschichte. Wir bekommen Hebebühnen und alles was wir brauchen, wir müssen bloß beim Nachbarn fragen. Wie wurden diese Vorurteile aus dem Weg geräumt? Einerseits konnte man uns nichts verbieten, weil das hier ein Privatgrundstück ist. Andererseits ist alles, was wir vorher erklärt haben, auch so eingetroffen. Wir haben nicht einfach angefangen, sondern wir haben die Nachbarn vorab informiert. Wir wissen: Der liebe Gott sieht alles, dein Nachbar noch mehr. Dass wir mit offenen Karten gespielt haben, war anfangs auch ein Nachteil, aber im Nachgang war es das Beste, was wir machen konnten. Es ist unglaublich: Töchter der Stadt, ob der Hafen oder die Hafenbahn, helfen uns. Weil sie auch dadurch einen Vorteil haben. Aber für die Stadt selber sind wir so etwas wie ›die verbotene Frucht‹.


Jens Märker

Von der Stadtverwaltung zum Stadtbild. Bei Graffiti geht es auch immer um das Abwägen von Qualität und Quantität. Als legale Hall of Fame steht die Arena ja auf der Seite der Qualität. Was hältst Du von der Masse der 1. FCM-Graffiti der hiesigen Ultraszene? Das ist auch eine Variante von ­Graffiti. Das gibt es in jeder Stadt, dass die jeweiligen Größen in der Maler-Szene loyal gegenüber ihrem Verein sind. Auch in Dortmund haben wir schon vor 30 Jahren BVB-Züge gemalt, auch wenn du nicht Fußballfan warst, einer in deiner Crew war es. Also wurde ein Piece in schwarz-gelb gemalt, wenn die etwas Wichtiges gewonnen hatten. Zum Thema Qualität und Quantität: Es ist für mich beides elementar wichtig. Um Skills zu bekommen, musst du das erstmal lernen. Und lernen kannst du nur durch machen. Wenn du immer wieder den gleichen Scheiß malst, wirst du nicht besser. Wenn du aber 20 Bilder anders malst, als die nächsten 20, kann man eine Entwicklung sehen.

Bist Du als Ansprechpartner in der Arena mit einzelnen hiesigen Künstlern gut vernetzt? Ja. Wir genießen große Unter­ stützung aller Künstler. Denn die Künstler wissen, dass das hier komplett autark ist, wie eine Art Bot­ schaftsgelände. Wir zahlen unsere Stromrechnungen, wir zahlen unse-

re Steuern, aber ansonsten hört der Einfluss der Gesellschaft am Zaun auf. Und diesen Freiraum schätzen die Künstler. Dem­ent­sprechend unterstützen sie uns, sei es dadurch, dass sie die Hebe­ bühnen selber bezahlen, selber anreisen oder einfach, dass sie intern sammeln. Wir [Annika Schmermbeck, Steven Such und Jens Märker; Anm. d. Red.] haben A ­ nfang des Jahres erklärt, dass die Hip Hop OlymPics dieses Jahr schwierig werden, weil wir keine Kohle haben. Dann wurde innerhalb der Szene gesammelt und zwei Leute haben zweieinhalb tausend ­ Euro zusammen­ geschmissen. Das

Du hörst auf, gut zu sein, wenn du denkst, dass du gut bist. Geld wollten wir nicht annehmen, aber die haben gesagt: ›Wir haben bei euch gelernt, von dem kleinen Bild vor fünf Jahren an. Jetzt verdienen wir nebenbei Geld mit Fassaden. Hätte es euch nicht gegeben, hätten wir das niemals lernen können.‹ Die letzten Hip Hop OlymPics zu Pfingsten 2018 waren für uns drei einfach nur: Wow! Da kriege ich schon wieder Gänsehaut. Die Künstler haben ihren Müll zusammengeräumt, uns ihren gesammelten Pfand geschenkt und ein, zwei Euro in die Spendenkasse getan. Wir sind zum

97


Jens Märker

allerersten Mal mit plus minus Null rausgegangen. Die haben Musiker aktiviert, die sind für eine Kiste Bier aufgetreten. Nicht für Spritgeld, nicht für Essen! Nur für die symbolische Kiste Bier. Das hat uns so gefreut. Wir sind da angekommen, wo wir ankommen wollten. Das war nie ein Projekt für Magdeburg, es war schon immer für Deutschland bestimmt. Und jetzt, nach sechs Jahren, bekommen wir auch endlich die Props von Deutschland zurück. Man sammelt für uns, Hauptsache, es findet statt. Wie oft malst Du heute noch? Gar nicht. Das letzte Bild hier habe ich vor drei Jahren gemacht. Ich möchte hier kein Bild machen, weil ich mich damit selber unter Druck setze. Ich habe es hier drei, vier mal erlebt, dass ich ein Bild malte und dann kamen so Kommentare wie: Boah, geil, wie früher aus den Büchern. Ich habe Angst vorm Versagen, darum male ich nicht mehr. Ich will nicht abliefern müssen. Nachdem ich hier zwischendurch immer wieder gemalt hatte, ist mir das unangenehm geworden.

Graffiti ist nach wie vor eine umstrittene Kunst. Wie stand und steht Deine Familie dazu? Familie habe ich nur ganz begrenzt. Mein engster Freundeskreis feiert hier drauf ab. Nicht wegen der Graffitis, sondern wegen des gesellschaftsverändernden Potenzials. Die sind selber soziokulturell beschäftigt und finden das einfach geil, dass es hier nicht nur um Graffiti geht, sondern darum, die Künstler durch optimalen Support an ihre Grenzen zu bringen und Gästen die Möglichkeit zu geben, sich diese Kunstform unter besten Bedingungen zu erschließen. Das gibt es sonst so nicht. Entweder gehst du ins Museum oder in eine Galerie, aber du gehst als normaler Malocher nicht einfach mal sonntags mit dem Kinderwagen und deiner Frau durch eine ­Graffiti-Hall of Fame. Und das ist unser Ansatz hier: Eine Plattform schaffen, wo beide Seiten sich kennen­ lernen ­können, um festzustellen, dass wir gar nicht so unterschiedlich sind. Juni 2018

Vista.Schon?

Jens Märker wurde 1970 in Dortmund geboren und hat eine Ausbildung zum Bäcker gemacht. Nach einem Grundstudium der Wirtschaftswissenschaften machte er sich mit einer eige­ nen Firma selbstständig. Auf dem Gelände der ehemaligen Brot- und Nudelfabrik der Volks­ eigenen Betriebe eröffnete er 2012 in Magdeburg die Aerosol-Arena, die er gemeinsam mit Annika Schmermbeck und Steven Such betreibt. Ursprünglich war die Arena nur für ihn und ein paar Freunde gedacht, nun ist sie mit 30.000 Quadratmetern die größte Hall of Fame Europas. Nach sechs Jahren ist die Arena nun ein Privatgelände mit geschütztem Namen – so »autark, wie eine Art Botschaftsgelände«.

98


Jens Märker

Hochschule MagdeburgͲStendal Breitscheidstraße 2 Haus 11 39114 Magdeburg Tel: 0391 886Ͳ4431 Fax: 0391 886Ͳ4531 EͲMail: stura@hsͲmagdeburg.de

https://www.facebook.com/StuRa.h2 https://www.sturaͲh2.de BüroͲÖffnungszeiten: Montag und Freitag nach Vereinbarung Dienstag, Mittwoch und Donnerstag 99 Von 10:00 Ͳ 15:00 Uhr


Gabriele Bolzek

»ich muss mein leben so leben, wie es mir gegeben wird.« Sie arbeitet in einem Bereich, den viele nicht kennen. An einem heißen Junitag sitzt Gabriele in einem kleinen Eckbüro im Hauptbahnhof und erzählt INTER.VISTA von den Hilfsbedürftigen der Stadt. Als stellvertretende Leiterin der Magdeburger Bahnhofsmission ist sie täglich mit schwierigen Schicksalen konfrontiert. Sie versucht, diesen Menschen zu helfen und erklärt uns, worauf es dabei ankommt. Nicht den Mut zu verlieren, nicht aufzugeben, das ist das Wichtigste auch in ihrem Leben. Interview und Fotos: Björn Reckmann



Gabriele Bolzek

Du hast einmal gesagt, Dein ­Leben habe Dich auf diesen Beruf vorbereitet. Wie meinst Du das? Bereits in jungen Jahren habe ich viel erlebt. Mein Vater hatte mit siebzehn einen Unfall und war danach beidbeinig amputiert. Dennoch hat er später seine Frau geheiratet und zwei Kinder gezeugt. Er hat sein Leben aus dem Vollen gelebt, hat eine Betriebssportgemeinschaft geleitet, sich nach Abschluss seiner Ausbildung ständig weitergebildet und bis zur Wende in seinem Beruf als Orga­ nisator gearbeitet. Im Sandkasten habe ich mit einem debilen Mädchen aus der Nachbarschaft gespielt. Ich denke, ich habe viel mitbekommen und daher weder mit Behinderten im physischen noch im psychischen

102

Sinne ein Problem. Darum finde ich auch Inklusion großartig, allerdings nicht mit der Brechstange.

Was meinst Du ›mit der Brechstange‹? Eine Verordnung der Inklusion ohne ausreichende Vorbereitung oder materielle und personelle Ausstattung kann viele Leute überfordern. Die Freiheit, die dadurch geboten wird, ist manchen Menschen zu viel. Die kommen per Gesetz aus irgendwelchen Einrichtungen raus, sind aber gar nicht richtig auf das Leben vorbereitet. Inklusion geht natürlich nicht immer schief, aber leider immer wieder, und gerade hier in der Bahnhofsmission erlebe ich das fast jeden Tag. Ich bin bestimmt nicht


Gabriele Bolzek

dafür, Leute mit Problemen einfach wegzusperren, aber das Ganze muss mit Augenmaß geschehen.

Du arbeitest seit acht Jahren in der Bahnhofsmission. Wie kam es dazu? Nach der Wende verlor ich meine Arbeit. Wenn man eine längere Zeit arbeitslos ist, läuft man immer Gefahr, in eine Art psychisches Loch zu fallen. Bei mir war das zwar nicht so ausgeprägt, da ich mich noch um meine kleine Tochter kümmern musste, aber trotzdem war es sehr eindrücklich. Als ich zehn Jahre ­später, 2003, wieder meine Arbeit verlor, sagte ich: Auf keinen Fall bleibst du zu Hause! Also ging ich in den Frei­ willigensektor. Zuerst arbeitete ich in der Teestube der Stadtmission, wo ich prinzipiell fast das Gleiche wie hier machte, ausgenommen die Hilfestellungen für Reisende. Auf der Suche nach Hilfe kamen die Menschen, die auch jetzt zu uns kommen: psychisch Kranke, Suchtkranke, Obdachlose. Ich habe dort mehrere Jahre gearbeitet und blieb anscheinend in guter Erinnerung, denn als diese Stelle frei ­wurde, sagte man, dass ich die rich­ tige Frau dafür sei. Wenn Du hier aufhörst, willst Du in der Telefonseelsorge arbeiten. Wieso genau dort und wie lang willst Du noch in der Bahnhofsmission bleiben? Ich bin 63 und werde hier arbeiten, solange man mich lässt, also solange

es mir von der körperlichen Verfassung und vom Arbeitgeber her möglich ist. Telefonseelsorge ist etwas, das mir ermöglicht, Menschen zu helfen, aber auch die nötige Distanz zu wahren. Hier ist das manchmal schwierig. Ich persönlich kann es, aber ich habe auch schon mit Mitarbeitern zusammengearbeitet, die unter Albträumen litten, weil sie die Probleme der Besucher mit nach Hause genommen haben. Nicht jeder kann das hier zurücklassen, dazu braucht man entweder viel Übung oder eine gewisse Mentalität. Wie schaffst Du es denn, diese Distanz zu wahren? Ein gutes Mittel dazu ist, die Leute zu siezen. Das empfehlen wir jedem, der hier neu anfängt. Ich persönlich brauche das nicht, ich kann sehr gut abschalten. Wenn ich hier bin, bin ich voll und ganz da und kümmere mich nicht um die Probleme zu Hause. Umgekehrt nehme ich die Probleme der Arbeit auch nicht mit nach Hause.

