INTER.VISTA 7

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»NICHT SO VIEL REDEN, MEHR MACHEN.«



Bye Bye INTER.VISTA Das Inter.Vista-Team hat mächtig geackert, um diese finale Ausgabe bis zum Frühlingsanfang fertigzustellen. Ihr sollt ja was zum Lesen haben. Wie immer gibt es auch ein paar Neuerungen, diesmal vor allem in der Bildgestaltung. Ansonsten wisst Ihr ja schon, was Euch erwartet: spannende Interviews mit Frauen und Männern, die sich in Magdeburg engagieren. Die Liste unserer 23 Gesprächspartner hat es wieder in sich: ein ehemaliger Bürgermeister, eine Theater­inten­ dantin, Politiker, der Mannschaftsarzt des 1. FCM, eine Kneiperin, Biker, engagierte Unternehmerinnen, eine Poetry-Slammerin, die MVB-­G eschäftsführerin und und und. Dies ist vorerst die letzte Inter.Vista-Ausgabe, da unser Dozent Uwe ­B reitenborn die Hochschule verlässt. Damit geht etwas zu Ende, das für uns immer mehr war als ›nur‹ ein Hochschulprojekt. Seit 2015 wurde hier ein Format entwickelt, das weit über Magdeburg hinaus wahrgenommen wird. Bei Inter.Vista wurde nichts simuliert, es ging immer um professionelle Interviews in einem coolen Format. Im November 2018 gab’s für Inter.Vista daher auch den Lehrpreis. Das finden wir gut! Bis Januar 2019 wurden insgesamt 160 Interviews durchgeführt, wovon mit Ausgabe Nr. 7 nun 122 publiziert sind. Auf unserer Webseite www.inter-vista.de sogar noch mehr. Das Inter.Vista-Universum ist mit den SAG.NIX- und SAG.FIX-­ Produktionen auch auf den Social-Media-Kanälen außerordentlich ­p räsent. Diese Interviewformate sind mittlerweile ein eigenständiger Produktions­k osmos. Das alles bleibt erhalten und wird auch noch eine Weile fortgeführt. Auf der Webseite gibt’s eine Inter.Vista-­ Dokumentation als Clip und auf Seite 128 findet Ihr im FAKTEN.CHECK noch ein paar imposante Zahlen. Und das war’s dann erstmal von uns. Bleibt lässig und uns gewogen. Euer Inter.Vista-Team

VORWORT 1


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Karen Stone »Gerade für dieses Ensembletheater blutet mein Herz.«

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Kristian Reinhardt »Magdeburg war schon immer ein bisschen Uniformstadt.«

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Luise Wenke »Mir ist das am Ende Wurst.«

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Bernd kaufholz »Stillstand ist Rückschritt.«

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Cornelia Lüddemann »Wir haben auch schon mal bei Amazon bestellt.«

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Roland Bach »Ich bin einfach kein Selbstdarsteller.«

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Paula Günnisdóttir »Blut kann ich wirklich nur im echten Leben sehen.«

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Wilhelm Polte »Ich war schon in jungen Jahren ein politisch interessierter Mann.«

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Sarah Werner »Ich hasse Hashtags.«

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Robert Komnick »Dreifarbige Katzen sind immer weiblich.«

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Silke Grunert »Geschrien wird hier nicht.«


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Oliver Poranzke »Ich trage quasi meine Geschichte auf der Haut.«

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Valerie Schmitt & Alexander Wassilenko »Hip-Hop ist ein historischer Big Bang!«

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Falk Wiedemann »Zuerst hatte ich eine Honda, dann eine Kawasaki, dann kamen die Kinder.«

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Kerstin Kinszorra »Kill ’em with kindness.«

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Burkhard Lischka »Bei vielen sind wir im Augenblick nur die ­Zweitliebsten.«

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Jennifer Stein »Ich bin nicht unbedingt der Brausetyp.«

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Julius Brinken »Muss es wirklich Malle sein?«

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Karin Meyer »Tiere sind ja auch bloß Menschen.«

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Alexander Kusserow »Jeder kann hier so ein bisschen seine ­Leidenschaft vertiefen.«

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Birgit Münster-Rendel »Manchmal fahren wir einfach weiter.«

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Matthias Nawroth »Konkurrenz gibt es grundsätzlich nicht, nur Mitbewerber.« Redaktion

Inhalt


KAREN STONE

KAREN STONE »Gerade für dieses Ensembletheater blutet mein Herz.« Als Generalintendantin zieht sie die Fäden des Theaters Magdeburg. Im Interview mit Inter.Vista spricht Karen Stone darüber, wie sie nach Sachsen-Anhalt kam, die Stadt Magdeburg lieben lernte und die Bewerbung zur Kulturhauptstadt unterstützt. Außer­dem erklärt sie in ihrem Büro, hoch über der Bühne, worin sich die Millionen­metropole Dallas und Magdeburg ähneln und welche Pläne sie für ihren absehbaren Ruhestand hegt. Interview: Kevin Gehring | Fotos: Lara-Sophie Pohling

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KAREN STONE

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KAREN STONE

Ihr neuestes Stück feierte am Samstag Premiere. Wie erging es der Vanessa? Vanessa ist ein wunderbares Werk. Ich liebe es. Ich kenne diese Musik seit meiner Jugend und habe mich sehr gefreut, dieses selten inszenierte Stück selbst auf die Bühne zu bringen. Und diese Vanessa blüht und gedeiht und ist sehr gut angekommen.

Wie verlief die Premiere aus Ihrer Sicht? Es ist immer sehr schwer. Man sitzt in einer Premiere und kennt jedes Detail. Man kann sich nicht entspannen und einfach nur das Stück anschauen. Es ist ein wenig wie bei Eltern und Kindern. Sie haben in Ihrer Laufbahn schon viele Stücke inszeniert. Wie groß ist die Aufregung vor einer ­Premiere? Ich bin mittlerweile mehr aufgeregt für meine Darsteller. Wir sind ein Ensembletheater und haben viele junge Sänger, die Rollendebüts geben. Dabei singen sie oft an der Grenze ihrer Möglichkeiten. Man will einfach, dass sie so sicher sind, dass sie mit großer Freude auf­ treten. Man bangt dabei mehr um sie, als um sich selbst.

Bei Ihnen ist also keine Auf­­regung dabei? Natürlich hofft man, dass technisch alles gut läuft. Die Aufregung kommt

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bei mir, wenn ich merke, dass jemand auf der Bühne unsicher ist. Das macht mir Sorgen.

Sie sind in London aufgewachsen und waren danach eine Zeit lang in Rom. Wie war Ihre Kindheit? Ein ganz großes Glück. Wir wohnten in den sechziger Jahren in London Chelsea. Das war eine Ecke, in die damals die gesamte Welt wollte. Ein Pilgerort für junge Menschen. Dort zu leben war ein großer Luxus. Ich genoss das sehr. Wir waren am Anfang einer ganzen Bewegung, in der junge Menschen erstmals Geld in ihren Taschen hatten. Wir konnten rausgehen in eine fantastische, vibrierende Clubszene mit toller Musik und Open-Air-Konzerten. Damals in London gewesen zu sein, war herrlich. Also war Ihre Kindheit schon musi­kalisch geprägt? Enorm.

Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie Ihr Leben der Musik widmen wollen? In der Schule war ich als Elfjährige in einem Projekt namens Youth and Music und da gingen wir in die Oper. Ich war von Anfang an begeistert. Es sprach mich sofort an. Ich fing dann an, Klavier zu spielen, Gesang, Musiktheorie und Komposition zu lernen. Parallel zur Schule war ich auf dem Royal College of Music. Für mich war es dann selbstverständ-


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»40 Prozent meiner Gene kommen aus Norddeutschland.«

lich, dass mein Leben der Musik gehört. Ich hatte gefunden, was mir am meisten Spaß macht. Sie sind dann als Sängerin das erste Mal nach Deutschland ge­ kommen. Genau. Ich habe gesungen und Klavier gespielt. Damit bekam ich in Hagen einen dieser herrlichen Verträge, mit dem man in den großen Werken im Chor singt und sonst viele kleinere Solo-Rollen spielt. Damit lernte ich Deutsch und begann meine Karriere.

Ich weiß, das Lernen der deutschen Sprache war anfangs ­ nicht leicht. (lacht) Ich habe überhaupt kein Wort Deutsch gesprochen. Das hat die Regisseure ziemlich gefordert.

Als Sängerin sind Sie dann lang­ sam in die Regie gerutscht? In Hagen interessierte ich mich immer mehr für die Regie. Ich ging dann nach Frankfurt am Main und hatte dort als Schauspielerin in der Oper viele kleine Rollen. Zu der Zeit war Frankfurt der Ort schlechthin

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für Regietheater. Da haben alle Großen gewirkt. Damals bat ich immer darum, bei den anderen Proben dabei sein zu dürfen. Der damalige Intendant und Chefdramaturg half mir sehr, diesen Schritt zu machen, indem er mir eine Empfehlung gab. Es war damals schwierig, überhaupt zu erfahren, wo es Vakanzen für Regieassistenten gab. Und viele Frauen waren auch nicht in dieser Position tätig. Mit seiner Hilfe kam ich an eine Stelle in Freiburg im Breisgau.

Hatten Sie für Regie ein Talent oder war es harte Arbeit? Ich war begeistert. Wenn jemand für etwas begeistert ist, egal ob Fußball oder Oper, dann spüren das die Leute. Sie merken, dass du etwas unbedingt willst und geben dir eine Chance. Damals gab es auch kein strenges Arbeitszeitgesetz. Es war normal, 16 bis 17 Stunden im ­Theater zu verbringen und das hat mir Spaß gemacht. Half Ihnen dabei die Erfahrung als Schauspielerin? Absolut! Wer selbst einmal auf der Bühne stand, weiß, wie schwer es ist. Man versteht sehr gut, wie man jemandem helfen kann, das Beste herauszuholen und sich auf der Bühne wohlzufühlen. Man fängt ja an, in eine Rolle hineinzuschlüpfen, sich in sie hineinzuversetzen. Du fühlst dich freier auf der Bühne, weil du in diesem Moment diese Person

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bist. Das musst du den jungen ­Leuten vermitteln.

Sie waren in Freiburg, London, München, Köln, Graz und Dallas fest angestellt. Wo hat es Ihnen am besten gefallen? Am Anfang in Freiburg, einfach weil es meine erste Stelle war, die mich begeisterte und die ich liebte. Natürlich gefiel es mir auch sehr gut im Royal Opera House in London. Dort Wiederaufnahmen zu inszenieren mit Darstellern wie Placido Domingo und anderen Weltstars, mit einem riesigen Chor und den besten Dirigenten, war eine große Freude. Jeder Ort hatte etwas, das mich begeisterte. Dann will man einfach selbst Intendantin werden und alles, was man super findet, im eigenen Theater zusammenbringen. Meine erste Intendanz in Graz war natürlich fantastisch oder die Funktion als erste Operndirektorin in Köln. Das war alles wunderbar. Meine Zeit in Amerika im neu­gebauten Winspear Opera House von Stararchitekt Lord Foster war ebenfalls sehr schön. In Dallas fehlte mir aber das Ensemble­ theater, also die Arbeit mit jungen Menschen und eben ein Ensemble im Repertoire zu haben. Deswegen entschied ich mich, dort nicht zu bleiben. Ich kam zurück und fand das Theater in Magde­ burg. Hier kann ich alles machen. Am Ende des Tages, und das sage ich bewusst, sind die Jahre in Magdeburg die besten für mich.


KAREN STONE

Und welche dieser vielen Statio­ nen prägte Sie am meisten? Das Royal Opera House Covent ­Garden in London. Dort habe ich viele Stücke zum ersten Mal mit Starbesetzung, besten Dirigenten und höchster Qualität erlebt. Das setzt die Latte für ein ganzes Leben schon sehr hoch.

Sie kamen aus der Millionen­ metropole Dallas ins beschau­ liche Magdeburg. Wie war dieser Tapeten­wechsel? Natürlich ist Dallas eine faszinierende Stadt. Es gibt viele Szenen für Musik und Kunst. Mir pesönlich fehlte die unmittelbare Arbeit mit einem Ensemble. Das ist sowieso eine Rarität, die es nur im deutschsprachigen Raum, insbesondere in Deutschland gibt: dieses Repertoire an Ensembletheatern. Die Deutschen nehmen das einfach so hin. Mein Gott, ich bin in Bielefeld, Münster, Magdeburg – und natürlich gibt es ein Theater! Das ist absolut nicht natürlich. Das ist sensationell. Gerade für dieses Ensembletheater blutet mein Herz. Ich liebe es. Dallas und Magdeburg sind ja doch sehr unterschiedlich. Ich liebe auch diese Stadt. Um ehrlich zu sein, wenn man sechs Wochen hintereinander Tempera­ turen von über 40 Grad und eine Luftfeuchtig­ keit von 100 Prozent hat, ist man froh, im Winter in Magde­ burg zu sein. (lacht) An Magde­burg mag ich,

dass es sehr grün ist. Ich liebe den Rotehornpark und die Elbe. Was mir hier, ähnlich wie in Dallas, noch sehr gut gefällt: Es ist eine Aufbauzeit. Wir leben hier nicht in der Vergangenheit, sondern versuchen nach vorne zu schauen. Diese Energie ist vergleichbar mit der in Dallas. Dort war es damals die Prozedur, ein neues Opernhaus zu bauen und ein Arts District zu gründen. Alle haben nach vorne geblickt. Den Gedanken, dass Kunst und Kultur zum Erfolgskonzept einer Stadt gehören, sehe ich hier im Stadtrat ebenso. Die Bewerbung zur Kulturhauptstadt 2025, das sind Sachen, die sich schon ähnlich sind.

»Damals in London gewesen zu sein, war herrlich.«

Sie waren auf der anderen Seite des Ozeans. Wie kam der Kontakt mit Magdeburg zustande? In Dallas bekam ich eine Vertragsverlängerung angeboten und habe mit mir gerungen, ob ich sie annehme. Ich verschob die Entscheidung immer weiter und entschloss mich dann, nicht zu verlängern. Auf der Suche nach etwas Neuem wurde ich damals hinsichtlich verschie­ dener Positionen angesprochen, denn ich war zu diesem Zeitpunkt schon ein bisschen bekannt. Jemand

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hat mich dann auf Magdeburg aufmerksam gemacht und ich bewarb mich einfach. Ganz banal und regulär. Es waren, wie ich hörte, ins­ gesamt 70 Kandidaten und ich bin es geworden.

Mittlerweile ist es Ihr zehntes Jahr in Magdeburg. Was war die größte Veränderung im Theater? Als ich kam, war die langfristige Finanzierung des Theaters unsicher. Wir haben 440 Festangestellte im Haus, 80 Prozent unseres Jahres­ etats gehen in Personalkosten. Dort können wir nur sehr schwer sparen oder etwas ändern, weil wir viele unkündbare Tarifverträge haben. Deswegen ist ein langfristiger Finanzplan am wichtigsten. Vor kurzem unterschrieben wir einen neuen Vertrag mit der Stadt und dem Land für eine fünfjährige Finanzierung. Er ist nicht üppig, man kann immer mehr brauchen, aber er gibt uns Planungssicherheit.

Sie haben Ihren Vertrag kürzlich bis 2022 verlängert. Wie kam es zu dieser Entscheidung? Als ich nach Magdeburg kam, ging man davon aus, dass Deutschland 2020 das nächste Mal mit der Europäischen Kulturhauptstadt dran sein wird. Durch eine Änderung der Richtlinien ist dies auf 2025 verschoben worden. In der Bewerbungsprozedur muss eine Präsentation abgegeben werden, was im September 2019 passiert.

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Die Auswertung dazu folgt dann im Dezember. Im Januar 2020 gibt es eine Shortlist und dann kommt 2022 erst die Entscheidung. Den Intendanten genau in diesem Zeitrahmen zu wechseln, wäre nicht klug ge­wesen. Deswegen fragte man mich, ob ich die Intendanz nicht noch bis zur endgültigen Entscheidung begleiten möchte. Das habe ich angenommen, weil ich es sehr gerne mache.

Unter uns: Hat Magdeburg über­ haupt das Zeug zur Kulturhaupt­ stadt? Die Entscheidung fällt oft nicht für Städte, die offensichtlich schon kulturell gut aufgestellt sind, sondern für die, die als Teil eines Erfolgsplans in Kultur investieren. Wenn eine Stadt glaubwürdig machen kann, dass die Investitionen in Kultur groß sind und eben diese Kultur lang­ fristig dafür sorgt, sie noch attraktiver zu machen, dann hat sie das Zeug. Genau das kann Magdeburg und deswegen sehe ich sehr gute Chancen. Inwiefern kann das Theater dazu beitragen? Wir haben uns sehr an der Analyse, wie es um die Stadt und die Kultur­ szene steht, beteiligt. Außerdem ist das Theater ein gutes Beispiel dafür, wie in Kunst und Kultur investiert wird. Wichtig für die Entscheidung ist auch, wie offen eine Stadt ist. Wir machen viele Koproduktionen mit anderen Ländern Europas und der


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Welt. Diese internationalen Verbindungen sind wichtig, weil sie zeigen, wie wir über Kultur nach außen gehen und wie wir andere Kulturen hier reinbringen, wie zum Beispiel mit unserem Ukraine-Gastspiel. Natürlich arbeiten wir jetzt auch schon an Projekten, die die Menschen bis 2025 und darüber hinaus an die Kultur binden sollen.

»Ich spüre eine spezielle Energie in Magdeburg, einen zukunftsorientierten Erfolgskurs.«

Wie sieht eigentlich der Alltag als Generalintendantin aus? Gibt es überhaupt einen? Nein. (lacht) Ich habe eine künst­ lerische Tätigkeit als Regisseurin für mindestens ein Stück pro Jahr. Das nimmt die meiste Zeit in Anspruch. Die langfristige Planung liegt auch beim Intendanten. Zum Beispiel die Frage, was wir im Jahr 2022 spielen wollen und wer das inszenieren soll. Dazwischen gibt’s noch die mittelfristige Planung. Zum Beispiel habe ich aktuell eine Sängerin, die hat einen großen Schritt gemacht und jetzt viele Verträge vorliegen. Die muss ich ersetzen. Gerade auch für zukünftige Rollen, für die sie schon fest eingeplant war. Dann kommen

noch die kurzfristigen Probleme. Von erfreulichen Nachrichten wie Schwangerschaften bis hin zu unerfreulichen Nachrichten wie Diszi­plinarproblemen oder banalen Krank­heiten. Man weiß nie, was am nächsten Tag hereinkommt.

Was macht Karen Stone, wenn Sie mal vom Theater-Business abschalten möchte? Karen Stone hat einen Hund namens Rogue, mit dem sie gerne spazieren geht, obwohl der arme kleine Kerl mittlerweile schon sehr alt ist. Sie geht gerne zum Kieser-Training. Sie spielt sehr gerne Bridge, was man zum Glück endlich auch online spielen kann. Sie liest enorm viel, recherchiert Sachen und hört gerne Musik. Fernsehen gehört nicht dazu? Ich habe keinen Fernseher. Wenn ich etwas schauen möchte, dann auf meinem Laptop. Als ich vor 25 ­Jahren irgendwann das dritte Mal hintereinander um drei Uhr nachts auf dem Sofa vor dem laufenden Fernseher aufwachte, dachte ich mir: Raus damit! Ich interessiere mich aber sehr für Politik und verfolge alles, sei es online oder in der Zeitung. Während Ihrer Zeit in Magde­burg wurden Sie deutsche Staats­ bürgerin. Wie kam es dazu? Der dumme Brexit, was denken Sie denn? (lacht) Ich habe die Zeit

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als EU-Bürgerin mit all diesen Vor­ zügen genossen. Ich möchte meinen Ruhestand gerne in Frankreich verbringen und hatte die Befürchtung, dass dies mit einem britischen Pass eines Tages nicht mehr so leicht geht. Darum bemühte ich mich um die deutsche Staatsbürgerschaft. Das war kompliziert, verbunden mit viel Papierkram und hat ein Jahr gedauert. Weil ich nicht in Deutschland studiert habe, musste ich noch einen Sprachtest ablegen und einen umfangreichen Test mit politischen Fragen absolvieren. Das überstand ich alles, so dass ich jetzt die ­doppelte Staatsbürgerschaft habe. Verfolgen Sie den Brexit noch? Enorm. Es ist ja nicht nur für Großbritannien ein Problem, sondern für alle. Allein wenn man schaut, was es für die europäische und deutsche Wirtschaft bedeutet. Das wird einen negativen Effekt für die gesamte EU haben. Das Ganze ist in meinen Augen dumm, aber wir leben in merkwürdigen politischen Zeiten. Der Brexit in Großbritannien, die AfD in Deutschland, Trump in den USA, diese absurde Regierung in Spanien, wo du in Katalonien für ein Referendum im Gefängnis landest. Ich bin froh, dass ich mit Trump an der Macht nicht mehr in Texas bin. Ich weiß nicht, ob ich das überlebt hätte. (lacht)

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Fühlen Sie sich mittlerweile als Deutsche? Ich sag immer, wir sind alle Angelsachsen. Ich bin sowieso fasziniert von der DNA und dem gemeinsamen Ursprung aller Menschen, wonach wir alle von einer Frau in Afrika abstammen. Ich habe einen Abstammungs-DNA-Test gemacht. Da­ mit kannst du zurückverfolgen, wo deine Vorfahren herkamen. Und was stellte ich bei mir fest? 40 Prozent meiner Gene kommen aus Norddeutschland. Wahrscheinlich habe ich mehr norddeutsche Gene als viele Deutsche, die hier leben. (lacht) Sie waren schon vor der Jahr­ tausendwende das erste Mal in Magde­ burg. Welchen Eindruck hat die Stadt damals hinter­ lassen? Das müsste so 1996 oder 1997 gewesen sein. Da gab es noch kein City Carré. Als ich aus dem Hauptbahnhof trat, war dort einfach nichts. Ich wollte den Dom besuchen. Damals sah ich, was 40 Jahre DDR mit dieser Stadt gemacht haben. Das war schon traurig. Darum ist es schön zu sehen, welche enormen Schritte Magdeburg seitdem gemacht hat.

Wie war das dann, als Sie den Job als Intendantin angenommen haben? Ich kam anderthalb Tage vor meinem Bewerbungsgespräch hierher,


KAREN STONE

»Am Ende des Tages, und das sage ich bewusst, sind die Jahre in Magdeburg die besten für mich.«

um die Stadt zu sehen. Ich recherchierte viel, um zu sehen, ob ich die richtige Person für diese Stadt bin und umgekehrt. Ich habe mich hier direkt wohlgefühlt. Wenn ich heute von einer meiner vielen Reisen nach Magdeburg zurückkehre, dann komme ich nach Hause. Ich spüre eine spezielle Energie in Magdeburg, einen zukunftsorientierten Erfolgskurs. Man spürt es beim Ober­ bürgermeister, beim Stadtrat. In vielen anderen Städten spürt man diese Energie nicht.

Magdeburg versteht sich seit jeher als Arbeiterstadt. Wie passt das mit Kultur zusammen? Wenn ich mit einem Zauberstab über Magdeburg wedeln könnte, dann würde ich bei den Bewohnern mehr Neugier für Kultur wecken wollen. Man merkt, dass es traditionell keine Stadt mit einem ausgeprägten Bildungsbürgertum ist. Da fehlt ab und zu die Freude auf etwas Neues. Das kann für uns in der Kultur manchmal ein bisschen frust-

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KAREN STONE

rierend sein, weil man sich doch ein neugieriges Publikum wünscht.

Werden Inszenierungen an die jeweilige Region angepasst? In jeder Stadt unterscheiden sie sich. Du spielst immer für ein regio­ nales Publikum in verschiedensten ­Theatern. Ich habe in Monte Carlo in einem Theater inszeniert, in dem es mehr Gold und Malerei nicht geben könnte. Da machst du eine etwas stringentere Produktion auf der Bühne, um das in der Balance zu h ­ alten. Bist du aber in Köln, im Theaterhaus von 1957, dann willst du etwas opulenter auf die Bühne gehen, um einen größeren Kontrast zur Nüchternheit zu schaffen. Natürlich ist auch die Publikums­ ­ erwartung von Ort zu Ort unterschiedlich. Sie haben eine sehr ausgefallene Vita. Gibt es irgendwas, das in Ihrem Leben zu kurz kam? Bridge spielen! (lacht) Ich hatte das große Glück, mit vielen tollen Menschen zu arbeiten. Ich sehe auf den großen Bühnen der Welt viele Sänger oder Dirigenten, denen ich eine Chance geben konnte. Das sorgt für eine große Zufriedenheit, weil ich weiß, dass ich geholfen habe, dass unsere Kunst weitergeht. Das finde ich sehr schön. Nur bei der Work-Life-Balance würde ich sagen, dass meine private Seite zu kurz kam. Deswegen freue ich mich auf meinen Ruhestand, wenn ich

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noch Energie und Kraft habe, diese Sachen nachzuholen.

Gibt es Wünsche, die Sie sich noch erfüllen wollen? Endlos! Es gibt viele Stücke, die ich nicht inszenieren konnte. Wenn irgendwo eine meiner Lieblingsopern aufgeführt wird, die niemand kennt, dann fahre ich dorthin und genieße sie. Sie haben bereits viele Länder erkundet und in ihnen gearbeitet. Welche Orte wollen Sie unbedingt noch sehen? Auch da gibt es viele. Wahnsinnig gerne würde ich den Trans-­CanadaZug nehmen und dann auf Pferden durch die Wildnis reiten. Oder nach Indien, besonders in die nördlichen Teile, und dort den Indus sehen. Das ist eine der Regionen, in denen die Zivilisation begann. Ich würde mich auch freuen, wenn im Iran und Irak mehr Frieden herrscht. Dort möchte ich auch gerne hinreisen, aber das geht aktuell leider nicht.

2022 läuft Ihr Vertrag aus. Ihrer Vorfreude auf den Ruhestand ent­ nehme ich, dass es danach nicht noch einmal weitergeht? Nein, das ist der endgültige Ruhestand. Natürlich habe ich für diese Zeit noch viele Projekte geplant. Ich arbeite aktuell schon daran, ein kleines Musik-Festival in Frankreich zu gründen und zu organisieren. Ich segle sehr gerne und träume davon,


KAREN STONE

über den Atlantik zu segeln. Und Bridge spielen. (lacht) Es gibt also genug zu tun.

Wie würden Sie ›die ­Magdeburger‹ beschreiben? Die Magdeburger brauchen Zeit, Vertrauen zu schenken. Egal ob Nachbarn, Zuschauer, Politiker, es braucht einfach alles seine Zeit. Die Menschen haben eine starke Arbeitsmoral, das spricht mich sehr an. Ich würde mir noch ein bisschen

mehr Alltagsfreude wünschen. Mehr Unkompliziertheit und Spontanität.

Ihr Lieblingsort in Magdeburg? Das ist der Fürstenwall. Dort sieht man fast 1.000 Jahre Magdeburger Geschichte. Du siehst das alte Fachwerkhaus und den Dom, das 18. und 19. Jahrhundert. Im Rücken hast du die Elbe. Du hast die Kiek-in-dieKöken-Tour. Das ist wie eine kurze Zusammenfassung von 1.000 Jahren Magdeburg. Januar 2019

Vista.Schon? In den sechziger Jahren im Londoner Szeneviertel Chelsea aufgewachsen, zeichnete sich bereits in ihrer Kindheit ab, dass Karen Stones Leben der Musik und dem Schauspiel gehört. Ursprünglich als Sängerin nach Deutschland gekommen, machte sich die Britin bald als Regisseurin einen Namen und inszenierte auf den großen Bühnen der Welt. Im Theater Magdeburg fand sie 2009 ein neues Zuhause. Seitdem sorgte sie nicht nur dafür, dass das Theater schwarze Zahlen schreibt und die Zuschauer begeistert, sondern unterstützte auch Magdeburgs Bewerbung zur Kulturhauptstadt 2025 maßgeblich. Dieses große Ziel war auch der Grund, warum sie ihren Vertrag kürzlich um drei Jahre verlängerte, ehe es 2022 in den wohlverdienten Ruhestand geht.


Kristian ReinhardT

Kristian ReinhardT »Magdeburg war schon immer ein bisschen Uniformstadt.« Ein Magdeburger Original. Kristian ›Koli‹ Reinhardt ist der ­Gründer des angesagten Tattoo- und Piercingstudios Eisenherz. Wir treffen uns kurz vor Weihnachten bei vollem Betrieb im ­ Studio des 45-Jährigen und sprechen mit ihm über Tätowierungen, politische Haltung, Veganismus und wie er die Magdeburger ­Tattoo-Kultur sieht. Interview: Niclas Fiegert | Fotos: Juliane Schulze

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»Ich bin nicht der Typ, der Parteiarbeit leistet, aber Flagge zeigen möchte ich auf jeden Fall.«

Egal wo man nach Dir sucht, man findet immer Deinen Spitznamen ›Koli‹. Woher kommt der eigent­ lich? 1990, an irgendeinem Mittwoch bekam ich den. Ich hatte so bunte Haare, Kolibristyle. Damals legte in der Düppler Mühle in Olvenstedt immer mittwochs DJ Alex Punkrock auf, so kurz nach der Wende. Und woher stammt der Name Eisenherz? Zuerst waren wir ein reines Piercing­studio, damals noch in der Heide­straße. Koli̕s Bodypiercingund Hardcoreshop, weil ich damals

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auch T-Shirts von Hardcorebands verkauft habe. Anfang 2000 änderten wir es dann in Eisenherz. Eisen steht für das Metall, das wir ein­ setzen und das Herz, weil wir mit Herz arbeiten.

Wann habt Ihr Euch dazu ent­ schlossen auch zu tätowieren? Von Anfang an fragten die Leute oft wegen Tätowierungen nach. Damals gaben wir jeden Tag fünf oder sechs Visitenkarten von einem befreundeten Tätowierer raus. Die Leute wollten wissen, ob wir nicht selbst damit anfangen würden, auch meine Kollegen hatten schon


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gedrängt. Aber ich habe immer gesagt, dass ich es nicht mache. Ich wollte keine Konkurrenz zu meinen Freunden aufbauen. Die Nachfrage war allerdings so groß, dass wir uns 2010 dazu entschieden, Tätowieren mit anzubieten. Das war sozusagen Glück im Unglück. Freunde von mir gaben ein Tattoo Studio in Ilmenau auf und ihre damalige Kollegin, die dort Tätowiererin war, kam zu uns nach Magdeburg. Wir fingen relativ klein an, bis nach und nach immer mehr Kunden zu uns kamen. Wir mussten einfach ran und loslegen.

Jetzt gibt es Eisenherz schon seit 22 Jahren. Piercst Du noch selbst? Ich habe den Laden damals auf­ gemacht und die ersten sechs oder sieben Jahre nur alleine gepierct. Jetzt ist es so, dass ich als Chef alles im Hintergrund mache. Ich kümmere mich um das ganze Drumherum und wenn Not am Mann ist, sitze ich auch vorn und mache den Shop-Boy. Wir haben einige Angestellte und viele Freie im Laden. Da gibt es jede Menge Arbeit im Hintergrund. Wie viele Leute seid Ihr jetzt? An Festangestellten habe ich mit der Buchhaltung fünf Mitarbeiter und dann noch unsere drei festen Tätowierer: Aleksy, Basti und Äxel. Außerdem gibt es jede Woche ein oder zwei Gast-Tätowierer, aus allen möglichen Ländern. Wir waren schon mal mehr, aber so wie es jetzt ist, finde ich es gut.

Fehlt Dir das Piercen? Gar nicht. Ich habe aufgehört, weil ich einen Bandscheibenvorfall und irgendwann auch keinen Bock mehr hatte. Ich habe wirklich jeden Tag gepierct und irgendwann war das nur noch Massenabfertigung. Es gab Tage, an denen waren es 40 oder 50 gestochene Piercings und das ist dann auch nicht mehr cool.

Früher hattest Du auch ein Street­ wear-Geschäft namens Never Ending. Warum hast Du Dich nach 19 Jahren dazu entschlossen, den Laden zu schließen? Weil es einfach nicht mehr lief. Das funktioniert nur, wenn man entweder sehr günstige oder zu teure Klamotten anbietet. Alles was im mittleren Segment stattfindet, läuft in Magdeburg leider gar nicht. Die Kids rennen alle zu H&M oder bestellen im Internet. Zum Schluss ist nur noch zu viel Herzblut rein geflossen und nichts mehr dabei rumgekommen. Würdest Du von Dir behaupten, dass Du ein Sneaker-Head bist? Jein. Ich habe durch Never Ending viele Sneaker gekauft und auch ein paar limitierte Sachen. Was das anbelangt bin ich aber durch meine Lebensweise ein bisschen ein­ geschränkt. Ich lebe seit acht Jahren vegan. Ich kaufe zwar gerne mal einen schönen Schuh, aber er darf nicht aus Leder sein. Früher hatte ich richtig viele Schuhe und bei mir

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stehen immer noch einige Raritäten zu Hause.

Warum hast Du Dich dazu ent­ schieden, vegan zu leben? Durch die Hardcore-Szene hatte ich damit schon lange Kontakt. Da gibt es viele Straight Edger. Also kein Alkohol, keine Zigaretten oder kein Fleisch. Ein Kumpel von mir war zum damaligen Zeitpunkt schon zehn Jahre Veganer. Nachdem ich mich ein bisschen belesen hatte, wurde ich innerhalb kurzer Zeit vom wirklich schlimmen Fleischfresser zum Vegetarier und ungefähr einen Monat später zum Veganer. Kommen wir zurück zum Täto­ wieren. Du hast selbst jede Menge Körperkunst. Was war Deine erste? Das war ein Piercing-Ring oben an der rechten Schulter. Ganz hässlich. Das ist auch die einzige, die ich nicht mehr habe. Es ist aber auch 25 Jahre her, dass ich mir den Ring stechen ließ. Damals war es extrem cool. Irgendwann konnte ich ihn nicht mehr sehen. Ich habe viele Täto­ wierungen und weil wir so viele Gastkünstler haben, auch verschiedenste Stilrichtungen. Ein ziemlicher Luxus.

Ihr habt immer verschiedene erfolgreiche Künstler hier, das TätowierMagazin hat Eisenherz über den grünen Klee gelobt.

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Hattest Du jemals die Idee aus Magdeburg wegzugehen? Es stand für mich nie zur Debatte wegzugehen. Ich habe hier meine Familie, den Laden, meine Freunde und meine Tochter. Wenn wir nach Berlin oder in eine andere Großstadt gehen würden, dann wären wir einer von vielen. Hier haben wir ein schönes Einzugsgebiet von Leuten, die herkommen. Es stand nie im Raum, die Stadt zu verlassen. Was macht die Tätowier-Szene in Magdeburg aus? Schwer zu sagen. Wir bieten das an, was in anderen Städte auch ange­ boten wird, haben aber auch viele gute Künstler, die geile Arbeiten machen. Unser Glück ist, dass wir durch die vielen internationalen Tätowierer und Tätowiererinnen alle Stilrichtungen abdecken können. Es ist schon breit gefächert, was die Leute wollen. Auch unsere Resident Artists sind vielseitige Künstler, mit eigenem Stil, den sie auch nur bei uns tätowieren. Natürlich ­können sie im normalen Tagesgeschäft nicht immer nur ihre Stilrichtungen umsetzen. Was muss man mitbringen, wenn man bei Eisenherz arbeiten möchte? Für mich ist ganz wichtig, dass die Person ein cooler Mensch ist. Wir hängen hier ja auch jeden Tag acht oder neun Stunden aufeinander. Teamgeist ist da ganz wichtig.


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Außerdem muss die Person gut tätowieren können, sehr hygienisch und respektvoll sein. Wir bringen hier täglich Farbe unter die Haut von Menschen. Ich habe schon Täto­ wierer auf Conventions kennen­gelernt, bei denen würde ich mich nie hinsetzen. Respektvoller Umgang mit den Kunden ist einfach eine Grundvoraussetzung. Zu Halloween gab es bei Euch einen Walk-In Day, an dem sich Leute ohne Termin vorgegebene Motive stechen lassen konnten. Das gesammelte Geld wurde für

wohltätige Zwecke gespendet. Wie lief das ab? Das war super. Einmal im Jahr machen wir solche Spenden­aktionen für Vereine oder Stiftungen, bei denen wir der Meinung sind, dass ihre Arbeit wichtig und gut ist. Dieses Mal haben wir das Geld an das Elternhaus der Kinderkrebshilfe im Uniklinikum gespendet. Um 12 Uhr machten wir auf, 10.30 Uhr saßen bereits die ersten Leute draußen und 12.30 Uhr waren alle Termine vergeben. Wir mussten um die 40 Leute mit einem Gutschein nach Hause schicken, weil sie nicht dran-

»Wir bringen hier täglich Farbe unter die Haut von Menschen.«

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kommen konnten. Viele, die keinen Termin mehr bekamen, haben trotzdem Geld in die Kasse geschmissen. Darauf gab es wirklich extrem gute Resonanz. Wir haben 2.000 Euro in nur sechs Stunden gesammelt.

benutzten, habe ich schon versucht, sie aufzuklären. Im Eisenherz ist es das gleiche.

»Es stand nie im Raum, die Stadt zu verlassen.«

Kommt es oft vor, dass sich Leute solche Symbole bei Euch stechen lassen wollen? Nein, zum Glück nicht mehr so ­häufig. Als wir anfingen, kam es ab und zu mal vor, dass Leute eine Panzerdivision oder so einen Scheiß haben wollten. Mit Hakenkreuzen kam aber nie jemand. Entweder ebbt es ab oder sie haben alle ihre eigenen Nazistudios, in denen sie sich tätowieren lassen.

Tätowierst Du dann zu solchen Anlässen auch mal selbst? Nein, ich tätowiere gar nicht. Ich habe es einmal probiert und den Stiefel eines Pin-Up-Girls ausgemalt. Aber Grundvoraussetzung für das Tätowieren ist, zeichnen zu ­können und damit habe ich mich nie beschäftigt. Man könnte das sicherlich lernen, aber ich bin mittlerweile zu alt und habe keine Lust mehr.

Können Tätowierungen auch poli­ tisch sein? Ja klar, das gibt es auch. Logisch ist, dass wir hier keine rechten Symbole oder irgendeinen Mist tätowieren. Solche Anfragen haben wir natürlich auch, aber dann muss man die Leute halt rausschmeißen. Ich bekam auch schon eine Anzeige, weil ich hier Leute rausgeschmissen habe, die mit einem Ku-Klux-Klan-Pullover reinkamen. Auf solche Menschen habe ich einfach keine Lust. Die werden sofort rausgeschmissen.

Auf einem Deiner Facebook Profilbilder hast Du einen FCK AfD-Sticker und hier im Laden gibt es auch welche. Sind Dir politische Statements wichtig? Ja, das spielte schon immer eine große Rolle bei mir. Ich komme aus der Punk-Bewegung Anfang der Neunziger. Da war uns Politik immer extrem wichtig. Ich bin nicht der Typ, der Parteiarbeit leistet, aber Flagge zeigen möchte ich auf jeden Fall. Im Never Ending hatte ich das oft. Wenn irgendwelche Hip-Hop Kids reinkamen und das N-Wort

Was ist das absurdeste Motiv, das jemand haben wollte? Das kommt auf den Blickwinkel an. Ich persönlich finde es absurd, wenn wir jeden Tag Leute haben, die sich ein Unendlichkeitszeichen tätowieren lassen wollen. Egal ob Datum, Feder oder Herz, alle wollen das

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Gleiche. Aber das war schon immer so und gerade Magdeburg ist dafür prädestiniert. Auch bei Klamotten. Ende der neunziger Jahre gab es hier den einzigen Laden, der noch diese hohen Buffalo-Schuhe verkaufte. Als ich noch im Never Ending arbeitete, ist mir das immer extrem aufge­fallen. Wenn eine Welle kam, sahen alle ein Jahr lang gleich aus.

Magdeburg war schon immer ein bisschen Uniformstadt. Genau das gleiche gilt für Tätowierungen. Es fehlen ein paar Typen, die eher auf abgefahrene Stilrichtungen stehen, aber da bringen wir die Leute schon noch hin. Dezember 2018

Vista.Schon? Kristian Reinhardt ist 1973 in Magdeburg geboren. Er hat eine fünf­jährige Tochter, die er versucht, möglichst ohne stereotype Geschlechtsbilder zu erziehen. Kristian versucht nicht online zu shoppen, um den hiesigen Handel zu unterstützen. Nach der Schule schloss er eine Ausbildung zum Möbel­ tischler ab. ›Koli‹ wünscht sich für die Stadt, dass sie weiterhin wächst, sich viele verschiedene Kulturen in der Stadt vereinen können und dass auch Magdeburgs kulinarisches Angebot ausgebaut wird. Am liebsten wäre ihm ein libanesisches Restaurant.