Du hast mir erzählt, dass Du und Dein Mann an Krebs leiden. Wie beeinflusst das Deine Sichtweise auf die Arbeit hier und auf das Leben allgemein? Ich muss mein Leben so leben, wie es mir gegeben wird. Es gibt Dinge, die passieren einfach, damit muss man umgehen. Ich werde alles dafür tun, wieder gesund zu werden, und hoffe, dass das auch meinem Mann gelingt.

103


Gabriele Bolzek

Gott sei Dank leide ich relativ wenig unter den Nebenwirkungen. Wenn es mir nicht gut geht, lasse ich mich krankschreiben, allerdings braucht es meist nur ein paar Tage bis ich wieder auf Deck bin. Wenn ich länger zu Hause bliebe, würde es mir nicht so gut gehen wie momentan. Ohne soziale Kontakte fängt man an, nur noch um sich selbst zu kreisen. Ich habe Freunde, die das alles zusammen mit uns tragen und die ich jederzeit um Hilfe bitten kann.

Welche Aufgaben erfüllt die Bahn­ hofsmission in Magdeburg und welche Rolle spielst Du dabei? Die Bahnhofsmission in Magdeburg hat zwei Aufgaben. Die Arbeit mit Bedürftigen, denen wir Orientierung und Hilfe anbieten, ist die eine. Wir sagen bewusst, dass wir ein niederschwelliges Angebot sind. Das bedeutet, jeder kann hierher kommen. Die Leute können hier gegen eine kleine Spende essen, trinken, duschen und ihre Sachen waschen lassen. Wir haben auch eine kleine Notfallkleiderkammer, die von den Bürgern Magdeburgs relativ gut ausgestattet wird. Wir benötigen größtenteils Herren­ kleidung, die nach Möglichkeit auch der Jahreszeit entspricht. Was wir nicht einlagern können, geht an die Deutsche Kleiderstiftung, die uns dafür auch Sachen zukommen lässt, die wir spontan benötigen. Besonders gefragt sind Schlafsäcke, Decken, Rucksäcke, Brustbeutel und

104

Bauchtaschen, davon können wir eigentlich nie genug haben. Die andere Aufgabe ist die Arbeit mit Reisenden und die Zusammenarbeit mit dem DB-Service. Wir gehen selbst auf den Bahnsteig und schauen, wem wir dort Hilfe oder Orientierung bieten können.

Das Ganze nennt sich ja Bahnhofs­ mission. Würdest Du Dich als Missionarin bezeichnen? Sicher nicht so, wie man sich einen typischen Missionar vorstellt. Ich versuche eher, mit meinem eigenen Leben ein Vorbild zu geben. Was ich mache, tue ich unter anderem aus christlicher Nächstenliebe, aber auch ein Stück weit für mich. Ich brauche diese sozialen Beziehungen, sie sind mir wichtig.

Ich bin 63 und werde hier arbeiten, solange man mich lässt. Welche Rolle spielt Religion in Eurem Arbeitsalltag? Für manche Helfer, mich eingeschlossen, ist die Religion moti­ vierend. Hier kann natürlich jeder mitmachen, der helfen möchte, christliches Engagement ist nicht zwingend erforderlich. Allerdings muss schon akzeptiert werden, dass hier beispielsweise ein bis zwei Mal


Gabriele Bolzek

im Monat eine Andacht stattfindet. Wenn es passt, versuche ich auch, kleine Geschichten in den Tag einzustreuen, die den Leuten Orientierung geben sollen. Erzählungen, die das Christliche nicht in den Vordergrund stellen, sondern mehr als Botschaft formulieren.

Neulich platzte ich aus Versehen in eine Versammlung in der Bahn­ hofsmission. War das auch eine Andacht? Nein, das war eine Weiterbildung von der Deutschen Depressionshilfe. Wir hatten an dem Tag etwas früher geschlossen, um möglichst viel davon zu profitieren. Wir sind hier alle psychologische Laien, Konfronta­ tionen mit psychischen Krankheitsbildern sind kompliziert. Man muss mit Selbstmordgedanken, Depressionen, Schizophrenie und anderen Störungen umgehen können. Wie kann man einwirken, wo ist eine Grenze und wo wird Unterstützung oder schnelle Hilfe gebraucht.

Wie würdest Du Dich denn gegen­ über einer Person mit akuten Selbstmordgedanken verhalten? Im Prinzip wird erfragt, wie ernst das Vorhaben ist und wie der Betroffene es machen würde. Hat man das Gefühl, die Person meint es wirklich ernst, muss man gegebenenfalls die 112 rufen, damit derjenige sich nichts antun kann. Oft verschwinden die Selbstmordgedanken einer ­Person, wenn man sich eine Weile

105


Gabriele Bolzek

mit ihr unterhält und auch mal in eine andere Richtung fragt. Dadurch ruft man der Person in Erinnerung, dass es ja auch schöne Dinge im ­Leben gibt und dass es nicht unbedingt einen Grund gibt, sich gleich das Leben zu nehmen.

Welche Leute kontaktieren Euch? Mit welchen Problemen wenden sie sich an Euch? Sehr unterschiedlich. Oft kommen die Leute einfach nur, weil wir zuhören. Zuhören, ohne gleich eine Lösung anzubieten, ist eine Eigenschaft, die hier sehr wichtig ist. Leute zu überrumpeln, nach dem Motto, hier ist dein Problem, und du müsstest dies und jenes tun, um es in den Griff zu bekommen, ist eher kontraproduktiv. Da kommen die Leute nie wieder. Es ist ein Prozess, der Vertrauen voraussetzt, das man sich erstmal erarbeiten muss. In den meisten Fällen helfen wir gar nicht selbst, sondern wissen einfach nur, wo die Hilfe zu finden ist. Welche Geschichten oder Schicksale gibt es, die Dir besonders in Erinnerung geblieben sind? Da gibt es etliche. Lustige und traurige, aber auch mal jemanden, der es geschafft hat und sich bei uns bedankt hat. Allerdings ist das nicht selbstverständlich, denn meistens erinnern sich die Leute nicht gern an diese Zeit zurück. Wir erwarten das auch nicht, aber es ist schön, eine

106

Rückkopplung zu bekommen. Ich hatte beispielsweise einmal einen Besucher, der immer sagte, dass er nach Hamburg zurückgehe. In einem Bericht über die Hamburger Bahnhofsmission habe ich ihn dann tatsächlich dort wiedergesehen.

Was ist für Dich das Schönste an dieser Arbeit? Einfach das Bewusstsein, das man den Leuten helfen kann. Ob diese Hilfe in jedem Fall zielführend ist,

Wenn ich hier bin, bin ich voll und ganz da und kümmere mich nicht um die Probleme zu Hause. ist zweitrangig. Manche Menschen brauchen Jahre, bis sie sich helfen lassen, da das Problem erstmal erkannt werden muss. Manche wollen trotzdem keine Hilfe, da diese an Bedingungen geknüpft ist, wie beispielsweise eine Einweisung in ein Krankenhaus. Ich kenne jemanden, der alkoholkrank war, sich über eine Betreuung gefangen hatte, dann aber spielsüchtig wurde und dadurch seine Familie verlor. Er kommt regelmäßig zu uns, leidet an mehr als einer Krankheit und erwartet von uns Hilfe. Eigentlich müsste er ins Krankenhaus. Er hat es auch schon zweimal versucht, beim


Gabriele Bolzek

ersten Anlauf sechs, beim zweiten 24 Stunden ausgehalten. Wir arbeiten mit Studenten aus dem MediNetz zusammen, die einmal im Monat zu uns kommen und Sprech­ stunden anbieten, um Menschen ohne Kranken­ versicherung zu beraten. Sie haben auch Adressen von Ärzten, die in diesem Falle behandeln oder einen Krankenhaus­ aufenthalt ermöglichen. Laut Gesetz ist jeder für sich selbst verantwortlich. Solange er sich selbst oder anderen kein Leid zufügt, darf jeder machen, was er will. Letztlich heißt das auch, ich darf mich zu Grunde richten. Würdest Du das ändern, wenn Du könntest? Ich weiß nicht, ob ich eine bessere Idee hätte, aber es sollte nach anderen Möglichkeiten gesucht werden. Die Sozialarbeiter in Magdeburg sind sehr engagiert, aber die Hilfsbedürftigen müssen mitmachen. Das ist das Problem. Jemand, der schon lange auf der Straße lebt, resigniert, verliert seine Eigeninitiative und meint, ihm könne sowieso keiner mehr helfen. Manchen traue ich es zu, da raus zu kommen, aber viele wählen lieber den Weg des ge­ringsten Widerstandes. Sie stellen also keine Forderungen an irgendwelche Stellen, da sie dafür ja Bedingungen erfüllen müssten. Hier ist es meine Aufgabe und die der anderen Mitarbeiter der Bahnhofsmission, motivierend einzuwirken.

Was kann Magdeburg besser machen, um Bedürftigen Hilfe ­ zuteil werden zu lassen? Im Rahmen ihrer Möglichkeiten tut die Stadt einiges für die Obdachlosen. Sie können im Übergangswohnheim unterkommen, bis sich ihre Lage wieder stabilisiert hat. Dort sind Sozialarbeiter mit der Aufgabe betraut, diese Personen zu motivieren und ihnen alle notwendige Unterstützung zu geben. Eine Mitarbeiterin von uns war in der Vergangenheit selbst genötigt, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen. Schon nach ungefähr vier Monaten hatte sie wieder eine eigene Wohnung. Wichtig ist die Mitwirkung der Betroffenen, ohne die eine wirksame Hilfe meist zum Scheitern verurteilt ist. Leider gibt es immer wieder Obdachlose, die schon so lange auf der Straße leben, dass sie sich nur schlecht davon lösen können und lieber erst gar nicht in dieses Wohnheim gehen. Sollten diese nun irgendwann aber doch beschließen, wieder sesshaft zu werden, stehen ihnen laut Sozialgesetzbuch besondere Förderungen in speziellen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe zu. Diese Einrichtungen existieren in fast allen Bundesländern, allerdings nicht in Sachsen-Anhalt und Thüringen. In seinem Buch Kein ­ Dach über dem Leben hat Richard Brox dies­ bezüglich seine eigenen Erfahrungen festgehalten.

107


Gabriele Bolzek

Wie werdet Ihr von der Stadt unterstützt und woher kommen Eure sonstigen finanziellen ­Mittel? Wir bekommen einen städtischen Zuschuss für unsere Ausstattung sowie für die Beschäftigung zweier 450-Euro-Kräfte. Meine Stelle wird von der Stadtmission bezahlt, ich arbeite wöchentlich 35 Stunden. Die Stelle unseres Leiters, der hier ­aktuell mit 18 Stunden beschäftigt ist, sowie die 20-Stunden-Stelle einer weiteren Mitarbeiterin wer­ den von der Caritas bezahlt.

Und wer bezahlt andere Sachen, wie beispielsweise die Kaffee­ becher, die neulich ankamen? Das war eine Spende. Wir haben zu einigen Betrieben und Einrichtungen traditionell oder auch durch persönliche Kontakte eine gute Connection. In allen Bahnhöfen, in denen es sowohl Bahnhofsmission als auch Backwerk gibt, gehen die Vortagswaren der Backwerke in die Missionen. Das ist eine wichtige Grundlage für die Versorgung unserer Besucher. Darüber hinaus haben wir Sponsoren, die uns finanziell unterstützen, so dass wir drei oder viermal im Jahr groß einkaufen gehen können. Hygieneartikel und ähnliches werden aus dem norma­ len Budget bezahlt. Außerdem werden wir auch von den Magdeburgern unterstützt, besonders um Weihnachten oder Erntedank herum erleben wir Spendenhochs.

108

Wie kann man Euch als Magdeburger helfen? Finanziell ist immer richtig, auch über Essensspenden. Über die Reste einer Feier freuen sich unsere Besucher immer. Die Kleiderkammer hatte ich bereits angesprochen. Ganz wichtig ist für uns aber persönlicher Einsatz. Ich hoffe, dass es immer wieder Magdeburger gibt, die auf uns aufmerksam werden und hier mal ehrenamtlich arbeiten wollen. Man muss sich nicht sofort entscheiden, man kann bei uns auch zur Probe arbeiten. Wir versuchen die Arbeit so zu gestalten, dass sie für jeden machbar ist.