Luise Wenke

Luise Wenke »Mir ist das am Ende Wurst.« Von der Tütensuppe zum eigenen Laden. Ihr Traumjob ist es nicht, doch sie ist mega happy mit dem, was sie tut und das merkt man, sobald man ihren Laden Crops – Vegane Küche betritt. Nach drei Jahren in Nicaragua und ihrem Catering Las Hermanas verzaubert Luise seit einiger Zeit ihre Gäste mit veganen Köstlichkeiten. ­Welche Rolle dabei Waschbären, Robben und Pinguine spielen, hat sie uns bei einer Tasse Tee verraten. Interview und Fotos: Lara-Sophie Pohling

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Luise Wenke

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Luise Wenke

Muss Essen eigentlich schön aus­ sehen? Durchaus. Das Auge isst mit. ­Frisches Essen sieht sowieso immer gut aus, außerdem sollte man auf schöne Farben achten: was rotes, grünes, gelbes, weißes.

Ernährungstrends sind momen­ tan in aller Munde. Wann kamst Du damit in Kontakt? Ich war auf dem Sportgymnasium, dadurch beschäftigte ich mich schon immer gern mit Ernährung und Lebensmitteln. Ich hatte auch meine Phase, in der ich nur ›Tüte auf, Wasser drauf, fertig‹ praktizierte. ­ Aber das ist kein richtiges Kochen. Ich strich als erstes Schweinefleisch von meinem Ernährungsplan, wegen der Fleischskandale und der Sache mit den Antibiotika. Auch geschmacklich war es nicht so mein Highlight. Darauf zu verzichten, war relativ einfach. In meinem Umfeld gab es ein paar Vegetarier*innen, aber das interessierte mich nie. Vor etwa fünf Jahren kam bei uns im Freundeskreis dann das Thema Veganismus auf. Erinnerst Du Dich an das erste Gericht, das Du bewusst vege­ ­ tarisch oder vegan gegessen hast? Nein. Vegetarisch isst man sowieso immer mal. Wenn Leute sagen, sie hätten noch nie vegan gegessen, dann frage ich, ob sie noch nie einen Apfel oder eine Banane gegessen haben. Es wird gerne übertrieben.

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Jetzt lebst Du komplett vegan. Was hat Dich dazu bewogen? Meine beiden Schwestern waren in Osteuropa unterwegs und da gab es viel veganes Essen. Wir haben dann gemeinsam gesagt, dass das schon besser ist. Man findet schnell Gründe dafür: Gesundheit, Ethik, der Planet oder das Tierwohl. Jeder darf sich aussuchen, welcher der wichtigste Grund ist. Es gibt Menschen, denen sind Tiere egal, aber ihre Gesundheit ist ihnen wichtig. Mir ist das am Ende Wurst. Hauptsache, der Mensch isst weniger Fleisch. Ein guter Freund, ein Leistungssportler, hatte starke Probleme mit Neurodermitis. Sein Trainer empfahl ihm, Milchprodukte einfach wegzulassen, um zu sehen, wie sich das auswirkt. Es verbesserte sich deutlich. Darum wollte ich das mal selbst testen. Ich konnte nicht mehr zurück, nachdem ich mich mit der Industrie auseinandergesetzt hatte und sah, wie schlimm das ist. Ich glaube, Eier waren das letzte, was ich noch gegessen habe, aber irgendwann dachte ich, Hühnermenstruation brauche ich jetzt auch nicht mehr. Ist es für jeden Normalverbrau­ cher preislich realisierbar, vegan zu leben? Ja. Wenn man sich ausgewogen vegan ernährt, isst man weniger. Man nimmt mehr gesunde Produkte zu sich, die einen höheren Nährwert haben und länger satt machen. Das Toastbrot mit Nutella am Morgen


ÂťWollen wir mal alle lieb und nett zueinander sein, das ist eine coole Philosophie.ÂŤ


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hält nicht lange vor. Wenn du dir aber Haferflockenbrei oder Porridge mit Trockenfrüchten, Nüssen und Samen machst, bist du davon viel länger satt und isst am Tag weniger. Es gibt auch veganes Conve­nienceFood (Fertigessen, Anm. d. R.), beispielsweise Falafel, Frühlingsrollen, Klopse, Würstchen. Das kann man auch mal essen, aber nicht jeden Tag.

»Ich bin nicht das kleine ­P iepsmäuschen, dafür bin ich zu stark als Frau.«

Wie hältst Du Dich fit? Wie es die Zeit zulässt oder wie man sie sich nimmt, sagt meine Yogalehrerin. Ich gehe ins Fitnessstudio laufen und mag Yoga. Ich trinke nicht viel Alkohol, am Wochenende mal ein Glas. Auch ich greife zu Genussmitteln und rauche mal eine Zigarette. Unter der Woche ist mir der Laden zu wichtig, als dass ich mich bis nachts um zwei Uhr in der Kneipe rumtreiben könnte.

Yoga machen viele, die meistens auch vegan leben? Das ist so ein Gesamtpaket. Die meisten sind vielleicht nicht Veganer*innen, aber Vegetarier*innen. Auf jeden Fall sind es viele, ich

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gehöre auch zur Fraktion der Freizeit-Yogi*nis. Es holt dich runter. Sich auf sich selbst zu konzentrieren und nicht auf das Neidsystem, was die Menschheit beherrscht, gefällt mir. Wollen wir mal alle lieb und nett zueinander sein, das ist eine coole Philosophie.

Ihr macht alles frisch hier im Laden. Woher kommen die Krea­ tionen der Küche? Vieles ist auf meinem Mist gewachsen. Ich wollte jeden Tag vegan essen können, ohne mit Kellner XY rumzudiskutieren, auf dumme Sprüche oder ein ›Kein-Bock-Gesicht‹ zu stoßen oder doch was Nicht-Veganes zu kriegen, weil sie vergessen, dass Käse auch tierisch ist und über die Pasta noch Parmesan schmeißen. Das ist die Grundidee, weshalb ich mich selbstständig machte. Vieles kommt aber auch von den Köchen und das Internet ist voll mit Rezepten. Ich könnte auch einen Bestellflyer eines Lieferservices nehmen, ein Gericht raussuchen und es vegan zubereiten. Wie kam es zu dem Namen Crops – Vegane Küche? Eine coole Geschichte ist mir noch nicht eingefallen. (lacht) Ich lebte für eine Weile in Nicaragua. Dort war alles etwas internationaler, viel Spanisch und Englisch. Ich kam mit dem Plan zurück, einen Laden aufzumachen. Ich mag Englisch, wollte was kurzes und überlegte, als


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Namen eine Pflanze oder ein Gewürz auszusuchen. Und dann fiel mir ein: Mensch, Getreide! Im Englischen heißt es ›to get in the crop‹, also Getreide oder Ernte einholen. Das gefiel mir. Daraus macht ich Crops. Kurz, knackig, minimalistisch.

Wie hast Du die Räumlichkeiten gefunden? Ich sah mich vor allem am Hassel um. Vorne auf dem Breiten Weg neben dem damaligen Never Ending war ganz lange ein kleiner Imbiss. Als er raus war, rief ich bei der WOBAU an, aber der Laden war schon vermietet. Zwei Tage später riefen sie mich zurück. Sie zeigten mir das hier und schnell war klar: perfekte Größe. Wenn man mit so einem Lädchen startet, macht keiner eine Markthalle auf. Es war einfach Zufall und Bestimmung. Wer hat Dich beim Einrichtungs­ konzept inspiriert und ist das alles selbst gemacht? Die Tresen und Wandtische hat ein Tischler gemacht. Ich habe nicht alles entworfen, aber es mir zurechtgesucht, da ich hier jeden Tag arbeite und mich wohlfühlen muss. Metall und Holz gehen gut zusammen und Türkis ist eigentlich die einzige Farbe, die ich wirklich gut ertragen kann. Bunt und rosa geht gar nicht. Schwarz funktioniert sehr gut, aber nicht für einen Laden. Mit den großen Fenstern ist klar, hier muss Licht rein und für ein

Tagesgeschäft müssen die Wände hell sein. Aber irgendwas musste dran und Mustertapete gefällt mir eben gut. Die mit den Kirschen und Blümchen ist einfach cool, genauso wie die gelbe Tapete mit den Vögeln.

Was hat es eigentlich mit den Schleich-Tieren auf sich? Die vermehren sich und mal geht auch eins verloren. Das sind unsere Tischnummern. Zur Eröffnung war das ein Geschenk von einer guten Freundin, sie kannte das aus einem Londoner Restaurant. Du bestellst am Tresen und setzt dich irgendwo drinnen oder draußen hin. Deine Tischnummer habe ich dann allerdings noch nicht, weshalb du dir ein Tier aussuchst. Dann bist du der Tisch mit dem Waschbär, der Robbe oder dem Pinguin. Das finden alle sehr lustig. Aber es hält auch auf, weil die Leute sich nicht entscheiden können. Und nein, nur weil du das Schwein nimmst, bist du kein Schwein. Die Kinder haben auch ihren Spaß damit. Auf einer Tafel am Tresen steht: No Homophobia, No Violence, No Racism, No Sexism, Yes Kindness, Yes Peace, Yes Equality, Yes Love. Würde die AfD bei Dir einen ­Kuchen bekommen? (lacht) Auf gar keinen Fall, natürlich nicht. Auch keine AfD-Wähler, egal aus welchem Grund, ob aus Protest oder Dummheit. Dazu müsste ich sie allerdings erkennen und das ist

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»Wenn man mit so einem Lädchen startet, macht keiner eine Markthalle auf.«


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l­eider das Problem. Die tragen ja kein großes Schild mit sich rum. Und ich kenne nicht alle Politiker, egal aus welcher Partei.

Wie politisch aktiv bist Du? Ich habe nicht wirklich die Möglich­ keit, aktivistisch zu sein. Aber ich versuche Facebook und Instagram zu nutzen, um Statements abzugeben und andere zu motivieren. Das sollten alle, die eine öffentliche Stimme haben wollen, nutzen. Ich würde mich gerne politisch enga­ gieren, aber ich weiß nicht, ob ich das bin: auf die Straße gehen und Leute anquatschen. Ich war auf Demos, um dabei zu sein, um Flagge zu zeigen. Aber ich beteiligte mich nicht in einer Gruppe aktivistisch.

Ist Dir als Jungunternehmerin schon Sexismus begegnet? Ich bin nicht das kleine Pieps­ mäuschen, dafür bin ich zu stark als Frau. Ich glaube nicht, dass ich ausstrahle, dass man das mit mir machen kann. Du hattest vorher ein veganes Catering. Wann kam die Idee zum eigenen Laden und zur Selbstständigkeit? In Nicaragua. Ich war von 2012 bis 2015 dort im Tourismus tätig. In der Zeit stellte ich persönlich auf vegan um und kochte auch schon so für meine Gäste. Die fanden das toll. Ich entschied dann, nicht mehr für jemand anderen zu arbeiten, weil ich

mich immer aufopfere und nicht die Stunden zähle. Bis zu einem gewissen Grad geht das. Aber irgendwann war ich unzufrieden, wenn du dir den Arsch aufreißt und es zur Selbstverständlichkeit wird. Finanzielle Vergütung oder Dankbarkeit macht glücklich, aber am Ende ist es die Zeit. Freunde sagten, ich solle zurückkommen und einen veganen Laden aufmachen. Ich wollte sowieso zurück, meine Schwester war das dritte Mal schwanger und ich wollte nicht schon wieder nur die Tante aus der Ferne sein. Die drei Jahre waren eine schöne Zeit, aber es ist sehr weit weg. Das Catering lief schon mit dem Wissen, mal einen eigenen Laden aufzumachen. So konnte ich gut testen, wie der Markt und das Interesse ist. Ich sah, wie die Leute in Nicaragua drauf waren und wusste ein bisschen aus den Staaten, wie groß die Nachfrage ist. Aber für Magdeburg hatte ich das nicht genau auf dem Schirm.

Wie war Dein vorheriger Werde­ gang? Ich habe Eventmanagement bzw. Veranstaltungskauffrau gelernt. Mein erster Job mit 16: Spülhilfe im Ratskeller. Nach dem Abi eierte ich rum und fing dann richtig in der Gastronomie an. Von Bars über Restau­ rants kam ich irgendwann zum Management.

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Es war also immer Dein Traum mal ein Geschäft zu eröffnen? Nein, das wäre mir zu rosarot. Ich hatte eigentlich nie einen Plan. Ich bewarb mich nirgendwo. Für den Businessplan schrieb ich das erste Mal einen Lebenslauf. Es lief immer alles über fünf Ecken und ergab sich, auch die Zeit in Nicaragua. Vorher arbeitete ich bei Sushifreunde, davor war ich Managerin beim Klub und Café Luise. Gastronomie machte mir schon immer Spaß. Das Catering war nebenbei, weil meine Schwester in Elternzeit war und ich gleichzeitig noch in einer anderen Gastronomie arbeitete. Aber jetzt bist Du zufrieden? Ich bin mega happy mit dem Laden. Hier kann ich rumspielen, Neues

ausprobieren und die Leute sind offen dafür. Hinterm Tresen arbeiten ist für mich nicht die große Herausforderung, das ist durchaus auch langweilig. Ich habe schon Ideen, wie es weitergeht. Das Catering greift sehr ins normale Tages­ geschäft ein. Kleine Caterings sind nebenbei möglich, aber wir kriegen auch Anfragen für größere Sachen und die gehen nur, wenn wir den Laden dafür schließen. Dafür ist es gesicherter Umsatz. Es gibt auf jeden Fall Pläne. Hier kann ich nicht arbeiten, bis ich sechzig bin. Ich kann nie Urlaub machen. Das muss ich früher oder später umstellen. Ich brauche die finanzielle Sicherheit, um andere Leute zu bezahlen, damit ich mich um Marketing und Weiterentwicklung kümmern kann.

»Irgendwann dachte ich, Hühnermenstruation brauche ich jetzt auch nicht mehr.«

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Was ist das nächste große Ziel? Entweder ein zweiter Laden mit großer Küche, über den Caterings laufen können oder eine zweite Location, die nur für Caterings zuständig ist. Eine Zubereitungsküche im Prinzip. Das ist aber eher langfristig. Die oberste Priorität ist erstmal, den Laden auf zwei stabile Füße zu stellen. Ich möchte nicht zu schnell ›durch die Decke‹, lieber gesund wachsen. Ich gucke erstmal, wie das normale Tagesgeschäft läuft, bevor ich alles ändere.

Was ging Dir am Tag vor der Eröff­ nung durch den Kopf? Hattest Du Bedenken bezüglich der veganen Küche? Ich habe mich mehr gefreut und war auf jeden Fall aufgeregt. Es war wahrscheinlich eine kurze Nacht. Ängste hatte ich nicht. Man fängt ja schon vorher an, die Sachen zu posten und anzukündigen. Zudem ist Magdeburg eine kleine Stadt, wo sich das super schnell rumspricht. Die Reaktionen waren so gut, dass ich dachte, irgendwer wird schon kommen. Aber, dass es so gut startet, damit hatte ich nicht gerechnet. Gastro­ nomie braucht durchaus mehrere Jahre, um gut zu laufen, und wir wurden in den ersten Wochen teilweise überrannt. Das Team war noch nicht eingespielt und wir mussten uns mit dem System und den Abläufen erst auseinander­ setzen.

Welche Rückschläge gab es und wer hat Dir dabei geholfen, nicht den Mut zu verlieren? Rückschläge gab es im Personal. Aber es ist nichts, was ich bereue und anders gemacht hätte. Ich sehe das als Erfahrung. Eine Mitarbei­terin ist relativ schnell gegangen, das hat nicht geklappt. Hätte ich vielleicht vorher sehen können. Ansonsten war ich vorbereitet. Es war eine positive Herausforderung, ich hatte Bock drauf. Da ich schon Sushi­ freunde gemanagt habe, war ich informiert über Personalmanagement und Warenwirtschaft. Es gibt natürlich Fallen. Niemand kann alles auf dem Schirm haben, was kostentechnisch auf einen zukommt. Aber man ist nicht alleine. Ich kriege von meinem Steuerberater jeden Monat eine BWA (Betriebs­ wirtschaftliche Auswertung, Anm. d. R.), die mir sagt, wo ich aufpassen muss.

Wie gut lassen sich Privates und Selbständigkeit vereinbaren? Eigentlich super. Ein Vorteil, wenn man schon ein bisschen Lebens- und Arbeitserfahrung hat. Mit 25 hätte ich wahrscheinlich ein Restaurant eröffnet und mich irgendwann geärgert, dass ich den ganzen Abend arbeite, während meine Freunde ausgehen. Jetzt muss ich nicht so früh raus. Ich kann mich um die Buchhaltung kümmern, Einkäufe oder Sport machen und bin um 10 Uhr im Laden. 11 Uhr machen wir auf und schließen 18 Uhr,

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Freitag und Samstag um 20 Uhr. Hinterher kann ich einkaufen, mich mit Freunden treffen oder mit meinen ­Schwestern abhängen. Am Ende arbeite ich trotzdem mehr als andere, weil es eine Sechs-­TageWoche ist. Sonntags mache ich Sachen, die im Hintergrund laufen. Es ist manchmal viel Kopfstress: Wie viele Leute kommen morgen, finden sie das Essen cool?

Magdeburg hat viel Potenzial, bist Du deshalb zurückgekommen? Ich habe Magdeburg nicht des­ wegen gewählt, das ist ein positiver Nebeneffekt. Ich bin ganz bewusst wegen Freunden und Familie zurückgekommen. In Nicaragua war ich sehr isoliert. Ich hatte dort Freunde, aber das war kein normales Leben in dem Sinne.

»Ich gehöre auch zur Fraktion der Freizeit-Yogi* nis.«

Dein Laden ist in der Altstadt. Welche Stadtteile prägen sonst Dein ­ Leben? Wo hältst Du Dich gern auf? Buckau und Stadtfeld. In Stadtfeld wohnen eine Schwester und meine Mom, in Buckau wohne ich und meine andere Schwester. Außerdem ist Buckau gerade schön im ­Kommen. Es gibt mittlerweile tolle Bars und Kneipen. Ansonsten bin

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ich gern in Neustadt, wenn im Knast, Moritzhof oder im Studiokino was los ist. Ich wechsle sehr selten das Flussufer, aber ich gehe im Stadtpark laufen.

Was ist Dein Gastronomie-­ Geheimtipp für Magdeburg? Es gibt keinen. Wenn man sie teilt, sind sie nicht mehr geheim. Ein ganz großer Geheimtipp ist natürlich das Crops. (lacht) Im Nachtleben würde ich den Cocktail Circus und Hoeferts Nachbarschaftskneipe in Buckau empfehlen. Der Betreiber ist ein Freund. Er ist mit Herz dabei, kreativ und hat geile Ideen. Auch die Mädels vom Ginger & Du und das Herzstück. Das sind zwei Läden, die komplett von Mädels betrieben werden. Das finde ich gut und unterstützenswert. Und der Unverpacktladen (Frau Ernas loser LebensMittelPunkt, Anm. d. R.) Kriegt man jetzt das Gefühl, dass ich Männer nicht leiden kann? Nein, das stimmt nicht. Das Berner & Brown ist toll, auch ein Freund, wir haben früher zusammengearbeitet. Sie sind vegan, freundlich und service­ technisch ganz weit oben. Was macht typische Magde­ burger*innen aus und sind Deine Kunden solche? Den gibt es für mich nicht. Ich halte nichts von Stereotypen und Klischees. Dafür sind Menschen zu unterschiedlich. Ich würde niemals sagen, Magdeburger*innen sind


Luise Wenke

grummelig. Das sagen alle von sich, aber wenn sie dich ins Herz geschlossen haben, dann richtig und für immer. Mein Publikum ist bunt gemischt. Vom Schüler bis zur Omi ist alles dabei. Wir haben eine, die nennen wir ›Zwei-Brot-Oma‹. Sie isst ihre Suppe, wozu es bei uns eine Scheibe Brot gibt, mit dem Teelöffel, weil das besser für ihren Magen ist. Aber sie braucht immer zwei Stück

Brot. Genauso habe ich Kids, die sich ein Getränk und Essen teilen, weil das Portemonnaie nicht mehr hergibt.

Was bedeutet für Dich Magdeburg in drei Worten? Familie, Freunde. Und sagte ich schon Familie? Dezember 2018

Vista.Schon? In Wolmirstedt wurde sie 1982 geboren, wo ihre Eltern seinerzeit in einer Künstlerkommune lebten. Danach wuchs Luise mit ihren beiden älteren Schwestern in Magdeburg auf. Die drei haben ein inniges Verhältnis, mit Li führte sie erfolgreich das Catering Las Hermanas (Die Schwestern, Anm. d. R.). Und auch ihre zweite Schwester Lena ist selbständig als freischaffende Tanzpädagogin tätig. Zu der großen Familie gehören auch noch ihre Halbgeschwister Lou und Nina. Luise ist eine Powerfrau. Italienisch würde sie gerne lernen, wenn es ihre Zeit zuließe. Mangels Zeit sortiert sie auch ihre Socken nicht, weshalb sie immer unterschiedliche trägt, was allerdings auch so etwas wie Familientradition ist.


Bernd kaufholz »Stillstand ist Rückschritt.« Journalistische Instanz, Familienmensch, ›Ur-Machteburjer‹. Der Journalist und Buchautor Bernd Kaufholz lässt sich in seinen Romanen von echten Kriminalfällen inspirieren, reiste mit seiner Kamera im Gepäck in Kriegsgebiete und war Teil einer historischen Wahl. Warum die russische Sprache für ihn zum Stolperstein wurde und wie es dazu kam, dass er auf die ›dunkle Seite‹ der Presse-Branche wechselte, erzählt er uns im Interview. Interview: Nico Esche | Fotos: Jana Bierwirth



ÂťIch habe den Geruch der Elbe noch immer in der Nase.ÂŤ


Bernd kaufholz

Wie geht es Tanja Papenburg? Sie ist in einen länger andauernden Dornröschenschlaf gefallen. Tanja ist Protagonistin vieler meiner Bücher, was aber viele dabei nicht wissen: sie war eigentlich eine Ausweichfigur, der Plan B. Ich hatte ja immer über authentische Kriminalfälle geschrieben, aber die gingen mir nach einer Weile aus. Alle großen Fälle des ehemaligen Bezirks Magdeburg hatte ich schon behandelt. Also fragte ich in der Staatsanwaltschaft Halle an, doch da passierte erst einmal nichts. Da ich mit meinem Beruf, mit Familie, Garten, zwei Katzen, drei Kindern und vier Enkeln nicht ausgelastet war, wusste ich, irgendwas muss ich noch schreiben.

Was passierte dann? Ich hatte täglich noch ein Zeitfenster zwischen Mitternacht und 4 Uhr morgens, das ausgefüllt werden musste (lacht). Die genannten Fälle sind nach der Wende passiert und waren zum Teil über 20 Jahre lang nicht gelöst. Das übernahm dann Tanja Papenburg. Ich bin ein großer Fan von Ermittlern, die literarisch gesehen nicht bei der Polizei arbeiten. Sherlock Holmes, Miss Marple oder Hercule Poirot zum Beispiel. Die Idee zu Tanja basiert auf einer mir nahe stehenden Dame. Sie ist Anwältin für Familienrecht und wuchs im Emsland in Papenburg auf. Schnell entschied ich, auch einen zweiten und dritten Band zu

schreiben. Dann bekam ich doch noch die Gelegenheit, DDR-Fälle aus dem Bezirk Halle literarisch aufzuarbeiten. Das war für mich wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag zusammen. Somit konnte ich Das Leichenpuzzle von Anhalt verfassen, das im Dezember 2018 erschien.

Wird Tanja Papenburg wieder aufwachen? Garantiert.

Von der Fräse zur Schreib­ maschine. Sie sind ausgebildeter Zer­spanungsmechaniker und wur­­ den anschließend Journalist. Wie kam es dazu? Ich war in der elften Klasse und musste mich bewerben. Ich hatte immer Interesse am Schreiben, war unter anderem Schüler-Korrespondent für die Magdeburger Zeitung und schrieb hin und wieder für die Magdeburger Volksstimme. Dort bewarb ich mich dann auch. Rund 35 Leute taten dasselbe, doch es gab nur drei Plätze, wovon einer für einen Offiziersschüler freigehalten wurde. Wir hatten eine zweitägige Prüfung. So mussten wir unter anderem 20 Länder benennen und die passenden Hauptstädte zuordnen – und wir sprechen hier nicht von offensichtlich bekannten Ländern wir Russland oder Polen. Da ich geographiebegeistert bin, war das kein Problem für mich. Was mir das Genick brach, war das Übersetzen bestimmter Passagen aus der russi-

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schen Zeitung Prawda. Das war es dann für mich erst einmal mit dem Volontariat.

Was geschah dann? Anschließend studierte ich Maschinenbau, was aber eine Notlösung war. Mein Vater sagte damals zu mir, dass Magdeburg der Standort für Maschinenbau schlechthin sei. Also tat ich das. Hätte ich das wirklich durchgezogen, wäre ich wohl direkt nach der Wende arbeitslos geworden. Was im Studium gelehrt wurde, passte überhaupt nicht zu mir und meinen Fähigkeiten. Nach zwei Jahren meinte ein Betreuer, dass ich das Handtuch werfen solle, bevor die Universität mich exmatrikulieren müsste. Eine Exmatrikulation wäre zum großen Nachteil für mich gewesen. Also entschied ich mich, das Studium abzubrechen. Und wurden Zerspanungsmecha­ niker? Mit Frau und Kind fragte ich mich, was ich machen sollte. Also begann ich eine Ausbildung zum Zer­ spanungsmechaniker und schrieb nebenbei für die Betriebszeitung Kontakt. Irgendwann beschloss ich, mich doch noch einmal bei der Volksstimme zu bewerben. Doch der Wehrdienst kam dazwischen. Als ich 25 war, bekam ich dann endlich eine Chance und ging zur Volksstimme, diesmal sogar ganz ohne Prüfung. Zuerst als Volontär, dann zwei Jahre als redaktioneller Mitarbeiter in

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der Wirtschaftsabteilung und dann viele Jahre in der Lokalredaktion Magdeburg. Später wurde ich Teil der Lokalredaktion in Wanzleben. Für mehr als 17 Jahre.

Was hat Ihnen mehr Spaß gemacht: Mantel- oder Lokalredaktion? Lokal war schon spannend. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich kenne jede Zuckerrübe persönlich. Kaninchenzüchter, Gaststättentest, alles dabei und das waren bereits die Höhepunkte (lacht). In einen Betrieb zu gehen und eine Reportage oder ein Porträt zu verfassen fand ich immer interessanter, als Texte zu schreiben, die ideologisch geprägt sein mussten. Wir hatten ja stets die Partei im Nacken. Ich interessiere mich mehr für die Geschichten, Gedanken und Ideen einzelner Personen. Sie erzählen mehr, als jeder andere Text. Das konnte ich natürlich ab 1993 als Chefreporter prima umsetzen. Sie haben als Journalist die Wendezeit erlebt. Der ehemalige Chefredakteur der Magdeburger Volksstimme wurde demo­kratisch gewählt – eine äußerst selten praktizierte Methode in dieser Branche. Wie haben Sie diese Zeit in Erinnerung? Mein Vorteil war, dass ich nicht in der Hauptredaktion sondern auf dem Land arbeitete. Somit hatte ich mit politischer Berichterstattung kaum etwas am Hut. Die Volksstimme war


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ja ein Parteibetrieb als Organ der Bezirksleitung der SED. Es war keine freie Presse. Ein kleiner Schwenk: Im Herbst 1989 fragte mich der Wanzleber Superintendent, ob ich bei einem Montagsgebet etwas über die Volksstimme erzählen möchte – zu einer Zeit, als die Luft bereits brannte und Demos alltäglich waren. Ich ging mit einem mulmigen Gefühl dorthin. Ich stand neben dem Taufbecken, als der Superintendent mich vorstellte mit: Meine Damen und Herren, das ist Bernd Kaufholz, Journalist bei der Volksstimme. Weiter kam er nicht, da ertönten bereits Pfiffe und Buhrufe. Ich stand da wie ein begossener Pudel. Der Super­

»Manchmal hatte ich das ­G efühl, ich kenne jede Zuckerrübe ­persönlich.«

intendent bekam das allerdings in den Griff und ich unterhielt mich mit den Leuten. Sie hörten mir zu und ich konnte mit dem Kopf auf den Schultern und nicht unter dem Arm das Gebäude verlassen. Doch den Auftritt bekamen auch andere mit. Unser Vorsitzender des Rat des Kreises, Mitglied der SED-Kreisleitung, rief am nächsten Tag meinen Chef an und beschwerte sich über meinen

Auftritt. Wie ich es wagen konnte, zum Klassenfeind zu gehen und dort zu reden. Nun war aber die Zeit so schnelllebig, dass er mich eine Woche später persönlich anrief und um Hilfe bat. Der Landrat erhielt nämlich selbst eine Einladung der evangelischen Kirche und fragte mich dann nach Tipps für seinen geplanten Auftritt dort.

Dann kam die Wahl des Chef­ redakteurs? Richtig, das geschah kurz danach. Die ersten Redakteure, die sich von der Partei frei machten, waren die von Das Volk in Erfurt, die über­ nahmen die Zeitung. Der Verlagschef legte uns nahe, dass wir die Preise nun deutlich erhöhen müssten. Wir überlegten, wie wir das machen könnten. Viele Westverlage interessierten sich zu diesem Zeitpunkt für die Volksstimme, weil wir eine enorme Auflage aufgebaut und gepflegt hatten. An einem Montag sollten wir uns alle zu einer Konferenz einfinden. Fast alle leitenden Redakteure hatten sich krank­ gemeldet, die Redaktionsräume waren beinahe leer. Diejenigen, die noch geblieben waren, versammelten sich, um den Chefredakteur zu ernennen. Karl-Heinz Schwarzkopf sollte es werden. Noch am selben Abend hieß es, dass wir zum Magde­ burger Dom gehen, immerhin war Montagsdemonstration und der Platz voll mit Leuten. Wir sollten diese Information so bald wie

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möglich mit den Bürgern teilen. Neben dem Chefredakteur machten sich fünf weitere Redakteure auf den Weg. Karl-Heinz Schwarzkopf ging zum Domprediger Giselher Quast und verkündete ihm, dass die Volksstimme nun nicht mehr von der Partei abhängig sei und er dies den Menschen mitteilen möchte. Also gingen die zwei nach vorne und standen vor tausenden von Menschen. Als Karl-Heinz Schwarzkopf mit zitternder Stimme anfing zu erzählen, hätte man eine Stecknadel fallen hören können, so still war es. Eine Viertelstunde später brandete tosender Beifall auf und der Bann war gebrochen. Das war ein berührender Augenblick. Sie waren viele Jahre Journalist. Später sind Sie Pressearbeiter gewesen. Wie kam es dazu? Das war 2012. Ich bekam das Angebot, Pressesprecher in der Landesregierung zu werden. Damals kam eine völlige Umstrukturierung der Zeitung auf uns zu. Meine Rente war in Sicht und ich wollte meinen Status Quo wahren, immerhin ging es auch ums Gehalt. Mein Chefredakteur hat sich zwar für mich stark gemacht, aber es gab keine Ausnahmeregelung. Das kam gleichzeitig mit dem Angebot für den öffentlichen Dienst. Ich war ein wenig bockig und entschied mich dann, es anzunehmen. Immerhin wurde es weitaus besser bezahlt. Da dachte ich natürlich auch an meine nahende Rentenzeit.

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Haben Sie aus Prinzip gehandelt? Das hält sich die Waage. Auf der einen Seite stand das finanziell sehr gute Angebot. Hätten sie meinen ursprünglichen Vertrag so weiterlaufen lassen, hätte ich das Angebot beim Ministerium ausgeschlagen. Vier Jahre später kamen Sie ­zurück zur Volksstimme. Warum? Sagen wir es so: Aus meiner Sicht würde ich jedem Journalisten, der mit Herz und Seele seinen Job ausübt, abraten, als Pressesprecher in den öffentlichen Dienst zu gehen.

Warum? Man ist in dieser Tätigkeit völlig fremdgesteuert. Im besten Fall hat man ein gutes Verhältnis zur Hausspitze und versucht, den Minister positiv darzustellen und alles, was ihn nach vorne bringt in den Medien anzubringen. Ganz schlecht läuft es, wenn der Arbeitgeber meint, er habe einen cleveren Journalisten eingestellt, der dafür da ist, alles was im Haus nicht so läuft, unter den Teppich zu kehren und ausschließlich für positive Berichterstattung zu sorgen. Als Journalist habe ich in dieser Hinsicht über die Jahre stets eine andere Meinungen gehabt. Ich habe immer gebohrt und sicherlich den einen oder anderen über die Klinge springen lassen. Man muss vieles hinter sich lassen und sich ein dickes Fell zulegen, um im öffent­ lichen Dienst klarzukommen. Ich bin das nicht.


ÂťWenn ich mal zwei Tage nichts geschrieben habe, werde ich unruhig.ÂŤ 43


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Wie zeigte sich das? In der Denke. Ein Journalist ist im besten Fall der Kontrolleur der Exekutive. Auf die andere Seite zu wechseln, ist sehr schwer. Mein Vertrag lief dann aus und beide Seiten haben sich dazu entschlossen, diesen nicht zu verlängern. Ich hatte meine Kontakte nie verloren. Also suchte ich das Gespräch mit der Volksstimme, die gerade Leute suchte. So kam das eine zum anderen. Nun habe ich einen Vertrag bis ich fast 70 bin.

Würden Sie jungen Menschen em­ pfehlen im Journalismus zu arbeiten? Auf die Frage habe ich gewartet. (schmunzelt) Erst einmal ja. Auch wenn sich der Journalismus in den kommenden Jahren stark verändern wird. Ich habe damals noch mit Bleisatz angefangen, heute sind wir im digitalen Zeitalter angekommen, da ändern sich auch so manche Regeln. Journalismus ist spannend und wird als Medium immer existieren. Also wird man Journalisten immer brauchen. Ich glaube, dass der Beruf des Journalisten eine Zukunft hat. Ob es für eine Papierzeitung oder online ist, tut da nichts zur Sache. Würden Sie sich berufsbezogen selber als Idealist beschreiben? Wenn ich das tun würde, müsste ich lügen. Sonst wäre ich nicht der Knete wegen in den öffentlichen Dienst gegangen. Sagen sie aber, dass ich Journalist aus Berufung bin

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und meine Liebhaberei zum Beruf gemacht habe, kann ich das unterschreiben. Aber, kann man als Journalist Idealist sein? Es ist ja manchmal grenzwertig, was man schreibt. Man kann bestimmte Sachen so oder so sehen. Nehmen wir zum Beispiel mal die Boulevard-Blätter. Oft steht eine Überschrift dort schon fest, bevor es den Text gibt. Wenn das nicht klappt, fliegt der Beitrag raus. Ich frage mich, ob das Idealismus ist.

»Ein Journalist muss auch ein bisschen eitel sein.«

Sie waren lange Zeit auch in Krisen­gebieten unterwegs. Afgha­ ni­ stan, Sarajevo, Somalia. Was blieb bei Ihnen aus dieser Zeit hängen? An zwei Gefühle kann ich mich genau erinnern. Wie sage ich meiner Frau, dass ich wieder nach Bosnien oder Afghanistan fliege? Das andere Gefühl spüre ich immer noch stark. Wenn ich nach Hause kam, schreckliche Dinge gesehen hatte, durch den Zoll ging und irgend­ jemand machte einen riesigen Terz, weil er etwas verzollen musste. Da dachte ich immer: Menschenskind, haben die Leute hier Sorgen. Wenn man gesehen hat, was in diesen Krisen­gebieten los ist – tote Kinder, Leichen, die sie aus Brunnen ziehen,


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Minenopfer, die Prothesen bekommen – merkt man, wie gut es uns hier geht.

»Von soweit her bis hierhin, von hier aus noch viel weiter.« Was fällt Ihnen dazu spontan ein? Meine Frau würde sagen, das sei das Lebensmotto ihres Mannes. Denn Stillstand ist Rückschritt. Dass jemand einen Vertrag unterschreibt, der fast bis zu seinem 70. Lebensjahr reicht, begreift kaum einer. Aber das Schreiben ist meine Passion. Wenn ich mal zwei Tage nichts geschrieben habe, werde ich unruhig. Ein Journalist muss auch ein bisschen eitel sein. Wer sich nicht mindestens dreimal die Woche in der Zeitung sehen möchte, kann auch an den ›Desk‹ gehen und Seiten gestalten. Nicht, dass ich das nicht wertschätze, wir Reporter brauchen die Desk-Leute mit all ihrer Erfahrung und ihrem Können. Das Zitat steht übrigens an der Magdeburger Hubbrücke. Ich verstehe. Wenn ich das nächste Mal von dort herunterspringe, dann schaue ich mir das nochmal an.

Sind Sie Magdeburger durch und durch? Ja, auch wenn ich seit einiger Zeit im Jerichower Land wohne. Aber in Magdeburg habe ich meine Wurzeln, da ich hier viele Jahre verbrachte.

Was fasziniert Sie an der Stadt? Die Sprache. Manche sagen, dass das, was die Magdeburger sprechen, kein Dialekt sei. Darüber kann man streiten. Gerade in meinen Tanja Papenburg-Büchern habe ich diese typische ›Magdeburger Schnauze‹ sehr gepflegt. Die Anregung dafür habe ich vor allem vom Hengstmanns Kabarett mitgenommen. Mit Hengstmann bin ich gut befreundet und wenn er seinen Manni im schönsten Machteburjer-Deutsch einstimmt, freue ich mich immer sehr. Ich finde Magdeburg hat sich super entwickelt, auch gerade nach der Wende. Restaurants, das neue Domviertel, das Bild der Stadt verändert sich im positiven Sinne. Die Menschen sind manchmal ein wenig schwierig und man braucht eine gewisse Zeit, um mit ihnen warm zu werden, aber sie sind alle herzensgut. Der Magdeburger in drei Worten? Unverständlich, trinkfest und boden­ ständig. Unverständlich vor allem für Auswärtige.

Was verbinden Sie mit Magde­ burg? Ich liebe die Flussnähe. Was die Stadt mit Wohnen an der Elbe ge­ macht hat, finde ich schön. Ich wuchs direkt an der Elbe auf. Meine Eltern zogen 1959 nach Fermersleben und übernahmen dort ein Bootshaus, einen alten Kettendampfer, der an Land gezogen und gastronomisch

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Bernd kaufholz

bewirtet wurde. Diese vier Jahre waren die schönste Zeit meines Lebens. Ich habe die Natur als Spielwiese genutzt, mit meinen Freunden Kartoffeln am offenen Feuer geröstet, ein kleiner Ast diente mir als Spielzeugpistole und wir haben Iglus gebaut. Ich habe den Geruch der Elbe noch immer in der Nase.

Was ist einzigartig in Magdeburg? Den Dom gibt es natürlich nur einmal in Magdeburg. Auch die Geschichte um Kaiser Otto und natürlich Otto von Guericke. Das ist zwar so ge­sehen deutsche Geschichte, aber es gehört zu Magdeburg. Ich habe mir so noch keine Gedanken darüber gemacht. Die Volksstimme ist einzigartig (schmunzelt).

und Wintergarten, direkt am Wald gelegen. Ich sehe eigentlich keinen Grund. Es gibt eine Pizzeria, Einkaufsmöglichkeiten und sogar einen Zahnarzt. Alles, was wir brauchen.

Sie haben noch bis 2022 einen Vertrag bei der Volksstimme. Wollen Sie danach nur noch als Buchautor tätig sein? Vor Ende des Vertrags verlängere ich nochmal um fünf Jahre (lacht). Ich habe eine Ausstiegsklausel in meinem Vertrag: Sollte ich meinen Chefredakteur nicht mehr erkennen, darf ich sofort aufhören. November 2018

Können Sie sich vorstellen Ihren Lebenswinter wieder in Magde­ burg zu verbringen? Wir haben im Jerichower Land ein sehr schönes Haus mit Pool

Vista.Schon? Bernd Kaufholz wurde 1952 in Magdeburg geboren. Der heute im Jerichower Land lebende Autor und leidenschaftliche FCM-Fan wurde 2002 aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit als Gerichtsreporter der Magdeburger Volksstimme zum Ehrenkommissar des Landes Sachsen-Anhalt ernannt. 2011 beförderte ihn Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht wegen seiner »langjährigen Verdienste als Reporter in besonderen Kriminal­ fällen« zum Oberkommissar ehrenhalber.