Du arbeitest hier schon seit acht Jahren. Was hat sich in diesem Zeitraum geändert? Als ich hier anfing, hatte die Bahnhofsmission von 6 bis 20 Uhr geöffnet, und das 365 Tage im Jahr. Damals standen uns durch Maßnahmen des Jobcenters noch fünf bis sechs Leute mit 30 Stunden wöchentlich zur Verfügung. Das ist immer weniger geworden, so dass wir die Öffnungszeiten anpassen mussten. Im Extremfall hatten wir dann nur noch Montag bis Freitag von 8 bis 15 Uhr geöffnet. Mittlerweile sind wir stolz, dass wir Samstag, Sonntag und jetzt auch Freitagnachmittag wieder dazu nehmen können. Trotzdem fehlen uns Mitarbeiter, vor allem Ehrenamtler, aber auch Praktikanten aus dem schulischen oder studentischen Bereich. Wir würden gerne unter


Gabriele Bolzek

der Woche wieder nachmittags aufmachen, aber im Augenblick ist das noch nicht realisierbar.

Ihr haltet jeden Kontakt mit Menschen in Listen und Statistiken fest. Aus welchem Grund? Zum einen ist die Statistik wichtig für die Stadt, die natürlich wissen möchte, wo genau ihre Gelder bleiben. Wir müssen nachweisen, welche Besucher wir haben, wie ­ ­viele von denen Magdeburger und wie bedürftig viele davon sind. Auf der anderen Seite machen wir das auch für die Bahnhofsmission ins­ gesamt. Bundesweit gehen statistische Ergebnisse aus 100 Missio­ nen nach Berlin und werden aus­ gewertet. So wurde zum Beispiel auffällig, dass die Zahl psychisch kranker Bedürftiger über die letzten Jahre gestiegen ist.

Gibt es zum Abschluss noch ein paar Worte, die Du an die Leser richten möchtest? Ganz wichtig ist, dass die Bahnhofsmission unterstützt wird, egal in ­welcher Form. Am meisten würde uns in der jetzigen Situation natürlich eine Verstärkung personeller Art helfen. Im Normalfall kann hier eigentlich fast jeder arbeiten, voraus­gesetzt er ist tolerant, offen, und bereit, sich auf vieles einzu­ lassen. Juni 2018

Vista.Schon? Als gelernte Informatikerin verlor Gabriele Bolzek nach der Wende ihre Arbeit und ­ ntdeckte nach mehreren Gelegenheitsjobs unter anderem in einem Callcenter, bei der e Kreishandwerkerschaft und bei der Stadtmission, den Freiwilligensektor für sich. Nun ­arbeitet die 63-jährige seit acht Jahren in der Magdeburger Bahnhofsmission und denkt nicht daran, aufzuhören, bevor es sich nicht vermeiden lässt.

109


Tim schneider

»mit der zeit wurde aus fernlust auch nahlust.« Er ist ein weltoffener und architekturverliebter Stadtplaner, der schon viel herumgekommen ist und die Welt mit wachen Augen erkundet. Im Interview erzählt der gebürtige Marienberger und Japanfreund von seinen Reisen durch Fernost, wie er das Land der aufgehenden Sonne nach dem Tsunami 2011 erlebte und was ihn an den dortigen Städten fasziniert. Als Stadtplaner hat er auch ein gutes Auge für manche Kleinigkeiten, die der Landeshauptstadt sehr gut zu Gesicht stehen und kann uns sogar berichten, welche Spuren Magdeburg in Japan hinterlassen hat. Interview und Fotos: Marco Starkloff



Tim schneider

Wie sind Sie zur Stadtplanung gekommen? Als Kind bin ich mit meiner Familie viel in Richtung Osteuropa gefahren. Die Städte dort faszinierten mich. Sie waren ganz anders als die in der DDR, die von Kriegszerstörung und Wiederaufbau geprägt waren. Die vielen schönen alten Städte weckten meine Lust am Reisen und am Thema selbst. Irgendwann begann ­ ich, Stadtpläne und Wanderkarten zu sammeln. Als die Sammlung immer größer und ich älter wurde, bekam ich Lust, selbst zu gestalten. Ich trug meine eigenen Ideen in Stadtpläne ein und kam so zur Stadtplanung.

In Magdeburg hat man so einiges, auf das man stolz sein kann. Wann war Ihnen klar, dass Sie Stadtplaner werden wollten? Mit 14 habe ich das relativ konsequent verfolgt. So war ich in der Arbeitsgruppe Denkmalpflege in meiner Heimatstadt. Mein Interesse galt der Schnittstelle von Stadtplanung und Verkehr. Ich fing an, klassische Fortbewegungsformen in Pläne einzutragen. Mein Traum war, mir alle Stationen der U-Bahnen in Berlin und Budapest anzusehen und zu überlegen, wie man solche

112

Schnittstellen schön gestalten kann. Ich habe aber auch darüber nachgedacht, wie man lebenswerte Bereiche schaffen kann, in denen sich Menschen gerne aufhalten. In den kreativen Phasen habe ich gerne den Stift in die Hand genommen. (lacht) Haben Sie damals auch schon praktisch gearbeitet? Während des Abiturs haben wir am Schlossberg in Chemnitz gegraben und sanierten die Mauern. Die aktive Phase begann mit meinem Studium in Weimar ab 1990. Da wirkte man natürlich in Büros und auch mal in der Stadtpolitik mit. Ich setzte mich für den Weiterbetrieb der Berkaer Bahn ein. Das waren meine ersten Schritte außerhalb des akademischen Umfelds. Ich wollte nicht nur Papier und heiße Luft produzieren, sondern die Umwelt aktiv gestalten. Waren Sie ein aktiver Student? In vielerlei Hinsicht. Ich bin durch viele Länder gereist und habe einiges gesehen. Ich war aber auch ein guter Student und hab ganz gut abgeschlossen. (lacht)

Auch politisch? Ich bin interessiert und informiert, aber ich habe mich keiner politischen Richtung verpflichtet gefühlt. Ich habe zu vielen Dingen eine Meinung, aber lege mich nicht einseitig politisch fest. Mein Schwerpunkt liegt auf der Fachlichkeit.


Tim schneider

Sie sind Sprecher der Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landes­ planung in der Region Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Was machen Sie? Wir setzen uns für die berufsständischen Interessen ein und bilden eine Plattform für fachliche Debatten. 2007 gründeten wir das Magdeburger Planertreffen Lupe, Bleistift, Tee & Keks. Das ist der Versuch, in Magdeburg Berufsstände entspannt in der Freizeit zusammenzuführen. Wir organisieren Veranstaltungen für Landschaftsarchitekten, Stadtplaner, Architekten, Bauingenieure, Geographen, Künstler und alle, die den öffentlichen Raum gestalten und bringen sie so zusammen. In

Magdeburg beispielsweise organisierten wir mehrere Exkursionen zum Thema ›Bauliches Erbe der zwanziger Jahre‹.

Wo finden wir dieses Erbe in Magde­burg? Das sind zum Beispiel Wohnsiedlungen wie die in Cracau oder das Gebäude der AOK in der Lüneburger Straße. Das ist ein bemerkenswertes architektonisches Erbe an der Grenze von Expressionismus und Bauhausmoderne. Auch die Hautklinik (Haus 15 des Uniklinikums, Anm. d. Red.) von Johannes Göderitz ist ein tolles Gebäude, und das nicht nur aus architektonischer Sicht. Für dieses bemerkenswerte Bauwerk

113


Tim schneider

wurden erstmals vom sozialen und funktionalen Ansatz abgeleitete Grundriss-Pläne entwickelt, was es bis dahin in dieser Konsequenz wohl nicht gab. Das hat deutschlandweit für Furore gesorgt. In Magdeburg hat man so einiges, auf das man stolz sein kann.

Sie lebten in vielen Städten, welche ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben? Für mich als Stadtplaner ist das eine ganz schwierige Frage. In jeder Stadt gibt es Licht und Schatten. Es gibt immer beeindruckende Räume. Mancher Stadt würde ich Unrecht tun, wenn ich sie nicht erwähne. Aber jetzt ganz konkret: In Graz habe ich wirklich sehr gern gelebt. Eine mittelgroße Stadt mit einer tollen Altstadt, mit jungen, aufgeschlossenen, dynamischen und innovativen Menschen. Aber um das spontan beantworten zu können, bin ich einfach zu oft umgezogen. Sie haben zwei Jahre in Tokio verbracht. Wie kam es dazu? Zunächst war es für mich wichtig, das Studium möglichst schnell abzuschließen und in den Beruf reinzukommen. Irgendwann habe ich aber mehr und mehr festgestellt, dass die Welt noch viel mehr bereithält. Ich war nicht mehr so richtig glücklich, gleich den Absprung ins Berufsleben zu machen. Je näher das Diplom kam, desto stärker hatte ich das Ge-

114

fühl, dass ich vieles noch nicht weiß. Ich wollte noch mehr entdecken und verstehen, wie Städte in anderen Kulturkreisen funktionieren. Daher bewarb ich mich für ein Stipendium mit langer Laufzeit. Mich interessierten schnell gewachsene Städte. Durch eine glückliche Fügung bekam ich dann ein Stipendium für Sprache und Praxis und konnte damit in ein japanisches Planungsbüro reinschnuppern.

Hatten Sie keine Angst vor der anderen Sprache? Nein. Ich wusste ja auch nicht, worauf ich mich einlasse. (lacht) In Deutschland hatte ich kein Japanisch gelernt.

War das nicht schwer? Ja, schon etwas. Meine Lehrerinnen konnten kein Deutsch und nur wenig Englisch. Es war auch nicht einfach, da die Logik der japanischen Sprache eine ganz andere ist. Mit ein paar Lerntechniken schaffte ich es jedoch in zwölf Monaten alles zu lernen, um im Alltag und im Büro zurechtzukommen. Wie sind Sie am Anfang so ganz alleine in einem fremden Land klargekommen? So ganz auf mich allein gestellt war ich auch nicht. Der Deutsche ­Akademische Austauschdienst (DAAD) hat ein Büro in Tokio. Die halfen bei der Wohnungssuche und standen


Tim schneider

mir notfalls zur Seite. Tokio ist auch international, so dass man mit Englisch gut voran kommt. Mein Ziel war es aber, Japanisch zu lernen. Ich wohnte in einem kleinen zwei­ geschossigen Holzhaus in einem verträumten, grün gebliebenen Vorort, ungefähr eine Dreiviertelstunde mit einer Expressmetro von der Innenstadt entfernt. Da war keiner mehr in der Nähe, der mir helfen konnte und ich musste meinen Alltag alleine meistern. Sprechen Sie heute, 14 Jahre später, noch fließend japanisch? Ich kann mich in Japan zurechtfinden, aber mein heutiges Leben ist durch so viele andere Aktivitäten geprägt, so dass ich leider nicht regelmäßig japanisch spreche und schon viel vergessen habe. Das ist ärgerlich, aber es ist wie mit Tanzschritten, das ist irgendwo im Hinterkopf. Man muss es nur reakti­ vieren.

Wie war es, in einer Metropole wie Tokio zu leben? Ich kam aus dem kleinen, beschaulichen Hochschulstädtchen Weimar und hatte für ein halbes Jahr in London erste berufliche Schritte unternommen. Dann ging es nach Fernost. In Tokio ist alles erst mal wild, interessant und international. Aber man lernt nach und nach hinter die Fassade zu schauen. Ich bin froh Mitteleuropäer zu sein und in

115


Tim schneider

einem Wertesystem aufgewachsen zu sein, in dem Widerspruch, Kritik und vor allem Mitdenken einen hohen Stellenwert hat. Japan ist nicht unbedingt innovationsfreundlich. Widerspruch und Kreativität im Alltag sind nicht sonderlich ausgeprägt. Daher mache ich mir Sorgen, wie sich Japan im zukünftigen Wettstreit der Innovationen schlagen wird. Dennoch denke ich, dass es genug kritische Geister im Land gibt.