Cornelia Lüddemann

Cornelia Lüddemann »Wir haben auch schon mal bei Amazon bestellt.« Die gelernte Bibliotheksfacharbeiterin ernährt sich zu 85 Prozent vegetarisch und greift, wenn der Stress überhand nimmt, auf die Fahrdienste einer Rentnerin zurück. Fernab ihrer Mission, Sachsen-Anhalt bunter und fröhlicher zu gestalten, paddelt das Organisationstalent aus Dessau den Sorgen am liebsten auf der Elbe davon. Uns verrät die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag außerdem, ob Feine Sahne Fischfilet sie überzeugen konnte und was sie vom Essen in der Landtagskantine hält. Interview: Katharina Gebauer und Simeon Laux Fotos: Juliane Schulze und Simeon Laux

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Als Politikerin haben Sie einen vollen Terminkalender. Woher kommen Sie gerade? Ich hatte heute eine auswärtige Aus­ schusssitzung, diesmal für Landes­ entwicklung und Verkehr. Ich bin ja in der kleinsten Fraktion, wir sind nur fünf Abgeordnete, da ist jeder in mehreren Ausschüssen tätig. Seit der letzten Legislatur sitze ich im Sozial- und im Landesjugendhilfe­ ausschuss, zusätzlich kam in der jetzigen noch der für Landes­ entwicklung und Verkehr hinzu. Das ist in der Tat ein voller Kalender. (lacht) Nicht nur Ihren Terminkalender, sondern auch die Diäten ver­ öffentlichen Sie auf Ihrer Website. Bekommen Sie darauf Feedback oder Kritik von Bürgern? Ja, das interessiert die Leute. Es gibt viele, die diese Transparenz schätzen. Ich werde komplett aus Steuergeldern bezahlt, damit geht eine Verpflichtung gegenüber den Steuerzahlern einher. Ich verdeutliche damit, was ich mit dem Geld mache und in welche Kanäle es fließt. Aus Steuern viel verdienen kann man auch als Ministeriums­ angestellter oder bei der Polizei, aber als Politiker hat man eine andere Verantwortung. Ich finde das richtig, es so offenzulegen.

Nach dem Abitur 1986 machten Sie zunächst eine Ausbildung zur Bibliotheksfacharbeiterin in der

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Stadtbibliothek Dessau. Warum wollten Sie diesen Beruf er­lernen? Tatsächlich bin ich Bibliotheks­ facharbeiter, auf meinem Zeugnis steht nur die männliche Form. Ich komme aus einem christlichen Haushalt und es gab einige Restriktionen im Hinblick auf die Studienwahl. Ich wäre unglaublich gerne Lehrerin geworden, das hätte mir wirklich Spaß gemacht. Facharbeiterin für Bibliothekswesen bot eine gute Möglichkeit, ungelernt einzusteigen. Während meiner Ausbildung habe ich also ungelernt gearbeitet, 1988 meinen Berufsabschluss gemacht und nach der Friedlichen Revolution mein Studium begonnen. Nach ein paar Jahren Berufserfah­ rung studierten Sie Erziehungs­ wissenschaften. Was war Ihre Motivation? Direkt in der Wendezeit habe ich Sachsen-Anhalts erstes Frauenhaus in Dessau mitgegründet. Bestimmte Fördermittel standen uns aber nur zu Verfügung, wenn wir gewisse Qualifikationen vorweisen konnten. Stiftungen wollten adäquate Abschlüsse sehen, damit sichergestellt wird, dass wir die Fördermittel auch sachgerecht verwenden. Vom Themenkreis bot sich an, Erziehungswissenschaften zu studieren und Halle war nicht so weit weg. Mein Kind war damals noch jung, das ließ sich ganz gut vereinbaren und nebenbei arbeitete ich noch halbtags.


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Welche Studiengänge boten sich als Alternative an? Im Nachhinein denke ich, Jura zu studieren wäre besser gewesen. Anfang der Neunziger war uns noch nicht klar, wie kompliziert das alles werden würde. Es ist jetzt zwar alles gut, so wie es ist und das Studium hat mir auch viel Spaß gemacht, aber Jura wäre eine gute Alternative gewesen.

Mit 24 Jahren sind Sie Mitglied bei den Grünen geworden. Was waren Ihre Beweggründe in die Partei einzutreten? Die Bündnisbewegung war mir ja nicht fremd, das war die Zeit meiner eigenen Politisierung. Ich kannte durch das Neue Forum viele Leute, die dann von der Bürgerbewegung zu den Grünen wechselten. Das

»Wir wollen nicht das Fleisch ­ essen verbieten. Wir möchten, dass man hinterfragt und nachdenkt, woher es kommt.«

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»Wir haben die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen, wir sind keine besseren Menschen.«

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ist ein Stück weit meine politische ­ Heimat. Diese ganze Partei­ organisation allerdings war mir fremd und das wollte ich zuerst gar nicht. Ich ging aber regelmäßig zu den Veranstaltungen und bei einer Sitzung gab es mal den Fall, dass die eine Hälfte die eine Position und die andere Hälfte die andere vertrat. Meine Stimme gab dann bei der Abstimmung tatsächlich den Ausschlag, obwohl ich gar nicht hätte mitstimmen dürfen. Dadurch wurde ich Mitglied.

Parallel zu Ihrem Studium haben Sie das Wahlkreisbüro der Bundes­ tagsabgeordneten Steffi Lemke geleitet. Das war sicher sehr zeit­ intensiv, wie haben Sie das mit Ihrem Studium vereinbaren können? Anfangs war es eine Teilzeitstelle. Auch bei uns in der Fraktion haben wir studentische Mitarbeiter, die bis zu 19,5 Stunden pro Woche arbeiten und so fing ich ebenfalls an. Erst als ich dann mit dem Studium fertig war, hatte ich eine Vollzeitstelle. Also, nicht ungewöhnlich. Für mich war es einfach eine gute Bereicherung, es gab viele spannende Einblicke, 1998 habe ich die dreitägige Wahlkampf­ tour für Joschka Fischer durch Sachsen-Anhalt organisiert. Den ganzen Tag war er damals auf Achse, und das über mehrere Wochen. In dem Sinne habe ich das auch gar nicht als Arbeit angesehen, das Organisatorische liegt mir einfach.

Wie kam es dazu, dass Sie später selbst Politikerin wurden? Hauptberuflich mache ich das noch gar nicht so lange, erst seit 2011. Das war tatsächlich eine Quoten­ geschichte, 2010 gab es für die Grünen eine große Chance, dass wir wieder in den Landtag einziehen. Sicher war das natürlich nicht, aber trotzdem haben die Kreisverbände darauf geachtet, wer auf die oberen Landeslistenplätze kommt. Bei uns Grünen sind alle ungeraden Plätze für Frauen reserviert und mein Kreisverband Dessau-Roßlau kam auf mich zu, weil durch eine Frau die Wahrscheinlichkeit höher war, dass wir in dem Rennen dann vertreten sind. Zu der Zeit hatte ich seit eineinhalb Jahren einen Job in Berlin. Ich fand das Angebot aber sehr reizvoll, denn während meiner Zeit in Berlin habe ich auch erkannt, dass ich eher eine Kleinstadtpflanze bin. Das war alles ganz schön groß und laut. Daraufhin entschied ich mich, es in Magdeburg zu versuchen, was auf Listenplatz drei ja auch geklappt hat. Sie waren damals ›schon‹ Anfang 40. Inwiefern kann so ein später Einstieg in die Berufspolitik Vor­ teile mit sich bringen? Hat man ei­ nen anderen Blick auf die Dinge? Ja, weil ich schon verschiedene Aspekte des Lebens kennenlernte. Man ist ein Stück weit unabhängiger, denn ich weiß, dass es auch viele andere Möglichkeiten gibt, mitzu-

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wirken, sich selbst zu verwirklichen und sein Geld zu verdienen. Manche meiner jungen Kollegen legten eine steile Parteikarriere hin, die kamen von den Parteijugendorganisationen wie die Junge Union oder die Grüne Jugend direkt in die Parlamente. Aber gerade die haben Schwierig­ keiten, sich vorzustellen, dass es noch ein anderes Leben geben kann.

Was konnten Sie aus Ihrem Studium der Erziehungswissen­ schaften für Ihre Arbeit als Politi­ ke­rin mitnehmen? Im Studium lernte ich viele Softskills, zum Beispiel wie man richtig in Verhandlungen auftritt, das hat schon geholfen. Fachliche Hintergründe bringe ich im Sozialausschuss mit ein, wie etwa bei Sozialgesetzgebungen oder Krankenhausplanungen, da ist meine berufliche Qualifikation schon von Vorteil. Das ist bei kleinen Fraktionen natürlich nicht immer möglich, für den Ausschuss Landesentwicklung und Verkehr musste ich mich in ein ganz neues Themenfeld hineinfinden. 2016 sind Sie Fraktionsvor­ sitzende der Grünen im Landtag geworden. Welche Aufgaben bringt dieser Job mit sich und wie läuft die Zusammenarbeit mit den Fraktionen der anderen Parteien? Als Fraktionsvorsitzende bin ich diejenige, die die Fraktion nach außen hin repräsentiert, zum Beispiel bei Bewertungen zum Landeshaushalt.

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Nach innen muss ich die Fraktion organisieren sowie Personalangelegenheiten klären. Zu fünft ist es natürlich albern, einen großen Fraktionsvorstand zu haben, deswegen landet vieles direkt bei mir. Zusätzlich bespreche ich Angelegenheiten mit den Fraktionsvorsitzenden von CDU und SPD. Wenn es zu Konflikten kommt, ist es meine Aufgabe, diese zu entschärfen und zwischen Fachabgeordneten zu vermitteln. Bei unserer Dreierkonstellation in der Landesregierung ist es immer eine Herausforderung, Gemüter zu beruhigen, um wieder auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.

»Ich ernähre mich zu 85 Prozent vegetarisch.«

Seit der Landtagswahl 2016 ist auch die AfD im Parlament vertreten. Was hat sich seitdem im Parlament verändert, auch für Sie persönlich? Die Stimmung veränderte sich grundlegend. Das können Mit­ arbeiter und Abgeordnete, die erst seit dieser Wahlperiode dabei sind, gar nicht nachvollziehen. Früher gab es Diskussionen, bei denen es auch mal härter zur Sache ging, aber eine grundlegende Anerkennung gegenüber den Anderen war immer vorhanden, auch wenn die andere Meinungen vertraten. Wenn


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die Regierung im Zweifel auch mal etwas durchdrücken musste, wurde vorher lange miteinander gerungen und die Opposition ernst genommen. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Das liegt an der Aufstellung der AfD an sich sowie ihrer rechten Themensetzung, die sich oft außerhalb unserer Landesverfassung bewegt und mit der sie sich selbst ins Abseits stellen. Und an ihrer respektlosen Rhetorik, die für mich wirklich schwer auszuhalten ist. Wir haben lange gebraucht, einen Weg des ordentlichen diskursiven Auftretens zu organisieren, aber die Qualität des Ausdiskutierens und die Anerkennung der Meinung der Opposition gibt es einfach nicht mehr. Das finde ich sehr schade. Gerade für uns Grünen stelle ich fest, dass wir uns aneinander ­ab­arbeiten (an der AfD, Anm. d. Red.), da be­ stehen größte Unterschiede. Mit den Linken stellten wir uns früh im Wahlkampf gegen die AfD. Seitens der AfD werden persönliche Ver­ letzungen öffentlich vorgetragen. Das war völlig neu, keiner von uns war darauf vorbereitet. Wenn man so direkt damit konfrontiert wird, ist es sehr anstrengend und schwierig. Solche Auseinandersetzungen auf persönlicher Ebene rauben so viel Kraft und Energie. Die Grünen befinden sich in den Umfragen auf Bundesebene gerade bei rund 19 Prozent. In Sachsen-Anhalt liegt Ihre Partei

derzeit allerdings nur bei etwa 6 Prozent. Warum profitieren Sie hier nicht von diesem Höhenflug? Eine Erklärung ist die Milieutheorie, nämlich dass die Grünen sehr stark im urbanen Gebiet sind. Gerade dort haben Themen wie zum Beispiel die Mobilität jenseits der Autos mehr Rückhalt. In Berlin oder Hamburg können sich das mehr Leute vorstellen, da treffen sich Menschen mit urbaner Gesinnung. Das steht im Kontrast zu Sachsen-Anhalt, wo viele ländliche Bereiche von früheren Regierungen einfach vernachlässigt wurden, sei es bei öffentlichen Verkehrsmitteln oder bei der Bildung. In diesen Bereichen hat sich einfach viel Frust aufgestaut. Ich setze darauf, dass immer mehr Menschen sehen, dass es so nicht weiter gehen kann. Vieles, was wir sagen, ist halt anstrengend. Was die Grünen vorschlagen, bedeutet oft Veränderung und das ist eben nicht leicht. Diese Vorhaben können allerdings nicht mit dem Holzhammer realisiert werden. Der lange Hochsommer 2018 lässt die Menschen nach­denken. Kann ich nicht öfter mal das Fahrrad benutzen? Wir haben die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen, wir sind keine besseren Menschen. Wir haben auch schon mal bei Amazon bestellt. Aber, guckt lieber mal bei dem, was ihr tut, dass eure Kinder und Enkelkinder noch gut davon leben können und lasst uns nicht unsere Lebensgrund­ lagen zer­ stören. Wir wollen nicht

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ÂťTrotz mancher Schwierigkeiten will ich nach vorne schauen.ÂŤ 56


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das Fleisch essen verbieten. Wir möchten, dass man hinterfragt und nachdenkt, woher es kommt.

Im vergangenen Jahr waren Sie Schirmherrin des Fahrrad-­ Aktionstags in Magdeburg. ­Welche Entwicklungen wünschen Sie sich im Hinblick auf eine fahrrad­ freundliche Stadt? Da haben wir noch einiges zu tun. Generell wünsche ich mir, dass man von der Autozentriertheit wegkommt. Fußgänger und Radfahrer sollten als ebenbürtige Verkehrs­ teil­ nehmer angesehen werden. Es sollte immer möglich sein, ohne große Umwege mit dem Fahrrad von A nach B zu kommen, ohne zwangs­läufig das Auto zu benutzen. Wir brauchen auch ganz praktische Sachen wie gute Abstellmöglich­ keiten. Für den nächsten Haushaltsplan ist ein Förderprogramm für Lastenräder geplant. Viele wollen mit dem Fahrrad fahren, aber die Bedingungen sind momentan noch nicht gut genug, da müssen wir was tun! Wie präsent ist Fahrradfahren in Ihrem Alltag? Ich versuche das immer zu ver­ binden. Wenn es geht, fahre ich mit dem Zug und lasse mein Fahrrad am Bahnhof stehen. In Halle oder Dessau kann ich aber kein Fahrrad über Nacht stehen lassen, dann hab ich am nächsten Tag nur noch ein halbes. (lacht) Besonders im

Politikberuf, in dem man die meiste Zeit sitzt, ist es einfach wohltuend, sich auf kleinen Strecken mal zu bewegen. Das nutze ich für Termine außerhalb, zu denen ich nicht un­bedingt mit dem Auto fahren muss.

Sie pendeln zwischen D ­essau-­ Roßlau und Magdeburg. Auf welches Verkehrsmittel greifen ­ Sie eher zurück, Zug oder Auto? In letzter Zeit fahre ich sehr viel mit dem Auto, weil mein Terminkalender einfach so voll ist und ich bestimmt ein Drittel weniger schaffen würde, wenn ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren würde. Das ist sehr schade, aber gerade Dessau ist leider nicht sehr gut angebunden wie beispielsweise Halle oder Magdeburg. Wir haben weder Dienstauto noch Fahrerin, wenn es mal zu anstrengend ist, springt Renate ein, eine Rentnerin, die sich ein bisschen was dazu­ verdient. Auf Twitter bezeichnen Sie sich als ›Kämpferin für ein buntes und fröhliches Sachsen-Anhalt‹. Was genau bedeutet das? Ich sehe Sachsen-Anhalt als ein weltoffenes Land und ich setze mit meiner Partei alles daran, dass das so bleibt und noch besser wird. Wir haben ein Land mit so einer reichen Natur, die meisten Welterbestätten, gute Ausbildungsmöglichkeiten so­ wie Hochschulen und sind im Herzen Europas. Ich versuche, an

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diese Stärken anzuknüpfen und das Positive zu sehen. Trotz mancher Schwierigkeiten will ich nach vorne schauen.

Im Rahmen Ihrer Praxistage tauchen Sie regelmäßig in ver­ schiedene berufliche Welten ein. Unter anderem haben Sie Demenz­ kranke besucht und ei­ nen Tag lang die Telefonseelsorge unterstützt. Was nehmen Sie von solchen Aktionen in Ihre politi­ sche Arbeit mit? Die Möglichkeit, etwas mehr mitzukriegen als wenn ich da nur

durchlaufe und mir zeigen lasse, wo das Telefon steht. Selbst vor Ort erleben zu können, wie es in so einer Praxis oder Notaufnahme abläuft ist nochmal was ganz anderes, als von den Problemen immer nur zu hören. Ich kann mit Betroffenen reden und bin ansprechbarer, als nur durch Email-Verkehr. Ich will wirklich ­wissen, was die Probleme sind. In vier Worten, wie würden Sie persönlich die Menschen in ­Sachsen-Anhalt beschreiben? Vorsichtig. Interessiert. Kreativ. Dankbar.

»Vieles, was wir sagen, ist halt anstrengend.« 58


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Auf Ihrem YouTube-Kanal ­ha­ben Sie vor wenigen Monaten ein vegetarisches Rezept zum Weltvegetariertag hochgeladen. Ernähren Sie sich selbst auch vegetarisch? Ich ernähre mich zu 85 Prozent vegetarisch. Es kommt schon mal vor, wenn ich weiß woher das Fleisch kommt, dass ich beim Grillen oder zu Weihnachten etwas Fleisch esse. Je weniger es wird, desto weniger schmeckt mir das und ich vermisse es kaum. Es gibt viele tolle vegetarische Rezepte. Mein Sohn ist Veganer, somit muss ich mich nochmal ganz anders damit beschäftigen, was ich esse und koche. Viele Sachen sind wirklich vegan. Eine vegane Suppe ist super einfach zu kochen. Wir machen uns oft den Spaß, wenn Gäste da sind, sagen wir dann: Hey, das war übrigens vegan. Was ist denn Ihr Lieblingsgericht in der Kantine des Landtags? Oh, das ist für mich eine ganz blöde Frage. (lacht) Mit unserer Kantine liegen wir etwas im Dauerclinch. Wir haben jetzt aber zum ersten Mal eine Landtagspräsidentin, bei der man merkt, dass sie mehr Wert auf gutes Essen legt als ihre männlichen Vorgänger. Sie hat zur Verbesserung eine Kantinenkommission ins Leben gerufen. Mein aktueller Favorit ist ein Gericht aus roten Linsen und Mango, das machen sie ziemlich gut.

Wie können Sie persönlich nach einem stressigen Tag am besten abschalten? Fahrradfahren! Der Vorteil an Dessau ist, dass es sehr ländlich geprägt ist und man somit von jedem Ort der Stadt in höchstens acht Minuten irgendwo im Grünen ist. Ich paddel auch sehr gerne in meiner Freizeit. Generell, Bewegung in der Natur. Ich versuche auch, einmal die Woche zum Yoga zu gehen, um komplett abzuschalten.

Am Sonntag sind Sie im Freischütz in Dessau, vor ein paar Wochen waren Sie noch bei Feine Sahne Fisch­filet. Wo fühlen Sie sich ­besser aufgehoben? Bei Feine Sahne Fischfilet war ich eher skeptisch. Das habe ich auch allen im Bauhaus gesagt. Ich dachte, das wäre so gar nicht meine Musik. Ich war dann sehr überrascht, als ich dort war, das hört sich zum Teil wie bei den Toten Hosen an und das ist so meine Welt, da gehe ich gerne hin. Ich bin da relativ breit auf­ gestellt und auch sehr gespannt auf den Freischütz. Die Inszenierung in Dessau wurde sehr gelobt. Wie viel Zeit bleibt Ihnen für Ihre Familie und Freunde und wie ­verbringen Sie diese? Da muss man schon sehr diszipliniert sein. Ich finde es wichtig, auch mal einen Strich im Kalender zu machen und zu sagen: Da ist jetzt mal nichts. Das klappt nicht immer,

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aber ich versuche, einen Tag in der Woche keinen Termin zu haben und mir diesen für meine persönliche Gestaltung freizuhalten.

Sie sagten vorhin, dass Sie in Ihrer Freizeit gerne paddeln. Welche ist Ihre Lieblingsstrecke? Die Elbe in Sachsen-Anhalt ist einfach großartig. Es ist spannend, wie sich der Fluss von Dessau nach Barby verändert. Der ist da nicht

eingegrenzt, der ist frei fließend, der kann mäandern. Das ist die Stelle, die am unbelastetsten ist. Zweimal im Jahr kann man die Mulde von Raguhn bis zur Elbe paddeln, das ist das Großartigste, was es gibt. Die Mulde ist der wildeste Fluss in ganz Europa, der auch stadtnah ist. Ein ganz besonderes Erlebnis. Januar 2019

Vista.Schon? Cornelia ›Conny‹ Lüddemann, Jahrgang 1968, wuchs in Dessau auf. Sie absolvierte eine Ausbildung zum Bibliotheksfacharbeiter und studierte anschließend Erziehungswissenschaften in Halle. Nach mehreren Jahren als Geschäftsführerin des Landesfrauenrats Sachsen-Anhalt wechselte sie hauptberuflich in die Politik. Seit 2011 sitzt sie im Landtag und übernahm für fünf Jahre den Landesvorsitz der Grünen, seit 2016 ist sie Fraktions­ vorsitzende ihrer Partei. Die typischen Sachsen-Anhalter beschreibt sie mit den Worten vorsichtig, interessiert, kreativ und dankbar. Außerdem hat sie die Patenschaft für Eseldame ›Bella‹ übernommen und trinkt neben Leitungswasser auch mal gerne einen Gin Tonic.


Cornelia Lüddemann

»ich bin so wie ich BIN. ich lasse mich nicht casten.« Wer hatʼs gesagt?

Lösung: Das ganze Interview gibt es auf www.inter-vista.de

Holger Stahlknecht, Ausgabe 6 61


Roland Bach

Roland Bach »Ich bin einfach kein Selbstdarsteller.« Kurz nach Neujahr besuchten wir Roland Bach in seiner Klavierschule in der Altstadt. Der studierte Technologe lebt seit jeher in Magdeburg und lehrt Alt und Jung das Klavierspielen. Inter.Vista verrät er das ultimative Heilmittel gegen Kopfschmerzen, erzählt von seiner dramatischen Geburt und von einem ungewöhnlichen Nebenjob. Interview und Fotos: Sophie Traub

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Roland Bach

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Roland Bach

Mit welchem Musiker, tot oder lebendig, würden Sie am liebsten zu Abend essen? Nur mit einem? Das ist ja grausam! Vielleicht mit dem ›richtigen‹ Bach, meinem Namensvetter, oder Mozart. Es wäre cool, zu erfahren, wie diese Personen wirklich waren. Als Musiker kennt man nur deren Produkte und für gewöhnlich sind die dazugehörigen Persönlichkeiten dann doch recht enttäuschend. Das gilt für die Literatur, wie auch für die Musik und die Wissenschaften. Die haben alle ihre enttäuschenden Seiten.

Woher stammt Ihre Liebe zur Musik? Das kann ich nicht erklären, die war einfach da. Als wenn es so vorherbestimmt gewesen wäre. Wenn ich als Kind eine Tastatur sah, fühlte ich mich zu ihr hingezogen, ganz un­erklärlich. Ein nettes Schicksal.

Sie komponieren selbst. Was ist Ihr bisher gelungenstes Werk? Das ist ein kleines Klavierstück, das sich »Awolin« nennt. Darauf bin ich besonders stolz. Es wurde unter anderem sogar bei einem Darmstädter Musikverlag verlegt.

»Im Gegensatz zu vielen Leuten meines Alters hatte ich wirklich viel SpaSS in meinem Leben.«

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Roland Bach

Wer oder was inspiriert Sie beim Komponieren? Nichts. Entweder ist etwas da oder nicht. Ich höre anfangs immer ein paar Töne und spiele diese dann einfach weiter. Ich setze mich nicht hin und warte auf eine Idee. Das klappt nicht. Diese Töne kommen meist dann, wenn es gerade überhaupt nicht passt. Es ist auch schon geschehen, dass ich davon träumte. Wenn ich nicht sofort etwas unternehme, ist die Idee auch wieder weg. Haben Sie ein inspirierendes ­Vorbild? Kein Vorbild, aber eine inspirierende Vorlage. Das ist der Jazzpianist Sir George Shearing. Er wurde blind geboren und schaffte es trotzdem, Klavier zu spielen und Lebensfreude sein Eigen zu nennen.

Sie spielen und unterrichten ­Klavier. In welchem Genre sind Sie musikalisch gesehen zu Hause? Von der Ausbildung her in der Klassik, aber ich mag auch sehr ­ gerne Jazz. Wie kamen Sie zum Jazz? Wie üblich, per Zufall. Die Geschichte dahinter ist ein wenig merk­würdig. Es war ein ganz normaler Tag und ich hatte wirklich furchtbare Kopfschmerzen. Ein guter Freund kam vorbei und meinte, es finde ein Jazzkonzert in der Nähe statt und wollte mich mitnehmen. Das war damals im Klubhaus der Eisenbahner, das

gibt’s heute gar nicht mehr. Ich hatte eigentlich keine Lust, aber: Was soll passieren? Schlimmer wird’s nicht. Als wir ankamen, erfuhr ich, dass es sich um Free Jazz handelte, also eine Form des Jazz, bei der nur improvisiert wird. Im Übrigen: So ›free‹ ist Free Jazz nun auch wieder nicht. In diesem Genre gibt es jede Menge Verbote. Na, jedenfalls klang das alles für mich nur nach noch mehr Kopfschmerzen. Wir saßen auch noch in der ersten Reihe, es war hübsch laut. Doch als das ­Konzert vorbei war, ging es mir richtig gut. Die Kopfschmerzen waren ver­flogen. Nach diesem Erlebnis interessierte ich mich also für Jazz und das ist bis heute so geblieben. Auf Ihrer Website steht, Sie unter­ richten von 6 Jahren bis 66+. Wie alt ist Ihr ältester Schüler und wie alt Ihr jüngster? Ich glaube der Älteste zählt etwas über 70 Jahre und der Jüngste hat mit sechs Jahren angefangen. Viele der Erwachsenen hatten schon mal Unterricht und wollen das dann wieder auffrischen oder fortführen.

Ist das dann wie Fahrradfahren? Also man verlernt es nie? Ich würde eher sagen, es ist wie Sport. Wenn man nicht hart trainiert, rostet man ein. Um nur das Niveau zu halten, muss man schon üben.

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Roland Bach

Sie sind so gut wie unsichtbar im World Wide Web. Misstrauen Sie den sozialen Medien? Ich bin einfach kein Selbstdarsteller, ich mag das nicht. Ich habe kein einziges Selfie.

Als Musiker müssen Sie sich aber doch auf eine gewisse Art und Weise selbst darstellen. Ja, auf Konzerten. Ich wurde nicht nur einmal gefragt, ob ich meine Stücke bei einem Konzert spielen möchte. Aber letztendlich traute ich mich nicht, auf die Bühne zu gehen. Ich hatte gar keine Erfahrung vor ein paar hundert oder gar tausend Leuten zu spielen. Und dann auch noch meine eigenen Werke. Was ist, wenn es denen nicht gefällt? Dann stehe ich dumm da. Es spielten also andere. Danach war ich meist enttäuscht. Aber nicht, weil ich mich nicht traute, sondern, weil sie so schlecht spielten. Ich hätte es ­schöner gemacht.

»Ich unterrichte Mathematik, da erlebt man nicht viel.«

Wie bekamen Sie Ihre musika­ lische Ausbildung? Ich studierte in Magdeburg, zuerst Technologie. Danach kam die Musikerziehung und ich studierte Instrumentallehre. Das war nicht

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unbedingt mein absolutes Wunschstudium, aber für alles andere hätte ich wegziehen und meine Band im Stich lassen müssen.

Wie hieß die Band? Gibt es Euch noch? Die gibt’s nicht mehr. Antecedence nannten wir uns damals. Wir spielten elektronische Musik. Ich saß an den Keyboards und bediente auch Sequenzer und Drum-Computer, habe sozusagen mit Händen und Füßen gespielt. Die Band gab es fünf Jahre, dann kam die Wende und jeder ist seiner Wege gegangen.

Steht eine Wiedervereinigung an? Dafür gäbe es schon Möglichkeiten, man fragt sich nur: Muss das sein? Nur für den Spaß? Im Gegensatz zu vielen Leuten meines Alters hatte ich wirklich viel Spaß in meinem Leben. Und jetzt mache ich einfach meinen Job, arbeite auch beim Buchverlag Marvin und beim Musik­verlag Edition Walhall mit. Da mache ich das Layout oder den Notensatz. Ich beschäftige mich gerne mit dem, was kreativ ist und will immer ein bisschen mehr machen, als nur den einen Job. War es schon immer Ihr Wunsch, musikalisch zu arbeiten? Ja und nein. Hauptsächlich wollte ich aber – wie auch immer – künstlerisch tätig sein.


Roland Bach

Sie arbeiten nicht nur in Ihrer Klavierschule, sondern geben Patienten im Landeskranken­ haus für Forensische Psychiatrie ­Lochow Mathematikunterricht. Wie kam es dazu? Auch dieses Mal: per Zufall. Ich gab jemandem, der dort tätig ist, Klavier­ unterricht. Und das ergab sich dann eben alles so.

Wieso unterrichten Sie dort Mathe­matik und nicht Musik? Wollte ich ja eigentlich. Nur gibt es dafür leider kein Budget. Also hieß es: Musik nein, Mathe ja. Anfangs habe ich sogar Deutsch und Mathe unterrichtet. Haben Sie ein besonderes Erleb­ nis, das Ihnen dabei in ­Erinnerung geblieben ist? Könnte man so sagen. Und gewiss nicht nur eines. Nur: Ich musste eine mehrseitige Geheimhaltungsbelehrung unterschreiben. Damit fällt also der echt unterhaltsame Teil weg.

Wie kann man sich den Unterricht vorstellen? Am besten gar nicht. (lacht) Und ganz bestimmt nicht klassisch. ­Kommen Sie einfach mal mit. Wollen Sie das noch eine Weile weiter machen? Dieses Jahr ›muss‹ ich hin, da ich den Schülern versprochen habe, zu kommen. Ob ich das Versprechen fürs

nächste Jahr auch wieder abgeben werde, weiß ich noch nicht.

»Ich habe kein einziges Selfie.«

Ihr musikalischer Werdegang ist durchaus von Erfolg geprägt, Sie werden verlegt, haben eine eigene Klavierschule, einen Musik­­ verlag und 1991 haben Sie das Arno-Schmidt-Stipendium für Kom­ position erhalten. Wie kam es dazu? Irgendjemandem muss wohl das, was ich geschrieben habe, gefallen haben. (lacht) Eines Tages klingelte mein Kompositionslehrer bei mir und fragte, ob ich Interesse hätte, ein Stipendium anzunehmen. Ich war überrascht und total überrumpelt, aber er beharrte auf einem Ja oder Nein, also sagte ich einfach mal zu. Daraufhin bekam ich eine Einladung nach Benefeld in Niedersachsen. Vor Ort fragte man mich ein wenig aus und schlussendlich wurde ich für ›würdig‹ befunden. So nahm das Ganze seinen Lauf. Das Interessante war, dass das Stipendium deutschlandweit ausgeschrieben war, was ich gar nicht wusste. Es waren letztendlich fünf Personen in der engeren Wahl. Drei davon waren Professoren, einer Dozent und ich eben der ›Normalsterbliche‹. Man hat sich also für den einfachen Erdkrustenbewohner entschieden. So verbrachte ich sechs Monate

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»Wenn man nicht hart trainiert, rostet man ein. Um das Niveau zu halten, muss man schon üben.«

in Nieder­ sachsen und als die Zeit vorüber war, kam der Bürger­meister zu mir und fragte, ob ich nicht noch drei Monate länger bleiben wolle. Da musste ich nun wirklich nicht viel überlegen. Viele Freunde besuchten mich dort und konnten nie so richtig fassen, wie jemand so viel Glück haben kann: Stipendium, ein temporär eigenes Haus und ich durfte den ganzen Tag machen, was ich wollte. Das Einzige, was ich bezahlen musste, war das Telefon.

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(lacht) Sie wollten mich dann sogar noch länger dort halten, denn in der Waldorfschule im Ort wurde ein Musiklehrer gesucht.

Wieso entschieden Sie sich dagegen? Ich bin einfach nicht der Typ dafür. (lacht) Das Leben ist doch schon mit so vielen Kompromissen behaftet, dass ich das bisschen Freiheit, das noch bleibt, pflegen und bewahren will.


Roland Bach

Sie sind geboren und aufgewach­ sen in Magdeburg. Nicht ganz. Die Ärzte in Magdeburg sagten meiner Mutter damals, kurz vor der Geburt, dass es mit mir Pro­bleme geben würde. Die Kinderklinik Schönebeck wäre noch am ehesten in der Lage, zu helfen. Also fuhr sie zum Entbinden dorthin. Aber auch die hätten das niemals geschafft. Was mich rettete und am Leben hielt, waren Beziehungen zum Westen. Meine Mutter hatte Geschwister dort und per Fern­ gespräch haben dortige Ärzte dann denen in Schönebeck durchgegeben,

was es zu tun galt. Wenn ein Leben so anfängt, das prägt einen dann doch schon ein bisschen. Wie würden Sie Magdeburg in drei Worten beschreiben? Interessant. Hoffnungsvoll. Und natürlich grün. Wie stehtʼs mit ›dem Magde­ burger‹? Der ist nicht anders als die meisten Städter. Januar 2019

Vista.Schon? Roland Bach wurde 1961 in Schönebeck geboren und teilt sich seinen Geburtstag mit Aretha Franklin, Elton John und Béla Bartók, Jim Lovell, Arturo Toscanini und Modest Petrowitsch Mussorgsky. Ihm gehört die Klavier­schule BACH in Magdeburgs Altstadt. Ursprünglich studierte der Klavierlehrer Technologie, wandte sich dann aber der Musik und dem Komponieren zu. Müsste er sich entscheiden, würde er lieber Beethoven als Mozart treffen. Für Inter.Vista machte Roland Bach sein allererstes Selfie, was er letztendlich immerhin als ›nicht allzu schlimm‹ ansah. Sein selbst komponiertes Stück »Awolin« kann man sich sogar auf Spotify und auch auf YouTube anhören.


Paula GünnisdÓttir

Paula GünnisdÓttir »Blut kann ich wirklich nur im echten Leben sehen.« Tagsüber seziert sie Organe und Innereien, aber wenn die amtierende Stadtmeisterin abends auf der Bühne steht, ist sie laut, überdreht und nimmt kein Blatt vor den Mund. In Magdeburg gilt die 24-Jährige mittlerweile als Urgestein des Poetry-Slams. Inter.Vista verrät sie, wie inspirierend Aufkleber sein können, was es mit ihrem Künstlernamen auf sich hat und mit welcher Eigenschaft ihr absoluter Traummann überrascht. Interview und Fotos: Lisa Marie Felgendreff

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Paula GünnisdÓttir

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Paula GünnisdÓttir

Du bezeichnest Dich als der Gunter Gabriel unter den P ­ oetrySlammerinnen. Wie kamst Du zu diesem Vergleich? Den gibt es seit einem Frauen-Slam hier in Magdeburg. Daran nahmen viele Mädchen mit ihren Tagebuch­ texten über Herzschmerz und Gefühle teil. Damals bezeichnete ich mich noch als Lemmy Kilmister der Slammerszene. An dem Abend fiel mir auf, dass Gunter Gabriel besser zu mir passt. Ein alter Mann, ein

bisschen ranzig, oll und etwas too much. Damit konnte ich mich gut identifizieren. Außerdem polarisiert er und ist sich treu geblieben.

Du stehst seit über acht Jahren als Poetry-Slammerin auf der Bühne. Wie kam es dazu? Wie bei den meisten Slammern fing es auch bei mir mit einem ­alter­­na­tiven Ethiklehrer an. Der meinte, wir müssten Poetry-Slam in unserem kleinen Kaff groß machen.

»Meine gröSSte Angst ist, auf der Bühne ohnmächtig zu werden.«

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Paula GünnisdÓttir

Er organisierte eine Veranstaltung, bastelte Plakate. Damals befasste ich mich erstmals näher mit dem Thema und sah ein Poetry-Slam-Video von Andy Strauß. Übrigens, immer noch mein Lieblingsslammer. Er hatte einen so ergreifenden Text, dass ich es auch probieren musste. Seitdem nahm ich an kleineren Slams teil. Erst als ich nach Magdeburg zog, schlitterte ich in die richtige Szene rein. Mittlerweile werde ich als Urgestein bezeichnet.

Kannst Du Dich an Deinen ersten Slam noch erinnern? Ich habe davon sogar noch eine DVD. Das Ganze wurde von unserem kleinen Dorf-Internetsender gefilmt und übertragen. Damals war ich noch eine richtige Kleinstadtzecke, die dachte: Jetzt verändere ich die Welt mit meinem Text. Ich schrieb über Werbung und Krieg, weil niemand besser darüber Bescheid weiß, als eine sechzehnjährige Kleinstadt­punkerin. Den Slam habe ich tatsächlich gewonnen, das war sehr cool. Vor kurzem las ich den Text nochmal in der Sternbar. Mir fiel auf, wie stark sich die Qualität meiner Texte seitdem verbessert hat. Hattest Du schon vor Deinem Stu­ dium einen Bezug zu Magdeburg? Meine Heimat Staßfurt liegt in der Nähe und ich hatte schon immer meinen Freundeskreis in Magdeburg. Ich kannte die Leute, die Stadt

und ich fühlte mich hier wohl. Selbst als ich mein Abi in Niedersachsen machte, wollte ich unbedingt zurück. Das liegt auch ein bisschen an der Ost-West-Geschichte. Der Osten war mir immer sympathischer. Was warst Du für eine Studentin? Ich war das eine alkoholisierte Girl unter den Informatikern. Zum Frühstück Kaffee und Kippe und dienstags in die Baracke. Ich freundete mich mit ein paar Leuten an, mit denen ich viel feierte und Blödsinn anstellte. Aber so richtig studiert haben wir nicht. Deshalb war es nach zwei Semestern auch vorbei, als ich merkte, dass Informatik nicht das Richtige für mich ist.

Du arbeitest als medizinische ­Laborantin. Wie bist Du zu Dei­ nem Beruf gekommen? Mich interessierten schon immer Naturwissenschaften, ich lese viel dazu. Die Arbeit im Klinikum sagte mir sehr zu. Vor allem in der Pathologie ist es total interessant. Es ist abgedreht, was Patienten alles haben können, wie das aussieht und wuchert. Das Kreative brauche ich aber als Ausgleich. Beides ergänzt sich großartig. Texte über Patho­ logie gehen gut. Beim letzten großen Hörsaal-Slam habe ich so einen in der Uni vorgetragen, das kam sehr gut an. Ein paar Leute aus der Pathologie waren auch da, die fanden den Text wirklich witzig.

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Paula GünnisdÓttir

Wie können sich unsere Leser Deinen Arbeitsalltag in der Patho­ logie vorstellen? Fast alles, was aus einem menschlichen Körper geschnitten wird, kommt zu uns ins Labor. Eine abgenommene Brust eines Krebs­ patienten oder ein Meter Darm, da ist alles dabei. Dann wird das vom Arzt zugeschnitten und wir bearbeiten es weiter, damit es diagnostiziert werden kann. Für die meisten Leute sind Organe einfach so weit weg. Sie können sich gar nicht vorstellen, dass ich eine fünf Kilo schwere Niere auf dem Tisch hatte.

Was war das Interessanteste ­bisher? Tatsächlich ein vierzehneinhalb Kilo schwerer Tumor, der aus einem Bauch geschnitten wurde. Ich hörte auch von einem vier Kilo schweren Hoden. Zu der Zeit hatte ich leider Urlaub und konnte ihn mir nicht selbst ansehen. Blut und Innereien sind Dein Ding. Gilt das auch für Horror­ filme? Null. Da kann ich nicht hinsehen, mir wird schlecht oder ich werde ohnmächtig. Ich bin im Kino ein richtiger Popcornwerfer, wenn man mit mir unbedingt in so einen Film gehen muss. Ich schaue hauptsächlich Kinderfilme. Disney ist meine Welt, sowas wie König der Löwen oder Mulan. Da kann ich alle Lieder mitsingen. Ich weiß, das ist ein ­krasser Gegensatz, aber Blut kann

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ich wirklich nur im echten Leben sehen.

Gemüse, Krieg, Neunziger-Partys, die Themen Deiner Slams sind vielfältig. Was inspiriert Dich? Am besten ein Hassthema, das ich nicht mag, aber anderen Leuten wichtig ist. Zum Beispiel Feminismus. Darüber kann man sich wahnsinnig gut lustig machen. Gerade weil es momentan so ein großes Thema ist. Das ganze Genderzeug, das so super aufgebauscht wird. Ich finde das furchtbar anstrengend. Oder Themen die polarisieren, wie Rote Beete. Ich bekam noch nie so kontroverse Reaktionen, wie auf diesen Text. Jetzt überlege ich, an einem Weihnachtstext zu arbeiten. Das Blöde an saisonalen Texten ist, dass ich sie nur einmal im Jahr bringen kann. Aber dann kommen sie besonders gut an. Da ich überhaupt kein Fan von Weihnachten bin, dachte ich, ich könnte das schön breitlatschen. Wie entstehen Deine Texte? Meistens trifft mich ein ›Schlag‹, ob bei der Arbeit oder in der Bahn. Besten­falls kommt kurz vorm Einschlafen eine Idee, die sich festsetzt. Die schreibe ich dann auf. Ich habe zig Bruchstücke von Worten und Sätzen in meinem Handy. Irgendwann spinnt sich die Idee weiter und ich mache einen Text daraus. Bei einer Auftragsarbeit mit vorgegebenem Thema setze ich mich an


Paula GünnisdÓttir

den Laptop und schreibe erstmal einen Text runter. Später gucke ich nochmal drauf und denke: Reicht zum Vorlesen. (lacht)

Ist Dir auf der Bühne schon mal etwas richtig misslungen? Noch nicht. Ich habe immer krasses Lampenfieber, mir wird schnell schwindelig. Meine größte Angst ist, auf der Bühne ohnmächtig zu werden. Das wäre so unnötig. Ich bin mir fast sicher, dass es noch passieren wird. Aber so viel kann man auf der Bühne gar nicht falsch machen. Ich sah mal, wie eine Slammerin sich komplett aufs Maul gepackt hat, weil sie mit einem Teppich über die Bühne rutschte. Selbst das war ­lustig und kam gut an. Gab Sympathie­ punkte.

»Ich bin im Kino ein richtiger Popcornwerfer.«

Du erwähntest Andy Strauß. ­Warum ist er Dein großes Idol? Er hat komplett ›ein Rad ab‹. Also wirklich komplett. Er lebt in seiner eigenen Blase, hat sehr spezielle Gedankengänge, wie ein Mensch, der an einer Pinnwand mit roten Fäden seine Verschwörungstheorien zusammenspinnt. Auf der Bühne strotzt er vor Selbstbewusstsein. Letztens schrieb er darüber, besoffen auf einem Pferd unterwegs zu sein,

weil es da keine Promillegrenze gibt. Also wenn das kein Traummann ist, dann weiß ich auch nicht.

Gibt es einen Unterschied zwi­ schen Deinem Bühnen-Ich und Deinem privaten? Auf der Bühne bin ich nach außen gerichtet, überdreht und aufmerksam­ keitsbedürftig, in meinem Freundes­kreis auch. Ich werde häufig als laut bezeichnet, da ich eine starke Persönlichkeit habe, die vielen Leuten auf die Nerven geht. Du liebst es, zu polarisieren. Wie reagieren die Leute auf Dich? Beim Slam merke ich das vor allem an den Jurytafeln. Auf der einen Seite sieht man Zehnen, auf der anderen Seite nur Fünfen. Die einen erreicht man, die anderen nicht. Manche erzählen, dass sie meinen flachen Witz nicht gut fanden oder dass ich mich über ein heikles Thema lustig gemacht habe. Andere sprechen mich auf Partys an und finden die Texte super, da sie mal was anderes seien. Es gefällt mir, zu polarisieren.

Wie bist Du zu Deinem Künstler­ namen gekommen? Der entstand zu der Zeit, als jeder bei Facebook einen anderen Namen brauchte. Da entdeckte ich die skandinavische Namensbildung. Dafür nimmt man den Namen seines Vaters und hängt entweder dóttir für Tochter oder son für Sohn hinten an. So wie bei Nils Holgerson, dem

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»Ich werde niemals Facebook-Filter verwenden, um meine ­politische Meinung zu vertreten.«


Paula GünnisdÓttir

Sohn von Holger. Mein Vater heißt Günni und so wurde es dann Günnisdóttir. Für eine Slam-Anmoderation wurde ich mal nach meinem Facebook-Namen gefragt. Seitdem heiße ich Paula Günnisdóttir. Vermutlich bin ich unter diesem Namen sogar bekannter, als unter meinem echten. Als amtierende Stadtmeisterin kennst Du Dich bestens in der Magdeburger Slammer-Szene aus. Was macht sie besonders? Die Szene ist überschaubar, das gilt allgemein für Sachsen-Anhalt. Dafür kennen wir uns untereinander ganz gut. Fast alle in Magdeburg fingen bei den Regio Slams in der Sternbar an. Dort sieht man immer mal wieder Newcomer. Momentan sind das sehr viele Mädchen. Es gibt hier relativ wenig Männer, die aber dafür sehr gute Texte schreiben. Wie der ehemalige Stadtmeister Leonard Schubert. Ich bin sein größter Fan. Viele Newcomerinnen orientieren sich zu oft an Slam-Videos oder an Sachen, wovon sie denken, das sei Poetry-Slam. Viel in die Richtung Julia Engelmann, mit Herzschmerz, Gefühlen und verflossenen Be­­ ziehungen. Davon bin ich kein großer Fan. Aber wir haben hier auch viele witzige und zynische Menschen, die ich sehr schätze. An denen orientiere ich mich selbst gern ein bisschen.

Gibt es jemand Neueren, den Du inspirierend findest? Julian Raab, der den ersten Slam, an dem er teilnahm, direkt gewann. Er hat sich noch nie ein Slam-Video angeguckt. Er schreibt einfach drauf los und da kommen sehr gute Sachen raus. Bei den Frauen ist es für mich Katharina Herber. Mit ihr bin ich schon aufgetreten. Eine großartige Persönlichkeit, die ­ extrem gute Texte mit überraschenden Wendepunkten und schönen stilistischen Mitteln schreibt. Da würde ich niemals herankommen.

Was müsste passieren, damit Du mit Poetry-Slam aufhörst? So richtig aufhören werde ich damit nie. Bis jetzt ist es keine Arbeit für mich, wenn ich ganze Wochenenden auf der Bühne stehe oder stundenlang im Zug sitze, um zu Auftritten zu fahren. Es ist immer pure Freude. Aber wenn ich mich zum Texteschreiben zwingen müsste, würde ich das wahrscheinlich zurück­ fahren. Oder falls ich meiner Linie nicht mehr treu bin. Aber so lange es mir Spaß macht, werde ich es durchziehen.

Du sprichst gerne Themen an, die politisch oder sozialkritisch sind. Bist Du selbst politisch aktiv? In meiner Punkerphase war ich bei der Grünen Jugend. Natürlich versuchte ich, die Welt zu verändern und auf alle Missstände hinzu­ weisen. Ich war aber wahrscheinlich

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nicht genug informiert, um ganz oben mitzumischen. Auf Demonstrationen gehe ich noch regelmäßig. Ob Anti-AfD-Demos oder Tierrechte, wenn in Magdeburg etwas ansteht, dann gehe ich auch hin. Aber ich weiß nicht, ob ich die Zeit und das Durchhaltevermögen hätte, um selbst etwas Großes aufzuziehen. Ich werde niemals Facebook-Filter verwenden, um meine politische Meinung zu vertreten.

Du hast jede Menge Tattoos, er­ zählen die eigentlich auch eine Geschichte? Die bisherigen versuchen eher meine Persönlichkeit in Farbe zu fassen. Aber ich ließ mir auch ein Tattoo stechen, weil ich den Aufkleber in der Dusche eines Kumpels cool fand. Ich dachte: wie geil, ein Taucher. Dann habe ich mir den Taucher und einen Astronauten stechen lassen. Die beiden ähneln sich und dann auch wieder nicht. Ich habe auch ein Tattoo zu meinem Lieblingsautor Dirk Bernemann. Auch ein inter­ essanter und abgedrehter Mensch. Als ich frische 18 war, ließ ich mir sein Zitat »So dumm kommen wir nicht mehr zusammen« stechen und als Gegensatz dazu: »Wissen ist Freiheit, Wissen ist Macht«. Vor kurzem hast Du an den deutschsprachigen Meisterschaf­

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ten in Zürich teilgenommen. Wie hast Du sie erlebt? Extrem, durch und durch. Schon die acht Stunden Zugfahrt hin und zehn zurück waren die Hölle. Das Hotel war irre und Zürich vor allem krass teuer. Die Leute waren wie eine Familie, in die ich erst mal hineinfinden musste. Ich war zum ersten Mal dabei, die meisten kannten sich schon untereinander. Außerdem haben sie so unendlich gute Texte geschrieben und waren so selbstsicher auf der Bühne. Jeder Text war einfach perfekt, vor allem auch die Team-Slams. Ich habe vor, demnächst ein kleines Team aufzu­ machen und gemeinsam aufzutreten. Mir wurde klar, wie viel Luft noch nach oben ist. Ich möchte mich mehr dahinterklemmen, um mich weiterzuentwickeln.

Was hast Du persönlich daraus mitgenommen? Viele Leute erzählten mir leider erst am letzten Abend, dass sie meinen Text cool fanden, meine Art oder mein Aussehen mochten. Mir fiel auf, wie wichtig es ist, Leute direkt auf etwas anzusprechen, bevor die Situation verflogen ist und die Chance nicht mehr besteht. Wo siehst Du Dich in zehn Jahren? Der Idealplan wäre 34 Jahre alt und glücklich. Das sind die Rahmen­ bedingungen.


Paula GünnisdÓttir

Die Sternbar bezeichnest Du als Dein Slam-Zuhause. Gibt es noch andere Orte, an denen Du Dich zu Hause fühlst? Beim Poetry-Slam auf jeden Fall der Moritzhof und der große Uni-­ Hörsaal. Die Hörsaal-Slams sind einfach unübertroffen. Ansonsten bin ich sehr gern im Flower Power, ich kenne dort eine Menge Leute und es läuft genau meine Musik. Und in der WG von zwei Freunden, mittlerweile mein zweiter Wohnsitz, da verbringe ich jedes Wochenende.

Verkäufers erzählen oder eine längere Straßen­bahnfahrt beschreiben. Wenn man im Späti am Hassel arbeitet, hat man alles gesehen, jeden Stress und jede Freude. Man ist immer mittendrin und lernt viele Personen unweigerlich kennen. Die Straßenbahn wäre bestimmt inter­ essant, um einen Querschnitt der Leute aus Magdeburg zu haben. Wie würdest Du den typischen Magdeburger in drei Worten be­ schreiben? Für mich ist das die neonrot gefärbte Magde-Mandy.

Wenn Du spontan einen Text über Magdeburg schreiben müsstest, Dezember 2018 worum würde es gehen? Ich würde entweder den Samstag­ abend aus Sicht eines Späti-­

Vista.Schon? Paula Michelmann ist 1994 in Staßfurt geboren und dort aufgewachsen. Nach einem begonnenen Computervisualistik-Studium an der OVGU machte sie eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Laborassistentin und arbeitet seit August 2018 in der Pathologie des Uniklinikums. Wenn sie nicht gerade selbst auf der Bühne steht, liebt sie es zu Konzerten zu fahren. Außerdem sammelt sie unfreiwillig Einhörner, die sie mittlerweile in jeder Größe, Farbe und Form besitzt. Außerdem war sie bei einem Tattoo-Cover-Up von taff im Fernsehen zu sehen.


Wilhelm Polte

Wilhelm Polte »Ich war schon in jungen Jahren ein politisch interessierter Mann.« Zuckerbäcker wurde er nicht, dafür aber der erste Oberbürgermeister Magdeburgs nach der Wende. Heute ist er Ehrenbürger der Stadt und engagiert sich immer noch rund um die Uhr. Als DDR-Bürger tritt er 1960 in Westberlin heimlich in die SPD ein, im Studium riskiert er die Exmatrikulation und im Herbst 1989 gründet er mit anderen eine Partei. Auf Auszeichnungen gibt er nicht viel, dabei ist er Träger des Bundes­verdienstkreuzes. Wir trafen das Urgestein der Magdeburger Politik Dr. Wilhelm ›Willi‹ Polte. Interview und Fotos: Kevin Gehring und Lara-Sophie Pohling

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Wilhelm Polte

Sie sind in Niegripp geboren. Können Sie sich noch erinnern, ­ wann Sie das erste Mal in Magde­ burg waren? Ja, das war noch während des Krieges. Dem Onkel meiner Mutter gehörte in der Nähe des Neustädter Bahnhofs ein Eckhaus. Aus deren Wohnung in der dritten Etage konnte ich als kleiner Junge vom Lande aus einer großen Höhe auf die Bahnlinie schauen. Für ein Kind vom Dorf war das schon was Besonderes. Das müsste so 1943 oder 1944 gewesen sein und hat sich mir besonders eingeprägt.

Nach der Grundschule begannen Sie eine Lehre in der Firma Ihres Vaters. Warum? Eigentlich sollte ich zur Oberschule gehen, aber in Folge der Selbst­ ständigkeit meines Vaters und dem politisch vorgegeben Ziel der ›­ Brechung des bürger­ lichen Bildungs­mono­pols‹ wurde mir dieser Weg versperrt. Meine Schwester wurde schon 1948 ein Opfer davon und ging in den Westen. In der Grundschule gab es dann Empfehlungen für die Berufswahl und Lehrstellen wurden vermittelt. Mir wurde angeboten, im Mans­ felder Kupferschieferbergbau Knappe zu werden. ›Unter Tage‹ wollte ich aber auf keinen Fall und so blieb mir nur die Schlosserlehre im Betrieb ­meines Vaters.

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Wie kamen Sie dann doch zu ­Ihrem Studienplatz? Mit der Schlosserausbildung wollte ich mich nicht begnügen und so besuchte ich in der Volkshochschule Burg dreimal wöchentlich einen Kurs zur Vorbereitung auf die Fachschule. Nach einer Aufnahme­ prüfung in der damaligen Fachschule für Maschinenbau in Leipzig konnte ich dann ab September 1955 ein Studium beginnen. Rückblickend hatte dieser Lebensweg auch den Vorteil, dass ich bereits mit 20 ­Jahren Jungingenieur war. Dem schloss sich eine zweijährige Arbeit in einem Leipziger Betrieb an. Ab 1960 gingen Sie dann fünf Jahre zum Studium an die TU ­Dresden. Wie kam es dazu? Der Ingenieurabschluss wurde als technisches Abitur akzeptiert und so delegierte mich der Leipziger Betrieb zum Studium nach Dresden. Dann kam am 13. August 1961 der Mauerbau. Als ich nach der Sommerpause im September 1961 wieder nach Dresden kam, wurde in unserem Fachbereich eine Versammlung zur Information über das Geschehen rund um den Mauerbau durch­ geführt. In diesem Zusammenhang wurden wir aufgefordert, eine Erklärung zu unterschreiben, jederzeit bereit zu sein, die DDR mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Diese Unterschrift verweigerte ich,


Wilhelm Polte

»FÜR MICH IST Ein Netzwerk aus zwischen­m enschlichen ­Beziehungen wichtig für ein ­gelungenes Leben.«


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was zu meiner Suspendierung vom Studium führte. Mein Ärger über den Mauerbau war groß, denn mein Wunsch in einem vereinten Deutschland zu leben, sah ich dadurch für Jahrzehnte als nicht realisierbar an. Ich war schon in jungen Jahren ein politisch interessierter Mann.

Wie ging es weiter? Ich hatte meine Bücher und sonstigen Sachen schon paketweise nach Hause geschickt, blieb aber vorerst noch in meinem gemieteten Zimmer. Circa 14 Tage später kam ein Kommilitone meiner Seminargruppe zu mir und teilte mir mit, dass ich zum Prorektor kommen solle. Der machte mir dann im Gespräch klar, welch leichtfertige Entscheidung ich doch für meinen weiteren Werdegang gefällt hätte. Er redete eine Stunde lang auf mich ein, aber ich ließ mich nicht umstimmen. Schließlich sagte er zum Schluss des Gespräches, dass ich wieder an den Lehrveranstaltungen teilnehmen dürfe. Den Grund für diesen Sinneswandel erfuhr ich erst später. Von den damals circa 15.000 Studenten in Dresden sollen über 700 die geforderte Erklärung nicht unterschrieben haben. Hätte man alle exmatrikuliert, wären die Planzahlen für die Bereitstellung von Diplom-Ingenieuren für die Volkswirtschaft nicht erfüllbar gewesen.

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Bereits im August 1960 waren Sie in Westberlin der SPD beigetre­ ten. Wie kam es dazu? Nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED wurde in Westberlin ein Ostbüro als Anlaufpunkt für die ehemaligen SPD-Mitglieder der DDR eingerichtet. Dort ging ich im August 1960 hin und stellte den Antrag auf Mitgliedschaft bei der SPD. Von der Politik der Adenauer-Regierung war ich enttäuscht. Sie hat meiner Meinung nach nichts für die Wiedervereinigung getan, stattdessen die Spaltung durch die NATO-Mitgliedschaft immer weiter vertieft. Die SPD veröffentlichte 1958 den Plan zur deutschen Einheit und musste sich dafür von Franz-Josef Strauß Hohn und Spott anhören: Den Plan solle man der SPD um die Ohren hauen. In dieser Zeit wollte ich mich politisch klar positionieren. Hinzu kam, dass Willi Brandt als Regierender Bürger­ meister von Westberlin immer die Nähe zum Osten hatte und mir die Zuversicht vermittelte, dass er den Osten besser versteht als der alte Herr am Rhein. (Konrad Adenauer, Anm. d. Red.) Leben konnten Sie ihre politi­ schen Ambitionen aber nicht? In der Tat! Meine naive Vorstellung war, nach abgeschlossenem Studium nach Ostberlin zu gehen und dort nebenbei Parteiarbeit für die SPD zu leisten, da in Ostberlin in Folge des Vier-Mächte-Status die SPD existie-


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ren durfte. In Folge des Mauerbaus musste sie dann ihre Arbeit dort einstellen, so dass sich diese Vor­ stellung erledigte.

Haben Sie anderen erzählt, dass Sie in der SPD waren? Natürlich nicht, denn dann wäre ich außerordentlich gefährdet gewesen. Zu DDR-Zeiten wurde das Ostbüro der SPD als Nachrichtenzentrale des CIA betitelt. Mit Sicherheit wäre ich hinter Gittern gelandet. Ich habe es deshalb nicht mal meiner Frau erzählt. Nach der Wende habe ich erst mal recherchieren lassen, ob eine Dokumentation über meinen Besuch im Ostbüro vorlag. Ich hatte schließlich seitdem nichts mehr davon gehört. Die Akten wurden um­gehend nach Bonn in das Archiv der sozialen Demokratie verbracht, für den Fall, dass die Sowjets Westberlin überrollen. Dort fand sich tat­ sächlich eine Dokumentation über meinen Antrag, der dann als Grundlage für die Verleihung des gol­ denen Parteiabzeichens für 50 Jahre SPD-Mitgliedschaft im Jahr 2011 diente.

Wie ging es weiter, nachdem sich der Plan mit Ostberlin erledigt hatte? Nach Ende des Studiums ging ich 1965 wieder nach Leipzig zurück in den Betrieb, der mich zum S­ tudium delegiert hatte. 1968 zog ich nach Magdeburg. Ich war immer sehr heimat­verbunden und wollte ­wieder

in die Nähe meiner Eltern und Freunde. Für mich ist ein Netzwerk aus zwischenmenschlichen Beziehungen wichtig für ein ge­lungenes Leben. Und was haben Sie hier gemacht? Ab November 1968 war ich zehn Jahre im Wissenschaftlich Technischen Zentrum für Getriebe und Kupplungen in Magdeburg tätig. Diese Zentren begleiteten die Arbeit der Betriebe auf wissenschaftliche Weise. Wir unterbreiteten Vorschläge zur Rationalisierung von Produktionsabläufen und bearbeiteten diesbezügliche Forschungs­ fragen. Das gefiel mir.

Warum dann der Wechsel an die Uni? 1978 fragte die Universität an, ob ich Interesse an Lehre und Forschung hätte. Die Entscheidung über einen möglichen Wechsel habe ich mir nicht leicht gemacht, denn in meinem bisherigen Betrieb herrschte eine sehr gute Arbeitsatmosphäre. Andererseits reizte mich die neue berufliche Herausforderung. Im Rück­blick habe ich meinen Wechsel an die Universität nicht bereut. Dabei bereitete mir die Arbeit mit jungen Menschen sehr viel Freude und gab mir immer wieder neue Anregungen.

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Was wollten Sie werden, als Sie klein waren? Zuckerbäcker. Der Wunsch nach süßen Leckereien konnte selten durch die Rationierung von Lebensmitteln mittels der Lebensmittelmarken erfüllt werden. So brauchte die Mutter den monatlich zugeteilten Zucker für den Haushalt und nicht zum Kauf von beispielsweise Bonbons. Daher rührte der Wunsch, Zuckerbäcker zu werden.

Welche Auswirkungen hat Ihr politisches Leben auf die Erzie­ ­ hung Ihrer Kinder? Wir versuchten nie, sie in eine Richtung zu drängen. Wir haben immer auf Vorbildwirkung gesetzt, um ihnen ein Beispiel für die Lebensgestaltung zu geben. Wir machten ihnen nur wenige Vorschriften und räumten ihnen selbstverantwortete Freiräume ein. Heute können wir uns über unsere Kinder und ihre Familien sehr freuen.

»Nur eine bauende und sich ständig selbst erneuernde Stadt hat Zukunft.«

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Wie kam es zu ihrem Auftritt bei der Lindenstraße? Der Filmproduzent der Linden­ straße Hans Wilhelm Geißendörfer wollte mit einer Werbeaktion mehr Zuschauer in den neuen Bundes­ ländern generieren. In diesem Zu­ sam­ menhang kam er mit Schauspielern nach Magdeburg. Aus dieser Bekanntschaft heraus ergab sich dann für mich die Möglichkeit für die Mitwirkung in einer Szene, um werblich für die bevorstehende Bundes­gartenschau 1999 hinzu­ weisen. Sie sind schon länger außer Dienst, fühlen sich aber nicht als Oberbürgermeister a. D. Wenn man als ehemaliger Bürgermeister in der Gemeinde wohnen bleibt, nimmt man automatisch intensiv am Leben der Kommune teil, man ist quasi integraler Bestandteil.

Was veränderte sich für Sie, seit­ dem Sie nicht mehr im Amt sind? Letztlich wird man als Bürgermeister für fast alles, was passiert oder nicht passiert, verantwortlich gemacht. Der Oberbürgermeister ist im Gegensatz zu einem Minister im Grunde genommen für die Bürger jederzeit erreichbar. Da gibt es dann unmittelbar Lob, aber auch viel mehr Kritik. Auch Gewalt wird angedroht und wurde vor allem in den Jahren ab 1990 gelegentlich auch gegen Sachen ausgeübt. Die ange-

stauten Probleme und Unzulänglichkeiten aus der DDR-Zeit sollten sofort gelöst bzw. beseitigt werden, aber in einem demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesen vollziehen sich notwendige Entscheidungen in längeren Prozessen. Brecht nennt das die ›Mühen der Ebene‹. Was würden Sie Ihrem Nachfolger mit auf den Weg geben? Nur eine bauende und sich ständig selbst erneuernde Stadt hat Zukunft. Dafür muss man Sorge tragen und darf sich nicht durch egoistische Partikularinteressen davon abhalten lassen.

Wie war das Verhältnis von Do­ zierenden und Studierenden? Haben Sie auch nach den Lehrver­ anstaltungen was mit den Studis unternommen? So weit ging es nicht. Aber ich hatte eine besondere Marotte. Für Seminare ließ ich mir immer einen Sitzspiegel anfertigen und versuchte, mir die Namen einzuprägen. Spätestens bei der dritten Lehrveranstaltung kannte ich jeden Studenten mit seinem Namen. Ich wollte die Studierenden nicht nur als Nummer oder freundliches Gesicht sehen, sondern als Fräulein Meier oder Herr Schulze. In dieser Position waren Sie dann bis zur Wende tätig. Was war für

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Sie das Schlüsselerlebnis in dem Jahr, als die Mauer fiel? 1968 war der Prager Frühling. Da hatten wir wieder neue Hoffnung. Man hat mitgefiebert, wie sich die Dinge entwickeln und wir hofften, dass sich die Liberalisierung auch auf uns in der DDR auswirkt. Die Hoffnungen wurden von Panzern zermalmt, wie so oft in der Geschichte. Am 17. Juni 1953 kamen die Panzer in Magdeburg, dann beendeten sie beim Ungarn-Aufstand 1956 das Aufbegehren. 1970 war in Polen der Danziger Aufstand mit vielen Toten, wo ebenfalls die Armee alles niederschlug. Trotzdem waren wir so verwegen, 1989 wieder auf eine Liberalisierung und einen gesellschaftlichen Erneuerungsprozess zu hoffen. Zwar waren es nur relativ wenige Menschen, die an den Ge­beten für gesellschaftliche Erneuerung im Dom und an den nachfolgenden Demonstrationen teilnahmen, aber das Risiko war nach den bisherigen geschichtlichen Erfahrungen den meisten sicher bewusst. Nun haben Sie so lange auf den Mauerfall warten müssen, doch am 9. November 1989 hatten Sie was anderes Wichtiges zu tun? Genau. Wir wollten für die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP, Anm. d. Red.) eine eigene Untergliederung in Magdeburg grün­den. Circa 24 Personen saßen an diesem Abend in unserem Hauskeller zusammen. Es gab noch viele

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organisatorische und inhaltliche Fragen für die geplante Gründungsversammlung. Wir hatten keine Infrastruktur, keine Räume, keine Büros, kein Papier, keine Kopiergeräte. Vor allem die inhaltlichen Fragen, zur Grundsatzrede und mögliche Diskussionsschwerpunkte ­mussten vorbedacht werden. Gegen 21.30 Uhr kam meine Frau herunter und informierte uns: In Berlin ist die Mauer offen! Das nahmen wir zwar erfreut zur Kenntnis, haben dann aber konzentriert weitergemacht. Als andere schon im Auto Richtung Helmstedt (Grenzübergang, Anm. d. Red.) fuhren, schien uns die Frage der Parteigründung in diesem Moment viel wichtiger. Wie ging es mit der Parteigrün­ dung nach dem Mauerfall weiter? Nachdem der Termin für die zu haltende Grundsatzrede mit einem der Gründerväter, Markus Meckel, getroffen war, wurde die technisch-organisatorische Umsetzung der Veranstaltung vorbereitet. So konnte die Frage eines geeigneten Raumes durch die Anmietung des Gemeindesaals der evangelischen Altstadtgemeinde gelöst werden. Ich kannte den zuständigen Pfarrer, denn wir sangen gemeinsam im Chor. Die Gründungsversammlung konnte dann am 17. November 1989 störungsfrei vollzogen werden. Von den anwesenden Teilnehmern haben unmittelbar anschließend 86 Frauen und Männer die Gründungs­urkunde


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unterschrieben. Diese Urkunde hängt heute noch im SPD-Parteibüro. Nach der Wende wurden Sie erster Magdeburger Oberbürger­ meister. Haben Sie sich jemals er­ träumt, dieses Amt zu bekleiden? Schon in den fünfziger Jahren habe ich immer ›rumgesponnen‹. Ich wollte Bundeskanzler werden, um die Einheit zu schaffen und ich wusste auch wie. Ich wollte die Gesamtdeutsche Volkspartei, die es schon im Westen gab, auch im Osten gründen, und wenn beide jeweils die Mehrheit errungen hätten, wären wir ohne Probleme wieder zusammengekommen. So stellt sich das wohl der kleine Moritz vor. (lacht) Ein Amt zu bekleiden war nach der Wende nicht das vordergründige Ziel, sondern ich wollte helfen, die realpolitischen Verhältnisse grundlegend zu verändern.

Warum wurden Sie für die Wahl des Oberbürgermeisters aufge­ stellt? Wir gingen mit unserer neuen Partei mit sehr dünner Personaldecke an den Start. Ich ließ mich für die ersten und einzigen freien Volkskammerwahlen 1990 aufstellen und wurde am 18. März gewählt. Bereits ein Jahr später fanden am 6. Mai 1991 schon die ersten freien Kommunalwahlen statt. Da drängelte sich niemand danach, die Spitzenkandidatur zu übernehmen. Wir waren in unserer Partei zwar wenige, wollten

aber trotzdem einen Spitzenmann nominieren. Da ich der Vorsitzende in Personalunion für den Bezirk und die Stadt Magdeburg war, lief die Kandidatur auf mich zu. Meine Chancen waren allerdings nicht sehr groß, denn bei den Volkskammerwahlen im Jahr zuvor dominierte landesweit die CDU. Dass schließlich die SPD in Magdeburg die relative Mehrheit bei den ­Wahlen gewann, war für den Bereich der Ober­ bürgermeister und Landräte ein Alleinstellungsmerkmal. Sie setzten sich auch sofort dafür ein, dass Magdeburg Landes­ hauptstadt wird. Ja, unbedingt! (lacht) Ich wollte nur, dass uns geschichtlich Recht widerfährt. Im Zusammenhang mit dem Wiener Kongress 1815 wurde die preußische Provinz Sachsen gegründet und die Provinzhauptstadt war Magdeburg. Als 1946 das Land Sachsen-Anhalt gebildet wurde, war Magdeburg leider so zerstört, dass es diese Funktion nicht wahr­ nehmen konnte. Als nach der Wende das Bundesland Sachsen-Anhalt gegründet wurde, wollte ich das Magdeburg die Hauptstadtfunktion wieder übernimmt. Ich machte Vorschläge für die Sitze aller möglichen Ministerien und die Mehrheit des Landtags stimmte für Magdeburg. Natürlich muss man solche Erfolge auch durch nicht öffentliche Aktivitäten organisieren und der Erfolg ist für uns die Bestätigung.

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Was war nach der Wende der wichtigste Punkt, den Sie ange­ gangen sind? Durch die nachhaltige Kriegszerstörung Magdeburgs und den Weggang vieler Menschen in Richtung Westen hatten wir innerhalb kürzester Zeit 25.000 Anmeldungen auf vermögensrechtliche Ansprüche aus der ganzen Welt. Bei uns galten natürlich die Regeln des Grund­ gesetzes und da wird nichts so sehr geschützt wie das Eigentum. Die Eigentumsfragen mussten Fläche für Fläche geklärt werden. Nach dem Wiederaufbaugesetz baute man zu DDR-Zeiten vielfach auf Grundstücken, ohne die Grundstücksfrage vorher eindeutig geklärt zu haben. Zudem wurden die Grundbücher ab 1960 eingelagert, teilweise die Eintragungen geschwärzt. Die Berechtigung angemeldeter Ansprüche zu klären, war eine Sisyphusarbeit. Zudem hatte der Einigungsvertrag 1990 festgelegt, dass berechtigte Altansprüche natural restituiert werden sollten. Dies alles erwies sich für unsere Stadt als großes Hindernis für schnelle Investitionen, vor allem im städtischen Bereich. Solange die Frage nicht geklärt war, wem das Gelände gehörte, wurde nichts gebaut. Allein auf dem Gelände des heutigen Allee Centers und des Ulrichshauses gab es 265 vermögensrechtliche Ansprüche. Erst zwei Jahre später hat der Bundestag durch die Änderung des Einigungsvertrages in dieser Frage

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einen Weg für nachhaltige Investi­ tionen geschaffen.

Nach ihrer Amtszeit haben Sie das Bundesverdienstkreuz erster Klasse erhalten. Legen Sie viel Wert auf Titel? Natürlich freue ich mich über diese Form der Anerkennung. Dagegen werde ich keinen Widerspruch einlegen, weil ich mich als Oberbürgermeister ab 1990 ungewöhnlichen Herausforderungen gegenübersah. Ich bin im Rückblick stolz, dass wir insgesamt unsere Pflicht erfüllt haben. Das sprach ich auch bei meiner ersten Rede im Rathaus an: Wir müssen uns schinden und d ­ürfen uns die Finger nicht schmutzig machen! Ich bin froh, dass das offenbar gelungen ist.

»Die Liebe zur Stadt muss aus je­ dem Knopfloch sprießen.« Woher kommt Ihre innige Beziehung zu Magdeburg? Es gab in der 1.200-jährigen Geschichte unserer Stadt noch keine Phase, in der wir so viele Neuerungen vollziehen konnten. Das verbindet und macht stolz. Man muss aber auch auf der Höhe der Zeit bleiben. Das alles ist so motivierend und begeisternd, ich beschäftige mich jeden Tag mit der Stadt. So eine Lebensqualität wie heute hatten die Deutschen in der Geschichte noch nie. Dessen muss man sich bewusst werden. Freiheit, Möglichkeiten der Entwicklung und


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die Welt zu bereisen. Frühere Generationen haben viel leisten müssen. Die heutige Generation steht auch auf den Schultern der Altvorderen. Deswegen sollten sich auch junge Leute hier fragen, welchen Anteil Sie selbst leisten können, dass es so bleibt oder vielleicht noch besser wird.

Lutz Trümper sagte im Inter.Vista-Interview, Sie seien für die Zeit nach der Wende genau der richtige Oberbürgermeister gewesen, weil Sie die Leute mitge­ rissen haben. Sind Sie einfach ein bürgernaher Typ? Der Begegnung mit Menschen bin ich nie aus dem Weg gegangen, ob sie mir wohlgesonnen waren oder mir kritisch gegenüberstanden.

Ich ärgerte mich nur manchmal, wenn wir zur Bürgerversammlung einluden und niemand erschien. Dafür konnte ich in den Leserbriefen der Volksstimme immer zur Kenntnis nehmen, was wir alles falsch machen. Oft bestand das Interesse an der weiteren Entwicklung der Stadt nur, wenn es persönliche Inter­essen betraf. Ihr besonderes Interesse galt auch immer der Innenstadt­ entwicklung. In der Tat. Durch die Zerstörung unserer Stadt im Zweiten Weltkrieg ist ihr städtebauliches Gesicht nachhaltig verändert worden. Wenn sie ein Bild Magdeburgs aus dem Mittelalter nehmen, dann sehen

»Manche sagen mir sogar eine nasse Wohnung nach, weil ich ständig auSSer Haus bin.«

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»Man kann hier alles machen, nur eins fehlt: ­Skiabfahrtslauf.« sie eine Stadt der Türme. Wunderschön! Die Kirchen sind Dokumente aus der Geschichte. Zu DDR-Zeiten hieß es offiziell ›Magdeburg, Stadt des Schwermaschinenbaus‹. Dreck, Lärm, Staub? Wer sollte denn als Tourist hierherkommen? Eine Firma aus München bot an, uns ein neues Image zu verpassen. Denen fiel aber nichts anderes ein als ›Magdeburg – Domstadt an der Elbe‹. Ich sagte sofort: Das reicht nicht. Wir haben in Sachsen-Anhalt sieben Dome und es gibt auch genug andere Städte, die an der Elbe liegen. Deswegen kam unter anderem die Idee mit dem

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Hundertwasserhaus, wir brauchten etwas ›Verrücktes‹. Wollen wir auch ein Stückchen vom Tourismus-­ Kuchen abhaben, dann müssen die Leute spüren, dass die Magdeburger stolz auf ihre Stadt sind. Sie sind Ehrenbürger der Stadt Magdeburg. Wie nutzen Sie die Vergünstigungen, die damit ver­ bunden sind? Mit den Enkeln bin ich gelegentlich im Zoo und im Kulturhistorischen Museum. Ich werde auch zu vielen Veranstaltungen eingeladen, so dass ich manchmal gar nicht weiß, wo ich


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zuerst hingehen soll. Manche sagen mir sogar eine nasse Wohnung nach, weil ich ständig außer Haus bin. (lacht) Es macht einfach Spaß zu sehen, wie diese Stadt sich nach 1990 entwickelte und welch ein geistig kulturelles Leben hier entstand. Man kann hier alles machen, nur eins fehlt: Skiabfahrtslauf.

Was macht den typischen Magde­ burger aus? Den Magdeburger schlechthin gibt es für mich nicht. Da gibt es den Magdeburger, der durchaus stolz auf seine Stadt ist, der eine gute Nachbarschaft pflegt und hilfsbereit

ist, der sich ehrenamtlich vielfältig engagiert, der seine sich ständig erneuernde Stadt gern seinen Gästen und Besuchern zeigt. Da ­ gibt es den Magdeburger, der sich mit einer positiven Bewertung des Erneuerungsprozesses, des geistig­kulturellen Lebens und des Ringens um eine zukunftsgerechte Stadt eher zurückhält. Dafür weiß er aber genau, was die Verantwortlichen alles falsch machen und das wird mit einem deutlich vorwurfsvollen Ton der Öffentlichkeit mitgeteilt. November 2018

Vista.Schon? Er ist 1938 in Niegripp geboren, wo er sich nach seiner Amtszeit als Oberbürgermeister Magdeburgs (1990–2001) neben seiner Tätigkeit im Landtag (2002–2006) auch als Ortsbürgermeister (2001–2009) engagierte. Heute genießt er mit seiner Frau die Vorzüge des Lebens in der Stadt. Gemeinsam haben sie einen Sohn und eine Tochter. In den Nachwendejahren war Dr. Wilhelm Polte ein wichtiger Wegbereiter für den Wiederaufbau Magde­burgs. Um sich fit zu halten, ist er einmal die Woche mit seiner Nordic-­ Walking-Gruppe unterwegs. Außerdem ist er in so vielen Vereinen aktiv, dass er selbst manchmal den Überblick verliert. Auch einen Lieblingsort hat er nicht, dafür gibt es zu viele schöne Flecken in Magdeburg.


Sarah Werner

Sarah Werner »Ich hasse Hashtags.« Seit gut einem Jahr hat sie ihren eigenen Unverpacktladen in Stadtfeld mit dem ausschweifenden Label Frau Ernas loser LebensMittelPunkt. Unverpackt. Selbstgemacht. Unperfekt. Der Name ist Programm. Die ›Welt­retter-Community‹ und der Schellheimer Kiez sind ihr Zuhause. Im Gespräch mit Inter.Vista erfahren wir von Sarah, wie jeder von uns die Welt retten kann, warum Nudeln Problem­kinder sind und weshalb ihre beiden Hunde eine Pilgerreise stoppten. Interview und Fotos: Swantje Langwisch

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Was hast Du heute gefrühstückt? Tatsächlich Lasagne. (lacht) Ich war heute Morgen zuerst im Stiftungsgymnasium Neustadt. Dort durfte ich etwas zu den Themen Müll­ vermeidung und ›plastikfrei leben‹ erzählen, weil sie dazu demnächst ein Event planen. Vorher habe ich nur einen Kaffee getrunken, das war um 8.00 Uhr, das ist so gar nicht meine Zeit. Nach meinem Vortrag bin ich nach Hause gefahren und habe quasi spät gefrühstückt und vorsorglich Mittag gegessen – da gab’s dann die Lasagne.

Was wolltest Du werden, als Du klein warst? Tierärztin, der Klassiker. Ich habe sogar ein Praktikum beim Tierarzt gemacht, um mal reinzuschnuppern. Kurz vor dem Abi überlegte ich, Psychologie zu studieren, das fand ich cool. Ich merkte dann aber, dass ich dafür eigentlich zu faul bin und meine Noten nicht gut genug sind. Ich war damals in der Jugendarbeit und bei den Pfadfindern aktiv, daher wusste ich, dass ich was mit Menschen machen wollte. Aber dann verwarf ich das alles und studierte Sozialpädagogik. Ich wollte auch immer in die Erlebnispädagogik. Nach dem Bachelor machte ich meinen Master in Magdeburg, da mein Freund hier einen Job hatte. Nach dem Abschluss arbeitete ich zwei Jahre bei einer Wohnungsgesellschaft, danach in einem Waldorf­kindergarten. Dann habe ich

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entschieden, dass Magdeburg einen Unverpacktladen braucht.

Was ist besonders an Magdeburg? Ich sage immer, es ist eine Stadt mit Potenzial. Wenn ich in anderen vergleichbaren Städten bin, merke ich, was Magdeburg alles nicht hat. Manchmal bin ich deswegen ein bisschen wehmütig. Marburg hat zum Beispiel eine tolle Altstadt und eine große Palette an alternativen Läden. Ich finde in Magdeburg ganz spannend, dass es noch nicht alles gibt. Man hat die Chance, mit etwas die oder der Erste zu sein. Es ist toll, zu so einem Klumpen von Menschen zu gehören, die sich was trauen und Neues machen. Das merke ich ganz speziell im Schellheimer Kiez, weshalb ich mit dem Laden auch un­bedingt hierher wollte. Ich mag diese überschaubare Wirtschaft, wo jeder jeden kennt und alle ein bisschen verrückt sind.