Woran haben Sie in Japan ge­ arbeitet? Ich habe im Büro des bekannten japanischen Architekten Kisho Kurokawa mitwirken können. Er zählt zu den jungen, wilden Architekten der sechziger und siebziger Jahre, die unter dem Stichwort Metabolismus bekannt sind. Neben vielen anderen Projekten plante er auch die neue Hauptstadt von Kasachstan, Astana. Daran habe ich auch mitgewirkt und versucht, ein anderes Verständnis von Fläche rein zu bringen. In Japan baut man Städte auf Grund der Dichte doch anders als in einem Flächenstaat wie Kasachstan. Sie sind Vizepräsident der Deutsch-Japanischen Gesellschaft Sachsen-Anhalt e. V. Was machen Sie im Verein? Wir haben uns auf die Fahne geschrieben, Kulturverständnis zu vertiefen und japanische Kultur hier bekannt zu machen. Wir sind eine bunt zusammen gewürfelte

116

Gruppe von Leuten und organisieren Vorträge und Veranstaltungen wie das Japan-Fest, vermitteln beim Schüler­austausch oder beraten bei der Japanreise.

Sie haben mehrere Reisen nach ­Japan unternommen. Wohin ging die letzte Reise? In das Gebiet nördlich der Millionen­ stadt Sendai. Neben einigen sehr schönen kleinen Städten im ­Inneren des Landes besuchte ich auch die 2011 vom Tsunami zerstörte Küsten­ region Tohoku. Ich war 2016 – also fünf Jahre nach der Katastrophe – dort. Die Wiederaufbaumaßnahmen hatten umfassend begonnen, aber die Zerstörungskraft der zehn, zwölf Meter hohen Flutwellen, die ganze Kleinstädte vernichteten, war natürlich immer noch sichtbar. Wie haben Sie die Region fünf ­Jahre nach dem Unglück erlebt? Vielleicht ist meine Einschätzung nicht ganz fair, aber ich habe mehrfach gelesen und vor Ort selbst gesehen, dass der japanische Staat nicht ganz optimal agiert. Manche sprechen vom Versagen des Staates. Die Akteure scheinen von der schieren Bandbreite der Probleme überfordert. Ich habe aber auch Projekte der Bürgergesellschaft gesehen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen. Das ist für Japan etwas Außergewöhnliches. Beispielsweise haben Architekten gemeinsam mit ­Studenten aus einfachsten Materia-


Tim schneider

lien ein Bürgerzentrum gebaut, das als Ort der Trauer und Hoffnung dient. Die Solidarität ist groß, manche Japaner verbringen ihren Sommerurlaub in der Region, um zu helfen. Dass die Bürger das ganz alleine auf die Beine gestellt haben, ist bemerkenswert und eine ganz neue Erfahrung für Japan.

Was sollte man sich in Japan unbedingt ansehen? Der Klassiker ist natürlich die alte Hauptstadt Kyoto. Aber die ist schon vom Massentourismus überrannt. Daher würde ich einen Besuch der weiter südlich gelegenen Kurzzeithauptstadt Nara empfehlen. Sie ist noch sehr authentisch. Alter Hausbestand, ohne Kriegszerstörungen, keine störenden Hochhäuser, viele sehr alte Ginkobäume und ein Tempelbezirk mitten in der Altstadt, in dem Rehe und Hirsche einfach frei herumlaufen. Dort kann man wahrlich in das alte Japan ein­tauchen. Am interessantesten ist aber das Japan abseits der Großstädte. Auf der Insel Kyūshū gibt es einen großen Vulkankrater von über 25 km Durchmesser, in dem sich ein neuer Vulkan gebildet hat. Ebenso sehenswert sind die vielen heißen Quellen und die kleinen und mittelgroßen Städte mit faszinierender A ­ rchitektur. Am b ­esten fährt man zügig raus aus ­ Tokio rein ins Land. In allen Himmels­ richtungen entdeckt man tolle Sachen und lernt tolle Menschen kennen.

Bereisen Sie auch andere Länder? Natürlich. Ich habe auch einige Kontakte nach Frankreich, wo ich mich häufiger aufhalte. Ich war unter anderem in Israel, in Vietnam, im Iran, in Usbekistan und auf einem längeren Trip in Kambodscha, draußen im Dschungel, fernab der Hauptstadt. Eben da, wo die Zeit wirklich stehen geblieben ist. Meine nächste Reise führt mich wahrscheinlich nach Tadschikistan.

Hier und da, gut versteckt hinter Gartenzäunen,­ ­findet man auch in Magdeburg ein kleines Japan-Motiv. Sie sind ein Fan der japanischen Architektur. Was begeistert Sie daran? Ich schaue nicht nur auf die Fassaden, sondern auf die Strukturen. Architektur wurde, vor allem im Westen, oft als Massenware missverstanden. Als Gegenbewegung zur anonymen, oft menschenfeindlichen Bauklotz-Moderne entstand in den Achtzigern die Architekturund Städtebau-Stilrichtung der Postmoderne, die die kleinteiligen Blockrand-Quartiere wiederentdeckte. Ich lege Wert auf gegliederte, ortsangepasste Gestaltung und Nutzungsmischung, die man besonders

117


Tim schneider

in asiatischen Städten gut studieren kann. Japan ist, wie auch einige südostasiatische Länder, von Straßen mit multifunktionaler Nutzung geprägt. Das Leben findet wirklich auf der Straße statt.

Sie sagten einmal, dass Sie eine Vorliebe für Japanische Gärten haben. Haben Sie selbst einen? Nein, ich bin nicht mit einem Einfamilienhaus gesegnet. Ich wohne zur Miete und das passt ganz gut zu meinem Lebensabschnitt. Für einen eigenen Garten ist da kein Platz.

118

Gibt es in Magdeburg einen Japa­ nischen Garten? Als Deutsch-Japanische Gesellschaft war es früher unser Ziel, einen solchen Garten in Magdeburg zu schaffen, aber so ein Kiesgarten mit Pflanzenarrangements ist sehr pflegeintensiv. Das übersteigt die Ressourcen unseres kleinen Vereins. Daher hofften wir auf die Unterstützung von anderen Akteuren, wie zum Beispiel von Unternehmen oder der Stadt Magdeburg. Andere haben sich von der Idee inspirieren lassen, so haben beispielsweise die Stadtwerke Schönebeck für ihre


Tim schneider

Mitarbeiter einen kleinen, feinen und nicht öffentlichen Japanischen Garten angelegt.

Was machen Sie, wenn Sie das Fernweh packt? Ich krame in meiner Wunschliste und schaue, was mich gerade besonders interessiert. Ich spiele seit einigen Jahren mit dem Gedanken, nach Korea – auch nach Nordkorea – zu fahren. Aber die Drohkulisse der letzten Jahre hat mir etwas die Lust genommen. Mit der Zeit wurde aus Fernlust auch Nahlust. Ich entdecke mehr und mehr die Qualität der Nähe und mache auch Kurzreisen. Wie war Ihr erster Eindruck von Magdeburg? Schon zu DDR-Zeiten war ich in Magdeburg. Im Rahmen meiner Stadtlust bin ich als 15-jähriger stundenlang zu Fuß durch die Stadt gelaufen. Entlang des damaligen Schleinufers, als die Bahngleise noch da waren und die Stadt von der Elbe trennten. Auch den Magdeburger Ring bin ich von Nord nach Süd abgelaufen, um mir anzusehen, wie man eine Schnellstraße in eine Stadt reinknallt. Damals hab ich mir noch überlegt, wie man so etwas auch auf meine Heimatstadt übertragen könnte. (lacht)

Wie war der zweite Eindruck? Als ich mich 2006 hier für die Stelle beworben habe, war ich natürlich vorher schon da und hatte mir die

Stadt angeschaut. Die Stadtsanierung und Erneuerung waren schon gut vorangekommen. Das bleierne, schwere DDR-Grau war einer ganz

Ich entdecke urbane Orte in Augenhöhe eines Fahrrades. anderen, lebendigen Frische ge­ wichen. Magdeburg ist für mich eine offene Stadt, die leider aufgrund der Kriegszerstörung und der besonderen Bau- und Formensprache der Nachkriegszeit zu einer etwas zu sehr aufgeräumten Stadt wurde. Was kann Magdeburg da noch ­besser machen? Der Straßenraum ist hier und da etwas zu üppig. Hier müsste durch Baumpflanzung oder durch andere Nutzung des Straßenraums noch mehr Lebendigkeit und eine bessere Nutzbarkeit reinkommen. In Magde­ burg verfolgen manche Akteure noch den technischen Ansatz der sechziger Jahre. Wir brauchen jedoch noch viel mehr Spontanität, Abwechslung, Zufälligkeit sowie Orte, die menschlicher wirken und Emotionen ansprechen. Haben Sie einen Lieblingsort in der Stadt? Der Wissenschaftshafen hat meiner Meinung nach viel Potenzial. Die

119


Tim schneider

Gegend in der Nähe des Cracauer Wasserfalls ist auch interessant. Die Mischung aus Dorf und Großstadt direkt am Fluss. Dinge wie alte Türknäufe, Dachrinnen und Hausfassaden, die ganzen kleinen Sachen, die noch aus der alten Zeit durchschimmern, sprechen mich an. Auch das Umfeld des Hasselbachplatzes hat mit seiner großstädtischen Berliner Atmosphäre einen ganz eigenen Charme. Wenn auch nicht täglich, bin ich gerne dort. (lacht)

Das bleierne, schwere DDR-Grau war einer ganz ­anderen, lebendigen Frische gewichen. In welchem Stadtteil sind Sie zu Hause? Im schönen Stadtteil Sudenburg. Die Halberstädter Straße ist eine tolle Stadtstraße mit weiten, grünen Seitenbereichen mit Geschäften, die den Raum beleben. Die Zukunft hat dort gerade erst begonnen. Finden wir Japan auch in Magdeburg? Natürlich. Weithin bekannt ist die Kirschblütenallee im Holzweg. Wir haben aber auch allerorten einen Gingkobaum, der mich an meinen Aufenthalt in Japan erinnert. Hier

120

und da, gut versteckt hinter Gartenzäunen, findet man auch in Magdeburg ein kleines Japan-Motiv.

Und umgedreht, gibt’s Magdeburg auch in Japan? Tatsächlich ja. Es gibt in der nord­ ost­ japanischen Großstadt Sendai eine Japanisch-Deutsche Gesellschaft, die seit einigen Jahren in gutem Kon­ takt mit Magdeburg steht. Bekannter ist wohl aber der Architekt Bruno Taut, der zweieinhalb Jahre Baubürgermeister von Magdeburg war. Nachdem er 1933 Deutschland verlassen musste, ging er für einige Zeit nach Japan, wo er heute noch sehr bekannt ist.

Als Kind träumten Sie immer davon, Städte mitzugestalten. Wenn Sie sich eine Stadt aussuchen könnten, die Sie umgestalten, welche wäre das? Je länger ich im Beruf bin, desto mehr komme ich zurück zur Gestaltung von Plätzen, Orten des Aufenthaltes, von urbanen Räumen, also der Stadtteilebene. In meiner Heimatstadt Chemnitz passiert gerade sehr viel. In der Stadt fehlt zwar noch einiges, aber man ist ausgesprochen offen, auch mal innovative Ideen anzugehen. Das würde anderen Städten auch gut tun. Dabei muss man nicht mal so weit schauen. In Magdeburg und Dessau kann man noch viel gestalten. Ich habe aber derzeit die enge Bindung zur Stadtplanung und Freiraumplanung


Tim schneider

etwas gelockert und bin momentan eher mit Themen der Verkehrs­ planung beschäftigt. Beschreiben Sie mal in wenigen Worten eine lebenswerte Stadt. Kompakt, urban, grün, nutzungs­ gemischt und lebendig.

Was sollte die Welt noch über Sie wissen? In meiner Freizeit bin ich gern und häufig mit dem Fahrrad unterwegs. Sowohl in Magdeburg als auch in der Region und im Urlaub in der Ferne cruise ich damit gemächlich herum und erfahre städtisches Leben. So entdecke ich urbane Orte auf Augenhöhe eines Fahrrades. April 2018

Vista.Schon?