Gibt es etwas, das Dir hier fehlt? Das Meer. Als Kind habe ich oft mit meinen Eltern an der Nordsee Urlaub gemacht. Mich zieht es dorthin. Mein Mann und ich teilen diese Leidenschaft schon seitdem wir uns vor 14 Jahren kennen­ lernten. Eigentlich wollten wir hier nur zwei Jahre bleiben, damit ich mein Master­studium beenden kann und er seine ersten Berufsjahre hat. Danach wollten wir an die Nordsee ziehen. Irgendwie sind wir hier ­ hängen geblieben, was nicht schlimm ist. Die


»Ich mag diese überschaubare Wirtschaft, wo jeder jeden kennt und alle ein bisschen verrückt sind.« 97


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Nordsee ist weiterhin ein toller Ort, um Urlaub zu machen, so ist es noch etwas Besonderes.

Also hat Dich die Bequemlichkeit hier gehalten? Ja, wahrscheinlich ein bisschen, aber auch die Tatsache, dass wir uns immer mehr mit Magdeburg identifizieren. Freunde, Plätze und Jobmöglichkeiten fanden sich, die man vermissen würde. Magdeburg ist nach und nach unsere Stadt geworden. Seit wann wolltest Du Dich selbst­ ständig machen? Schon seit der Schulzeit. Damals noch unkonkret, aber ich wusste, dass ich niemals die ultimative Angestellte sein werde, die vierzig Stunden pro Woche einer stupiden Büroarbeit nachgeht. Eine Weile dachte ich, halbtags einem ›normalen‹ Job nachzugehen und die andere Hälfte freiberuflich irgendetwas Verrücktes zu machen. Ich plante schon, mich mit tier­ gestützter Arbeit als Sozialpädagogin selbstständig zu machen. Aber da muss man sich sehr herumquälen, wofür es dann auch wenig Geld gibt. Irgendwann war es für mich untragbar. Der Gedanke, ein eigenes Geschäft zu haben, reizte mich sehr. Früher schaute ich leidenschaftlich gern Gilmore Girls. Ich fand es toll, so tough wie Lorelai Gilmore zu sein, einen eigenen Laden zu haben und seine Stammgäste zu begrüßen. Die

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Idee mit dem Unverpacktladen entwickelte sich vor vier oder fünf Jahren. Da wurde das Thema für mich privat immer wichtiger. Ich wusste, dass viele Quereinsteiger das auch gemacht haben und probierte es.

Wurdest Du bei Deiner Gründung unterstützt? Ja, sehr gut! Zum einen profitierte ich davon, dass wir die BPC Unternehmerinnen Akademie haben. Gründer­ innen werden dort unterstützt. Zum anderen ging ich sehr forsch heran und besuchte viele bestehende Unverpacktläden, sprach mit den Inhabern, machte dort Praktika und arbeitete mit. Die Leute waren immer bereit, andere lernen zu lassen und sie in diese ›Weltretter­ Community‹ aufzunehmen.

Du bist 2018 zu Sachsen-Anhalts Gründerin des Jahres gewählt worden. Wie hast Du diese ­Ehrung erlebt? Zuerst bekam ich einen Brief, dass ich nominiert bin. Das war schon genial. Man kann sich bewerben, aber ich wurde von Frau ­Gemmer vorgeschlagen. Sie ist in der Gründer­ szene bekannt, ihr gehört auch die BPC Akademie. Dann kam noch die IHK und die Handwerkskammer, weil sie in der Jury saßen. Und dann wurde es spannend: Ein Freund, der den Laden maßgeblich mit mir aufgebaut hat, Frithjof Anten, und ich wurden eingeladen. Wir hatten zwar so eine Ahnung,


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aber als wir bei der Preisverleihung dann die Bestätigung erhielten, war das ein tolles Gefühl. 1.000 Euro Preisgeld gab es auch, was für uns aber nicht so klar war. Gerade am Anfang kann man damit viel anfangen. Nach einigen Turbulenzen hat das mit der Förderung auch geklappt, denn den klassischen riesigen Scheck gab es bei der Preisverleihung nicht. (lacht)

schrieb. Man muss auch mal mit einem halben Gehalt auskommen, damit das Geschäft größer werden kann. Unsere Erwartungen wurden eineinhalb Mal übertroffen. Das wollen wir nutzen, um weiterzumachen. Demnächst planen wir eine Küche einzubauen für den Bistro-Bereich. Wir sind nicht nur ein Supermarkt, sondern ein Treffpunkt, ein Lebensmittelpunkt eben.

Klingelt seitdem ständig Dein Telefon für neue Projekte? Viel änderte sich nicht. Danach kamen vermehrt Leute zum ­ersten Mal in den Laden. Ab und zu ­kommen auch Presseanfragen, seit einem Jahr erfahren wir eigentlich durchgängig große Aufmerksamkeit. Ich freue mich, dass wir so berichtens­wert sind.

Die meisten Deiner Produkte bietest Du in großen Gefäßen zum Selbstabfüllen an. Kommt die Ware auch unverpackt zu Dir? Leider kommt nicht alles unverpackt. Die Nudeln sind unsere Problem­kinder. Die kommen maximal in Fünf-Kilo-Säcken, auch noch aus Plastik. Wir arbeiten an einer Verbesserung. Mit ›Wir‹ meine ich tatsächlich alle Unverpacktläden im deutschsprachigen Raum, die als Verband inzwischen mit den Lieferanten verhandeln. Es gibt auch noch Einwegverpackungen, aber das wird reduziert. Haferflocken kommen beispielsweise im 25-KiloPapier­ sack. Und wir haben einen Lieferanten, der ganz viele Produkte in Mehrwegbehältern liefert.

»Die Nudeln sind unsere Problemkinder.«

Du hast den Laden jetzt ein gutes Jahr. Ist es so, wie Du es Dir vor­ gestellt hast? Viel besser. Es gab im Vorfeld viele Skeptiker, die sagten, dass sich so ein Laden in Magdeburg nicht halten könne. Die Leute wären nicht offen genug für das Thema. Deshalb war ich sehr vorsichtig, als ich den Businessplan und die Kalkulationen

Wie würdest Du unseren Lesern Deine ›Mission‹ beschreiben? Ich will die Welt retten! (lacht) Ich möchte einfach ein positives ­Beispiel sein, um umweltverträglich und nachhaltig zu leben.

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»Ich habe immer Ideen, reiSSe vieles an, aber bedenke meistens nicht ­a lles.«


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Du bietest auch Workshops an. Was kann man da lernen? Ich selbst schaffe es leider nicht immer, die Workshops anzubieten. Einmal im Monat gibt’s den Müll­vermeiderstammtisch, das ist ein lockerer Austausch. Ich freue mich, wenn Menschen unseren Laden als Plattform nutzen. Zum Beispiel haben wir jemanden, der einen Seifen­workshop anbietet. Im Kosmetik­ bereich haben wir ganz viele do it yourself-Angebote. Inzwischen gibt es das auch für Waschmittel, Hautcremes und so weiter.

All das bietet auch Deine breite Produktpalette. Was ist Dein Lieblingsstück? Eine Produktgruppe, die bei unseren Kunden sehr beliebt ist, die ich aber hasse, sind die Flüssigwaschmittel. Wir haben dafür eine selbstgebaute Zapfanlage zum Abfüllen. Allerdings gibt es da oft Unfälle mit Verkleckern oder ausgelaufenen Waschmittel­ kanistern im ganzen Laden. Das finde ich schwierig. Gerne mag ich meine Kaffee-Ecke und den Frische­ bereich, wo ich bedienen kann, einen Kaffee mache oder einen Joghurt abfülle. In Interaktion mit den Kunden zu sein macht mir viel Freude. Kennst Du Deine Kunden persön­ lich? Immer mehr. Viele kenne ich auch beim Namen, mit Hintergrundgeschichten. Da tauscht man sich

auch privat aus. Und dann haben wir einen engen Kreis von Stammkunden, die nennen wir ›Inventar‹. (lacht) Diese handvoll Menschen sind supertoll, weil sie helfen, wenn es mal brennt, Ideen mitbringen und eine Gemeinschaft daraus machen.

Wie bist Du vom Waldorfkinder­ garten auf einen Unverpacktladen gekommen? Das ›Weltretten‹ fing im Studium an. Themen wie Ernährung, Lebensmittelverschwendung und Müllvermeidung beschäftigten mich. Parallel dazu setzte ich mich mit Sozialwissenschaft auseinander. Der Unverpacktladen war für mich eine schöne Schnittmenge. Ich liebe den Austausch mit anderen und eine Botschaft rüberzubringen. Aber ich will nicht die ganze Zeit Kinder anderer Leute erziehen. Wie hast Du das Schellheimer Kiezgestöber erlebt? Das war genial und schön. Vor allem, weil es stark mit dem Thema Netzwerk verbunden ist. Ich finde es angenehm, dass im Kiez eine Handvoll Menschen sagt, wir wollen gemeinsam etwas aufziehen. Zwar jeder mit seinem Laden, aber wir machen eine gemeinsame Veranstaltung und zeigen auch nach außen, dass wir zusammenhalten und den Kiez beleben wollen. Du hast für Deinen Laden auch ein Instagram-Profil. Kannst Du

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dadurch mehr jüngere Kund­ schaft generieren? Ich glaube schon, dass ich bei Insta­ gram noch mal ein paar Leute mehr anspreche, die ich über Facebook oder andere Plattformen noch nicht erreiche. Aber ich fürchte, dass ich für Instagram noch nicht fit genug bin. (lacht) Ich nutze die App gerade als Facebook-Ersatz. Das heißt, ich schreibe meine langen Beiträge und habe dazu acht oder zehn Fotos. Ich weiß aber genau, dass es so nicht funktioniert. Normalerweise arbeiten die jungen Menschen damit anders. Es gibt meistens ein Bild, vielleicht zwei oder drei. Dann schreibst du einen Satz dazu und hast ungefähr einhundert Hashtags. Ich hasse Hashtags. Also ich weiß, ich könnte das optimieren, um vielleicht noch mehr Reichweite zu bekommen. Aber momentan nutze ich es einfach so, wie ich es kann. Du arbeitest unter dem Motto »unverpackt.selbstgemacht.­u n­ perfekt.« Trifft das auch auf Dein Leben zu? Auf jeden Fall. Ich liebe Sprüche und Sprichwörter: Da wo ich bin, herrscht das Chaos, aber ich kann nicht überall sein. (lacht) Das zieht sich schon durch mein Leben. Das wissen auch alle, die privat oder beruflich mit mir zu tun haben. Ich habe immer Ideen, reiße vieles an, aber bedenke meistens nicht alles. Mein Mann ist der Kümmerer, der mir sagt, was noch fehlt oder welche

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Rechnung noch nicht bezahlt ist. Der managt alles, was ich vergeige, vergessen oder verkramt habe. Auch im Laden nehmen mir meine Mitarbeiter vieles ab. Ich mach halt und sehe dann wie es kommt. Für den Laden ist das Unperfekt-Motto ganz wichtig. Auch das Thema ›Welt­ retten‹ muss unperfekt bleiben, sonst ist es unerreichbar. Zum Beispiel vegan, plastikfrei und ohne Auto zu leben. Viele Menschen ruhen sich darauf aus, dass man sowieso nicht alles schafft. Sie denken, dass man sowieso nicht alles unter einen Hut bekommt. Aktiv sein und anzu­ fangen ist immer der erste Schritt. Es gibt immer Baustellen, nur muss man irgendetwas tun. Es ist wichtig, dass man nicht alles nur schwarz oder weiß sieht.

»Man sollte gelassen bleiben, sich und seine Umwelt nicht stressen.«

Was sind Deine drei Tipps zum ›Weltretten‹? Bei sich selbst anzufangen. Wo kann ich Müll vermeiden, ohne dass es wehtut? Zum Beispiel den eigenen Jutebeutel zum Einkaufen nehmen oder den Kaffee to go in einen Mehrwegbecher füllen. Der zweite Tipp


ÂťMagdeburg ist nach und nach unsere Stadt geworden.ÂŤ

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ist, zu realisieren, dass Lebensmittel wirklich Lebensmittel sind und dass sie auch Geld kosten dürfen. Daraus ergibt sich unsere Gesundheit. Jeder sollte schauen, was er in welcher Qualität zu sich nimmt. Tut euch was Gutes, was Nahrungsmittel angeht. Der dritte Tipp ist mein Credo zum Thema unperfekt: Man sollte ge­lassen bleiben, sich und seine Umwelt nicht stressen. Niemand muss ein Moralapostel werden, um die Welt zu retten. Mit positiven Impulsen und gutem Beispiel voranzugehen, spricht mehr Menschen an, als ständig zu predigen, was die Leute falsch machen.

In Deinem Laden liegen überall Bücher für Kunden, nicht nur zum Thema Müllvermeidung. Was liest Du privat? Zurzeit sehr wenig. Seit drei oder vier Monaten versuche ich, ein Buch fertigzulesen. Tatsächlich entdecke ich gerade spannende deutsche Frauenromane für mich. Momentan lese ich Charlotte Roches Schoß­ gebete. Das hat mir eine Stammkundin ausgeliehen, nachdem ich Mängelexemplar für sehr gut befand. Es geht um eine Frau, die total chaotisch ist und trotzdem glücklich werden kann. Davor las ich viel Fantasy, aber auch Reiseberichte über Pilgerreisen oder ähnliches. Bücher zum Thema Ernährung gehören auch dazu, ob als Roman oder Sachbuch. Die Zero Waste-Bücher, die wir im Laden verkaufen, habe ich alle

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versucht zu lesen, aber bei manchen muss man sich schon quälen. (lacht)

Hast Du für Dich auch mal eine Pilgerreise geplant? Ich war mal eine Woche lang auf dem Camino de Santiago unterwegs. Auf der Tourimeile. Das war kurz nachdem ich das Buch von Hape Kerkeling gelesen hatte. Freunde von mir wollten das damals machen, aber nur die letzten hundert Kilo­meter. Das fand ich erst doof, denn das machen ja nur Möchtegernpilger. Es war während meines ersten Jobs bei der Wohnungsgenossenschaft. Ich hatte nur eine Woche Zeit, besser als nichts. Aber die war schon so toll für mich, ich habe spannende Menschen und viel über den eigenen Körper und Schmerz kennengelernt. (lacht) Danach wollte ich mal eine längere Strecke gehen. Vor meinem zweiten Job im Kindergarten nahm ich mir einen Monat frei. Ich wollte den Pilgerweg über Lübeck, Hamburg und Osnabrück schaffen. Leider musste ich das abbrechen, denn ich hatte meine zwei Hunde dabei. Einer bekam nach einer Woche blutige Pfoten, der andere stürzte beim Notfall-Zwischenstopp in Hamburg von einer drei Meter hohen Mauer. Zum Glück hatte er nur Prellungen, bekam aber absolutes Laufverbot. Damit war meine Pilgerreise durch Norddeutschland nach einer Woche vorbei. Den Hunden geht es wieder gut, keine Sorge. Bisher sollte es also noch nicht sein, aber ich bin sehr


Sarah Werner

zuversichtlich, dass ich das nochmal machen werde. Und wenn es in der Rentenzeit ist.

Welche Ziele hast Du noch? Ganz kurzfristig möchte ich gern nach Stadtfeld ziehen. Durch den Laden bin ich hier und ich liebe den Kiez. Zurzeit wohne ich noch in ­Cracau, das ist zu weit weg. Ich könnte mir auch vorstellen, in ein Hausprojekt zu ziehen. Das ist wie eine WG. Darüber habe ich auch schon mit Freunden gesprochen. Man würde mit mehreren Familien

in ein großes Haus ziehen. Und ich möchte gern mal mit meinem Mann und den zwei Hunden mit einem VW-Bully über einen längeren Zeitraum campen fahren. Deinen ›Weltretter-Auftrag‹ ver­ folgst Du nicht nur im Laden, Du lebst ihn auch. Was machst Du, wenn Du mal abschalten willst? Einfach Serien schauen oder ich suche mir neue Sprüche auf Facebook. Ganz 08/15. Dezember 2018

Vista.Schon? Ursprünglich kommt die ›Weltretterin‹ aus Dessau, wo sie 1986 g­ eboren wurde. Bevor sie ihren Unverpacktladen eröffnet hat, studierte Sarah ­Werner in Hildesheim Sozialpädagogik. Ihren Familienstand beschreibt ›Frau Erna‹ als verheiratet und glücklich mit zwei Hunden. Sarah hat in ihrer Küche eine als Hocker getarnte ›Wurmkiste‹, die eine Volksstimme-Reporterin bei einem Interview zu einem entsetzten Aufschrei brachte. Dabei ist die Kiste sinnvoll, denn die Würmer machen aus Sarahs Bioabfällen ihre eigene Erde. Fragt man sie nach Magdeburg in drei Worten, nennt sie: grün, Einkaufszentren, Schaukeln.


Robert Komnick

Robert Komnick »Dreifarbige Katzen sind immer weiblich.« Wie wird man Quizkandidat? Und kann man das professionell betreiben? Das wollten wir von Robert wissen. Student, Hobby­ musiker und leidenschaftlicher Quizzer. Der angehende Journalist erzählt, wie er sich auf TV-Quizshows vorbereitet, was das opti­male Alter ist, um bei Wer wird Millionär teilzunehmen und warum er sich für ein Studium in Magdeburg entschied, obwohl er zunächst große Vorbehalte hatte. Hier bleibt keine Frage unbeantwortet. Interview und Fotos: Sophie Traub und Marvin Jakstadt

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Robert Komnick

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2010 hast Du versucht, 40 Stun­ den am Stück wach zu bleiben. Wie fühlte sich das an? Ich entdeckte damals Twitter für mich. Ich wollte irgendetwas Experi­ mentelles machen, es war gerade Silvester, da bot sich das Ganze an. Ich machte immer wieder Tests, um abzuchecken, wie wach ich noch bin. An sich empfand ich es als ganz normal. Nach den 40 Stunden bin ich sofort ins Bett. Es kam übrigens kaum Feedback.

Du wolltest die Plattform also eher für Projekte nutzen, nicht um Gedanken und Erlebnisse zu twittern? Genau, ich will Social Media sinnvoll nutzen. Das ist mir ein Anliegen.

In einem Interview mit DATEs sag­ test Du, dass Dein Traumjob wäre, eigene Quizshows zu erfinden. Ist das noch so? Würde mich freuen, wenn es eines Tages dazu kommt. Ich bin aber auch

»Quizzen ist in gewisser Hinsicht auch ein Sport.«

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offen für den Infotainmentbereich. Das Optimum wäre, an Gameshows mitzuarbeiten, bei denen man auch Wissen einbringen kann.

Wie sieht ein Spieleabend bei Robert Komnick aus? Ganz unterschiedlich. 50 Prozent der Abende finden bei mir statt, 50 Prozent bei Freunden. Natürlich versuche ich immer, ein Quiz mit einzubringen, aber nicht jeder hat da Bock drauf.

Wie reagieren Deine Freunde, wenn der Abend mal wieder vom Quiz dominiert wird? In 90 Prozent der Fälle freuen sie sich. Es gab auch schon Abende, an denen ich gegen meine Freunde verloren habe. Das gefällt ihnen natürlich besonders. Pokerst Du auch? Ja. Es gibt jetzt auch Quizpoker. Das ist eine gute Möglichkeit meine Leidenschaft mit dem, was meine Freunde außerdem mögen, zu verbinden. Wie ist es, wenn Du bei einer Show bist? Wie lange sitzt Du in der Maske? Der ganze Tag dauert acht bis zehn Stunden. Man kann meistens kurz entspannen, dann geht’s los mit Maske, Kostüm, einer Probe und manchmal schon mit ein paar Voraufzeichnungen für die Show. Die Zeit vergeht relativ schnell und die

eigentliche Showaufnahme oder Livesendung nimmt den kleinsten Teil des Drehtages in Anspruch.

Du studierst Gesundheitsjourna­ lismus im Master. Lässt sich das mit Deiner Quizleidenschaft ver­ binden? Zum Teil. Im Bachelor belegte ich Politik und Gesellschaft, so schließen sich immer mehr Wissenslücken.

Wie viele andere hast Du be­ stimmt bei TV-Quizsendungen mitgeraten. Wann kam für Dich der Moment, an dem Du selbst dabei sein wolltest? An meinem 18. Geburtstag. Der ultimative Traum in der Quizzer-Szene ist, auf dem Stuhl von Günther Jauch zu sitzen. Den verfolgte ich schon lange und schickte dann einige Bewerbungen. Mit 18 Jahren und ein paar Tagen wurde ich zu einem ­Casting von Der Quizchampion beim ZDF eingeladen. Innerhalb von 30 Tagen war ich in der Sendung und damit der jüngste Kandidat, der mit hoher Wahrscheinlichkeit jemals an einer Quizsendung in Deutschland teilgenommen hat.

Und wie warʼs? Das war die größte Show, die ich bisher gespielt habe. Damals ging es um 500.000 Euro. Das war ›Alles oder Nichts‹ bei Der Quizchampion. Man muss eine Schnellraterunde überstehen, tritt dann gegen fünf Promis an und muss alle besiegen.

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Robert Komnick

Ich habe gegen den Tennisspieler Michael Stich in der Kategorie Sport gewonnen und bin danach leider rausgeflogen. Du bist bei Turnieren des Deutschen Quizvereins aktiv. Deren Internetseite gibt immer die »10 der Woche« heraus. Eine der Fragen letzte Woche: In welchem Land liegt die Stadt Mokka? Kannst Du sie beantworten? Das ist schwer. Ich bin gerade nicht im Modus. Wenn ich weiß, dass ich zu einer Show gehe, dann bereite ich mich darauf vor. Ich würde aufgrund des Doppel-K’s auf den orienta­ li­ schen Raum tippen. Saudi-Arabien?

Fast, sie liegt im Jemen. Wie kommst Du in Deinen Modus? Wenn eine Quizshow ansteht, bin ich wie ein Sportler vor einem wichtigen Spiel. Man steigert sich in die Abläufe rein. Anreise, Maske, Kostüm, alles bereitet mich auf den Moment vor, in dem ich quizze. Hast Du Lieblingskategorien beim Quizzen? Vor allem unnützes Sportwissen. Zu American Football und Darts kann man mich eigentlich alles fragen. Und Allgemeinwissen ist mir sehr wichtig. Musst Du Deine Gewinne ver­ steuern? Nein, muss ich nicht. Es gilt als Zufall, als Glück, welche Fragen

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man bekommt und welche nicht. Bei anderen Shows, wie Big Brother zum Beispiel, müssen die Gewinne definitiv versteuert werden.

Was hast Du Dir von Deinem ­ersten großen Gewinn gekauft? Ich war relativ bescheiden und kaufte mir nur einen neuen Laptop. Den Rest habe ich gespart. Ein bisschen bin ich auch gereist, allerdings habe ich nie größere Summen ausgegeben.

An welchen Shows möchtest Du noch teilnehmen? Auf jeden Fall Wer wird Millionär. Das wäre der Höhepunkt, den man erreichen kann. Danach gibt es nichts mehr, zumindest aktuell nicht. Danach würde ich vielleicht sogar meine Quizzerkarriere beenden. Bewirbst Du Dich darauf gerade aktiv oder zögerst Du das noch heraus? Ich habe mich dort schon einige Male beworben. Aber ich fokussiere mich nicht unbedingt darauf, denn es gibt noch andere Sachen, die ich machen will. Ich sehe mich noch nicht in dem Alter, in dem es optimal ist, bei Wer wird Millionär mitzumachen.

Welches ist denn das optimale Alter? Zwischen 25 und 35 Jahren. Wenn man sich die Gewinner anguckt, die 500.000 oder eine Million gewannen, war bisher keiner dabei, der


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unter 25 und selten einer, der über 30 war. Ich warte also noch.

beschaffen. Aber ich finde das auch nicht notwendig.

Hast Du ihm gedankt? Ja, aber erst später, als ich realisierte, woher die Info kam.

»Ich bin nicht so der Typ, der weit nach vorne schaut.«

Du hast bei Gefragt–Gejagt ge­ wonnen, einer Show, bei der man gegen echte Experten antritt. Die Frage, mit der Du gewonnen hast, thematisierte den Bühnenautor Botho Strauß. Bist Du Theaterfan oder hast Du die Antwort geraten? (lacht) Ich fand es damals sogar schade, dass nicht nochmal nach­ gefragt wurde, woher ich es wusste. Ich hatte das Ganze irgendwo im Hinterkopf und konnte so die anderen Antworten ausschließen. Heute weiß ich, die Info kam von meinem alten Deutschlehrer. Der hat uns damals ein Gedicht von Strauß vorgelegt und das ist mir bis heute im Kopf geblieben.

Wie beruhigst Du Dich, wenn Du auf die Bühne musst? Es gibt einen Trick, den ich bei meiner ersten Quizshow lernte. Bei dieser Riesenbühne im ZDF wurde mir doch mulmig. 30 Sekunden vor dem Auftritt nahm mich die Redakteurin zur Seite und wir machten eine Atemübung. Das entspannte mich. Seitdem mach ich das immer. Hast Du einen Glücksbringer? Nein. Habe wahrscheinlich am Anfang verpasst, mir einen zu

Wie gehst Du mit dem Verlieren um? Die ersten zwei, drei Tage ist es tatsächlich ein dramatisches Ereignis. Anfang Oktober spielte ich eine Show, die brachial in die Hose ging. Für mich gibt es dann zwei Wege: Entweder ich spiele sofort eine neue Show, um das zu überdecken oder ich fresse es erst einmal in mich rein und mach das nächste halbe Jahr gar nichts in diese Richtung. Ich entschied mich für ersteres und bewarb mich für etwas Neues. Ich glaube, das ist auch bei vielen Sportlern so, dass sie nach einer Niederlage sofort weitermachen müssen. Quizzen ist in gewisser Hinsicht auch ein Sport.

Wie oft warst Du insgesamt schon in Quizshows dabei? Diesen Samstag kommt die nächste Show: Der klügste Norddeutsche im NDR. Der Titel ist ein wenig übertrieben. (lacht) Die ist schon gedreht, damit bin ich jetzt bei acht Spielshows.

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Wie läuft das Casting ab? Normalerweise fängt es mit einem Telefongespräch an. Man muss etwa 30 Fragen beantworten. Zwischen 50 und 150 Leute, je nach Show, werden dann vor Ort nochmal angeschaut. Aus denen werden diejenigen ausgewählt, die in die Show kommen. Beim härtesten Casting, an dem ich teilnahm, wurden aus 1.200 Leuten die besten 15 gesucht, das war bei Der Quizchampion.

Fehlen Dir manchmal die Worte beim Beantworten von Fragen? Bei den Quizfragen nicht, sondern eher, wenn es um das Drumherum geht. Also Fragen zum Leben, was man so privat macht. In solchen Momenten gerate ich manchmal ins Trudeln und denke: Wenn du in der Livesendung etwas Falsches sagst, dann sehen es Millionen von Zuschauern. Allerdings ist mir noch nie etwas Peinliches passiert. Gesangsauftritte, Quizshows, Cas­ ting von The Voice of ­Germany. Bei der letzten Echo-­Verleihung hast Du mit einigen Promis vor der Kamera posiert. Stehst Du gern im Mittelpunkt? Könnte man vermuten, aber es trifft nur zu einem gewissen Grad zu. Ich mag dieses persönliche Erlebnis, wenn ich zum Beispiel Fotos mit Stars mache. Schön ist auch, dies mit Freunden zu teilen.

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Wie stehst Du zur Abschaffung des Echos? Schade ist es um den Musikpreis an sich. Mit dem Thema beschäftigte ich mich dieses Jahr besonders und verfasste sogar eine Hausarbeit darüber. Der ganze Skandal mit Farid Bang, Kollegah und Campino erschien mir am Ende, um ehrlich zu sein, ein bisschen inszeniert. Es gibt seit mehreren Jahren Proben beim Echo, damit die Veranstaltung später glatt läuft. Ein spontaner Auftritt von Farid Bang und Kollegah bei der Verleihung kam mir so also ziemlich unrealistisch vor. Wenn man bedenkt, dass vorher schon alles durchgesprochen und geprobt wurde. Und dann gab es natürlich schon sehr lange die Diskussion, den Preis abzuschaffen. Von daher könnte man vermuten, dass das eine oder andere gewollt war. Wie kommst Du dazu, bei diesen großen Shows dabei zu sein? Ich versuche immer Tickets, zu bekommen. Bei den Veranstaltungen gebe ich mir Mühe, auch was mitzunehmen. Es gibt immer Connections, die ich knüpfen kann, man lernt viele Mitarbeiter kennen. Für die Echo-Tickets musste ich echt kämpfen, es gibt nur wenige Zuschauerkarten. Bei The Voice ist das schon einfacher, da versuche ich auch, jedes Jahr dabei zu sein. Es ist natürlich auch mein Interesse, mal selbst in dieser Branche zu arbeiten. Ich sehe auch gern Weltstars, das


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»Ich versuche es so zu timen, dass ich Quizshows immer in den Semesterferien spielen kann.«

kriegt man eher selten in Deutschland. Ich versuche, bei den wenigen Gelegenheiten dabei zu sein.

Hast Du eigentlich selbst Fans oder Autogrammkarten? Nein, will ich auch gar nicht. Ich sehe das bei anderen Quizleuten, bei den Jägern zum Beispiel. (Gegenspieler bei Gefragt–Gejagt, Anm. d. Red.).

Die haben Autogrammkarten, müssen teilweise nach den Shows noch Fotos schießen und werden auf der Straße angesprochen. Das ist mir bisher nur zwei oder dreimal passiert, und nur in den Tagen direkt nach einer Show. Das versendet sich. Trotzdem freue ich mich jedes Mal darüber, wenn jemand zum Beispiel

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in die Instagram-Story postet, meinen Auftritt gesehen zu haben.

Was sagt Deine Familie zu Deinen Hobbys? Sie förderten mich von Anfang an, schon seit ich das erste Quizspiel zu Weihnachten geschenkt bekam. Es wurde mir auch viel Zeit eingeräumt, nach dem Essen wurde oft noch eine Runde gequizzt. Sie haben das Ganze von Anfang an geteilt und

unterstützt. Eine gute Gelegenheit, mal Danke zu sagen.

Auf YouTube gibt es ein Helene-­ Fischer-Cover von Dir. Bist Du Schlagerfan? Das Video wollte ich löschen. (lacht) Ich mag Rock, Pop, die Charts und ich covere viel aus diesem Bereich. Schlager eher nicht. Ich versuche immer aktuell dabeizubleiben und natürlich auch beim Wissen in ­ puncto Musik am Ball zu sein.

»Es gibt echt verrückte Shows, die nur um ein Uhr nachts laufen und trotzdem produziert werden.«

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­reativ sein, Songs umschreiben, K das sind dann so kleine Spielereien, die ich gern mache.

Schreibst Du auch selbst? Ja, bisher habe ich etwa acht bis zehn Lieder. Viele Ideen verwarf ich auch wieder. Zurzeit arbeite ich an einem Weihnachtslied, das Komponieren muss für mich Sinn und eine Message haben. Schreibst Du auf Deutsch oder auf Englisch? Beides, aber wenn der Inhalt besonders intensiv sein soll, dann besser auf Deutsch. Wie bekommst Du Deine ­Hobbys und Dein Studium unter einen Hut? Ich versuche es so zu timen, dass ich Quizshows immer in den Semesterferien spielen kann. Einfach um den Kopf frei zu haben und mich nicht mit irgendwelchen Hausarbeiten beschäftigen zu müssen. Zeit, um mich vorzubereiten, muss ich mir auch freischaufeln. Die Musik geht nebenher ganz gut. Aber ja, ich bin viel unterwegs. Gestern war ich beim The Voice of Germany-Finale als Zuschauer und heute bin ich wieder hier in der Hochschule. Woher weißt Du vor einer Sen­ dung, was Du lernen musst? Ich schaue mir zuerst eine oder zwei Folgen der Show an, damit ich reinkomme. Dann entscheide ich, ob ich möglichst viel dafür pauke, ob

ich mich auf ein spezielles Themengebiet vorbereite, das sich aus der Show herauskristallisiert oder ob ich völlig unvorbereitet da rein gehe.

Schon in der Schulzeit hast Du an Matheolympiaden teilgenommen und Dominorekorde aufgestellt. Würdest Du Dich als Nerd be­ zeichnen? Nein. Bei all diesen Sachen stand der Wettbewerb im Vordergrund. Den Dominorekord für Mecklenburg-Vorpommern knacken, bei der Matheolympiade so weit wie möglich nach vorn kommen. Vielleicht war das der Start für meine Quizzerkarriere.

Hast Du einen Tipp für alle, die mal an einer Quizsendung teil­ nehmen wollen? Auf jeden Fall sollten sie die Charakteristik der Show kennen, einfach die Show intensiv auch vor dem Bildschirm verfolgen und mitraten. Wenn Du feststellst, dass das in 60 oder 70 Prozent der Fälle klappt, dann einfach mal bewerben und der Rest kann vielleicht noch beim Casting rausgekitzelt werden. Ist Spielsucht für Dich ein Thema? Bei dem Wort denke ich erstmal ans Glücksspiel im Casino. Natürlich ist Spielsucht scheiße und man sollte sich nicht verleiten lassen. Wenn ich nach etwas süchtig bin, dann nach dem Quizzen. (lacht) Ich finde so eine Quizspielsucht ist doch eigent-

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lich was ganz Nettes. Immerhin kann man ja dabei auch nichts verlieren. Außer vielleicht die Ehre.

Du bist fürs Studium nach Magde­ burg gezogen. Was hat Dich dazu bewogen und wie war Dein erster Eindruck von der Stadt? Acht Wochen vor Studienbeginn war ich hier auf Durchreise, kam am Bahnhof an und dachte: Hier kommst du nie wieder her. Ich bewarb mich trotzdem, es gibt ja nicht viele Unis, an denen man in Deutschland Journalismus studieren kann. Zur Auswahl standen am Ende Magdeburg, Bremerhaven und Kiel. Die Entscheidung machte ich von meinem Gefühl und vor allem davon abhängig, wie mir die jeweilige Hochschule antwortete. Das war in Magdeburg am persönlichsten und dann habe ich mich einfach darauf eingelassen. Ich bin absolut positiv überrascht worden.

Gibt es eine Quizzer-Szene in Magdeburg? Es gibt ab und zu ein Kneipenquiz irgendwo am Hassel. Der nächste Anlaufpunkt ist Halle an der Saale, da kann man den Deutschlandcup spielen. Ich versuche immer, die großen Turniere mitzunehmen, also Weltmeisterschaften und deutsche Meisterschaften. Gegen ein Kneipenquiz habe ich nichts einzuwenden, in geselliger Runde kann das ganz nett sein.

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Wie schätzt Du die deutsche Quizszene im internationalen Vergleich ein? Sie ist sehr stark, die Topleute hier sind auch international unglaublich erfolgreich. Es gibt ja wirklich Welt- und Europameisterschaften. Der Top-Quizzer aus der deutschen Szene zählt weltweit zu den Top Ten. Die meisten Quizzer kommen aber aus Irland und England. Die kenne ich allerdings nicht, denn die Meisterschaften werden dezentral gespielt. Daher lernt man sich nicht kennen, sondern sieht am Ende nur die Ergebnisliste. Als cooles neues Event gilt in der Szene die Quiz­ olympiade. Die wurde neu gegründet und die erste Ausgabe fand vor ein paar Monaten in Athen – und somit an einem wirklichen historischen Ort – statt.

»Ich bin gerade nicht im ­Modus.« Spielst Du auch lokale Quiz­ runden? Ich hatte schon oft Lust, Quizze in anderen Bundesländern zu spielen. Es gibt echt verrückte Shows, die nur um ein Uhr nachts laufen und trotzdem produziert werden. Das würde ich gern mal machen, aber habe es bisher noch nicht geschafft.


Robert Komnick

War der MDR schon auf Deiner Liste? Quickie? Nein, noch nicht, das steht ganz hinten an. (lacht) Die Fragen sind da sehr spezifisch. Und ich habe das Gefühl, wenn ich in diesem Quiz auftrete und große Fehler mache, dass ich dann hier darauf angesprochen werde.

Du liest gern Bücher über un­ nützes Wissen. Fällt Dir spontan etwas Merkwürdiges ein? Ja! Dreifarbige Katzen sind immer weiblich. Das ist mir im Kopf geblieben, weil es einfach so ver-

rückt ist. Man kann damit sehr gut punkten, wenn man Katzen auf der Straße sieht.

Wo siehst Du Dich in zehn Jahren? Darüber mache ich mir wenig Gedanken. Ich bin nicht so der Typ, der weit nach vorne schaut. Ich bin recht spontan und weiß noch nicht, wie oder wo ich leben möchte. Ich habe natürlich so die Standardziele, die jeder hat: Familie und Haus. Aber den Rest lasse ich noch offen. Dezember 2018

Vista.Schon? Robert Komnick wurde 1995 in Pasewalk, Mecklenburg-Vorpommern geboren. Nach seinem Bachelor im Bereich Journalismus studiert er im dritten Semester an der Hochschule Magdeburg-Stendal im Master Sozial- und Gesundheitsjournalismus und beschreibt seine Alma Mater als familiär, grün und modern. Durch seinen Auftritt bei Der Quizchampion (ZDF) im Alter von 18 Jahren galt er damals als der jüngste Kandidat einer Quizshow im deutschen Fernsehen.


silke Grunert

silke Grunert »Geschrien wird hier nicht.« Rasanter, dichter, hektischer. Unsere Gegenwart ächzt unter allen möglichen Beschleunigungen. Doch gilt das für alle? In der unscheinbaren Magdeburger Kneipe Zolleck ticken die Uhren offensichtlich langsamer. Inter.Vista besucht die FCM-Anhängerin und Kneipenbesitzerin Silke Grunert, die viel Wert darauf legt, dass in ihrer Kneipe alles normal zugeht. Alle sind hier eine Familie. Interview und Fotos: Julian Seemüller

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silke Grunert

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silke Grunert

Wie viele Fässer Bier wurden 2018 am Tag des FCM-Aufstiegs geöffnet? Eigentlich wurde das ja nicht direkt am Aufstiegstag entschieden, son­ dern schon beim Kölner Spiel. Aber natürlich ist so einiges an Bier geflossen. Mehr als sonst. Die Freude war groß, nachdem sich das Ganze erst ewig hingezogen hatte. Beim letzten Spiel auswärts in Lotte ist auch eine Menge an Bier geflossen, auf der Hin- und Rückfahrt. Für Sie als Dauerkarteninhaberin … Und Mitglied!

… dürfte der Tag ja bleibende ­Erinnerungen hinterlassen haben. Sicher! Als wir nach so vielen Jahren des Stillstands in die dritte Liga aufstiegen, war das schon das Größte. Und jetzt zweite Liga zu spielen ist, als wäre ein Traum wahr geworden. Die Jungs halten einfach zusammen, Fans passen gegenseitig auf sich auf. Deshalb ist hier auch noch nie groß was passiert. Keiner beschimpft oder haut sich, es ist einfach eine schöne Gemeinschaft in Magdeburg.

Wird das Thema Kommerz mit dem Aufstieg des 1. FCM größer? Was ändert sich? Eigentlich nichts. Wer Fan ist, ist Fan. Da wird weiter hingegangen, gekämpft, geschrien und gesungen. Aber ganz ohne Kommerz geht’s heute nicht mehr, oder?

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Der 1. FCM befindet sich derzeit auf dem 16. Platz, es ist nicht leicht in der zweiten Liga. Wie macht sich die Lage nach einem miss­ lungenen Heimspiel im Zoll­eck bemerkbar? Gar nicht. Als Fan ist man treu – in guten wie in schlechten Zeiten. Wir sind keine Schönwetter-Fans. Dass man nur rausgeht, wenn es gut läuft, das gibt es hier nicht. Wir gehen auch ins Stadion, wenn wir danach mit Tränen in den Augen nach Hause kommen.