Tim Schneider wurde 1971 in Marienberg geboren. Aufgewachsen ist er in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz). Nach seinem Zivildienst in einem Altenpflegeheim studierte er in Wei­ mar Stadtplanung. Im Rahmen seiner Ausbildung lebte er in Graz, London und zwei Jahre in Tokio. Nach mehreren beruflichen Stationen in Süddeutschland führte ihn sein Weg 2006 nach Magdeburg, wo er als Sachgebietsleiter im Stadtplanungsamt arbeitet. In seinem Beruf beschäftigt er sich mit der Verkehrsplanung für ÖPNV, Fuß- und Radverkehr und den Verkehr in der Innenstadt. In seiner Freizeit ist er Vizepräsident der Deutsch-Japanischen Gesellschaft Sachsen-Anhalt und Sprecher der Berufsvereinigung für Stadt-, Regionalund Landesplanung (SRL) in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.

121



Marina Franz

»gott hat leute bewusst hierher gesendet« Kinosessel, riesige Leinwand, schwere, rote Samtvorhänge und eine Bühne mit Drums und Bassgitarren. Bei dem Wort ›Kirche‹ stellt man sich eigentlich etwas anderes vor. Marina Franz predigt seit 2011 in der Scala-Gemeinde in Sudenburg und hat große Pläne für Magdeburg. INTER.VISTA erzählt sie über das integrative Engagement der Gemeinde, über Soteriologie, über die Bedeutung von Musik in Gottesdiensten und was Glauben bewirkt. Heraus kam ein Interview als theologisches Gespräch, ein außerordentlich religiös geprägter Gedankenaustausch. Interview und Fotos: Sophie Traub


Marina Franz

Die Scala ist ja eine sehr moderne Gemeinde. Wie läuft das Heiligabend? Singen Sie lieber etwas von Hillsong oder eher Stille Nacht, Heilige Nacht? Wir versuchen gerade an Heiligabend, es ein bisschen zu mischen. Klassische Weihnachtslieder, vor allem auch für Leute, die Weihnachten eher mit etwas Traditionellem verbinden. Aber mir ist sehr wichtig, dass immer etwas Modernes drin ist. Sie sind ausgebildete Pastoraltheologin, mit anderen Worten: Sie sind bibelfest. Welche ist Ihre Lieblingsstelle? Die steht im ersten Johannesbrief. Da heißt es: »Seht, was für eine große Liebe hat uns der Vater gezeigt, dass wir Gottes Kinder heißen sollen. Und wir sind es auch. Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, dann werden wir ihn sehen, wie er ist und ihm gleich sein.« Wie sind Sie denn zum Glauben gekommen? Ein bisschen was habe ich von zu Hause mitbekommen. Meine Mutter hat abends immer mit uns das Vater Unser gebetet, wenn sie uns ins Bett brachte. Das hat mich immer begleitet. Zu beten und die Bibel zu lesen war für mich also nicht komisch. Sie hat mir nicht so diesen persönlichen Glauben vermittelt. Also, dass ich

124


Marina Franz

eine persönliche Beziehung zu Jesus haben kann. Das habe ich dann erst durch andere kennengelernt. Gerade der Osten Deutschlands ist statistisch betrachtet eher un­ christlich. Ist es schwierig, Ihren Glauben hier zu leben und werden Sie häufig mit evolutions­ theoretischen Erkenntnissen kon­ frontiert? Ich würde nicht unbedingt sagen, dass es schwerer ist. Aber ja, Leute stellen andere Fragen oder haben auch eine klare Ablehnung. Das akzeptiere ich dann. Oft merke ich

es wird oft ­geleugnet, dass der mensch ein sünder ist.

auch, dass hier komische Vorstellungen vom Christsein existieren. Ich erzählte zum Beispiel mal einer Nachbarin, dass ich den Eurovision Song­contest angeschaut habe. Darauf­hin war sie ganz irritiert und konnte kaum glauben, dass ich mir so etwas ansehe. Dabei bin ich natürlich kulturell interessiert und dieser Contest zeigt auch ein bisschen die Zeitströmungen. Eine andere Nachbarin erzählte mir mal, sie sei auf dem Weg zum Frauenarzt, um sich die Pille zu holen. Familien­ planung dieser Art mache ich ja wohl bestimmt nicht, weil wir doch Christen seien. Ja, ich bin Christin,

aber ich habe doch ein Hirn. (lacht) Das sind manchmal so witzige Vorstellungen.

Wie wurde aus dem ein wenig heruntergekommenen Scala-Kino eine Gemeinde? Das Kino wurde gekauft, nachdem es in den Neunzigern eine Weile leer stand. Es gab zuvor den Versuch, es als Kino wiederzubeleben, daher auch ein Umbau mit drei Sälen, doch das lohnte sich nicht. Die Scala-­ Gemeinde entstand in einem Café am Universitätsplatz. Das Lokal haben Christen betrieben. Die sprachen dort mit Leuten über den Glauben und boten Gottesdienste an. Das ist so ›explodiert‹ und aus den Nähten geplatzt, da das Café zu klein war. Auf der Suche nach Räumlichkeiten kamen sie dann auf das Kino. Zuerst wurde ein astronomischer Kauf­ preis verlangt, den wir auf keinen Fall hätten zahlen können. Wie wurde das Ganze denn finanziert? Das Gemeindeleben und auch der Kauf des Kinos finanzieren sich aus Spenden. Baptisten sind ja eine Körperschaft, genau wie die Evange­ lische Landeskirche. Theoretisch könnten wir auch Kirchensteuer erheben, das tun wir aber nicht, weil Freiwilligkeit ein ganz starkes ­Prinzip bei evangelisch-­freikirch­ lichen Gemeinden ist. Mitarbeit und auch finanzielle Beteiligung geschehen freiwillig.

125


Marina Franz

Keinen zehnten Teil, so wie es in der Bibel heißt? Doch, wir empfehlen das. Ich persön­ lich glaube zutiefst an dieses Prinzip. Wir haben es als Ehepaar und Familie immer praktiziert, dass wir den Zehnten gegeben haben. Wir denken, dass das ein gutes geistliches Prinzip ist. An diesen zehn Prozent hängt ja eine Verheißung. Gott sagt, er wird die Pforten des Himmels öffnen und Segen fließen lassen. Das erlebt man nur, wenn man es ausprobiert. Auch als Gemeinde geben wir den Zehnten an andere Werke, die eine Arbeit tun, die wir nicht tun können. Zum Beispiel unterstützen wir missionarische Arbeit in Kenia, Somalia und im Sudan. Freitags gibt es immer noch Kinovorstellungen in der Scala. Welche Filme werden gezeigt? Ganz verschieden. Allgemein sind es Familienfilme, so dass auch Kinder kommen können. Im Moment haben wir eine Reihe mit christ­ lichen Filmen, einfach um mit einem modernen Medium den Glauben zu ­ vermitteln und verständlich zu machen. Beispiele wären die Filme Warroom oder Not a Fan.

Ich habe gesehen, dass Sie ein Seniorenkino anbieten. Was gibt es denn für Studenten? Im Moment nichts. Sobald hier Studenten sind, die etwas für junge Leute anbieten wollen, wären wir dafür offen. Viele Projekte stehen

126

oder fallen mit den Leuten, die es machen. Eine Zeit lang hatten wir Studenten, die jeden Sonntag hier Tatort guckten. Wir hatten uns extra bei der GEMA eine Lizenz geholt. Das war einfach Kult. Die Verantwort­ lichen beendeten dann allerdings ihr Studium und somit auch das Projekt.

Er teilt aus, wie er will und nicht, wie Menschen es gerne hätten.

Im Vergleich zu anderen Gottesdiensten, die ich in Magdeburg besuchte, sind bei Ihnen wirklich viele jüngere Menschen. Wieso zieht es Jugendliche eher zur Scala? Also wir merken, unser Kino zieht an. Kinositze haben Charme, sind bequem. Unsere Gottesdienstzeit ist auch sehr studentenfreundlich: 11 Uhr. Das mag eine Rolle spielen. Auch, dass wir eine Neugründung sind. Wir sind ja keine Gemeinde mit einer hundert­jährigen Tradition. Vieles ist noch nicht festgefahren, hier darf man noch experimentieren. Junge Leute haben das Gefühl, sie dürfen sich einbringen, ihre Ideen realisieren. Das ist nicht nur erlaubt, sondern gewünscht. Zum Beispiel hat eine junge Frau eine Arbeit begonnen, die sich »­ Scala-Königstöchter« nennt. Ein Treffen von Frauen, die aus ihrem


Marina Franz

Leben mit Jesus erzählen. Das Anliegen ist einfach, sich kennenzulernen, Gemeinschaft zu haben, dass aus Fremden Freundinnen werden.

Der Lobpreis in der Scala ist sehr bewegend und interaktiv. Wie wichtig schätzen Sie die Musik in einem Gottesdienst ein? Musik ist ein enorm wichtiges ­Medium, um Menschen zu erreichen. Ich benutze nicht so gerne das Wort zeitgemäß, denn wenn wir uns die musikalische Landschaft angucken, dann sind echt viele Stilrichtungen zeitgemäß. Aber, was wirklich zählt, ist die Qualität der Beziehung der Musiker zu Jesus Christus. Sie müssen eine Sensibilität für den Heiligen Geist haben. Wenn das da ist, dann kann ich auch einen Choral singen und es hat den gleichen Effekt. Es muss zusammenkommen. Moderne Musik allein macht’s noch nicht. Sie haben einmal in einem Input gesagt, dass sehr viele Mitglieder der Gemeinde andere Nationalitäten haben. Wie viele sind denn in der Scala vertreten? Ich kann es nur von den Mitgliedern sagen, wobei der Gottesdienst nicht die Mitgliedschaft widerspiegelt. Da sind immer auch sehr viele Gäste und Freunde. Wir haben um die 89 Mitglieder. Darunter sind acht Nationen vertreten. Iran, Afghanistan, USA, Russland, Mexico, Portugal, Kamerun und die letzte fällt mir gerade nicht ein.

Haben Sie den Eindruck, dass es schwerer für diese Menschen ist, ihren Glauben zu leben? Familiär gesehen mit Sicherheit. Einzelne erleben Anfeindungen in ihrer Familie, insbesondere wenn sie aus einem muslimischem Hintergrund kommen. Dann bemerken sie auch, dass man hier in Deutschland ja erkennt, dass sie aus einer anderen Nation kommen. Dann werden sie oft für Muslime gehalten und deswegen auch noch angefeindet. Aber sie sehen hier auch eine ganz andere Freiheit, als in ihren Ursprungsländern. Die muss auch gelernt sein, damit muss man umgehen können. Es heißt ja nicht Grenzenlosigkeit.

Wie sind Sie als Gemeinde in Magde­burg aktiv? Von Mai bis Juli veranstalten wir jeweils am letzten Sonntag des ­Monats einen Open Air-Gottesdienst im Ratsgarten. Da wird auch unser Lobpreisteam da sein und es wird eine kurze Predigt geben. Dann sind wir hier ökumenisch innerhalb Suden­ burgs ganz gut verbunden. Zum Adventsmarkt und zum Straßenfest gibt es immer einen ökumenischen Gottesdienst auf dem Ambrosiusplatz, da sind wir mit dabei. Ich glaube aber, dass wir in der Stadt am stärksten durch unsere Integrationsarbeit wahrgenommen werden. Es gibt Integrations­lotsen der Stadt Magdeburg. Von 27 Integra­ tionslotsen insgesamt sind neun aus der Scala-Gemeinde. Wir bieten

127


Marina Franz

Durch Ihre Predigten hatte ich den Eindruck, dass Sie wirklich für diese Stadt brennen und hier etwas Gutes bewirken wollen. War das schon immer so? So eine Liebe zur Stadt ist etwas, das Gott in einem erweckt. Wir haben auch einige Leute in der Gemeinde, die eigentlich gar nicht nach Magde­ burg kommen wollten. Aber dann ­haben sie hier Feuer gefangen. Gott hat Leute bewusst hierher gesendet. Wir glauben, dass die Stadt das Evangelium von Jesus Christus braucht, dass Gott eine Absicht hat und Menschen zum Glauben kommen werden. Ganz kleine Anfänge sehen wir auch hier und da schon, aber wir wünschen uns natürlich mehr.