»Betrunkene Männer sind nichts ­a nderes als kleine ­Kinder.«

Die Stimmung im Stadion ist sehr geschlossen und familiär. Wie ist die Atmosphäre im Zolleck? Dafür müssten Sie mal herkommen. (lacht) Da wird gesungen. Selbst bei einem schlechten Spiel ist die Stimmung am Ende des Abends nicht schlecht. Man diskutiert natürlich erst einmal darüber und dann werden die FCM-Lieder geträllert. Egal, ob drinnen oder im Biergarten. Das ist eben Familie. Klar ärgert man sich, aber das nächste Halbjahr wird besser. (schmunzelt)


silke Grunert

Wie abhängig ist das Zolleck von den FCM-Fans? Was passiert in der Sommer- oder Winterpause? Ich habe meine Stammgäste. Da sind auch viele Handball-Fans dabei. Ab und an kommt mal ein Handballer selbst vorbei oder ein Fußball­spieler. Man kennt sich privat so ein bisschen. Wir machen hier auch ­Feiern. Oft kommen auch meine Freundinnen vorbei. Wir Frauen ­ halten das hier mit unseren Sektchen so ein bisschen am laufen. (lacht) Wir fahren auch mal zusammen weg, Tagesausflug oder Konzert. Den meisten gefällt die Atmosphäre hier und sie kommen gerne mal wieder. Welche Art von Kundschaft haben Sie? Beschreiben Sie mal diesen ›Menschenschlag‹? Vom Immobilienhändler über die Versicherungskauffrau bis hin zu Leuten aus dem Stadtrat, die mal ein paar schön gezapfte Biere trinken wollen. Eigentlich bunt gemischt. Leute von der Deutschen Post, von der Bank, selbstständige Bauunternehmer. Natürlich auch Rentner, die allein leben, mal reden oder unter Leuten sein wollen. Oder Jüngere aus der Stadt, weil es gemütlich und urig ist und weil man rauchen kann. Das ist heutzutage viel wert. (lacht) Mal abgesehen vom Fußball. ­Worüber spricht man sonst noch im Zolleck? Familie, Politik, so gut wie alles. Wir helfen uns, wenn jemand krank

ist und bei allen Problemen, die das Leben so mit sich bringt. Zum Beispiel, wenn sich einer scheiden lässt. Es gibt Abende, da sitzen wir zusammen und füllen Formulare für Hartz IV-Empfänger aus. Manche reden auch nur übers Essen oder die Arbeit. Es gibt auch eine Skat-Clique, die regelmäßig kommt. Junge und Ältere. Natürlich ist Sport immer ein Thema, weil Magdeburg ja eine Sportstadt ist. Und nicht nur das, sondern unsere Heimatstadt. Wir freuen uns über alle Siege, auch bei Handballern oder Kanuten. Dann kommt man also auch bei privaten Problemen hierher oder wenn man Hilfe benötigt? Ja, freilich. Wir haben auch viele, die nicht mehr so gut klar kommen und beispielsweise keine schweren Dinge tragen können. Dann bringt man mal für jemanden eine Kiste Milch mit oder hilft beim Tragen. Jeder weiß, dass er hierher kommen kann und dass ihm auch geholfen wird. Diese bunt gemischte Großfamilie, die hier zusammenkommt, benimmt sich auch, sonst schimpfe ich. (lacht) Es ist wie früher, zu DDR-Zeiten: Familie. Hier ist wirklich jeder hilfsbereit.

Wie würden Sie die Ausrichtung der Kneipe beschreiben? Hier geht es nicht nur um Umsatz, oder? Ohne den geht es nicht. Natürlich sind wir eine ›Fankneipe‹, das hat sich so entwickelt. Der FCM hat ja

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»Wir gehen auch ins Stadion, wenn wir danach mit Tränen in den Augen nach Hause kommen.«


silke Grunert

früher auch schon gespielt, in der vierten Liga. Da saßen wir im Zoll­ eck sonntags mit nur zehn Mann und das war’s. Es geht mir um das große Ganze. Das Familiäre, normal Menschliche, das Runterkommen. Viele, die von der Arbeit kommen, gehen gar nicht erst nach Hause. Die stehen dann im Blaumann am Tresen. Einfach normal sein. Das Zolleck gibt es schon lange. Seit 1992. Aber damals war ich noch nicht die Besitzerin.

»Solange Bewegung herrscht, ist alles in Ordnung.«

Peters Zolleck hieß das anfangs. Die Kneipe wirkt wie ein Fels in der Brandung. Woher kommt ­diese Beständigkeit? Ich denke, es ist einfach die Zusammengehörigkeit. Klar, jeder muss heute Geld verdienen, sonst könnte ich hier zuschließen. Das spielt natürlich eine Rolle, aber das Zwischenmenschliche ist mir das Wichtigste. Und die kleinen Sachen, die nicht wehtun, die nichts kosten: Guten Tag, Auf Wiedersehen, Bitte und Danke. Das ist erstmal Grundsatz hier bei mir. Sich zu benehmen, so wie man es früher noch gelernt

hat. So trete ich auch jedem Gast entgegen, egal, welcher Herkunft. Man redet hier ganz normal miteinander, man kann Mensch sein. Wenn ich woanders in Magdeburg hingehe, dann ist das meist anonymer. Das ist wahrscheinlich so, weil fast alles größer ist als mein Zolleck.

2001 übernahmen Sie das Zolleck. Was haben Sie davor gemacht und wie kam es zu der Entscheidung? Seit 1992 hatte ich schon hier ge­­ arbeitet, damals unter Peter Griel. Immer nur ein paar Stunden, weil meine Tochter noch kleiner war, abends weniger. Die Herrschaften sind dann in Rente gegangen. Es wurde dann diskutiert, was mit der Kneipe passieren soll: Willst du sie kaufen oder pachten? Und dann entschloss ich mich, das Zolleck zu kaufen. Was haben Sie davor gemacht? Zu DDR-Zeiten war ich in der Volksbildung tätig. Nebenbei arbeitete ich schon in der Gastronomie. Durch meine Tochter lernte ich viel, was mir auch in dem Bereich half. Betrunkene Männer sind nichts anderes als kleine Kinder. Machste eben Gastronomie. (lacht) Sie haben einen Spitznamen. Wie kam es dazu? Viele sagen einfach ›Mutti Zolleck‹ oder ›Mutti Silke‹ oder bloß Silke. Ich weiß auch nicht, wie das aufkam. Jeder nennt mich eben, wie er mag.

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silke Grunert


ÂťWir Frauen halten das hier mit unseren Sektchen so ein bisschen am laufen.ÂŤ


silke Grunert

Im Stadion passiert es manchmal, dass jemand ›Mutti!‹ ruft. Auto­ matisch schau ich dann hin. Oft sind es welche, die mal im Zolleck vorbeikommen. Wenn ich mich manchmal über einen Betrunkenen ärgere, habe ich auch schon gesagt: Benimm dich, sonst bekommst du was von Mutti auf die Ohren. Vielleicht kam es ursprünglich daher.

Wie lange wollen Sie das noch machen? Ein paar Jährchen sollen es wohl noch werden, wenn die Gesundheit mitmacht. Muss ich ja auch, wegen der Rente.

In 17 Jahren Zolleck ist in Magde­ burg viel passiert. Politisch ist beispielsweise die AfD recht stark geworden. Wie machen sich Veränderungen in der Stadt im Zolleck bemerkbar? In die Haare kriegt man sich hier nicht. Jeder kann seine Meinung sagen. Allerdings bleibt es immer auf einer friedlichen Basis. Geschrien wird hier nicht. Es ist auf jeden Fall viel passiert, nicht nur politisch. Ich finde das aber auch schön, dadurch ist Bewegung in der Stadt: Leute regen sich über den Tunnel auf oder über die Brücke. Aber im Endeffekt ist das alles besser, als wenn es keine Veränderung gäbe, oder? Ist doch im privaten Leben genauso: Solange Bewegung herrscht, ist alles in ­Ordnung.

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Nur Veränderung ist beständig? So in etwa. Und Bezug nehmend auf die AfD: Das muss jeder für sich wissen. Ich habe es lieber, wenn jemand konkret sagt, was er vorhat und nicht dieses ewige Gerede darüber, was blöd läuft. Ich muss einen Standpunkt haben und wissen, wie ich etwas ändere. Können Sie den typischen Magde­ burger in drei Worten beschrei­ ben? Manchmal ein bisschen ›blubberig‹, also alles so wild drauf los. Teilweise auch stur, aber nach zwei, drei Sätzen nett und freundlich. Kommt jemand aus dem ländlicheren Gebiet, dann fällt die Sturheit manchmal wirklich auf. Die erwidern drei Worte auf fünf Sätze. Wir haben durch den Yachthafen oft Leute aus anderen Städten hier im Zolleck. Die sind immer begeistert, wie schnell man mit anderen Gästen ins Gespräch kommt. Und Magdeburg in drei Worten? Sehr schön geworden.

Geworden? Ja. In den Jahren nach der Wende auf alle Fälle. Was in der kurzen Zeit geschaffen wurde, ist schon erstaunlich. Mir gefällt meine Heimatstadt. Ich finde auch schön, dass sie sich immer weiterentwickelt, dass sich Dinge ändern und verbessert werden: zum Beispiel die ganze Bauerei


silke Grunert

am Domplatz, das Hundertwasserhaus. Ich finde es Quatsch, alles so zu bauen, wie es früher war. Neue Sachen können doch schön sein. Da sind wir wieder beim Thema: Be­ ­ wegung muss sein. Ich wohne gerne hier. Wie sieht für Sie ein perfekter Tag im Zolleck aus? Wenn meine Mannschaft spielt, wenn wir Heimspiele haben. Dann bin ich früh hier und die Fahne wird

gehisst. Und ich liebe das Warten auf die Gäste: Wir haben uns eine Woche nicht gesehen und erzählen dann viel: Was hast du so gemacht? Und natürlich das Spiel. Es ist so schön, wenn alle da sind. Meine schöne große Gemeinschaft. Und am besten, der 1. FCM ­gewinnt. Das wird schon werden. Dezember 2018

Vista.Schon? Silke Grunert, Jahrgang 1957, Besitzerin der FCM-Kneipe Silkes Zolleck, wird wahlweise ›Silke‹, ›Mutti‹ oder ›Mutti Zolleck‹ gerufen. Sie lebt Zeit ihres Lebens in der Elbstadt. Wenn sie nicht hinter dem Tresen steht, lässt sie sich gerne im Café M2 am Hasselbachplatz bedienen. In ihrem Zolleck schätzt sie die familiäre Atmosphäre, die besonders unter der Stamm­kundschaft herrscht. Angst vor Veränderung hat Silke nicht. Für sie gilt: Bewegung muss sein!


FAKTEN.CHECK INTER.VISTA 1–7 in Zahlen.

122 Veröffentlichte Interviews

2

Doppelinterviews

81

43

Interviewte

Männer und Frauen

Fotos

451


176

Lächelnde Gesichter

147 Fotos mit Hand & FuSS

DRUCKEXEMPLARE

2.950

1.158

79

Redakteur*Innen

57

Frauen

22

Männer


Oliver Poranzke

Oliver Poranzke »Ich trage quasi meine Geschichte auf der Haut.« Über die Jahre hat sich der gebürtige Sachse in die Elbestadt verliebt. Er ist Mannschaftsarzt des 1. FC Magdeburg und hat seine eigene Praxis. Der Schritt, seine Heimat zu verlassen und in Magdeburg ein Medizinstudium aufzunehmen, fiel nicht leicht. Im Interview erzählt der Tattoo-Liebhaber über sein Faible für die Hardcore- und Punkszene, sein verändertes Verhältnis zum Fußball und welche Arztserien empfehlenswert sind. Interview und Fotos: Marvin Michitsch

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Oliver Poranzke

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Oliver Poranzke

Olli, wie wild war Deine Zeit als Medizinstudent? Je nach dem. In der Prüfungsphase habe ich mir null Freizeit gegönnt, manchmal musste ich mich sogar zwingen, Pausen einzuhalten. Aber in der normalen Studienzeit war schon richtig Party. Im Prinzzclub Magdeburg war ich Dauergast, ich bin auch mal zu Freunden nach Berlin oder Leipzig gefahren. Das ­ alles geschah aber nur außerhalb der Prüfungszeiten.

Also warst Du ein sehr streb­ samer Student? Ich war der Streber schlechthin. (lacht) Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich mal nicht gelesen habe. Wir waren eine VierMann-WG, alles Medizinstudenten. Alle mit ähnlichem Lernpensum. Die anderen haben ihren Tag mit Ausschlafen, Essen, Lernen, Pause machen und abends weggehen gestaltet. Bei mir war das anders. Ich habe durchgerackert, vielleicht zwischendurch mal eine Schnitte gegessen und bin gegen zehn ›tot‹ ins Bett gefallen. Ich wollte nie ›auf Lücke‹ lernen. Mein Ziel war immer, den ganzen Sachverhalt zu verstehen. Wenn man mich nachts um drei wecken würde, wollte ich es wiedergeben können. Welche Eigenschaften hast Du in dieser Zeit entwickelt? Ehrgeiz. Wenn man seine Arsch­ backen zusammenkneift und auf das

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verzichtet, was man gerne macht, darf man das nicht negativ sehen, sondern als kurzes Beiseitepacken. Ich hatte ein Ziel vor Augen und wollte es unbedingt. Diesen Ehrgeiz habe ich bis heute nicht abgelegt.

»Ob Maurer, Koch oder Arzt – das ist scheiSSegal.«

War es schon als Kind Dein Wunsch, Arzt zu werden? Niemals. (lacht) Ich habe einen ganz normalen Bildungsweg einge­ schlagen. Niemand dachte überhaupt mal daran, dass ich Abitur mache. Mein Ziel war zunächst bis zur achten Klasse kommen und dann raus, Maurer oder irgendwas anderes werden, auf eigenen Füßen stehen. Meine Mutter und mein Stiefvater haben mich dann in der achten Klasse geerdet. Sie meinten, ich könne ja einen Ferienjob aus­ führen, um das Taschengeld aufzubessern. Sie wollten, dass ich die zehnte Klasse abschließe, so dass ich dann zähneknirschend doch in der Schule blieb. Dummerweise war ich dann in der zehnten Klasse so gut, dass mir gesagt wurde, ich könne sogar Abi machen. So bin ich dann wieder nicht ins Berufsleben eingestiegen. Mittlerweile wollte ich Koch und nicht mehr Maurer werden. Ich komme aus einer BWL-Familie, so dass ich auf ein Gymnasium mit


Oliver Poranzke

solch einem Schwerpunkt ging. Das war überhaupt nicht meine Leidenschaft, so dass ich mich sehr quälen musste und erst nach vier Jahren mein Abi in der Tasche hatte. Danach war ich planlos.

Geboren und aufgewachsen in Sachsen, wann und warum hat es Dich nach Magdeburg gezogen? Ausschlaggebend war die zentrale Vergabe von Studienplätzen. (lacht) Ich bekam die Zusage für Magdeburg und war als Sachse erstmal tief­traurig, dass ich meine Heimat verlassen musste. Mein Studium in Magdeburg brach ich 2002 wegen Liebeskummer ab und ging zurück. Als ich mich 2004 erneut bewarb, bekam ich wieder die Zusage für Magdeburg. Da dachte ich mir, irgendwer möchte, dass ich hierher komme. Dieses Mal wollte ich es unbedingt durchziehen und meine zweite Chance, Medizin zu studieren, nutzen.

Wie kam Deine Verbindung zum Fußball und zum 1. FC Magdeburg? Das ist eine recht lustige Geschichte, weil ich vorher so gut wie gar nichts mit Fußball am Hut hatte. Alle Ballsportarten lagen mir fern und ich kannte auch keinen Spieler aus Magde­burg. Im Sommer 2016 war ich zu einer Hochzeit eines guten Freundes eingeladen, wo ich mich mit einem Menschen köstlich unterhielt. Später erfuhr ich von ihm, dass er Marius Sowislo heißt,

professionell Fußball spielt und der Kapitän des 1. FC Magdeburg ist. Das war meine erste Berührung mit dem FCM. Danach entwickelte sich bei mir das Interesse an der ärztlichen Betreuung eines Sportlers. Mich reizte, dass man durch ärztliches Handeln eine Leistungssteigerung herbeiführen kann. Durch Marius hat sich ein positives ›Lauffeuer‹ entwickelt, so dass auch andere Sportler von mir hörten. Ich entschloss mich dann, eine sportmedizinische Zusatzausbildung zu machen, dafür brauchte man jedoch einen Verein. Auf höfliche Nachfrage beim FCM hat das zum Glück dann auch geklappt. Sind Fußballer wirklich so weh­ leidig, wie sie oftmals dargestellt werden? (lacht) Ich glaube das ist, wie bei vielen Menschen, typabhängig. Da sehe ich keinen Unterschied zur Normalbevölkerung.

Gibt es andere Sportarten, die Dich vielleicht mehr interessie­ ren? Ich bin wirklich richtiger Fußballfan geworden. Da hat sich bei mir ein extrem anderes Denken eingebrannt. Erst kürzlich kaufte ich mir eine Konsole mit FIFA 19, um das auch zu Hause leben zu können. Ich interessiere mich aber auch für Basketball, Handball oder Volleyball.

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Oliver Poranzke

Treibst Du selbst auch Sport? Zu wenig. Ich bin im Fitnessstudio angemeldet, das sich über meine monatlichen Beiträge freut. (lacht) Man sieht mich dort aber eher in den Wintermonaten. Wenn’s hochkommt, gehe ich noch zweimal die Woche joggen. Das ist aber immer von meiner Laune abhängig.

Geht ein Arzt eigentlich auch zum Arzt oder diagnostizierst Du Dich selbst? Ich diagnostiziere recht viel alleine. Wenn es aber gar nicht geht, ziehe auch ich ärztliche Hilfe heran. Gerade im orthopädischen Bereich. Bei muskulären Probleme kenne ich gute Freunde, die ich um Rat frage. Das meiste mache ich aber tatsächlich selbst. Krank bin ich sowieso sehr selten. Aufgrund des Ärztemangels sind Wartezimmer oft überfüllt. Wie ist es in Deiner Praxis? Das Wartezimmer ist fast jeden Tag brechend voll, manchmal nehmen die Patienten sogar noch im Treppenhaus Platz. So sieht es auch bei anderen Ärzten in Magdeburg aus. Es gibt insbesondere zu wenig Fachärzte. Die Gesundheitspolitik will das irgendwie reglementieren. Das Geld, das für die Bevölkerung da ist, muss schlau verteilt werden. Es besteht die Sorge, dass wenn zu viele Ärzte diesen Topf anzapfen, am Ende zu wenig für andere Stellen übrigbleibt. Im Alltag will mir manchmal

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gar nicht einleuchten, warum sich nicht noch ein weiterer Kollege hier in Magdeburg niederlassen darf. Das sind festgelegte Dinge, denen wir uns unterordnen müssen. Deswegen ist es wichtig, dass wir versuchen, die Politik mitzugestalten. Wie oft greifst Du an stressigen Tagen zu Koffeingetränken? Wahrscheinlich zu oft. (lacht) Das Grundnahrungsmittel in der Praxis ist eigentlich Kaffee. Liebe Schwestern sorgen bei mir dafür, ­ dass ­ dieser niemals ausgeht. Zwischendurch gibt’s dann sogar manchmal ganz ungesunde Sachen, wie Red Bull oder Cola. Aber Koffein ist schon der Treibstoff meines Motors.

Wer war bislang Dein prominen­ tester Patient? Einen, den wirklich alle über Magde­ burg hinaus kennen, hatte ich noch nicht. Die Sportler sind aber schon recht prominent. Da staunen auch immer die Patienten im Warte­ zimmer. Du hast einige sichtbare Tattoos auf den Armen, woher stammt Deine Leidenschaft für Farbe auf der Haut? Ich komme aus der Hardcore- und Punkszene, dort sind ja nahezu alle tätowiert. Das gehört einfach zu dieser Subkultur. Irgendwann hat ­ mich diese Leidenschaft gepackt. Ich mag es einfach, Tattoos zu tragen.


»Koffein ist der Treibstoff meines Motors.« 135


Oliver Poranzke

Bei mir haben alle eine Bedeutung und sind wohl überlegt. Ich trage quasi meine Geschichte auf der Haut.

Hattest Du dadurch jemals Pro­ bleme im Alltag? Eigentlich nicht. Am Anfang waren meine Tattoos noch verdeckbar, so dass ich auch was Langes drüberziehen konnte, wenn das verlangt wurde. Aber Probleme gab es nie. Denn freundlicherweise ist die Situation heutzutage so, dass Tattoos in der Gesellschaft gut angenommen werden, dass es nichts Besonderes mehr ist. Das Klischee ist weg, dass sowas nur Knastis oder Asoziale tragen. Ich habe auch viele täto­ wierte Patienten, jung und alt. Eine nette Patientin um die 80, die das cool findet, fragt mich regelmäßig nach neuen Tattoos. (lacht)

Du bist bekennender Vegetarier, was hat Dich zu dieser Lebens­ einstellung bewogen? Auch das fing in der Hardcore- und Punkszene an. Dort macht man sich ja auch viele Gedanken über eine bessere Welt. Themen wie Politik, Umweltschutz, Ethik und sowas. Ich dachte darüber nach, ob es unbedingt notwendig ist, Tiere umzubringen, nur damit ich satt werde. Es existieren eine Menge Alternativen. Ja, es gibt immer Vorwürfe, das sei doch nicht gesund und man müsse doch Mangelerscheinungen haben. Das ist einfach Quatsch. Wie bei jeder anderen Form der Ernährung auch.

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Wenn man Vollköstler ist, kann man das auch falsch betreiben und wird dick, rund und krank. Bei mir war es der ethische Aspekt: Ich möchte nicht, dass andere Lebewesen für mich getötet werden. Meine innerste Überzeugung ist, vegan zu leben, weil ich dann auch solche Sachen wie Legebatterien oder Milchvieh­ betriebe verhindern könnte, wenn alle mitmachen. Aktuell bin ich davon aber abgekommen, weil ich gerade so Bock auf Käse und Eier habe. Wie bindest Du diese Ernährungs­ einstellung in die Erziehung ­Deiner Kinder ein? Ich überlasse ihnen die Entscheidung, bei mir war’s ja auch so. Meine Kinder sind jetzt fünf und zehn Jahre alt und bekommen von mir natürlich die Information, dass Fleisch nicht auf Bäumen wächst. Oder, dass so ein Würstchen, das aus der Packung rausrutscht, auch mal ein Tier war. Zum anderen sind meine Kinder auch sehr tierlieb und gehen gerne in den Zoo oder gucken Tierfilme. Ich erkläre ihnen auch, dass einige Sachen, die sie essen, auch mal etwas gefühlt haben. Ich würde ihnen aber niemals ein Würstchen aus der Hand schlagen. Mit sachlichen und kindgerechten Informationen sollen sie eine eigene Entscheidung treffen. Was ist Dein Ruhepol nach einem umfangreichen Arbeitstag? Musik ist etwas, das mich runterbringt. Ganz oldschool habe ich


»Ich möchte nicht, dass andere Lebewesen für mich getötet werden.«

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Oliver Poranzke

eine Schallplattensammlung, die ich gerne mal durchgehe. Platten auflegen und in der Vergangenheit schwelgen. Wenn ich denn Sport treibe, bringt mich das auch runter. Aber auch Unternehmungen mit Freunden und versuchen, das Leben so bunt wie möglich zu gestalten. Das erdet mich.

Freizeit in Magdeburg. Wo lässt es sich am besten relaxen? Im Sommer definitiv in der Datsche. Das ist sehr chillig und erinnert mich an meine letzte Heimat Leipzig-­Connewitz, also ein bisschen alternativ und alle sind locker drauf. Dort kann man dem Alltag entrinnen, obwohl man mitten in der City ist. Ansonsten sind es die vielen Grün­flächen in Magdeburg. Auch wenn es nur mal an der Elbspitze im ­Rotehornpark ist und man stumpf aufs Wasser guckt, das macht mir schon viel Freude. Bist Du ein Serien-Junkie? Ja, auf alle Fälle. Klassischerweise gucke ich oft Scrubs oder Dr. House, logisch.

Also bist Du ein Fan von Ärzte­ serien? Ja schon, aber Schwarzwaldklinik oder Emergency Room würde ich mir nicht angucken. Seit es Die Simpsons gibt, bin ich auch ein großer Fan davon. Manchmal gucke ich auch so einen Schwachsinn wie Family Guy.

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Neuerdings habe ich auch 4 Blocks für mich entdeckt, das finde ich genial. Da ich auch gerne koche, fiebere ich oft auch bei The Taste mit.

Du warst Roadie der Punk­ rockBand Rykers. Was war Deine Aufgabe? Rykers ist eine Band aus Kassel. Mit dieser Band bin ich getourt und war zum Beispiel für Bühnenmaterialien und Merchandise-Artikel verantwortlich oder dass im Bandraum genug Bier da ist. Auch Absprachen mit Veranstaltern musste ich treffen. Und wie war es? Intensiv. 1996 war die geilste Zeit meines Lebens. Ein freies Leben. Du startest in Frankreich und wachst am nächsten Morgen in Belgien auf. Man lernt Leute kennen und es entstehen Freundschaften. Eine riesige, europäische Hardcore-Community hat sich da für mich erschlossen. Die Hardcore- und Punkkids gibt’s es ja schon immer und sie halten echt gut zusammen. Mit einem Mädchen aus Frankreich schreibe ich sogar heute noch. Wenn man irgendwann mal erwachsen werden will, so mit Geldverdienen und Familie, dann geht das natürlich nicht mehr. Da muss man sich entscheiden. Tatsächlich hatte ich auch eine eigene Band, aber das war nur ein Hobby. Rykers – das war schon richtig Business, die sind auch heute noch aktiv.


Oliver Poranzke

Ein typisches Rockband-Klischee: Habt ihr mal ein Hotelzimmer verwüstet? Das nicht. Aber wir sind mal aus einem Club in Köln rausgeflogen. Da floss dann doch ein bisschen viel Alkohol und wir wurden immer lauter und wilder. Dann ging mal hier ein Glas und da mal ein Tisch zu Bruch. Danach standen wir draußen in der Kälte und sind reumütig zum Tourbus getappt. Wie wichtig ist Musik für Dich heutzutage und was hörst Du? Schon heute Abend bin ich wieder in Leipzig Connewitz und gucke mir

ein paar Bands an, die Hauptband ist Terror. Das sind die Bands, die schon früher mein Leben gestaltet haben und heute noch aktiv sind. Auch die ganzen Leute von damals treffe ich dort. Viele, die jetzt vorn an der Bühne stehen, könnten auch schon meine Kinder sein. Das ist der Hammer. Wir feiern dort zusammen und das ist nicht nur Dastehen und Kopfnicken, sondern auch Stage Diving mit allem Drum und Dran. Das ist immer ein Gefühl von Gemeinschaftlichkeit. Bei einem Konzert habe ich vom ersten bis zum letzten Lied das pure Lächeln im Gesicht. Das gibt mir ein Glücksgefühl. In dem

»Ich war der Streber schlechthin.«

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Oliver Poranzke

Moment ist es auch scheißegal, wer du bist: Ob Maurer, Koch oder Arzt – das ist scheißegal. Wir sind eine Familie und feiern gemeinsam.

Wenn Du Deine Partnerin in Magdeburg zum Essen ausführst, wohin gehst du? Definitiv ins Côba. Das ist ein Vietnamese am Hasselbachplatz. Es ist dort sehr lecker. Zudem bietet die asiatische Küche viel vegetarische

Kost. Atmosphäre und Personal sind super. Man fühlt sich kurzzeitig wie in einem kleinen Asienurlaub. Das kann ich nur empfehlen. In einem Satz, wie hat sich Deine Haltung zur Stadt Magdeburg gewandelt? Erst gehasst, dann akzeptiert, jetzt geliebt. Dezember 2018

Vista.Schon? Oliver Poranzke ist 1977 in Grimma geboren. Als Patchwork-Kind wuchs er mit seiner alleinerziehenden Mutter und einem jüngeren Bruder in Muldental bei Leipzig auf. Bruder Patrick hat sich in Bayern nieder­gelassen. Seine Mutter wohnt im Erzgebirge, seine jüngere Schwester Anne in den Niederlanden. Von 2004 bis 2010 studierte Oliver Medizin an der Otto-von-­ Guericke-Universität Magdeburg, arbeitete anschließend bei den Pfeifferschen Stiftungen. Seit 2016 hat er eine eigene Praxis im Breiten Weg. Seit Sommer 2018 ist er Mannschaftsarzt des 1. FC Magdeburg.


Oliver Poranzke

»ich wusste, was ich nicht werden will: Politikerin.« Wer hatʼs gesagt?

Claudia Dalbert, Ausgabe 5

Lösung:

Das ganze Interview gibt es auf www.inter-vista.de 141


Valerie Schmitt & Alexander Wassilenko

Valerie Schmitt & Alexander Wassilenko

»Hip-Hop ist ein historischer Big Bang!« Was der Wu-Tang Clan mit einem Sprungbrett und die New Yorker Bronx mit dem Urknall zu tun haben? Wie viel Talent aus Magdeburg kommt und was Hip-Hop eigentlich wirklich ist? Inter.Vista im Gespräch mit der ›Simone de Beauvoir‹ und dem ›Jean-Paul ­Sartre‹ des Hip-Hop. Ein Philosophenpaar im Trainingsanzug spricht über Hip-Hop als Subkultur, was ihnen Break Grenzen bedeutet und warum man sein will wie thailändische Männer. Interview und Fotos: Juliane Schulze

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Valerie Schmitt & Alexander Wassilenko

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»Ein guter Kick auf dem Beat ist nicht zwangsläufig geschlechtlich.«


Valerie Schmitt & Alexander Wassilenko

Hesse oder Hafti? Alexander: Hafti.

Warum? Alexander: Hesse hat auf jeden Fall keine gute Musik gemacht!

Gerade in den letzten Jahren war Rap wieder schwer im Kom­ men. Würdet Ihr sagen, dass diese Entwicklung dem Hip-Hop zugutekommt? Valerie: Rap ist im Alltag der heutigen Generation angekommen. Nicht nur das! Hip-Hop ist sogar dominant. Der kulturelle und der populär­ kulturelle Aspekt gehen Hand in Hand. Durch den wachsenden Bekanntheitsgrad ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass man mehr über die Subkultur Hip-Hop lernt. Umgekehrt wird durch die wachsende Szene auch der Kommerz bestärkt. Alexander: Letztendlich ist es egal, an welcher Position sich der Hype gerade befindet, mir geht es um eine coole Kultur vor Ort. Cool, dass es jetzt mehr Leute gibt, die sich damit identifizieren und mit denen man ins Gespräch kommt. Vor 20 ­Jahren waren Wu-Tang und Airforce mein Sprungbrett in das Becken und heute ist es genau das gleiche ­Wasser. Ich finde eine Verbindung zu den ­ Leuten, eine gemeinsame Sprache. Ihr habt gerade von Hip-Hop auch als Subkultur gesprochen.

Was bedeutet dieser Hip-Hop für Euch? Valerie: Hip-Hop kann nicht genau definiert werden. Es gibt keinen Regelkatalog, keine Instanz, die das entscheidet. Es ist Gemeinschaftsdenken. Hip-Hop ist das, was man daraus macht. Für mich ist er eine Möglichkeit, mich selbst auszudrücken. Hip-Hop hat viele unterschiedliche Facetten: Rap, Tanz, Musik, Graffiti. Er ist eine Kultur, eine Lebenseinstellung. Respekt und Wissen sind in dem Hip-Hop, den wir leben, wichtige Werte. Er ist für mich ein Wertekatalog, selbst wenn das viele Leute nach Rezension der derzeitigen, deutschen Charts nicht vermuten würden. Alexander: Hip-Hop ist erstmal ein Wort. Ein Sammelbegriff für sehr viele Menschen auf der ganzen Welt und die werden geeint durch Medien: Mugge, Bewegung, Visu­ elles, Sprachliches, Attitüden. Das hat einen gemeinsamen Ursprung und letztlich ist das alles Hip-Hop. Valerie: Wenn man es jetzt einfach definiert, würde man sagen: Hip-Hop ist eine afrodiasporische Kultur­tradition, die im New York der siebziger Jahre entstanden ist und aus vier Elementen besteht: Rap, Graffiti, DJing, Breaking. Alexander: Man kann sogar noch tiefer gehen und sagen: Es ist eine kulturanthropologische Grund­ kompo­ nente, in der sich wider­ spiegelt, was der Mensch in einer

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Valerie Schmitt & Alexander Wassilenko

sich ausbreitenden, diversifizierenden Welt macht. In dieser Welt, in der Gesellschaft immer komplexer wird, folgen Macht, Ausbeutung und Unterdrückung. Hip-Hop ist letztlich das Prinzip, das du unter schwierigen Bedingungen – wie ein Kaktus in der Wüste – Kreativität schaffst und das war’s. Kreativität, die Aus­ grenzung kappt und sich integriert. Hip-Hop ist ein historischer Big Bang! Ihr habt gerade von den Elemen­ ten des Hip-Hop gesprochen. Rap, DJing, Graffiti, Breaking. Was ist das wichtigste Element für Euch? Valerie: Die gehören alle zusammen, das kann man nicht werten. Ich finde es auch wichtig, sie nicht voneinander zu trennen. Diese vier Elemente leben voneinander. Alexander: Ohne es jetzt werten zu wollen, kann ich aber auf jeden Fall sagen, für welches Element ich mich im Falle des Falles entscheiden würde und das wäre Breaking, weil es mit dem Körper zu tun hat, etwas ganz Materielles, Basales ist und mir zeigt, dass ich gesund bin. Wenn man sich in die Rapszene integriert, hat man oftmals mit Künstlern zu tun, die Drogen nehmen. Dann hast du bestimmte Zeiten, in denen du schläfst, in denen du wach bist. Eben ein ganz bestimmter Lebensrhythmus und als B-Boy oder B-Girl kannst du dir das nicht erlauben.

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Stichwort: Szene. Wie würdet Ihr die Magdeburger Hip-Hop Szene einschätzen? Valerie: Also eigentlich hat Magdeburg eine ziemlich starke Hip-Hop Szene. Vor allem die Tanzszene hat im Verhältnis zur Größe der Stadt relativ viel zu bieten. Klar gibt es einige Dinge, die es hier nicht gibt, zum Beispiel keine richtige Stand-up-Szene. Es ist eben sehr ›breaking-­lastig‹ in Magdeburg. Alexander: Ich würde das nicht als Szene bezeichnen, was in Magdeburg stattfindet. Also rein vom ­Logischen, wenn Hip-Hop sich über seine vielen Elemente definiert und den Menschen eine Plattform und einen Treffpunkt bietet, dann müssten sich bei einer Hip-Hop Szene in Magde­ burg ganz viele unterschiedliche Menschen und Elemente irgendwo, irgendwann ritualisiert, periodisiert treffen und das tun sie nicht. Es gibt viele Leute, die etwas machen und es gibt viele, die aus Magdeburg kommen und über­regional präsent sind. Aber das Gefühl, ich gehe da hin, um jemanden zu treffen, habe ich nicht wirklich. Valerie: Summa summarum: Es kommt unheimlich viel Talent aus Magdeburg! Gibt es dafür einen Grund? Habt Ihr eine Idee, warum es in ande­ ren Städten anders ist? Alexander: Auf jeden Fall erst einmal historisch: Es gab die DDR. Es hat mit den Leuten zu tun, die


Valerie Schmitt & Alexander Wassilenko

hier in den letzten 20 Jahren etwas aufgebaut haben. Mit dem Abzug und der Arbeitsmigration der Leute, weil Magdeburg nicht viel zu bieten hatte. Auch kreative Leute mit Ambi­ tionen gehen weg. Dann ist Hip-Hop im Speziellen abhängig davon, wer ihn betreibt. Die Leute hier sind meist integrierter und verschanzen sich mehr in ihrem eigenen Leben. Hip-Hop lebt von denen, die ihn unbedingt brauchen. Also die gar nicht anders können. Er ist Familie, er ist Treffpunkt und deshalb gibt es ihn hier nicht. Valerie: Es liegt auch daran, dass es immer jemanden geben muss, der alles organisiert und zusammenhält. Es gibt viele verschiedene Plätze, an denen so etwas stattfindet. Was ich mir wünsche, sind regelmäßige gemeinsame Treffpunkte, aber das muss jemand in die Hand nehmen. Alexander: Wenn Leute etwas organisieren, müssen diejenigen auch mit denen zusammenpassen, die es konsumieren oder wie wir sehen. Hip-Hop ist divers bis komplex. Wenn jemand sagt, ich höre Rap, dann heißt das noch nicht, dass ich das auch höre. Deshalb ist es so hart, die Szene zu binden, alle brauchen einen Bezug zueinander. Wenn Ihr durch die Straßen Magdeburgs geht, fällt Euch noch etwas ein, was Ihr verändern würdet? Valerie: Wenn man an der Elbe breakt, gehen die meisten Leute

einfach dran vorbei. Sie verstehen es oft einfach nicht. Ich wünsche mir mehr Verständnis für die Sache selbst, dass es eben mehr ist, als sich auf dem Kopf zu drehen. Alexander: Mehr finanzielle Unterstützung für kulturelle Projekte von der Funktionsebene: Kulturbüros von Leuten, die Ressourcen ver­ teilen. Mehr Geld für Veranstaltungen, für Workshops, um etwas zu pushen, um an die Schulen zu gehen. Mehr Kooperationen, Interaktionen, Netzwerke. Damit man die Leute anfüttern, coole Sachen machen und was herbringen kann. Was hält Euch dann letztlich in Magdeburg? Alexander: Persönlich? Die Kids! Unser eigenes Projekt, das wir hier durchziehen. Das Magdeburg, das wir bauen und der Hip-Hop, den wir leben, durch den wir auch Bedeutung haben und etwas erreichen können. Wir haben ein Projekt mit Kids, in dem wir seit fünf Jahren Basisarbeit leisten, das jetzt langsam floriert und zu einer hübschen Pflanze heranwächst. Ich arbeite im Jugendkunsthausprojekt für arme Kids – die Villa Wertvoll – da können wir für Kids, denen der Zugang zu Angeboten, Entwicklung und Ent­ faltung fehlt, an den Reglern drehen. Valerie: Wir haben in Magdeburg in den letzten Jahren so viel für uns aufgebaut, aber es sind auch die Menschen, die uns hier halten. Natürlich wäre es leicht, nach Berlin

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ÂťVor 20 Jahren waren Wu-tang und Airforce mein Sprungbrett in das Becken und heute ist es genau das gleiche Wasser.ÂŤ


»Es ist wirklich ein bisschen zynisch, dass die, die zweimal abgeschoben werden sollten, jetzt deutsche Meister sind.«

zu gehen, aber Magdeburg bietet einfach andere Möglichkeiten, etwas umzusetzen. Eine Leinwand, die man bemalen kann. Es ist schön, dass da Lücken sind, in denen man sich entfalten kann. Man wird nicht so schnell abgelenkt und kann sich auf das fokussieren, was man machen möchte. Ihr habt gerade davon gespro­ chen, dass es die Kids sind, die Euch hier halten. 2014 hat sich

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die Break Grenzen Crew gegrün­ det, wie kam es dazu? Valerie: Unser Crewkollege Saman hatte damals die Idee für geflüchtete Kids einen Kurs anzubieten. Das lief in Kooperation mit der Integra­ tionshilfe ungefähr ein halbes Jahr. Es hat sich gezeigt, dass eine Handvoll Kinder mit Herzblut dabei ist. Alex hat dann zusammen mit seiner damaligen Praktikumschefin für ein halbes Jahr Geld bei Aktion Mensch beantragt. Als das auslief, haben wir


Valerie Schmitt & Alexander Wassilenko

uns dazu entschieden, es als Team fortzuführen. Wir haben keine konkrete Förderung, aber wir arbeiten einfach zusammen, haben Auftritte, trainieren, fahren oft weg. Bei Break­ Grenzen führen wir geflüchtete Kids und auch deutsche Kinder aus Tanzschulkursen zu einer Crew zusammen. Im Jahr 2015 sollten die drei Brüder Nesa, Josef und Emmanuel trotz Integrationspreis und der Teilnahme an diversen integra­ tiven Projekten abgeschoben werden. Wie fühlt sich das an? Valerie: Total scheiße, aber es war damals auch eine krasse Situa­ tion. Wir haben mit dem Break Chance-Kurs angefangen, als das gesellschaftlich noch kein Thema war. Dann, nach ein, zwei Jahren, in denen wir schon in der Arbeit waren, fing plötzlich das ganze ›Flüchtlings­ krise‹-Thema an. Das war anfangs ganz schön schwierig, aber wir haben zum Glück viel Hilfe bekommen. Man fühlt sich hilflos, als würde einem der Teppich unter den Füßen weggerissen. Auch die Schicksale der Kinder zu sehen, die glauben, hier ein neues Zuhause gefunden zu haben und glücklich sind. Nachdem sie sich darauf eingelassen und die Sprache gelernt haben, heißt es, sie sollen wieder nach Hause gehen. Das war für uns nicht zu akzeptieren! Alexander: Es hat sich sehr unangenehm angefühlt. Ich habe das krass

verdrängt durch den Wunsch, dass sie bleiben. Valerie: Es ist verrückt zu sehen, dass eben diese Kinder, die eigentlich keine wirkliche Aussicht auf ein Bleiberecht in Deutschland hatten oder immer noch haben, mittlerweile in der Tanzszene so bekannt sind, dass sie Deutschland repräsentieren. Wir waren mit den Kindern in den Niederlanden auf einem Tanzfestival. Dort zu sehen, dass sie leistungsmäßig Nachwuchs für die deutsche Szene sind, ist doch eigentlich ganz schön! Alexander: Es ist wirklich ein bisschen zynisch, dass die, die zweimal abgeschoben werden sollten, jetzt deutsche Meister sind. Ihr habt gerade von den Erfolgen der Kids gesprochen. Welche Möglichkeiten seht Ihr für die Kinder noch? Valerie: 2019 ist es unser Ziel, ­wieder beim Battle of the Year mitzu­ machen. Da haben die vier Jüngsten vor zwei Jahren den zweiten Platz in der Erwachsenenwertung belegt. Und dieses Jahr würden wir uns gern alle zusammen – also unsere Erwachsenencrew Flowjob und Break Grenzen – beim BOTY sehen. Ich glaube, dass wir als Gemeinschaft weiterhin so zu­ sammenbleiben können und dass aus allen Kindern gute Menschen werden. Alexander: Es wäre geil, mit ihnen Battle of the Year zu gewinnen und

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Valerie Schmitt & Alexander Wassilenko

nach Montpellier zu fliegen, um Deutschland zu repräsentieren. Das lässt mich träumen! Grundsätzlich wünsche ich mir, dass sie sich integrieren, Jobs finden, Familien gründen und die Möglichkeit bekommen, sich hier in Deutschland eine coole Zukunft aufzubauen.