­außerdem jeden Dienstag­abend eine Beratungsstunde für Geflüchtete an. Es bestehen auch gute Verbindungen zu Frau Lubinski, die Integrationsbeauftragte der Stadt. Was genau machen die Integra­ tionslotsen? Sie helfen Geflüchteten Formulare auszufüllen oder bei Behörden­ gängen. Manchmal sprechen sie einfach nur, damit sie besser Deutsch lernen können. Einige der Geflüchteten sind jetzt in Ausbildungen, da brauchen sie auch manchmal Hilfe.

128

Wie kamen Sie denn nach Magdeburg? Das ist eine ganz spezielle Story. Mein Mann und ich hatten einen Ruf in eine Mission, wir wollten ins Ausland und hatten schon den Visumsantrag für Kenia gestellt. Dann kam die Wende, die niemand erwartet hatte. In dieser Zeit hörten wir öfter, dass wir doch hierbleiben sollten, denn Deutschland sei zum Missions­ land geworden. Wir nahmen Kontakt zu einer Missionsgesellschaft in ­Wales auf, die ein Ehepaar suchten, das in Deutschland eine Mission aufbaut. Wir waren dort bei einer Konferenz und jemand, der eine prophetische Begabung hat, betete dann für uns. Er beschrieb dann sehr detailliert ein Haus, das er sehe


Marina Franz

und welches für uns bestimmt sei. Und er sagte, dass wir innerhalb der nächsten 15 Monate dieses Haus finden würden. Sowas Konkretes hatten wir noch nie erlebt. Wir hatten natürlich keine Ahnung, wie wir dieses Haus finden sollten. Man kann ja nicht alle Autobahnen Deutschlands abfahren. (lacht) Mein Mann war dann einige Zeit später als Übersetzer mit englischen Missionsteams in Sachsen-Anhalt unterwegs. Er erzählte einem der Pfarrer im Bördekreis, dass wir beabsichtigten, uns in Deutschland fest niederzu­ lassen, wenn wir dieses Haus gefunden hätten. Der verwies ihn auf ein leerstehendes Gebäude in Ursleben. Mein Mann besichtigte das Haus sofort und durch Zufall geriet er an die richtigen Ansprechpartner für einen Kauf. Es ist unglaublich, wie schnell das alles ging. Wir unterschrieben einen Kaufvertrag und hatten eigentlich kein Geld; nur eine Zusage von zwei Spendern über 100.000 Euro. Für den Rest hatten wir einfach Glauben. So starteten wir hier in Sachsen-Anhalt. Waren Sie enttäuscht wegen Kenia? Am Anfang war das ein Schock für uns, denn unsere gesamte Ausbildung hatten wir mit Blick darauf absolviert. Wir wussten auch nicht, ob Gott jetzt seine Berufung wieder zurücknimmt. Rückblickend sage ich, am wichtigsten ist, dass ein Schiff in Bewegung ist, dann kann Gott es leicht lenken. Wir standen

vor 15 oder 20 Jahren nochmals vor der Entscheidung, ob wir in Sachsen-Anhalt bleiben. Wir hatten Angebote, woanders hinzugehen. Aber ich empfand sehr stark, dass unsere Zeit hier noch nicht um ist. Wir ­müssen hier bleiben, hier brauchen die Menschen das Evangelium. Und kurz danach wurde ich auch Pastorin in der Scala-Gemeinde.

Am wichtigsten ist, dass ein Schiff in ­Bewegung ist, dann kann Gott es leicht lenken. Sie haben drei erwachsene ­Kinder. Leben die in Magdeburg? Unsere beiden Ältesten sind in Baden-Württemberg geboren und unsere Jüngste hier. Als wir nach Magdeburg kamen, waren sie noch sehr klein. Unsere älteste Tochter lebt auch noch in Sachsen-Anhalt und die beiden anderen hat es ein bisschen in alle Welt verstreut. Was bei den Eltern ja auch nicht ver­ wunderlich ist. (lacht) Eine Frau, die predigt, das ist nicht für alle Gläubigen normal. Haben Sie manchmal mit Sexismus zu kämpfen? Nein. Hier in den Ostgemeinden ist das nicht so ein Thema. Als ich von der Gemeinde als Pastorin vorge-

129


Marina Franz

schlagen wurde, da wollten sie mich auch in der Zentrale des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden kennenlernen. Das erste, was deren Leiter zu mir sagte war, dass es absolut keine Rolle spiele, dass ich eine Frau bin. Wenn es dennoch jemanden gebe, der ein Problem darin sieht, dann sei dies aus dem ­Westen importiert. Das gilt auch nur für die Baptisten, in Brüder­ gemeinden ist das zum Beispiel etwas anderes. Ich erlebe keinen Sexismus, ich habe allerdings auch keinen missionarischen Auftrag von wegen ›Frauen an die Front‹. Ich sehe das so: Es

Der Glaube ist etwas zutiefst Gesundmachendes für dieses Leben und für die Ewigkeit. gibt diese Geschichte in der Bibel, da jubeln die Leute ­Jesus zu und feiern ihn. Die Pharisäer wollen denen den Mund verbieten. Und Jesus sagt: Wenn sie schweigen, werden die Steine schreien. Ich sage: Bevor die Steine schreien, sag' ich was! Und Gott gibt den heiligen Geist Männern und Frauen. Er teilt aus, wie er will und nicht, wie Menschen es gerne hätten.

130

Sie sind ausgebildete Seel­ sorgerin und geben auch Kurse für an­gehende Seelsorger*innen. Was ist für Sie der Unterschied zwischen Psychotherapie und Seelsorge? Das ist nicht mit wenigen Worten zu sagen. Es ist die Soteriologie, die die Seelsorge zu christlicher Seelsorge macht und die Seelsorge auch von Psychotherapie unterschiedet. Wir gehen in christlicher Seelsorge vom ›Gefallensein‹ des Menschen aus. Sie beschreibt den Menschen als ­Sünder, der Vergebung braucht. Deshalb heißt das Buch, das ich geschrieben habe, auch Soterio-Seel. Soter heißt Retter. In der Psychotherapie gibt es diesen Kern nicht. Es wird oft geleugnet, dass der Mensch ein Sünder ist. In christlicher Seelsorge, wenn sie diesen Namen verdient, steht Gott im Mittelpunkt. Er ist das Z ­ entrum und nicht der Mensch. Das ist eben anders in der Psycho­therapie, denn dort steht der Mensch im Zentrum. Ein humanistischer Ansatz also. Gemeinsam haben sie aber die Sorge um die Seele des Menschen und ­dessen Wohlergehen. Ihr Buch über Seelsorge wird auch als Lehrmaterial verwendet. Haben Sie vor, ein weiteres Buch zu schreiben? Vielleicht über das Predigen? Sowas in der Art haben wir auch schon gemacht. Mein Herz schlägt dafür, Mitarbeiter zu schulen


Marina Franz

und ­ Talente zu entdecken und zu fördern. Wir haben hier schon Schulungen gemacht in Homiletik, ­ also Predigt­ lehre. Wie erarbeite ich einen Bibeltext und kann ihn verständlich anderen Leuten übermitteln. Ein Buch würde ich darüber aber nicht schreiben, ich würde eher ein ­ zweites Buch über Seelsorge schreiben.

In drei Worten, wie stellen Sie sich den Himmel vor? Kein Schmerz, kein Leid, kein ­Geschrei. So beschreibt es die Offen­ barung. Und eine mittelbare Gegen­ wart Gottes, also da gibts nichts mehr, was uns trennt von Gott. Eine sichtbare Gegenwart Gottes. Was gibt Ihnen Ihr Glaube im Alltag und wieso würden Sie ihn, ganz plump gesagt, weiter­ empfehlen? Der Glaube gibt mir Sinn, er gibt meinem Leben Bedeutung. Er hilft mir, das Leben und die Welt zu verstehen und er öffnet mir Handlungs-

spielräume. Glaube ist etwas zutiefst Gesundmachendes für dieses Leben und für die Ewigkeit. Ich glaube nicht, so sagen es nämlich manche, dass man auf die Ewigkeit ver­ tröstest wird. Ich denke, mein Leben ist anders, wenn ich den Glauben habe. Auch Christen werden nicht von Leid verschont, auch Christen werden krank, auch Christen er­ leben Verluste. Aber ich gehe anders da durch, weil ich eine Bedeutung sehe. Was wünschen Sie sich für Magdeburg? Dass der Name Jesus in aller Munde ist! Mai 2018

Vista.Schon? Marina Franz wurde 1961 in Hornbach (Rheinland-Pfalz) geboren und wollte eigentlich ihr Leben zusammen mit ihrem Mann in Afrika verbringen. Sie ist Mutter dreier Kinder und hat auch bereits zwei Enkelkinder. In Magdeburg predigt die Pastoraltheologin in der ­Scala-Gemeinde in Sudenburg, die zum Bund Evangelisch Freikirchlicher Gemeinden KdöR, Baptisten gehört. Studenten der Scala-Gemeinde initiierten übrigens unter an­ derem das beliebte Projekt Church goes Pub in Magdeburg, bei dem in verschiedenen Kneipen und Bars christliche Inputs mit anschließender Musik angeboten werden. Sie ist außerdem Autorin eines Fachbuches über Seelsorge und hat einige Zeit als Design- und Farbberaterin gearbeitet.

131


Patrick Möhring

»wir machen keinen schunkel-, sondern unterhaltungskarneval.« Die Ottojaner, so heißt Magdeburgs Karnevalsverein, der versucht, die Tra­ dition wieder aufleben zu lassen. Eine Tradition, von der viele nicht wissen, dass sie auch hier vor Ort existiert. INTER.VISTA erzählt Patrick Möhring, wie er zu den Ottojanern kam, wie sich das mit dem Tanzen und Entkleiden vor Publikum anfühlt und welche Kamelle in Magdeburg angesagt ist. Interview und Fotos: Anna Kaiser


133


Patrick Möhring

Alaaf oder Helau? Alaaf.

Wie ist es dazu gekommen? Den Verein gibt es jetzt seit 1954 und damals gab es eben auch die Orientierung am Rheinischen Karne­ val. Die genauen Ursprünge kenne ich nicht, aber bei uns sagt man Otto Alaaf. Befreundete Vereine sagen auch Helau, also das ist kein regionales Ding.

Mittlerweile habe ich keine Hemmungen mehr, mich vor hunderten Leuten zu entkleiden. Was bedeutet der Karneval für Dich persönlich? Zur Schulzeit war es für mich nur das Verkleiden und Spiele spielen. Jetzt steht die Feier im Vordergrund und inzwischen ist es noch viel mehr. Es ist das Vereinsleben, es sind Auftritte wie auf dem Weihnachtsmarkt oder am 11. November, als wir durch die Stadt zogen. Nach der Veranstaltung im Februar gibt es ein Abschluss­ essen, da sieht man alle wieder, auch die Künstler sind eingeladen. Wir versuchen, die Tradition aufrecht zu erhalten, die in Magdeburg beinahe verschwunden war.

134

Apropos 11. November, wie genau sieht der bei Euch aus? Zwischenzeitlich war es so, dass wir den 11. November nur noch intern feierten, alle zusammen in unserer Stammkneipe. 2017 waren wir wieder öffentlich präsent und zogen durch die Stadt. Die Jahre d ­avor hatten wir einen Stand auf dem Unigelände, wo wir Waffeln und Glühwein verteilten. So versuchten wir, auf uns aufmerksam zu machen. Mit dem Umzug gelang uns das dieses Jahr besser. Wie bist Du denn auf den Verein aufmerksam geworden? Durch eine Jungentanzgruppe. Die Choreografin, eine ehemalige Klassen­ kameradin, fragte mich, ob ich Lust hätte mitzumachen. Dadurch kam ich überhaupt erst ­ zum Karneval und es machte mir Spaß. Der Verein stand damals kurz vor der Auflösung. Aber wir versuchten es nochmal und langsam ist auch ein Aufwärtstrend erkennbar.

Um welche Tanzgruppe handelt es sich? Um die Boygroup. Viele kennen vielleicht das Männerballett. Ältere ­Herren oder Männer mit Bäuchen, die in Frauenklamotten tanzen. In der Boygroup sind wir jedoch ­jüngere Vertreter und es ging auch mehr in Richtung professioneller Tanz. Da es etwas Besonderes sein sollte, ziehen wir uns dabei à la Chippen­dales aus. Die ersten


Patrick Mรถhring

135


Patrick Möhring

Male hatte ich noch Bammel, da es sehr ungewohnt war und tanzen eigentlich auch nicht so mein Ding ist. Mittler­­ weile habe ich keine Hemmun­ gen mehr, mich vor hunderten Leuten zu entkleiden.

Beschreib doch mal Deine erste Begegnung mit dem Karneval. In der Grundschulzeit kannte ich es eher unter dem Begriff Fasching. Da unterschied ich das noch, obwohl es das Gleiche ist. Zum richtigen Karneval kam ich erst nach der Schulzeit, als ich bei der Tanzgruppe anfing. Zuvor war es nur das Verkleiden, was erst nicht so mein Ding war. Aber jetzt macht es mir Spaß. Wieso trittst Du einem Karnevalsverein bei, wenn verkleiden nicht Dein Ding ist? Das kam, nachdem ich schon zwei Jahre mitgetanzt hatte. Ich stand

136

ja selbst auf der Bühne und erlebte mit, dass die Leute nicht in Scharen ankamen. Wir bemühten uns, dass überhaupt jemand kam. Die Vereins­ mitglieder lernten wir dadurch besser kennen und ich trat dann ein. Wir versuchten das ganze Schiff wieder auf Kurs zu bringen. Der Karneval ist eine Tradition, die nicht so einfach fortgegeben werden darf. Das heißt, es gab mal eine Zeit, in der die Auflösung der Ottojaner anstand? Ja, vor vier Jahren. Das war der erste Karneval bei dem es hieß, dass wir danach wahrscheinlich aufhören, weil der Nachwuchs fehlt. In den Achtzigern und Neunzigern wurde der Karneval auch hier in Magdeburg sehr groß gefeiert. An einem Wochenende gab es bis zu vier Veranstaltungen, die alle ausverkauft waren. Das hat nachgelassen. Ob es


Patrick Möhring

an mangelndem Engagement oder zu wenigen Mitgliedern liegt, weiß ich nicht, aber wir sind wieder dabei uns etwas aufzubauen.

In den Achtzigern und Neunzigern wurde der Karneval auch hier in Magdeburg sehr groSS gefeiert. An einem ­Wochenende gab es bis zu vier ­Veranstaltungen, die alle ausverkauft ­waren.

Also geht es Euch eher um die Veranstaltung als um den Straßen­ karneval? Genau. Rosenmontag fahren wir zum Umzug nach Köthen. Um so etwas selbst zu organisieren, haben wir nicht genug Mannkraft. Wir belassen es momentan bei einer Veranstaltung im AMO Kulturhaus, das können wir stemmen. Das ist aber auch mehr Arbeit als vorher. Wir wollen jetzt zusehen, dass wir das AMO möglichst voll bekommen.

Kommen denn zum Umzug auch gezielt Leute aus Magdeburg? Gute Frage. Naja, es stehen sehr viele Leute an der Straße, aber wie viele da jetzt aus Magdeburg sind, weiß ich nicht. Ich persönlich ken-

ne ein paar Leute aus Köthen, die am Rosenmontag dorthin fahren. Außer­dem ist es ja auch kein Feiertag und die Leute müssen eigentlich arbeiten. Oft sind auch Köln und Düsseldorf immer noch beliebter, um den Karneval live mitzuerleben.

Ja, auch wegen der Kamelle. Was kann man denn bei Euch fangen? Wir haben große Säcke mit Bonbons. Vielleicht geben unsere Sponsoren auch noch Sachen, die wir runterschmeißen können. Auf dem Wagen haben wir natürlich auch alko­holische Getränke für uns. Teilweise sind auch befreundete Vereine mit auf unserem Wagen. Gommern zum Beispiel, die sind für ihren Gommeraner Gurkenschnaps bekannt. Das sind Besonder­ heiten, die, nicht runtergeworfen, aber runtergegeben werden. (lacht) Bei uns ist das nicht unbedingt so wie man es aus dem Fernsehen kennt, mit aufwendig gebastelten, satirischen Bildchen an den Wagen. Beim Umzug ist es eher so, dass Leute mit Treckern oder LKWs mit Hängern durch die Stadt fahren. Welche Altersklassen sprecht Ihr an? Beim Umzug sind viele Eltern mit ihren Kindern dabei. Bei unseren Veranstaltungen wollen wir natürlich möglichst viele Altersgruppen ansprechen. Die ältere Generation kommt zu uns, weil sie das Programm mögen. Deshalb ändern wir prinzipiell nicht sehr viel daran. Aber

137


Patrick Möhring

wir wollen natürlich auch Leute zwischen 20 und 40 Jahren ansprechen. Wir machen eben keinen, wie wir so schön sagen, Schunkelkarneval sondern Unterhaltungskarneval. Mit Tänzern, Akrobaten und anderen Nummern, aber aktuell ohne große Büttenreden. Wir hatten mal welche drin und die waren auch sehr gut. Auch wenn die letzten Veranstaltungen ohne auskommen mussten, sind in Zukunft wieder welche geplant. Trotzdem versuchen wir, in anderen Programmpunkten politische oder gesellschaftliche Probleme anzusprechen oder diese auch ein wenig in den Dreck zu ziehen. Denn das ist ja ein Ursprungsgrund für den Karneval. Wie hat sich Dein Privatleben verändert, seit Du dem Verein beigetreten bist? Im Vorstand zu sein heißt, viel lenken, organisieren und die

138

­rbeitszeiten danach planen. Ich A spiele auch noch Handball in einem Verein und oft hatte ich am Veran­ staltungstag auch ein Spiel. Da musste ich einen goldenen Mittelweg finden, um alles unter einen Hut zu bringen. Natürlich wollte ich auch meine Teamkollegen, Mitbewohner und Freunde motivieren mal vorbeizukommen, was schwierig ist, weil viele eigene Pläne haben. Aber 2018 haben wir kein Spiel und ich würde mich freuen, wenn ein paar Leute mitkommen. Wurde es Dir schon mal zu viel? An dem Punkt, dass es wirklich so weit ist, war ich noch nicht. (lacht) Es gibt Zeiten, wo manchmal viel zueinander kommt. Sport oder Anderes fällt dann halt mal aus. Der Karneval wird auch manchmal hinten angestellt, weil er eben nur ein Hobby ist. Aber ich setze mich abends hin, beantworte Emails


Patrick Möhring

oder organisiere noch was, so viel Priorität hat er dann doch. Mir ­ macht das Ganze ja auch Spaß.

Wie begeistert sind die Magdeburger denn vom Karnevals­ treiben? Also wahrscheinlich fehlt einfach das Interesse oder vielleicht auch das Wissen, auch bei den Studenten, obwohl wir immer noch ein Studenten­karnevalsverein sind. Auch aufgrund von mangelnden Werbemaßnahmen geriet das alles ein bisschen in den Hintergrund. Wir hoffen, dass wir durch unseren neuen Sponsor, dem Betreiber des FCM-Fanshops, mehr Anklang und Aufmerksamkeit bekommen. Prinzipiell ist das Magdeburger Publikum ja nicht abgeneigt. Das sieht man an anderen Veranstaltungen wie den Mückenwiesen. Unsere Veranstaltung hat sich auch schon rumgesprochen, aber der erste Anstoß fehlt noch.

Karneval führt ja auch zum Fasten hin. Machst Du das auch? Nein. (lacht) Dazu bin ich dann doch nicht Karnevalist genug. Den ­Glauben habe ich auch nicht. Also mir fehlt dazu die Grundlage.

Hast Du einen Geheimtipp, um in Magdeburg richtig gut essen zu gehen? Um die Leiterstraße herum finde ich es recht interessant. Am Domplatz oder eher in den Gebäuden davor sind auch zwei sehr gute Steakhäuser. Der Bereich vom Hassel­ bachplatz bis zum Uniplatz hat viele Restaurants, die gutes Essen anbieten. Teilweise auch für einen guten Preis. Ich würde mich nicht auf eins festlegen wollen. Wenn es um Restaurantbesuche geht, dann möchte ich immer mal ein bisschen Abwechslung haben. Dezember 2017

Vista.Schon? Patrick Möhring wurde 1990 in Magdeburg geboren und ist in Barleben aufgewachsen. Er studierte an der Otto-von-Guericke-Universität und machte dort seinen Master zum Wirtschaftsingenieur. Derzeit arbeitet er in einem Ingenieur-und Sachverständigenbüro in Magdeburg. Seit ungefähr sechs Jahren ist er Mitglied der Ottojaner und mittler­weile auch der Stellvertretende Präsident des Karnevalvereins. Ein weiteres Hobby ist für ihn der Handball, weshalb er für den FSV 1895 Magdeburg spielt. Magdeburg ist für ihn ›die ­Heimat‹, grün und anders. Sein liebster Ort ist der Stadtpark.

139


Julia Hohn

»am ende sollte man aber immer noch aus liebe heiraten« Hochzeitsplanerin in Magdeburg und Umgebung, Traurednerin, Schöffin, Mutter zweier Kinder und ein wahres Energiebündel. Die Dreißigjährige ist viele Umwege gegangen, bis sie ihr Unternehmen Die Hochzeitswerkstatt im Jahr 2013 ›spontan‹ gegründet hat. In Ihrer Selbstständigkeit blüht sie auf. INTER.VISTA verriet das toughe Magdeburger Original, wie ihr Heiratsantrag aussah und wo man am schönsten in Magdeburg heiraten kann. Außerdem erfahren wir mehr über die verrückteste Hochzeit, die sie geplant hat und welche Zeremonie bei ihr Gänsehaut auslöste. Interview und Fotos: Kyra Bartel



Julia Hohn

Was ist Glück für Dich? Wenn ich an der Ostsee stehe, das Wellenrauschen höre und die Augen schließe, in diesem Moment weiß ich, dass ich sehr glücklich bin. Pures Glück. Und glücklich bin ich jeden Tag darüber, dass ich und meine Familie gesund sind.

Ist die Elbe Dein kleiner Ostsee-­ Ersatz hier in Magdeburg? Definitiv. Die Elbe ist wirklich sehr schön und man kann dort so viel Zeit verbringen. Dort zu sitzen, zu liegen, zu grillen ist auf jeden Fall ein Trost. Welchen Ort an der Elbe hast Du besonders gern? Am liebsten bin ich am Kleinen Stadtmarsch auf dem Werder, das ist hinter dem Wasserstraßen­ verkehrsamt. Dort kann man bis zur Spitze gehen und hat auf der linken Seite die Elbe und rechts dann den Yachthafen.

Du bist gebürtige Magdeburgerin, Dein Mann ist aus Wernigerode hierher gezogen. Warum war Dir das so wichtig? Ich habe meine Familie und Freunde hier. Für mich stand es außer Frage, hier wegzuziehen.

Du hast viel ehrenamtlich gearbeitet. Was hast Du gemacht und was hat Dir das gegeben? Ehrenamtlich war ich in der ­Kinderund Jugendarbeit tätig und organisierte dort Projekte. Das Kennen­

142

lernen verschiedener Personen, der Austausch und das Gefühl, etwas Gutes zu tun, das hat mir auf jeden Fall sehr viel Menschliches gegeben. Das stand für mich im Vordergrund, auch heute noch.

Insgesamt kosten die Hochzeiten mittlerweile so viel wie ein Kleinwagen. Du hast eine Ausbildung als Rechts­anwaltsfachangestellte ge­ macht. Das hat wenig mit dem zu tun, was Du jetzt machst, oder? Meine halbe Familie arbeitet am Gericht. Ich beschloss, ich lerne was solides, was ich gegebenenfalls noch gebrauchen kann. Schnell stellte ich aber fest, dass es nicht das ist, was ich möchte, da man jeden Tag ­stupide das Gleiche macht.

Du hast dann nochmal umge­ sattelt auf Journalismus. Wie kam es dazu? Das hatte ich schon im Kopf seit ich 16 Jahre alt war. Schreiben hat mir damals Spaß gemacht. Durch Zufall kam ich dann zu urbanite, was jetzt Nachtleben MD heißt, und fing an zu schreiben. Relativ schnell ging es dann zur Volksstimme, bei der ich jahrelang für die Jugendredaktion gearbeitet habe.