Und für Magdeburg? Valerie: Natürlich wird Magdeburg dadurch nach außen repräsentiert, gleichzeitig ist es auch ein krasses Vorbild für Jugendliche innerhalb der Stadt. Gerade weil wir Kids haben, die in den meisten Fällen als Problemkinder gelten, sich aber über die Crew so positiv profilieren. Das ist eine coole Chance! Ihr habt in den letzten fünf Jahren einen steinigen Weg hinter Euch. Wie würdet Ihr Eure Bindung zu den Kids beschreiben? Alexander: Ich würde ihn nicht als steinig beschreiben. Im Gegenteil: Wir haben von vielen Seiten Hilfe bekommen und viele tolle Menschen kennengelernt. Valerie: Natürlich ist es eine sehr starke Bindung. Ich würde es als familiär bezeichnen. Wir haben jetzt eine Altersspanne zwischen Teenageralter und Mitte 30 beim Training. Gerade dadurch, dass man unterschiedliche Generationen unter einem Hut hat, werden viele Dinge gemeinsam gemacht. Da wächst man zusammen.

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Alexander: Die Bindung ist super eng. Das geht in Richtung Augenhöhe. Man braucht sich einfach, feiert sich und freut sich, wenn man zusammen ist! Die Kids haben einen kindlichen Blick auf die Welt und als Erwachsener lernt man von ihnen richtig krass. Wir sind uns über die letzten Jahre verdammt nah ge­kommen.

Ihr habt von Idealen und Werten gesprochen, die Ihr über das Breaking hinaus vermitteln wollt. Habt Ihr eine konkrete Vorstel­ lung davon? Alexander: Alle Werte, die man in der interkulturellen Pädagogik ­finden kann: Empathie, Achtsamkeit, Mitgefühl, Taktgefühl, Disziplin, Kreativität, Zielstrebigkeit, Humor, Motivation, Biss, Geduld. Einfach alle Werte, die in einer demokratischen Gesellschaft zu einem coolen Miteinander führen und wichtig sind, damit man mit anderen Menschen eine konstruktive Ebene findet. Ihr habt gerade von Wertever­ mittlung gesprochen, das spielt auch in der Sozialen Arbeit eine Rolle. Ihr habt beide Sozial­ wissenschaften studiert. Alex, Du sogar noch Soziale Arbeit. War es immer der Traum im sozialen Bereich tätig zu sein? Alexander: Nein, überhaupt nicht. Ich wollte mein ganzes Leben nur das, was ich jetzt mache: Breaking, Musik, Kunst und mit coolen Leuten


Valerie Schmitt & Alexander Wassilenko

zu tun haben. Diese beiden Studiengänge haben es mir ermöglicht, mit 27 das machen zu können. Hätte ich mit 18 Tanz studiert, wer weiß, in welche Kreise ich gerutscht wäre. Eine kritische Perspektive auf die Gesellschaft und Vorsicht vor Konsum und Kapitalismus zu haben, ist wichtig. Es ist schon cool, wenn man da ein bisschen umsichtig ist und selbstreflektiert. Es bringt einen mit vielen Leuten zusammen, so ein Studium lässt ja auch Muße zu.

»Tanz braucht Gemeinschaft.«

Ihr breakt beide jetzt schon seit längerer Zeit. Alex seit neunzehn Jahren und Valerie, Du seit sechs. Was bedeutet Euch Breaking? Alexander: Es ist eine Form des Seins. Es hilft mir, fit und kreativ zu bleiben. Es ist wie meine Therapie, wie ein Ventil. Das habe ich erst verstanden, als ich erwachsen werden musste. Nicht wurde. (schmunzelt) Es führt mich zur Achtsamkeit und Besinnlichkeit. Meine Laufbahn hätte auch richtig schnell zu Ende gehen können. Ich hatte mit den falschen Leuten zu tun. Durch Breaking habe ich die richtigen Leute kennen­ gelernt. Genau diejenigen, die mir geholfen haben, Fuß zu fassen, etwas Gutes, Vernünftiges und Kreatives zu tun. Ich empfinde Breaking gegenüber eine große Dankbarkeit

und ich brauche es auch. Ich möchte mein ganzes Leben tanzen. Irgendwann wie einer der alten Männer sein, die in Thailand in Parks Thai Chi machen. So will ich später auch noch tanzen.

Hat dieser Gedanke letztlich auch die Idee geweckt, Breaking zu lehren? Alexander: Es war sogar eine Dringlichkeit! Wenn man etwas so sehr liebt, dann liebt man es nicht nur für sich selbst, sondern als Phänomen und will, dass es als Kultur weiter wächst. Dafür muss man investieren, Informationen verbreiten und es mit Leuten teilen. Valerie: Tanz braucht Gemeinschaft. Es ist eine ganz neue Form der gemeinsamen Musikerfahrung. Es war ein Schlüsselerlebnis, als ich das erste Mal in einen Cypher gegangen bin. Es ist ein Kreis von Tänzern und man geht in die Mitte, umringt von Menschen, die einen alle anschauen. Das ist eigentlich eine total komische und ungewohnte Situation, aber dann bekommt man Rückmeldung, dass die anderen dir diese Energie geben und toll finden, was du gerade machst. Das ist einfach ein unglaubliches Gefühl. Oft sind die schönsten Momente im Tanzen nicht die, in denen man gegeneinander, sondern miteinander tanzt. Dazu kommt, dass es generell ein cooles Gefühl ist, sich stark und dynamisch zu fühlen und dieses Gefühl weiterzugeben.

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Valerie Schmitt & Alexander Wassilenko

Alexander: Das ist eine Wissenschaft, man kann sich da richtig reinschrauben!

Im buchstäblichen und meta­pho­ rischen Sinne? Valerie: Die internationale Breaking Szene ist wunderschön. Egal wo man hinreist, man hat sofort einen gemeinsamen Nenner und eine gemeinsame Sprache. B-Boys und B-Girls sind ja auch irgendwie Nerds in ihrer Kultur. Es ist eine faszinierende Gemeinschaft des Austauschs, die auf der ganzen Welt verstreut ist.

Ihr seid oft international unter­ wegs und habt Euch einen Namen in der Szene gemacht. Alex, Du hast 2016 das 1 gegen 1 Battle of The Year national gewonnen, wie war das? Alexander: Geil! Ich habe noch nie so etwas Krasses gewonnen. Es war mein Kindheitstraum. Voll der verrückte Moment! Denn ich habe damit nicht gerechnet. Ich hatte echt eine harte Woche vorher. Aber meine Schüler, meine Freundin und meine Freunde waren da! Ich habe sofort an meine Mutter gedacht. So ein Sieg ist immer mit Gefühlen verbunden. Es ist oft Glück, gegen wen man antritt und wer in der Jury sitzt. Es war wie ein Kick eines fruchtigen Getränks, das sich aber am Ende noch ins Bittere zieht. Aber es war lange Zeit richtig geil! (lacht).

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Valerie, Hip-Hop wirkt sehr männer­­ dominiert. Wie lebt es sich als Frau in dieser Subkultur? Valerie: Es gibt wie überall in der Gesellschaft, Hürden. Aber HipHop schafft die Möglichkeit, sich zu behaupten. Das ist das Aller­ wichtigste. Er ist ein Sprachrohr und bietet die Möglichkeit zu antworten. Beim Breaking gibt es keine Geschlechtertrennung. Es gibt selten Battles nur für B-Girls, die wirklich als Schutzraum gedacht sind, um diesen Teil der Szene zu fördern. Für mich ist es total empowernd, sagen zu können, ich trete gegen Männer an! Es geht um einen künstlerischen Austausch und nicht darum, wer die meisten Runden dreht. Daher kann man sich tatsächlich mit Männern messen! Alexander: Das wird die Zukunft. Seitdem Breaking olympisch ist, hat es einen krassen Hype und Professionalisierungsschub erlebt. International wird es gerade gepusht, so dass ganz viele Mädchen, schon in jungen Jahren anfangen, wie Turner­ innen zu leben. Valerie: Man darf das nicht unterschätzen. Es gibt sehr viele starke Frauen in der Breaking Szene, auch wirklich viele international erfolgreiche. Das entwickelt sich gerade und wird immer besser werden in den nächsten Jahren. Gerade was den Respekt gegenüber Frauen betrifft. Es gibt immer ein paar Idioten, aber im Großen und Ganzen


Fotos

»Wenn man etwas so sehr liebt, dann liebt man es nicht nur für sich selbst, sondern als Phänomen und man will, dass es als Kultur auch weiterwächst.«


Valerie Schmitt & Alexander Wassilenko

fühle ich mich sehr respektiert in der Kultur. Alexander: Ein guter Kick auf dem Beat ist nicht zwangsläufig geschlechtlich. Das kann Frau wie Mann machen. Traditionelles Brea­ ­ k­ ing bietet für Frauen eine coole Möglichkeit, sich einfach dominant, stark und selbstwirksam zu fühlen.

Wollt Ihr noch irgendetwas raus­ schicken, an zukünftige B-Girls und B-Boys? Alexander: Fangt an zu lesen! Fangt an Euch zu bewegen! Eröffnet Euch neue Bewegungswelten: Yoga, Spiele, Kung-Fu. Tanzt auch für Euch allein. Man spürt die Leidenschaft, wenn man allein mit der Bewegung und der Musik ist. Valerie: Informiert Euch. Nicht so viel reden, mehr machen. Messt Euch mit anderen, fahrt in andere Städte! Dezember 2018

Vista.Schon? Alexander Wassilenko ist 1991 in Magdeburg als Sohn ukrainischer Migranten geboren und hat während seiner Kindheit viel Zeit in Odessa verbracht. Mit neun Jahren begann er mit Breakdance und kam darüber zum Studium der Sozialwissenschaften und der Sozialen Arbeit in Magdeburg. Valerie Schmitt wurde 1992 geboren und zog 1995 mit ihrer Familie aus Baden-Württemberg in die Nähe Magdeburgs. Sie verbrachte zwei Jahre in Berlin, um danach in Magdeburg Sozialwissenschaften zu studieren. Als Trainer*Innen der BreakGrenzen Crew ermöglichen sie Kindern mit und ohne Fluchthintergrund, über das Element Breakdance die Subkultur ­Hip-Hop kennenzulernen.


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FALK wiedemann

FALK wiedemann »Zuerst hatte ich eine Honda, dann eine Kawasaki, dann kamen die Kinder.« Falk Wiedemann ist promovierter und habilitierter Neurologe und ein Mann mit vielen Hobbys. Er schnitzt, gärtnert, kocht, doch Motorradfahren ist seine größte Leidenschaft. Manche kennen ihn auch unter seinem Spitznamen ›Doc‹, denn er ist offizielles Mitglied und Secretary der City Rats MFG. Inter.Vista erzählt er, wie die Motorradfahrgemeinschaft funktioniert, weshalb er nach Magdeburg kam und wie Biker so ticken. Interview und Fotos: Celine Rebling

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FALK wiedemann

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»Ich halte mich nicht für den Nabel der Welt.«

Ursprünglich stammst Du aus dem Vogtland. Wie kam es, dass Magdeburg zu Deinem Studienort wurde? 1988, also noch zu DDR-Zeiten, fing ich mit dem Medizinstudium hier an. Damals konnte man sich noch aussuchen, wo man sich bewirbt. Nicht wie heute, wo es eine zentrale Zulassungsstelle gibt, durch die man möglicherweise dort einen Studienplatz bekommt, wo man gar nicht hin will. Ich wählte Magdeburg, weil es eine kleine medizinische Aka­ demie gab, von der ich mir eine indi-

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viduellere Betreuung versprach. Ich war nicht der Fleißigste und wusste, dass ich ein bisschen Druck und Überprüfung brauche. Durch die kleinen Seminargruppen mit etwa 20 Studenten war es dann eher wie Schule. Wir sagten aus Spaß immer die ›Sudenburger Arztschule‹. Kannst Du uns mehr von Deinem beruflichen Weg erzählen? Mein Studium beendete ich 1995. Weil mich am meisten die Neuro­ logie interessierte, bin ich als Assistenzarzt in der Uniklinik geblieben


FALK wiedemann

und war in der Forschung aktiv. Meine Dissertation schrieb ich über Muskelkrankheiten. Ein Jahr lang arbeitete ich in New York. Da wurde auch meine größere Tochter ge­boren. Danach machte ich an der Uni meine Facharztausbildung und war auch als Hochschullehrer tätig. Später war ich siebeneinhalb Jahre als Oberarzt im Neurologischen Rehazentrum tätig. Dann bekam ich ein Angebot vom Helios Klinikum Jerichower Land in Burg. Jetzt bin ich als Facharzt für Neurologie für das Medizinische Versorgungs­zentrum Börde angestellt. Das erste Jahr hatte ich meine Praxis in Wanzleben. Da bin ich unabhängig und muss mir nicht von Geschäftsführern sagen lassen, was ich tun soll. Du genießt die Freiheit also sehr? Das kann man so sagen. Ich lasse mich nicht gerne reglementieren. Ich bin gerne bereit, von jemandem, der es besser weiß, was zu über­ nehmen. Aber das zeichnet auch einen Biker aus, sich nicht von jedem etwas sagen zu lassen und auch mal energisch ›Nein‹ zu sagen.

Wie wird man denn als Arzt zum Biker? Das wollte ich schon immer. Die meisten, die mitmachen, wollten das schon als Schuljungen. Viele in der Biker-Szene sind in unserem Alter. Dreißigjährige gibt es da kaum noch, weil damals eine andere Zeit losging. Bei denen war Rockmusik

nicht mehr so angesagt und auch dieser Mythos von Freiheit und Motorradfahren hatte ausgedient. Deren Mythos war Golf fahren. Wir fuhren früher mit Mopeds und Motorrädern rum und fanden die Geschwindigkeit klasse. Die Musik, die Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger bei uns lief, war Deep Purple, Led Zeppelin, Black Sabbath und andere. Die gefallen uns heute noch. Unser Konsens ist, dass wir Rockmusik mögen. Laut und wild. Und Motorradfahren. Und gerne wilde Partys feiern, ungezwungen sind und uns finanzielle Dinge nicht so wichtig sind. Dieser ganze Konsumkitsch spielt bei uns nicht so eine Rolle. Als Arzt weißt Du noch ein biss­ chen besser Bescheid, über die Gefahren, die im Straßenverkehr lauern. Daran denkt man beim Motorrad­ fahren nicht. In meinem Berufsleben sah ich mehr Reit- als Motor­ rad­ unfälle. Gerade was Schädel­­ -HirnVerletzungen anbelangt, ist das nicht zu unterschätzen. Außerdem kann man auf einem Chopper nicht so rasen. Wenn man im Konvoi unterwegs ist, muss man vorsichtig fahren. Dort ist jeder für den anderen mitverantwortlich. Da passieren definitiv die wenigsten Unfälle. Die meisten geschehen bei Leuten, die sich ein Motorrad neu kaufen und dann einen auf ›­ Strammen Max‹ machen. Zum großen Teil sind das

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auch ältere Leute, die sich ihren Traum erfüllen und mit 55 Jahren auf die Harley steigen. Motorrad­ fahren ist, wie alles andere auch, eine Erfahrungssache.

Was macht ein motorradfahren­ der Arzt so in seiner Freizeit? Eigentlich vieles. Kochen zum Beispiel. Wir haben auch einen sehr schönen Garten. Früher dachte ich nicht, dass Gartenarbeit ein Hobby sein kann. Wenn man das nicht als ›böse‹ Verpflichtung sieht, kann das sehr schön sein. Man sieht, was gedeiht und kann auch Skulpturen bauen und schöne kleine Ecken gestalten. Ich schnitze manchmal auch. Motorräder oder Ratten aus Holz. Weil ich aus dem Vogtland komme, liegt das sozusagen in ­meinen Genen. Gibt es bei den City Rats MFG noch andere kreative Köpfe? Ich bin nicht der Einzige, der ­bastelt. Zu meinem Geburtstag bekam ich zum Beispiel eine geschweißte Skulptur: Ein Arzt, der eine riesige Spritze hochhält und ein Opfer, dass vor ihm kriecht. Das sieht sehr ­witzig aus. Die habe ich sogar auf Arbeit auf dem Schrank stehen.

Wieso wolltest Du einem Biker­Verein beitreten? Zuerst hatte ich eine Honda, dann eine Kawasaki, dann kamen die Kinder. Also haben wir uns ein Auto gekauft. Als Studenten konnten

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wir uns das noch nicht leisten. In der Stadt macht es eigentlich auch ­keinen Sinn, wenn man nicht unbedingt eins braucht. Aber wenn man ein Kind hat, ist das schon wichtig. Die Kawasaki fing in der Garage an zu rosten, also verkauften wir sie. Später kaufte ich dann eine Harley. Aber ich brauchte jemanden, mit dem ich fahren konnte. Die meisten meiner damaligen Freunde hatten daran kein Interesse. Also habe ich mich im Internet belesen und bin dann auf die City Rats gestoßen.

Warum hast Du Dich für die City Rats MFG entschieden? Immerhin gibt es in der Stadt noch andere Biker-Gruppen. Die City Rats haben eine Homepage und ich rief den damaligen Präsidenten Peter an, ob ich mal vorbeikommen kann. Klar, hier könne jeder vorbeikommen. Dort stellte ich mich vor. Eine Frau, die offensichtlich eine Halbseiten­ lähmung erlitten hatte, kam auf mich zu und drückte mir freundlich ein Bier in die Hand. So unkompliziert bin ich als wildfremder Mensch selten empfangen worden. Die City Rats sagten einfach: Du bist hier willkommen. Und mein erster Gedanke war, dass in einer Gemeinschaft, wo Menschen mit einer Körperbehinderung so selbstverständlich integriert werden, keine ›bösen Leute‹ sind. Ich kam auch mit anderen schnell ins Gespräch und da war es klar für mich. Ein paar Wochen später, im


»Wir fuhren früher mit Mopeds und Motorrädern rum und fanden die Geschwindigkeit klasse.«

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Herbst 2013, habe ich den offiziellen Mitgliedsantrag gestellt.

Und seit wann bist Du offiziell dabei? Seit April 2015. Ganz so schnell wird man nicht Mitglied bei einer Motorrad­fahrgemeinschaft. Mittlerweile bist Du bei den City Rats MFG als Secretary tätig. Ja, das hat sich so ergeben.

Welche speziellen Aufgaben bringt dieser Job mit sich? Ich kümmere mich um die Website und zum Teil um die Außenrepräsentation. Ich führe Protokolle, mache Schrift- und Fotokram, wobei ich bei letzterem nicht der einzige bei uns bin. Verwaltest Du auch Facebook? Dort seid Ihr auch recht aktiv. Das macht größtenteils ›Eule‹. Ich bin nicht so facebookaffin. Da kommen mir auch zu viele Seitenschläge von Leuten, mit denen ich mich nicht identifizieren möchte. Wenn ich so die Freundschaftsanfragen sehe, da sind Leute dabei, mit denen will ich nicht in einem Boot sitzen. Beim Stöbern auf Eurer Website ist mir aufgefallen, dass unter den Mitgliedern nur Männer auf­ gelistet sind. Gibt es keine weib­ lichen City Rats? Das ist ein Männerverein. Wir stehen dazu. Es gibt ja auch eine

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Frauensauna. Da fragt auch keiner, warum da kein Mann reindarf. Das gehört zum Ritual und Spiel einfach dazu. Unsere Frauen sind trotzdem jederzeit komplett mit dabei. Sie dürfen alles. Sie sind nur nicht offiziell in der MFG. Wir befinden uns gerade in der ›Rattenhöhle‹. Wie oft bist Du hier? Oft an Freitagen zu den ›Club­ abenden‹ und ein paar Mal im Jahr zu unseren größeren Partys. Insgesamt etwa zweimal im Monat. Das hier ist ein Raum, wo ich mich mit meinen Freunden treffen, Billard spielen und Rockmusik hören kann. Das ist hier eine reine Spaßveranstaltung. Wir machen das nicht aus geschäft­ lichen Gründen, sondern weil wir das gerne machen. Das hätte genauso eine Garage sein können. Aber das sprengt irgendwann den Rahmen.

Durch diverse Filme und Serien verbinden einige Leute negative Bilder mit der Biker-Szene. Sie sehen in schwarze Kutten geklei­ dete Männer, die Randale machen und die ›bösen Buben‹ mimen. Wie begegnen Euch fremde Men­ schen? Das ›Böse-Buben-Image‹ wird von den Medien gerne gepflegt. Auf der anderen Seite hast du Kultserien, die von der Romantik des Biker-Daseins zeugen. Den Medien ist es ganz recht, wenn man das ein bisschen als wild,


ÂťDieser ganze Konsumkitsch spielt bei uns nicht so eine Rolle.ÂŤ

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düster und böse darstellt. Da ist seit Anbeginn viel Medienrummel dabei. Dass Biker oft ins Zwielicht gestellt werden, gefällt uns natürlich. Man wird mit Respekt behandelt. Nicht unbedingt mit Angst. Ich vergleiche das auch gerne mit der Diskussion um die Wölfe. Jeder findet Wölfe interessant und bewunderungs­ würdig. Es ist eigentlich cool, dass es die gibt. Aber alle haben ein bisschen Angst. Respekt sowieso. Und wenn einer von diesen Wölfen austickt, dann gibt’s ein ganz großes Geschrei, dass sie alle böse sind. Trotzdem geht eine Faszination davon aus. Ich finde, das trifft auch auf die Biker- und Rocker-Szene zu.

»Ich habe in meinem Berufsleben mehr Reitals Motorradunfälle gesehen.«

Obwohl Ihr das ›böse Buben‹­ Image genießt, tut Ihr trotzdem Gutes für Eure Heimatstadt. Was sind Eure sozialen Projekte? Die City Rats zeigen der Stadt immer wieder, dass so eine BikerVer­einigung in der Lage ist, Partys und Feste zu organisieren und dabei Klein­ kultur zu fördern. Mit lokalen Bands zum Beispiel. Vor

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allem zeigen wir, dass die Szene freundlich ist, dass wir Rock’n Roll machen, ohne andere zu belästigen. Wir sind öffentlichkeits­wirksam mit Aktionen, wie die Weihnachtsmarktausfahrt, wo die ganze Stadt jubelt, wenn wir durch die Straßen fahren. Wir haben viele Jahre für die Kinder­ krebshilfe gespendet und letztes Jahr bei einer großen Ausfahrt zusammen mit Altblech einen Spenden­ aufruf für das Technik­museum gestartet. Dabei kamen auch ein paar hundert Euro zusammen. Du hast die Weihnachtsausfahrt erwähnt, bei der Ihr in roten Kostümen zum Magdeburger Weihnachtsmarkt fahrt. Ist das mittlerweile eine Tradition? Ja. Wir machen das jetzt seit fünf oder sechs Jahren. Wir haben sogar Süßigkeiten für die Kinder dabei. Die Leute stehen zwischen dem Hassel­ bach­platz und dem Uniplatz an der Straße Spalier und knipsen und die Kinder kreischen vor Vergnügen.

Damit erregt Ihr natürlich auch eine Menge Aufmerksamkeit. Stehst Du selbst gern im Mittel­ punkt? Das wäre gelogen, wenn ich nein sage. Wenn man Vorlesungen hält, muss man sich daran gewöhnen, von allen Leuten angeguckt zu werden. Ich halte mich nicht für den Nabel der Welt. Aber wenn es gilt, dass einer in der Mitte stehen muss und was sagt, bin ich gerne bereit dafür.


FALK wiedemann

Wir steht Ihr denn zu anderen ansässigen Biker-Vereinen? Respekt und Freundschaft. Wir haben hier in der Umgebung mehrere Clubs, mit denen wir befreundet sind. Wir sind aber eigenständig und unabhängig.

Haben die City Rats MFG einen Kodex? Ja, den haben wir. Oberstes Gebot ist die Freundschaft untereinander. Es ist für uns selbstverständlich, den Namen der City Rats in jeder Situation würdig zu vertreten. Naja, klingt ein bisschen pathetisch. (lacht) Januar 2019

Vista.Schon? Dr. med. habil. Falk Wiedemann wurde 1967 in Rodewisch im Vogtland geboren. Für sein Medizinstudium kam er 1988 nach Magdeburg. Obwohl er zwischendurch in der Welt herumgereist ist, in New York arbeitete, kam er immer wieder zurück und nennt die Stadt seitdem sein Zuhause. Sein Lieblingsort ist sein Garten am Haus, in dem er mit seiner Frau, seinen zwei Töchtern und seinem Hund lebt. Seit April 2015 ist Falk Wiedemann unter dem Spitznamen ›Doc‹ offizielles Mitglied der City Rats MFG, welche ursprünglich bei einer Faschingsfeier am 11.11.1995 gegründet wurde. Drei Männer entschieden damals, dass sie für ihre Motorradfahrgemeinschaft einen Namen brauchen. So entstanden die City Rats MFG. Für ›Doc‹ ist eine typische ›Ratte‹ gesellig, clever und ein bisschen dreckig.


Kerstin Kinszorra

Kerstin Kinszorra »Kill ’em with kindness.« Sie ist Sprachrohr einer Landeshauptstadt und glaubt fest an ›­Einmal Immer‹. Die Arbeit im Rathaus zeigt ihr ein ganz neues Bild ihres Heimathafens Magdeburg, dessen Anblick ihr Herz höher schlagen lässt. Ein Gespräch mit Stadtsprecherin Kerstin Kinszorra über Niederländisch und Magdeburger Größenwahn. Interview und Fotos: Nico Esche

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Kerstin Kinszorra

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Kerstin Kinszorra

Waarom de blangstelling in de neder­ landse taal? Woher das Inter­esse an der niederländischen Sprache? Ik heb altijd belanhgstelling in de nederlandse taal. Maar ik heb geen kans om te oeffenen, helaas. Also, mich interssiert Niederländisch immer, aber ich habe keine Zeit zum üben. Mehr kann ich Ihnen aber auch nicht sagen. (schmunzelt)

»Ich bin die, die die Ergebnisse verkauft.«

Und woher nun? Ich quälte mich im Grundstudium mit Latein und nahm mir vor, eine Sprache zu lernen, die heute noch gesprochen wird. Am Anfang sollte es Norwegisch werden, aber die Lehrerin erkrankte. Gleichzeitig war eine Freundin im Auslandssemester in den Niederlanden. Ich wollte sie damit überraschen, dass ich ein paar Brocken Niederländisch spreche, wenn ich sie besuche. Im Hauptstudium lernte ich dann noch zwei Jahre Niederländisch. Niederländisch ist eine sehr sym­ pathische Sprache. Dort leben auch sehr sympathische Menschen. Aber sobald sie merken, dass man die Worte nicht richtig ausspricht, verfallen sie aus Höflich-

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keit ins Englische. Da kann man eher schlecht am Ball bleiben.

Sie studierten Politik, Geschichte und Journalismus in Leipzig. Wie kam es dazu? Ich habe für unsere Schülerzeitung am Altmärkischen Gymnasium Tanger­hütte geschrieben und nach einem Besuch im Funkhaus von Radio SAW mich um ein Praktikum beworben, das ich dann nach dem Abitur beim MDR gemacht habe. Ich wollte eigentlich Kommunikationsund Medienwissenschaften studieren, hatte aber noch kein klares Bild von den Studieninhalten. Ich hatte den Aufnahmetest zum Diplom­ studiengang Journalistik ver­ passt. So wurden es zunächst Politik­ wissenschaft, Mittlere und Neue Geschichte und Anglistik. ­Letzteres war keine gute Idee. Ich hätte auf meine Englischlehrerin hören sollen, die mir davon abriet. Zu guter Letzt bin ich von der Anglistik weg und schrieb mich bei Journalismus ein.

Das Praktikum war beim MDR in Magdeburg? Das war der Plan, aber da gab es keine Plätze. Man legte mir nahe, ein Praktikum in der Nähe meines Wohnorts in Stendal zu machen. In Stendal gibt̕s ein Hörfunk-Studio? (lacht) Dort durfte ich meinen ersten Hörbeitrag gestalten. Sensationelles Thema: Wie viele Eiscafés verträgt die Stendaler Breite Straße.


Kerstin Kinszorra

Ich muss mich aber gut angestellt haben, so dass mein damaliger Chef meinte, ich könne doch mal öfter vorbeischauen. Das war absolut Gold wert, da es an der Uni nur eine begrenzte Auswahl an Technik gab, mit der ich Praxiserfahrungen sammeln konnte. In den Semester­ ferien war ich also in der Altmark als Hörfunkreporterin unterwegs. Und in diesen Jahren wusste ich dann immer mehr, dass ich so etwas in Zukunft machen möchte. Wie schon erwähnt, habe ich ja bereits w ­ ährend der Oberstufe für die Schüler­zeitung geschrieben.

Sie hatten also bereits in ­jungen Jahren den Wunsch, für die ­Medien zu arbeiten? Deutsch machte mir immer Spaß. Später merkte ich, dass ich es großartig finde, mit Technik, also mit Kameras und Mikrofonen, zu arbeiten. Kreatives Schreiben und Produzieren zu verknüpfen hat mich gereizt.

Sie haben einige Zeit für die evangelische Wochenzeitung GLAUBE + HEIMAT geschrieben. Wie kam es dazu? Das war, als ich in Niedersachsen lebte und arbeitete. Ich war aus privaten und beruflichen Gründen dorthin gezogen. Es war eine sehr lehrreiche Zeit, aus der ich viel mitnehmen konnte. Ich arbeitete für den NDR und hatte aber schnell das

Gefühl, dass ich nicht so richtig die Füße auf den Boden bekomme.

Wie meinen Sie das? Als Freelancer hatte ich einfach nicht genügend Aufträge. Ich konnte davon nicht leben. So hatte ich mir mein neues Leben dort nicht vorgestellt. Über eine Freundin kam ich zu den Verantwortlichen von ­ GLAUBE + HEIMAT, die damals dringend Personal im Kirchenkreis Stendal suchten. Das war der Wegbereiter, wieder in die Heimat zurückzukehren.

War es Ihnen ein Bedürfnis, nach Sachsen-Anhalt zurückzu­ kommen? Mir war klar, dass ich früher oder später in das MDR-Gebiet zurück möchte. Die Kolleginnen und Kolle­ gen dort haben mich ausgebildet und ich konnte mir einen gewissen Namen machen. Ich wollte dem MDR etwas zurückgeben. Über meine Rückkehr war man sehr erfreut. Eigentlich dachte ich, zurückzukehren sei ein Rückschlag. Man geht mit wehenden Fahnen in die Welt hinaus, um seine Karriere voranzutreiben und bekommt stattdessen einen Dämpfer. Aber, an eine Stelle zurückzukehren, an der man willkommen ist, ist schön. So kam ich 2010 nach Magdeburg und das war die richtige Entscheidung. Und trotz meines Seitenwechsels in der Zwischenzeit: Ich halte den Journalismus für unabdingbar, insbeson-

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»Den Atem der Geschichte s ­ püren und trotzdem sehen, wie rasant sich diese Stadt verändert.«


Kerstin Kinszorra

dere jetzt, wo die Branche vielen Anfeindungen gegenübersteht.

Sie sind trotzdem später in den öffentlichen Dienst gegangen. Ich merkte, dass ich beim MDR mittel­fristig nicht die Verantwortung übernehmen kann, zu der ich mich bereit fühlte. Mein Ziel war es, bis 40 eine Festanstellung zu haben. Am Ende war es eine sehr individuelle Entscheidung. Irgendwann machte mich eine Kollegin darauf aufmerksam, dass meine jetzige Vorgängerin die Stelle als Stadt­ sprecherin aufgeben möchte. Ich dachte, wenn ich das nicht mache, ärgere ich mich bis an mein Lebensende. Ich erachte die Entscheidung, dass ich diese ­ Position einnehmen konnte, auch nach vier Jahren noch als sehr großes Glück. Vielleicht auch als Privileg? Nicht unbedingt, weil es auch unglaublich viel Arbeit ist. Das ist auf einem anderen Level als zum Beispiel als Redakteurin oder Reporterin. Es ist aber auch total schön, etwas bewirken zu können. Zwar in einem klar vorgegebenen, manchmal starren Rahmen, aber ich freue mich darüber, trotzdem Entscheidungen für meinen Bereich treffen zu können. War der Branchenwechsel eine Kopf- oder Bauchentscheidung? Hätte mich die Stellenausschreibung nicht zu hundert Prozent angespro-

chen, hätte ich mich nicht beworben. Ich hatte damals bereits das Gefühl, unglaublich gerne in Magdeburg zu leben und es reizte mich, noch dichter dran zu sein, an der Stadt, den Bürgern. Ich habe seit diesem Seitenwechsel Magdeburg völlig neu kennengelernt.

Haben Sie ein Beispiel dafür? Zum einen das Arbeiten, das ich nun viel besser nachvollziehen kann. Dass man eben bei bestimmen Angelegenheiten viel länger auf eine Antwort warten muss. Wie hat sich die Stadt entwickelt mit der Kultur­ Warum haupt­stadt-Bewerbung? gibt es Baustellen? Oder auch der Aufstieg des 1. FC Magdeburg und was das mit der Stimmung in der Stadt macht. Ich finde, seit 2012 geht es hier so richtig ab. Nach den vielen Jahren der Konsolidierung, in denen Einsparungen das ›A und O‹ waren, passiert gerade jetzt wahnsinnig viel. Dazu kommt eine Generation, die mitgestalten will. Magdeburg hat eine besondere Bedeutung für mich. Wenn ich damals, als ich noch viel auf der A2 von Hannover unterwegs war, am Abzweig Irxleben auf der Autobahn fuhr und sich die Stadt vor mir ausbreitete, die Türme des Doms sichtbar wurden, wusste ich: Jetzt bist du zu Hause. Das fasst mich tatsächlich immer noch an. Magdeburg ist ein großes Mosaiksteinchen, das zu meinem Leben gehört.

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Was macht Magdeburg so beson­ ders für Sie? Dass ich hier geboren bin, dass meine Eltern sich hier kennen­ lernten. Aber auch die Brüche, die es hier gibt. Es macht etwas mit der DNA einer Stadt, wenn sie zwei massive Zerstörungen erlebt hat und sich die Menschen darauf besinnen mussten, all ihre Energie aufzuwenden, um sie wieder aufzubauen. Auch dass sie ständig unterschätzt wird. Und die Mentalität der Magdeburger, ganz nach dem Motto: Pff, ihr werdet schon sehen, kommt erst einmal nach Magdeburg, legt all eure Vorurteile ab und genießt diese schöne Stadt. Magdeburg, Kulturhauptstadt 2025. Potenzial? Sehr, sehr großes Potenzial. Ich bin sehr optimistisch, dass wir Ende des Jahres in die deutsche Endauswahl kommen. Das zuständige Team leistet unglaubliche Arbeit.

Wie gestaltet sich für Sie ein normaler Arbeitstag an einem Montagmorgen? Das Schöne ist, dass kaum ein Arbeitstag dem anderen gleicht. Bei der klassischen Pressearbeit weiß ich ja nicht, mit welchen Themen mich die Journalisten konfrontieren, ich lasse mich gerne überraschen. Oder welche Dinge ad hoc passieren. Ich muss in der Früh immer damit rechnen, spontan zum Mittag eine Pressekonferenz organisieren zu

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müssen. So etwas passierte in den vergangenen vier Jahren jedoch nur zwei Mal.

In welchen Fällen? Als 2015 der Oberbürgermeister aus der SPD austrat und 2016, als der FCM verkündete, dass das nächste Heimspiel ohne Publikum statt­ finden würde, da nicht klar war, wie man das sogenannte ›Hüpfverbot‹ umsetzen soll. Dann wird es auch mal hektisch. Ja, aber der OB zieht da immer mit. Generell, wenn wir spontan Presse­ konferenzen einberufen müssen, weil wir viele Anfragen zu einem Thema erhalten. In der Regel können wir aber mehrere Tage im Voraus planen, zum Beispiel Fototermine.

Wie gestaltet sich die Arbeit mit der Presse? Meistens erfreulich. Dem OB war es bei der Stellenausschreibung für meinen Posten wichtig, dass deroder diejenige eine journalistische Vorbildung hat. Es hat definitiv Vorteile, wenn man über die Zusammen­ setzung und Arbeitsweisen in einer Redaktion Bescheid weiß. Es gibt natürlich auch Kollegen, die mit einer gewissen Grundaggressivität Anfragen stellen. Das ist für uns schon eine Herausforderung, da wir ohne die Zusammenarbeit mit der Presse kaum eine andere Möglich­ keit haben, eine transparente Stadtverwaltung zu präsentieren.


Kerstin Kinszorra

Ist die Arbeit manchmal auch frustrierend? Ich habe ein sehr sonniges Wesen und die Erfahrung von ›der anderen Seite‹. Davor war ich ja diejenige, die etwas wissen wollte. Es gab am Hörer-Ende auch mal Leute, die schlechte Laune hatten. Mein Motto ist: Kill ’em with kindness. Keine Angriffsfläche bieten. In 99 von 100 Fällen haut das hin. Ansonsten sind wir am Ende alle nur Menschen, da ist man einfach professionell. In den meisten Fällen ist die Arbeit mit den Kollegen der verschiedenen Medien aber schön.

»Home is where the Dom is.«

Wie gestaltet sich die Arbeit mit Oberbürgermeister Dr. Lutz Trümper? Was ich an ihm extrem mag, ist seine Verbindlichkeit. Wenn er eine Entscheidung fällt, bleibt er auch dabei. Er hat einen sehr guten strukturellen Überblick und am Ende den Hut auf, muss dafür gerade stehen und muss sich dafür Anfragen im Stadtrat gefallen lassen. Dafür leben wir in einer Demokratie. Herr Dr. ­Trümper macht das wirklich gut. Er stellt sich den unbequemen Themen und zeigt eine große Wertschätzung gegenüber den Journalisten, die mit fundiertem Wissen an einem Thema dran sind.

Wie viel Einfluss haben Sie im Rathaus? Weniger als die meisten denken. (lacht) Ich lernte am Anfang viele Menschen kennen, denen nicht mal bewusst war, was ich hier mache. Der OB, sein Büroleiter, sein Persönlicher Referent und ich versuchen uns jeden Morgen zu treffen und gehen den Tagesplan durch. Aber was seine Amtsführung und strate­ gische Planung angeht, habe ich keinen Einfluss. Ich bin die, die die Ergebnisse verkauft. Und das ist okay so.

Sie sind ein großer Fan des 1. FC Magdeburg. Nach dem Aufstieg des FCM verfassten Sie einen Gast­ kommentar für den MDR. Dort schrieben sie vom ›Magde­burger Größenwahn‹. Wie meinten Sie das? Das ist eine Selbstzuschreibung der Fans. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wie der Begriff geprägt wurde. Aber als ich tiefer in die Fanszene eintauchte, hatte ich damit Berührungspunkte. Ganz nach dem Motto: Jetzt sind wir in die 2. Bundesliga aufgestiegen und in zwei Jahren spielen wir Champions-League, Hashtag ­#MagdeburgerGrößenwahn. (schmunzelt) Das ist mit Augen­ zwinkern zu genießen und die Leute, die das nutzen, machen sich auf liebevolle Weise darüber lustig. Das stammt noch aus einer Zeit, als dem Verein ein Absturz in die Bedeutungslosigkeit drohte.

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Erinnern Sie sich an die Szene, als im März 2012 Fans mit Pfeilen das Tor markierten, damit die Spieler endlich mal treffen? Das war schon sehr sympathisch. Und irgendwann wurden aus einzelnen Stadion­ besuchen alle Heimspiele bis hin zur Dauerkarte. Beruflich gesehen verbinde ich sehr schöne, aber auch stressige Arbeitstage mit dem Verein. Gerade was das angesprochene ›Hüpfverbot‹ angeht, das waren sehr aufreibende Tage. Aber die Arbeit mit dem 1. FCM funktioniert generell sehr gut, besonders mit Pressesprecher Norman Seidler. Einen Tag nach Ihrem Gast­ kommentar titelte die Magdeburger Volksstimme: »Randale in Magde­burg nach Aufstieg des FCM« und »150 Chaoten griffen Polizei an«. Das war ein harter Aufschlag in der Realität. Ich fragte mich, warum wir das nicht hinbekommen, für 48 Stunden kollektiv zu feiern, ohne dass etwas kaputtgeht. Das zog viele Sachen nach sich. Der offizielle Eintrag der Mannschaft in das Goldene Buch am Alten Markt fand mit Alkohol­verbot und Sicherheitsvorkehrungen statt, die dem OB persönlich angekreidet wurden. Aber was hatte er denn für Möglich­ keiten? Das sind einfach Szenen, die möchtest du nicht sehen und so nicht wieder erleben. Das war schon ein Tiefpunkt. Es sorgt heute noch dafür, dass manche Spiele als

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Risikospiele laufen und schädigt das Image des Vereins.