Julia Hohn

Du bist jetzt Hochzeitsplanerin und Freie Rednerin. Wann kristallisierte sich bei Dir der Wunsch heraus, anderen den ›schönsten Tag ihres Lebens‹ zu bescheren? Ich habe 2008 meinen Mann kennen­gelernt und schnell gemerkt, dass er der richtige Partner für mich ist. Manchmal hat man das ja im Gefühl. Dann hat´s aber noch ein bisschen gedauert, bis ich meinem Mann 2012 einen Antrag gemacht habe. 2013 wurde dann geheiratet. Eigentlich hatte ich 2010 schon die Idee, aber ich war hochzeits­ technisch ja noch sehr unerfahren. Später passte es dann ganz gut. Ich war frisch ver­ heiratet und schrieb dann binnen vier Wochen den Business­plan inklusive Markt­

analyse und Fünfjahresplan. Man hat ja am Anfang relativ viele Hürden zu überwinden.

Du bist eine ziemlich toughe Frau und hast Deinem Mann den ­Heiratsantrag gemacht. Wie hast Du das angestellt und wie war seine Reaktion? Ich bereitete ein Puzzle mit einem Foto von meinem Mann und unserer Katze vor, was ich schon eine Weile im Schreibtisch hatte. Auf einer Veranstaltung traf ich ein Paar und die Dame erzählte mir, dass sie schwer an Krebs erkrankt ist und ihr Mann immer für sie da ist. Mir ging das sehr ans Herz, auf dem Heimweg ­kamen mir dann auch die Tränen. Ich dachte an meinen Mann und dass

143


Julia Hohn

er derjenige ist, der immer ­hinter mit stehen würde. Zuhause habe ich dann das Puzzle aus meinem Schreibtisch genommen und ihn puzzeln lassen. Nach scherzhaftem Geplänkel hat Christoph dann »Ja« gesagt. Er hat sich später mit einem Antrag bei einem Candle-Light-­ Dinner revanchiert.

Welche Argumente sprechen für eine Heirat? Auf jeden Fall eine gewisse Ab­ sicherung und Vorsorge. Heiraten ist eine Modeerscheinung geworden. Vieles wird mittlerweile nur für die ­ Sozialen Medien gemacht. Da werden besondere Blumen­ arrangements angefertigt für einen Wow-Moment bei Instagram. Insgesamt kosten die Hochzeiten mittlerweile so viel wie ein Kleinwagen. Am Ende sollte man aber immer noch aus Liebe heiraten.

Ist es ein Problem unserer Zeit, dass Hochzeiten kommerzialisiert werden? Ja, definitiv. Ich hatte Gott sei Dank in meinen fünf Jahren als Hochzeitsplanerin nur Paare, die aus Liebe heirateten, aber ich schließe nicht aus, dass es Paare gibt, die nur aufgrund dieses Wow-Effektes heiraten. Eine Ehe ist auch mit Pflichten verbunden. Man verspricht sich lebenslange Treue und dafür muss man arbeiten. Ich mag den Begriff ›der schönste Tag im Leben‹ nicht, weil man ja noch nicht weiß,

144


Julia Hohn

ob es in 20 Jahren nicht einen noch schöneren geben wird.

Wie viele Paare betreust Du inner­halb eines Jahres? Für nächstes Jahr habe ich schon acht Paare. Aktuell expandiert mein Unternehmen, so dass ich n ­ ächstes Jahr jemanden einstellen muss. Ich setze auf Qualität und nicht auf Quantität, deshalb brauche ich nächstes Jahr dringend Hilfe. Bist Du den ganzen Tag bei der Hochzeit eines Paares dabei? Ja, ich plane mit dem Paar über Monate hinweg die Hochzeit und da muss ich natürlich da sein, um alles zu koordinieren. Zudem bin ich Ansprechpartner für alle Dienstleister vor Ort, damit diese nicht jedes Mal zum Brautpaar rennen, wenn etwas zu besprechen ist. Ich biete einen Rundumservice, damit meine Paare loslassen und den Tag genießen können. Nichts ist schlimmer als ein Brautpaar, welches gestresst ist, das merken auch die Gäste. Aber man darf sich das nicht so wie in Filmen vorstellen, dass ich den ganzen Tag mit Headset rumrenne.

Gibt es Paare, die etwas ganz Verrücktes für ihre Hochzeit haben wollen? Ja, da fällt mir eins ein, die ein ganz interessantes Motto hatten: eine ­Elfen- und Kobold-Hochzeit. Das war wirklich sehr speziell. Wir richteten von der Deko über die Einladungs-

karten alles danach aus. Selbst wenn die Gäste bei den Hotels angerufen haben, mussten sie das Passwort Elfen- und Kobold-Hochzeit nennen. Am Ende war es eine super schöne Hochzeit mit sehr viel Blumen und zahlreichen individuellen Details. Wie lange arbeitest Du mit einem Brautpaar zusammen? Mit genanntem Brautpaar habe ich 220 Stunden zusammengearbeitet, das ist aber schon sehr viel. Minimum benötige ich 130 Stunden.

Heiraten ist eine Modeerscheinung geworden. Vieles wird mittlerweile nur für die Sozialen Medien gemacht. Hättest Du Deine Hochzeit 2013 von einer anderen Person planen lassen? Meine eigene Hochzeit würde ich jetzt gar nicht planen wollen, weil ich zu viel weiß und bedenken würde. Wir luden damals einfach unsere Familie und Freunde ein. Es war einfach locker leicht und für uns sehr schön.

Du bist auch Traurednerin. Warum hast Du Dein Angebot erweitert? In erster Linie macht es sehr viel Spaß, die Paare intensiv kennenzu-

145


Julia Hohn

lernen. Hinzu kommt, dass ich durch meine journalistischen Tätigkeiten durchaus ein Händchen dafür habe, die richtigen Worte zu finden, um ein Paar emotional zu berühren. Ich möchte herausstellen, dass jedes Paar individuell ist, deshalb lasse ich mir auch immer ein spezielles Ritual einfallen. Dabei kommt mir meine Kreativität zugute. Du bist Jugendschöffin am Landgericht. Wie bist Du dazu gekommen? Ich habe mich ganz normal beworben. Den rechtlichen Hintergrund erlangte ich durch meine Aus­bildung und da ich viel in der Kinder- und Jugendarbeit tätig war, wurde ich zur Jugendschöffin gewählt. Mir macht das Spaß, aber man kommt auch in Situationen, in denen man in Abgründe schaut, da wir uns ja nicht nur mit Diebstahl und Erpressung, sondern auch mit Sexualdelikten befassen müssen.

Braucht man als Schöffenanwärterin zwingend einen rechtswissenschaftlichen Hintergrund für die Ausübung dieses Amtes? Es ist schon von Vorteil, da einem manche Dinge noch eher einleuchten. Aber der Gesetzgeber verlangt das nicht. Wie oft kommst Du als Schöffin zum Einsatz? Unterschiedlich. Letztes Jahr wurde ich kein einziges Mal eingesetzt, im ersten Jahr hatte ich dafür zehn Verhandlungen. Aber das ist immer davon abhängig, in welche Kammer man kommt. Welchen Ort würdest Du in Magdeburg zum heiraten empfehlen? In Magdeburg ist das schwierig, aber letztes Jahr hatte ich eine Hochzeit im Herrenkrug-Hotel. Das war schon ein Highlight. Eines meiner Paare aus 2014 hat im Dom geheiratet, das macht schon richtig Gänsehaut. Zur Feier ging es dann auf ein Schiff der Weißen Flotte. Juli 2018

Vista.Schon? Julia Hohn, geboren 1988 in Magdeburg, war Rechtsanwaltsfachangestellte, später ­Journalistin. Heute ist sie Hochzeitsplanerin und Traurednerin. Im März 2013 gründete sie ihr Unternehmen Die Hochzeitswerkstatt und führt dieses heute sehr erfolgreich. Die ­gebürtige Magdeburgerin hätte ihren Heiratsantrag am liebsten auf dem Empire State Building in New York gehabt. Zu Magdeburg fallen ihr spontan die Begriffe Heimat, Elbe und ›altbacken‹ ein.

146


Julia Hohn

»Ich trage emotionalität nicht jeden tag vor mir her.« Wer hat's gesagt?

Lutz Trümper, Ausgabe 2

Lösung:

Das ganze Interview gibt es auf www.inter-vista.de 147


Die redaktion Adele Helfrich

Anna Kaiser

Bashir Swabury

Bjรถrn Reckmann

Felizia Maertens

Florina Ademi

Kyra Bartel

Franziska Peinelt

Lara-Sophie Pohling

Leon Fischer

Marco Starkloff

Marvin Michitsch

Nele Wlodasch

Sophie Traub

Arlette Krickau

Uwe Breitenborn


Projekt- und Produktionsleitung Dr. Uwe Breitenborn, Arlette Krickau Redaktion und Autoren der Ausgabe Adele Helfrich, Anna Kaiser, ­Bashir ­Swabury, Björn Reckmann, Nele Wlodasch, Felizia ­Maertens, ­Lara-Sophie Pohling, Florina A ­ demi, ­Franziska Peinelt, Kyra ­Bartel, Leon ­Fischer, Marco Starkloff, Marvin Michitsch, Sophie Traub Satz und Layout Marco Starkloff, Jana Bierwirth Lektorat Sophie Traub, Marvin Michitsch, Franziska Peinelt Korrektorat Sophie Traub, Lara-Sophie Pohling, Katharina Gebauer, Rosalie Henkel

Bildbearbeitung Juliane Schulze, Marco Starkloff, Florina Ademi Redaktionsfotos Axel Fichtmüller Coverfoto Herbert Beesten Foto: Florina Ademi und Kyra Bartel Online publiziert auf www.issuu.com www.inter-vista.de INTER.VISTA Nr. 6 | November 2018 Redaktionsschluss: Oktober 2018 Ein Projekt von Studierenden des BA Journalismus FB Soziale Arbeit, Gesundheit und Medien Hochschule Magdeburg-Stendal Breitscheidstraße 2, 39114 Magdeburg www.hs-magdeburg.de


Inter.Vista Wer hat’s gelesen?

www.inter-vista.de Facebook.com/inter.vista.md Instagram.com/inter.vista

Inter.Vista Magdeburger im Gespräch. Nah. Persönlich. Echt.

Inter.Vista Magdeburger im Gespräch.

Nah. Persönlich. Echt.

Inter. Vista maGDeburGer im GesprÄch.

Nah. persöNlich. echT.

Inter. Vista Magdeburger iM gespräch.

Nah. persöNlich. echt.

#4

reinhard bolewski · Flavia hollburg Wulf gallert · lars Johansen christian rathmann · thomas Kluger ulrich Wickert · Matthias Musche sebastian rätzel · Jana Majewski reginald richter · christoph schödel Nils Klebe · christoph Volkmar · andy lotz Wolfram stäps · gina Maria Mund

01/16

St epha n Michme - Fra nziska Hentk e - Thomas Webel - Maurice Gajda N ad ja Gröschner - Fra nk Hengstmann - Danni Nowick i und andere

Inter. Vista Magdeburger im Gespräch.

Nah. Persönlich. Echt.

#5 Gabriele brakebusch kNuT braNDsTÄTTer maTThias marGGraFF siGriD Jaspers Dirk klocke VarG köNiGsmark marco roTTe reiNer haseloFF WolFGaNG heckmaNN eNrico oTTersTeiN coNraD eNGelharDT marTiN müller GerharD FeiGe reGiNa mosT kai perreT Nils buTzeN loThar schirmer rolaND Jeske

lutz trümper - täve schur - rayk weber - karl gerhold - maik franz carmen niebergall - phil hubbe - bernd heynemann - uvm. 02/16

#3

Carola Ackermann . Kathrin Beyerling . JÜrgen Canehl . Claudia Dalbert . Frank Ebel . Matthias Engel . Ines Lacroix . Anne Lequy . Madeleine Linke . Gerhard Mette . Gordon Motsch . Benjamin Motzkus . Martin Otto . Elisabeth Pfeif . JÜrgen SchmÖkel . Andreas Schomaker . Andreas Schwarzbach . Norman Seidler . Christina Karina Wilczek und

Susi Brandt


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.