Hin zu einem schöneren ­Thema. Magdeburg: Fußball- oder Hand­ ballstadt? Magdeburg ist eine Sportstadt! Natürlich bekommen diese ­ beiden Sportarten den Großteil der Aufmerksamkeit, weil sie sehr erfolgreich sind. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir sehr gute und erfolgreiche Kanuten, Schwimmer, Ruderer haben. Dann die Volley­ baller, die Leichtathleten. Da ist ja noch viel mehr. Allein wie viele Fußballmannschaften es in der Stadt gibt, zeigt, wie sehr wir eine Sportstadt sind. Wenn ich sehe, was die Stadt dafür macht, um gute Trainingsbedingungen zu schaffen, das geht weit über den Ausbau der Nordtribüne in der MDCC-Arena hinaus. Da wird unglaublich viel investiert. Wo wird der FCM am Ende der Saison stehen? Auf jeden Fall oberhalb eines Relega­ tionsplatzes.

Zu wünschen wäre es. Absolut! Ich muss gestehen, dass ich in der zweiten Liga bei keinem Spiel auch nur eine Minute gelangweilt war. Sie spielen guten Fußball, sie haben es verdient. Insgesamt gesehen war der Aufstieg in die 3. Bundes­liga vielleicht noch bedeutender. Die Rückkehr in den


»Magdeburg ist ein groSSes Mosaiksteinchen, das zu meinem Leben gehört.«

Profifußball, das hat viel mit der Stadt gemacht. Auch hinsichtlich dessen, was vielen Magdeburgern nachgesagt wird, dass ihnen ein wenig der Stolz auf ihre Stadt fehlt. Wenn die Erfolge eines Sportvereins dafür sorgen, dass die Magdeburger ein bisschen höher mit dem Kopf durch die Stadt laufen, why not? So lange es nicht umschlägt in ein ›Wir sind besser als ihr‹. Magdeburg kann so viel. Diese Stadt hat ein reiches kulturelles Erbe, ist grün, liegt landschaftlich total schön, ist Wissenschafts- und auch Sportstadt.

Sind Sie traurig, dass FCM-Trainer Jens Härtel gehen musste? Aber selbstverständlich. Ihm gelang mit der Mannschaft der doppelte Aufstieg. Ich warte immer noch darauf, dass eine Crowdfunding-Aktion eingeleitet wird und wir für sein Denkmal sammeln, das neben dem Heinz-Krügel-Denkmal stehen wird. (lacht) Dafür werfe ich dann auch fünf Euro in den Hut. Ich kann aber auch nicht verhehlen, was Michael Oenning schafft, den ich

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ebenfalls sehr sympathisch finde. Wenn die Mannschaft die Leistung der ersten 60 Minuten auf dem Platz über die komplette Zeit retten würde, wäre ich sehr glücklich. Abschließend: Wenn jemand zum ersten Mal nach Magdeburg kommt, wohin würden Sie ihn oder sie mitnehmen? Home is where the Dom is. Der Domplatz. Nirgendwo anders kann man besser beschreiben und sehen, wie die Geschichte dieser Stadt war und ist. Allein die Gebäude, die den Platz umgeben. Schon an der Architektur des Doms kann man ablesen, wie bedeutend diese Stadt war, als das

Bistum entstand. Dann haben wir auf der anderen Seite das klassi­zistische Landtagsgebäude, das Prunk und Reichtum ausstrahlt. Und dann der komplette Bruch mit dem Nord-LBGebäude und der Grünen Zitadelle. So unterschiedliche Baustile aus verschiedenen Jahrhunderten auf einem Fleck. Das ist super. Den Atem der Geschichte spüren und trotzdem sehen, wie rasant sich diese Stadt verändert. Ist das Ihr Lieblingsort in Magde­ burg? Nein, das ist mein Balkon. Januar 2019

Vista.Schon? Kerstin Kinszorra hat drei Jahre lang Theater gespielt und im Chor des ­Theaters der Altmark Stendal gesungen (Evita, Die Dreigroschenoper, My Fair Lady). 2018 hat sie mitgeholfen, den ersten ökumenischen Fußball­ gottes­ dienst Magdeburgs auf die Beine zu stellen. Außerdem backt sie leidenschaftlich gerne Mottotorten und Cupcakes, und dies am liebsten mit ihrer Schwägerin.


Kerstin Kinszorra

ÂťWir sind keine konservative, sondern eine progressive, fortschrittlich denkende Hochschule.ÂŤ Wer hat's gesagt?

LĂśsung: Das ganze Interview gibt es auf www.inter-vista.de Anne Lequy, Ausgabe 5

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Burkhard Lischka

Burkhard Lischka »Bei vielen sind wir im Augenblick nur die Z ­ weitliebsten.« Der studierte Jurist hat nicht nur das Sauerland gegen die Börde eingetauscht, sondern auch seine politische Heimat gewechselt. Wenn er gerade nicht mit seinem PKW in der Republik unterwegs ist, sucht er die Nähe zu den Wählerinnen und Wählern, gerne auch mal bei Kaffee und Kuchen. Wie ein nächtlicher Anruf ihn zum Berufspolitiker machte und wofür er einen Schlag mit dem Regenschirm kassierte, erzählt er uns zu Beginn des neuen J­ ahres. Mit dem Wissen, dass er einen Tag nach unserem Interview bekannt­gab, sein SPD-Bundestagsmandat abzugeben, sind einige Interviewpassagen besonders interessant. Interview: Lisa Marie Felgendreff und Simeon Laux Fotos: Lara-Sophie Pohling

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Burkhard Lischka

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Burkhard Lischka

Wie sind Sie heute zur Hoch­schule gekommen? Mit dem Auto, weil ich heute mehrere Termine habe, die ich anders nicht erreichen kann.

Dienstwagen oder privates Auto? Privater PKW. Bundestagsabgeordnete haben keinen Dienstwagen. Das muss ich allerdings immer wieder erklären. Als ich neu im Bundestag war, stellte ich mich beim Ober­ bürgermeister von Schönebeck vor. Der stürmte auf mich zu, um mir zu zeigen, wo mein Fahrer im Hof parken könne. Welcher Fahrer? Die Politik bringt es mit sich, dass ich im Jahr etwa 50.000 Kilometer mit dem Auto fahre. Ich komme viel rum, auch an Orte, deren Namen ich noch nie gehört habe. Zu meinem Wahlkreis gehört ein Ort namens Monplaisir. Ich dachte zuerst, das liegt in Frankreich. (lacht) Sie wohnen seit 1995 in Magde­ burg. Wie sind Sie hier an der Elbe gelandet? Eher zufällig. Ich studierte Jura, danach macht man drei Jahre Referendariat bei Gerichten, bei der Staatsanwaltschaft und einer Verwaltung. Und dabei führte ich eigentlich eine Strichliste, was ich alles nicht werden wollte: Richter und Rechtsanwalt nicht, Staats­ anwalt vielleicht, Verwaltung aber auch nicht. (lacht) Ein Freund von mir war Notarassessor in Brandenburg. Bis dahin kannte ich diese

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Notariatsform gar nicht, sondern nur Anwälte, die zugleich Notar waren. Noch während meines Examens bewarb ich mich in ­Sachsen-Anhalt. Zwei Tage nach meiner mündlichen Prüfung saß ich im Justizministerium und bekam noch abends die Zusage. So landete ich hier und habe das nie bereut.

Wie sah denn Ihre erste Wohnung hier in Magdeburg aus? Ich wohnte damals in Stadtfeld in der Goethestraße. Zur Studien- und Referendarzeit war mein Geldbeutel immer recht knapp. Es war schierer Luxus, in einer Dreizimmerwohnung mit Balkon zu wohnen. Magdeburg erlebte ich regelrecht als positiven Kulturschock, das war für mich wie eine Weltstadt. Ich komme aus dem Sauerland und war ganz baff, dass ich zum nächsten Kino nicht 40 Kilometer fahren musste. Wo sind Sie damals gerne hin­ gegangen? Die neue Stadt wollte ich erstmal erkunden. Zu Fuß, aber auch mit dem Auto und am besten ohne Stadtplan. Ich bin einfach drauflos. So kam auch nach und nach der Freundes- und Bekanntenkreis dazu und ich landete recht schnell bei Spielen vom SCM. Gibt es Orte, die Sie damals wie heute gern besuchen? Ein Faible habe ich für den Magdeburger Zoo, der sich toll entwickelt


Burkhard Lischka

»Ohne Leidenschaft geht es nicht.« hat. Außerdem ist der Rotehornpark ein toller Platz. Um diesen Park in seinem vollen Umfang zu entdecken, braucht es schon ein paar Ausflüge.

Gehen wir zurück in Ihre Jugend. Schon in Ihrer Schulzeit waren Sie sehr engagiert. Sie waren Klassen­ sprecher, Schülersprecher und sogar Stadtschülersprecher. War das damals cool und kam das gut bei den Mädels an? Bei den Mädchen brachte es mir keine Vorteile, aber es war mein

Einstieg in die Politik. Unser Gymnasium sollte damals einen Anbau bekommen und als Schüler forderten wir vehement eine Cafeteria. Damit sie auch halbwegs cool wird, wollten wir sie selbst betreiben. Der Direktor meinte, dass er für so einen Quatsch kein Geld hätte. Der Bürgermeister sagte dasselbe, aber wir ließen nicht locker. Dabei lernte ich viel: Du musst hartnäckig sein, dich mit anderen verbünden und brauchst eine klare Position. Einen Schülersprecher konnte der Direk-

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tor nicht so schnell wegschicken, wie den Schüler Lischka aus der letzten Reihe. Die Cafeteria gibt es übrigens noch heute. Als Abiturient waren Sie der Friedens- und Umweltbewegung sehr verbunden. Waren Sie ein richtiger Aktivist? Zur Sorge meiner Eltern war ich sehr aktiv, sowohl in der Ökologieals auch in der Friedensbewegung. Ich war auf vielen Demonstrationen. Meine Eltern bekamen da bestimmt auch das eine oder andere graue Haar, weil ich mich wenig um die Schule kümmerte. Waren Sie auch bei Sit-Ins? Ja, ich kann mich erinnern, dass wir mal in einem Nachbarort aus Protest eine Straßenkreuzung blockierten. Das Ganze wurde aber relativ friedlich aufgelöst.

Was ist bei Ihnen von dieser Lebens­ einstellung noch geblie­ ben? Die Musik? Das war ein Lebensgefühl, bei dem Musik dazugehörte. Wenn ich heute eine Platte von Pink Floyd auflege, dann guckt mein 21-jähriger Sohn eher verwundert und fragt sich wahrscheinlich, was für komische Musik sein Papa hört. Ich werde immer ein bisschen sentimental, wenn ich Dokumentationen von den großen Friedensdemonstrationen aus den Achtzigern sehe.

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Bevor Sie Mitglied der SPD wur­ den, waren Sie bei den Grünen. War das damals trendy? Die Grünen griffen Umweltthemen, den Kampf gegen Atomenergie und Aufrüstung auf. Viele jüngere Menschen sahen das bei anderen Parteien nicht wirklich vertreten. Die meisten, mit denen ich mich engagierte, waren damals so zwischen 16 und 25, mit ein paar Fünfzigjährigen dabei. Sehr jung. Heute muss ich feststellen, dass wir zu alten Säcken geworden sind.

Sie absolvierten Ihren Zivildienst in einer geschlossenen ­Kinder- und Jugendpsychiatrie und er­ wähnen oft, dass diese Zeit Sie stark prägte. Welche Erfahrungen beeinflussten Sie auch in Ihrer Politik? Der Zivildienst war eine bewusste Entscheidung. Ich hatte den Eindruck, dass Ost und West wechselseitig ein irrsinniges Waffenarsenal aufbauen. Es hätte gereicht, dass einer der alten Männer in Washington oder Moskau die Nerven verliert, auf den Knopf drückt und die Welt gänzlich auslöscht. Insofern wollte ich meine Kriegsdienstverweigerung nicht mit Gewissensgründen, sondern durchaus politisch begründen, was dazu führte, dass ich erst im dritten Anlauf beim Verwaltungsgericht anerkannt wurde. Die Zeit überbrückte ich am Fließband in einer Papierfabrik. In der Kinderund Jugendpsychiatrie merkte ich, dass viele Menschen nicht auf der


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›Sonnenseite des Lebens‹ stehen und schon in früher Kindheit fürchterliche Dinge ertragen müssen. Es ist gut, sich auch heute noch daran zu erinnern, dass es viele Menschen in diesem Land gibt, denen das Leben viel schlechter mitgespielt hat als mir.

Gab es einen Moment, der Ihnen besonders nahe ging? Zu uns kam ein Zwölf- oder Dreizehnjähriger, der einen Menschen umgebracht hatte. Man lernt mit der Zeit so jemanden dann als Individuum kennen und schätzen und kann den Menschen hinter der Tat sehen. Ich habe mich damals auch um einen kleinen Jungen gekümmert, der am Down Syndrom erkrankt war. Er hatte den Spitz­namen ›Lulu‹, konnte sich nur schwer artikulieren, hatte Schleim in der Lunge und keinen hohen IQ. Aber wenn so jemand kommt, dich ganz fest drückt und mit strahlenden Augen anguckt, das begleitet dich ein Leben lang. Ich erinnere mich an ganz innige Momente.

Warum haben Sie sich dann für Jura entschieden? Ich überlegte ernsthaft, ob ich nach meinem Zivildienst Krankenpfleger werden sollte. Auch während meiner Semesterferien arbeitete ich dort, weil ich mein Studium teilweise selbst finanzieren musste. Mein Weg zu Jura war ganz banal. Damals gab’s die Fernsehserie Liebling Kreuzberg,

in der ein Rechtsanwalt kniffelige Fälle löste, hin und wieder kleine Halunken jagte, ansonsten Wackelpudding aß und flammende Plä­ doyers hielt. Ich dachte, dieser Beruf ist mir wie auf den Leib geschneidert. Abwechslungsreich, spannend, und gut quatschen konnte ich auf jeden Fall. (lacht) Im Studium stellte ich schnell fest, dass Jura nur wenig damit zu tun hatte und vor allem ein Büffelfach war. Aber unterm Strich bereue ich meine Berufswahl nicht.

»Es werden ­andere MaSSstäbe gesetzt, die Menschen kennen ­e inen.«

1989 wechselten Sie von den Grünen zur SPD. Was war der Auslöser? Über Jahre erlebte ich, wie die Grünen sich intern ständig stritten. Ich hatte das Gefühl, dass man gar nicht mehr zur eigentlichen Politik kommt. Die SPD hat im Laufe der Jahre durchaus auch ihre Position verändert, Themen, die mir wichtig waren, aufgegriffen und Fehler korrigiert. Insofern war es fast zwangsläufig, dass ich zur SPD wechselte. Manche Grünen-Parteifreunde riefen dann an und fragten, wie es bei der SPD so sei. Ich antwortete denen: Das ist eigentlich wie bei uns früher, die sind bloß alle zwanzig Jahre älter. (lacht)

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Ich habe mich in der Politik ­e igentlich nie um irgendeinen Job gerissen.

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Nach Ihrem Studium wurden Sie aber eines klar: Bis zur Rente will Politik machen, sondern unter anderem Geschäftsführer ich nicht ­ der Notarkammer Sachsen-­irgendwann in meinen alten Beruf Anhalt. Warum entschieden Sie zurückkehren: mit 53 und nach Sich dann doch hauptberuflich für zwölf Jahren in der Politik ist das absehbar. die Politik? Ich wollte dafür kämpfen, dass die Dinge besser werden. Wenn man Haben Sie schon genauere Pläne? einmal in der Politik Blut geleckt Ich hatte vorher elf Jahre einen Job im hat, lässt es einen nie so richtig los. Notariat, der mir viel Spaß machte, an Der Wechsel in die Politik war aller- dem mich reizte, dass ich ganz unterdings keine bewusste Entscheidung. schiedliche und konträre Interessen 2006 bekam ich einen Anruf mitten zu einem Kompromiss oder Vertrag in der Nacht. Damals ging die SPD zusammenbringen muss, der hält und zum ersten Mal eine Koalition mit mit dem beide Seiten zufrieden sind. der CDU in Sachsen-Anhalt ein. Das ist mir auch bei Verhandlungen in An dem Abend saßen der dama- der Politik zugutegekommen. Insofern lige Ministerpräsident Professor gehe ich auch gern in meinen alten Böhmer und der künftige Vize­ Beruf zurück. Es wäre auch vollkomministerpräsident Jens Bullerjahn men absurd, wenn ich stattdessen zusammen und über­legten, wen sie etwas ganz Neues anfangen würde. als Minister und Staatssekretäre in die Regierung schicken. Sie riefen Sie sind seit dreißig Jahren Mit­ mich nachts um halb zwei an: Ob ich glied der SPD. Was reizt Sie an mir vorstellen könne, Staatssekretär sozialdemokratischer Politik? im Justiz­ ministerium zu werden. Die SPD als älteste demokratische Damals habe ich einen klassischen Partei in Europa hat mittlerweile Anfängerfehler gemacht. Ich fragte 155 Jahre auf dem Buckel. Bei dienämlich, wie viel Zeit ich zum ser Partei imponierte mir immer Überlegen habe. Die Antwort: fünf das Eintreten für ein friedliches Minuten. Heute würde ich sagen: Deutschland, einem Land der guten Seht mal zu, wenn ihr bis morgen Nachbarschaft. Ein Land, das sich früh keinen gefunden habt, dann als fester Bestandteil eines geeinten könnt ihr euch nochmal melden. Europas sieht; für ein Deutschland, Ich sagte ziemlich spontan ›Ja‹, in dem die Maxime Helmut Schmidts ohne richtig zu wissen, worauf ich gilt: Es ist besser, hunderte Stunden mich da als Quer­einsteiger einlasse. zu verhandeln, als eine Minute zu Bereut habe ich das aber nicht, und schießen. Das war eine große histoes war mindestens so spannend wie rische Leistung, dass man in Europa Liebling Kreuzberg. Für mich war nach zwei Weltkriegen sagte, wir

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tauschen jetzt das Schlachtfeld gegen den Verhandlungstisch. Es tut mir in der Seele weh, wenn diese große Leistung für manche Menschen in den Hintergrund tritt. Natürlich steht die SPD daneben auch für gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, sie versucht sich um jene Menschen zu kümmern, mit denen es das Leben nicht so gut meint. Unabhängig von seiner sozialen Herkunft sollte jeder etwas aus seinem Leben machen dürfen. Politik ist dafür da, dabei Hürden abzubauen. Das hat mir an der SPD immer imponiert. Das bedeutet nicht, dass die SPD nicht auch Fehler gemacht hat. Sie ist aber auch immer bereit gewesen, Positionen zu überdenken und zu korrigieren. Ich bin mir sicher, dass es die SPD bei allen momentanen Schwierigkeiten schafft, anhand dieser Ideale und Werte wieder zeitgemäße Antworten zu geben, so dass Menschen sagen können: Das macht die SPD für mich wieder attraktiv und wählbar.

Wie hat sich Ihr Leben verändert seitdem Sie Politiker sind? Es werden andere Maßstäbe gesetzt, die Menschen kennen einen. Es ist ja nicht ganz unbekannt, dass Rauchen mein Laster ist. Als ich mal auf dem Magdeburger Hauptbahnhof einen Anruf annahm und mich zwei Meter außerhalb der Raucherinsel stellte, bekam ich von einer älteren Dame

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einen Schlag mit dem Regenschirm: »Herr Lischka, Sie sind ja ein Vorbild für unsere Jugend, sie müssen sich in den Raucherbereich stellen.« (lacht) Das ist ein anderes Leben, als der Lischka aus dem Notariat. Man muss sich daran gewöhnen, angesprochen zu werden. Zuerst bekommt man einen Schrecken, was will die Person von mir? Aber oft ist es nett, man wird auch mal nach Selfies gefragt. Unter 82 Millionen Deutschen muss es ja auch ein paar Verrückte geben, die mit dem Lischka ein Selfie machen wollen. Wie viel Leidenschaft gehört zum Anforderungsprofil eines jeden Politikers? Ohne Leidenschaft geht es nicht. Hannah Arendt hat einmal sinn­ gemäß gesagt, Politik sei die Liebe zum Leben. Du musst neugierig sein, Willen und Hartnäckigkeit haben, um Dinge zu verändern und auch im Kleinen zu helfen. Die Arbeit eines Bundestagsabgeordneten besteht zum großen Teil darin, alltägliche Probleme zu lösen, also sich zu engagieren, wenn jemand beispielsweise Ärger mit dem Jobcenter oder der Krankenkasse hat. Wenn ich nach zehn Jahren Bundestag an andere Abgeordnete denke, und das meine ich auch unabhängig von der Parteizugehörigkeit, dann sind die meisten mit Herzblut dabei und sehr engagiert. Es ist ein sehr zeitaufwändiger Job, unter 80 Stunden pro Woche


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bekommst du so ein Politiker­leben nicht hin. Freie Wochenenden sind selten. Viele Kolle­ginnen und Kollegen arbeiten sich akribisch in ihre Themenfelder ein und sind echte Fachleute, obwohl sie nie in der Tagesschau auftauchen. Wie im normalen Leben findest du auch hier ganz hervorragende Menschen und welche, mit denen du weniger zu tun haben willst. Aber so soll Demokratie ja sein, ein Spiegel der Gesellschaft vom Arbeiter bis zum Professor. Mit ihren ganzen Fähigkeiten, aber auch Macken.

Und wie sieht es mit der Leidens­ fähigkeit aus? Als Bundestagsabgeordneter ist man die Hälfte des Jahres gar nicht zu Hause, sondern in Berlin. Als ich im Jahr 2009 in den Bundestag gewählt wurde, war meine Tochter gerade vier. Ich fahre meist gegen sechs oder sieben Uhr los Richtung Berlin. Eines Morgens klammerte sich meine Tochter an mein Bein und brüllte: Scheiß Berlin! Das setzt einem schon zu, da leidest du wirklich. Inzwischen trainiert meine Tochter Kanusport, aber das rauscht leider viel zu oft an mir vorbei. Als ich sie endlich mal beim Kanufahren auf dem Salbker See sehen wollte, war ich eine Viertelstunde später da als vorgenommen. Wie das so ist, quetscht man es zwischen die Termine und manche Vortermine dauern dann doch fünf Minuten

l­ änger. Als ich von meinem Auto loslief, habe ich nur noch ihren Namen über die Lautsprecheranlage gehört, aber den Zieleinlauf verpasst. Das sind Momente, die mich sehr traurig machen. Die gängige Vorstellung von Leidensfähigkeit zielt meist darauf ab, dass man sich in Verhandlungen streitet oder anbrüllt und keine Schwäche zeigt. Das gibt es tatsächlich, aber es sind meistens vernünftige und sachliche Diskussionen; das sehe ich ziemlich cool. Insofern leide ich nicht wirklich unter diesen Klischees. Eher unter der Erfahrung, dass ich das Leben der Menschen, die ich liebe, nicht nur verpasse, sondern bestimmte Momente auch nicht wiederholen kann. Es gibt natürlich auch lustige Situationen. Als Staatssekretär fuhr ich immer sehr früh ins Justizministerium. Mein Sohn war im Grundschulalter und ich brachte ihn vorher zur Schule. Manchmal hob ich ihn mit der ›Räuber­ leiter‹ über das noch verschlossene Rolltor der Schule. Meine Frau fragte ihn mal, ob das klappt, wenn ich ihn morgens zur Schule bringe. Er meinte, dass alles ganz gut ist. Es sei nur blöd, wenn er immer so alleine auf dem Schulhof rumstehe. (lacht) Insofern sollte man nicht alles unter dem Begriff ›Leiden‹ sehen. Diese Erfahrung mache nicht nur ich. Berufspolitiker ist eben ein zeitaufwändiger Job.

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Sie sind innenpolitischer Spre­ cher der SPD-Bundestagsfraktion. Welche Aufgaben bringt dieser Job mit sich? Ich habe mich in der Politik eigentlich nie um irgendeinen Job gerissen. Der damalige Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann schob mich da quasi hin. Ein paar Wochen später war der Terroranschlag bei ­ Charlie Hebdo in Frankreich. Dann kamen die steigenden Flüchtlingszahlen dazu. Die Innenpolitik dominierte in der Öffentlichkeit die Themen. In der vergangenen Legislatur­periode wurden vor allem im Bereich Innere Sicherheit und Migration im Wochentakt Gesetze verabschiedet. Das bindet einen erheblich ein. Das Innenministerium wurde in den vergangenen Jahren immer von Unionspolitikern geführt, aktuell von Horst Seehofer. Bei Verhandlungen sitzt dann der Innenminister vor einem, der ein Ministerium mit etwa 1.700 Mit­ arbeitern hinter sich weiß. Da sitzen dann in den Besprechungen die Staatssekretäre mit ihren Abteilungs- und Referatsleitern. Und auf der anderen Seite sitze ich, der das Pendant zum Innenminister bei der SPD sein soll. Mit gerade mal einer Referentin, die für Migration oder für Innere Sicherheit zuständig ist. Damit ist ein erheblicher Arbeits­ aufwand und Druck verbunden, wenn ich nicht über den Tisch gezogen werden will.

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Ihre Partei liegt bundesweit in Umfragen derzeit bei rund 15 Prozent. Wird sich die SPD künftig wieder ›Volkspartei‹ nennen können und wenn ja, wie kann das gelingen? Beim Begriff Volkspartei muss man zwei Dinge auseinanderhalten. Wie sieht sich die Partei selbst? Die SPD verstand sich nie als Klientelpartei, sondern als Partei, die unterschiedlichste Interessengruppen und Gesellschaftsschichten vereint. Vom Arbeiter bis zum Professor, vom Handwerker bis zum Studenten. Ich glaube, dass unser Land viele Jahrzehnte mit dem Modell zweier starker Volksparteien sehr gut gefahren ist. Spaltung, Polarisierung und das Erstarken extremer Posi­ tionen haben wir lange nicht in dem Ausmaß gehabt, wie das in anderen europäischen Ländern zu beobachten war. Die zweite Ebene ist, dass man nur von einer Volkspartei sprechen kann, wenn man Ergebnisse erzielt, die deutlich oberhalb von 25 Prozent liegen. Dem Anspruch wird die SPD ohne jeden Zweifel momentan nicht gerecht. Bei vielen sind wir im Augenblick nur die Zweitliebsten. Wir stehen bei den Menschen unter besonderer Beobachtung. Viele warten nämlich darauf, dass die SPD wieder profilierter auftritt und das einlöst, wofür sie immer stand: Möglichst vielen Bevölkerungsgruppen politische Konzepte aufzuzeigen, wie man


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Dinge verbessert. Politik hat sehr lange von dem Versprechen gelebt, dass es den eigenen Kindern besser gehen wird. Aber diese Hoffnung ging bei vielen verloren. Sie haben den Eindruck, in Zukunft wird alles schlechter. Das stimmt zwar nicht, aber die SPD ist von dieser Erwartungshaltung in besonderem Maße betroffen.

»Du musst ­h artnäckig sein, dich mit anderen ­v erbünden ­ und brauchst eine klare ­P osition.«

Manche Menschen haben das Ge­ fühl, die Politik habe den Bezug zur Realität verloren. Wie erleben Sie das? Den Vorwurf, dass Politiker überhaupt nicht wüssten, wie das reale Leben funktioniere, kann ich aus meinen zehn Jahren im Bundestag nicht bestätigen. Eher das Gegenteil. Ich hatte hunderte Begegnungen, die ich in einem Notarbüro so nicht erlebt hätte. Hartz IV-Empfänger mit ihren Sorgen. Die alleinerziehende Mutter, die mir stolz erzählt, dass ihre drei Kinder zum Gymnasium gehen. Bis hin zum Multi­millionär

aus Sachsen-Anhalt, der eine tolle technologische Idee hatte und daraus ein erfolgreiches Unternehmen schuf. Diese Bandbreite an unterschiedlichen Biografien, Problemen und Charakteren hätte ich in einem anderen Job wohl nicht erleben können. Als Quereinsteiger und -aussteiger kann ich mit Fug und Recht sagen, dass Politikerinnen und Politiker einen großen Draht zum Leben haben.

War die Entscheidung, nicht mehr als Landesvorsitzender der SPD zur Verfügung zu stehen, der erste Schritt zum Ausstieg aus der Politik? Den Landesvorsitz übernahm ich nach der verlorenen Landtagswahl eher gezwungener Maßen. Mit gerade mal zehn Prozent war die SPD in einer noch viel schwierigeren Situation als heute. Ursprünglich wollte ich das nur für zwei Jahre machen und ließ mich dann doch überreden, noch eine Wahlperiode dranzuhängen. Eine große S­ chwäche von mir, ich kann schlecht ›Nein‹ sagen. Der Landesvorsitz führte zu einer Doppelbelastung. Als Bundestagsabgeordneter, innenpolitischer Sprecher, Obmann im Parlamenta­ rischen Kontrollgremium und Mitglied des Fraktionsvorstands bin ich vollkommen ausgelastet. Da ist es meiner Meinung nach nicht vernünftig, zusätzlich noch dauerhaft Landes­politik machen zu wollen. Das

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Ehrenamt als Landesvorsitzender ist mit großem Aufwand verbunden. Die SPD in Sachsen-Anhalt hat über 140 Ortsvereine und alle wollen den Lischka am liebsten gleichzeitig zu einer Ortsvereinssitzung einladen. Weil der Tag bekanntlich aber nur 24 Stunden hat und alles oberhalb einer 80-Stunden-Woche auf Dauer richtig ungesund ist, muss ich dann andere Dinge zurückfahren. Welcher Teil Ihrer politischen Arbeit ist durch Doppelbelastung zu kurz gekommen? In meiner ersten Bundestagswahlperiode verteilten wir Postkarten in Haushalten in Magdeburg und Schönebeck: »Wenn Sie mal einen Bundestagsabgeordneten zu Hause haben möchten, dann laden Sie ihn zum Kaffee ein. Er bringt dann auch den Kuchen mit.« Das waren über 200 Hausbesuche. Ich habe nur bereut, dass ich kein Tagebuch geführt habe. Das wäre ein super spannendes Buch gewesen mit lustigen, traurigen, bewegenden und teilweise sehr skurrilen Geschichten. Wenn man Bundespolitik macht und Landesvorsitzender ist, dann bekommst du so eine Sache wie die Hausbesuche nicht mehr hin, obwohl mir das am meisten Spaß machte. Unabhängig davon, ob die Leute die SPD gut oder schlecht finden. Wenn Leute anrufen, merkt man oft schon am Anliegen, an der Tonart oder am Aufregungsmodus,

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ob es AfD-Wähler sind. Ich komme auch gerne bei denen vorbei. Ich erinnere mich an jemanden, der sich schnell als AfD-Wähler outete. Wir haben dann zwei Stunden Kaffee getrunken und Kuchen gegessen und wir verabreden uns heute noch zu Spielen des SCM. Aber insgesamt musste ich so etwas aufgrund der Doppel­belastung zurückfahren. Dadurch ist mein persönlicher Spaß an der Politik in den vergangenen drei Jahren rapide gesunken. Ich will nicht verhehlen, dass ich manches Mal darunter gelitten habe, wenn ich in Parteigremien saß und dachte, jetzt würdest du lieber bei einem Kuchenbesuch sitzen, anstatt dich mit dem Haushaltsplan der SPD im Kreisverband XY zu beschäftigen.

Für die Familie bleibt bei all den Aufgaben wohl relativ wenig Zeit. Wenn Sie dann mal die Gelegen­ heit haben, was unternehmen Sie gerne zusammen? Ich frage meine Kinder, wozu sie Lust haben. Ich sitze dann auch bei Veranstaltungen, zu denen ich ansonsten nicht gegangen wäre, wie die Zaubershow der Ehrlich ­Brothers. Meiner Tochter machte das großen Spaß. Mit meinem Sohn gehe ich total gerne zum Fußball. Es ist wichtig, auch mal Samstag oder Sonntag zu sagen: Heute kann ich euer Heimatfest nicht besuchen, meine Familie geht vor.


»Unter 82 ­Millionen ­Deutschen muss es ja auch ein paar ­Verrückte ­g eben, die mit dem Lischka ­ achen wollen.« ein Selfie m


Burkhard Lischka

Seit 2011 gibt es Ihre Veranstal­ tungsreihe Lischka trifft, in der Sie mit vielen Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Sport spre­ chen. Wählen Sie die Themen und Fragen selbst aus? Ja. Es gibt natürlich Mitarbeiter, die sich dazu Gedanken machen. So eine Veranstaltung funktioniert aber nur, wenn man sich auch selbst über die Leute informiert und sich in sie hineindenkt. Ich mache das ganz altmodisch mit Karteikärtchen und schreibe meine Fragen auf. Oft ergeben sich die Fragen aber erst im Gespräch.

Kevin Kühnert, Gregor Gysi und der Chauffeur der Kanzlerin waren schon zu Gast. Wen möch­ ten Sie denn noch unbedingt auf Ihrer Couch sitzen haben? Auf meiner jüngsten Veranstaltung habe ich unter anderem Familien­ ministerin Franziska Giffey ange­ kündigt. Ich versuche, immer politisch ausgewogen zu sein. Wenn es mir ein bisschen heikel erscheint, lasse ich manchmal das Publikum abstimmen, ob ich die Person einladen sollte. Bei Innen­minister Horst Seehofer ging erstmal ein Raunen durch den Saal. Die Mehrheit hat sich dann für sein Kommen ausgesprochen. Insofern würde ich gerne mal eine Veranstaltung mit ihm machen. Ich als Moderator mache ja keine Politik, sondern stelle Fragen. Gerade bei Herrn Seehofer würde ich mich allerdings schwertun, ihm

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anderthalb Stunden das Podium unwidersprochen zu überlassen. Ansonsten fehlt mir an ehemaligen Politikern noch Altbundespräsident Gauck. Und wenn Frau Merkel in absehbarer Zeit aufhört, dann müsste ich mal schauen, ob ich da rankomme. Ich würde sie fragen, wie es ihr jetzt ohne Politik so geht. Als ich die Frage dem ehemaligen Ministerpräsidenten Wolfgang Böhmer stellte, sagte er: »Wenn Sie dreimal hintereinander hinten ins Auto gestiegen sind und es fährt nicht los, dann wissen Sie schon, dass sich etwas verändert hat.« Wäre interes­ sant, ob Frau ­ Merkel die ­gleiche Erfahrung macht. Und wen würden Sie auf gar ­keinen Fall einladen? Extremisten, Leute die möglicherweise vom Verfassungsschutz beobachtet werden und die von Dingen träumen, die wir in Deutschland hoffent­lich ein für alle Mal im vergangenen Jahrhundert überwunden haben.

In den 25 Jahren, in denen Sie in Magdeburg leben, hat sich die Stadt sehr gewandelt. Welche wei­ teren Veränderungen wünschen Sie sich? Als ich Mitte der Neunziger ­herkam, hatte ich den Eindruck, dass viele Magdeburger mit ihrer Stadt ­fremdeln. Inzwischen hat sich das deutlich gewandelt. Die Magde­ burger sagen mittlerweile stolz, dass sie aus ›Machdeburch‹ kommen und


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identifizieren sich mit ihrer Stadt. Ich wünsche mir vor allem, dass das so bleibt. Nach den riesigen Um­­brüchen, die es hier nach 1989 gab und die für zwei Leben gereicht hätten – Unsicher­ ­ heiten, Sorgen, Ängste – hoffe ich, dass die Magde­ burger aus der Entwicklung der vergangenen Jahre Selbstvertrauen schöpfen, um die aktuellen Pro­

bleme zu lösen und diese Stadt mit Optimismus weiterzuentwickeln. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Lischka. Ich danke! Das war ja wie bei ›Lischka wird getroffen‹. (lacht) Januar 2019

Vista.Schon? Burkhard Lischka, geboren 1965, legte nach Abitur und Zivildienst beide Staatsexamen in Jura mit Prädikat ab. 1995 zog es ihn in die ›Ottostadt‹ und kurz darauf haupt­beruflich in die Politik. Seit 2004 sitzt er im Magdeburger Stadtrat und vertritt seit 2009 den Wahlkreis 69 Magdeburg im Bundestag, wo er auch innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion ist. Zudem ist er Vorsitzender der SPD Sachsen-Anhalt. Am 10. Januar 2019 gab er bekannt, sein Bundestagsmandat abgeben zu wollen. Bereits wenige Tage zuvor kündigte er an, nicht noch einmal für die Wahl zum Landesvorsitzenden zur Ver­fügung zu stehen. Die Magdeburger zeichnen sich für ihn dadurch aus, dass sie sehr direkt und offen sind und ohne Umschweife zum Punkt kommen. Auch dann, wenn ihnen etwas nicht passt.


Jennifer Stein »Ich bin nicht unbedingt der Brausetyp.« Powerfrau, Genießerin und Zigarrenexpertin. In ihrem eigenen Laden am Alten Markt verkauft sie nicht nur Tabakwaren, Pfeifen und Spirituosen, vor allem geht es darum, ihren Kunden Genuss näherzubringen. Zwischen Regalen voller edler Flaschen und ­Zigarrenvitrinen spricht sie mit Inter.Vista über ihre erste Pfeife, was sie von aktuellen Foodtrends hält und über Frauen in Führungspositionen. Und wisst ihr eigentlich, wie es ist, vier Tage durch Schottlands Brennereien zu touren? Interview: Rosalie Henkel | Fotos: Lara-Sophie Pohling



»Wer ein Team hat, muss für das Team da sein.«


Jennifer Stein

Wie sind Sie ausgerechnet zu einem Tabak- und Spirituosen­ geschäft gekommen? Den Laden gibt es bereits seit 1954. In der DDR führte ihn eine Dame namens Ingrid Witek. Ich ging als Jugendliche dort schon ein und aus. Ich wurde öfter hier abgesetzt und bediente immer Kunden, wenn Frau Witek gerade mal verschwinden musste. Da war ich noch ziemlich jung, 15 oder 16 Jahre. Sie sprach mich an, als sie keinen Nach­ folger fand. Da habe ich hier rein­ geschnuppert. Wir verabredeten uns immer abends heimlich. Das wussten selbst die Mitarbeiter nicht, in der Startphase wäre das sehr verunsichernd für das damalige Team gewesen. Gibt es dann eine große Jubi­ läumsfeier für Sie? Nein, die machen wir erst, wenn hier eine große 100 steht.

Wie kam es zu dem Namen Bottle & Pipe? Zu DDR-Zeiten hieß das Geschäft einfach nur Tabakwaren. Der origi­ ­ nale Schriftzug über dem Schaufenster ist von 1954 oder 1955. Der Name Bottle & Pipe wurde nach der Wende kreiert. Das hat sich Frau Witek ausgedacht. Sie sprach kein Wort Englisch, meinte aber, das sei jetzt zeitgemäß. Eine sehr selbst­ bewusste Frau. Ich finde den Namen sehr passend für uns.

Beruflich haben Sie doch erst ei­ nen anderen Weg eingeschlagen? Ich habe Design studiert und auch in der Branche gearbeitet. Das habe ich für Bottle & Pipe an den Nagel gehangen. Vieles kann ich aber auch hier anwenden.

Sie bieten in Ihrem Laden Pfeifen­ abende, Whisky- und Weinver­ kostungen an. Wie läuft das ab? Unterschiedlich. Für die Pfeifenabende kooperieren wir mit dem Ratskeller. Dort treffen wir uns im Bischofssaal, für die Magdeburger ein sehr wichtiger Ort. Das gibt unseren Pfeifenrauchern ein tolles Ambiente. Wir gestalten Themenabende und bringen Tabake aus verschiedenen Stilistiken, wie Englisch und Dänisch mit, über die unser Team hier bestens Bescheid weiß. Die Gäste können den ganzen Abend so viel Pfeife rauchen, wie sie wollen und wie sie natürlich vertragen. Wir hatten auch schon mal einen Pfeifen­macher dabei, der uns zeigte, wie Pfeifen hergestellt oder sogar aufbereitet werden. Unser Zigarrenabend After Work Smoke ist einmal im Monat. Da besteht die Möglichkeit, verschiedene Zigarren zu rauchen, auch in diversen Preislagen. So kann der Student kommen, der sieben Euro ausgibt, aber auch der Geschäftsmann, der für 20 Euro eine Zigarre rauchen möchte. Außerdem bringen wir an den AWS-Abenden feingeistige Getränke mit, so ist auch der flüssige Verkostungspart

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gedeckt. Auch Rum-, Whisky-, Gin-, Edelobstbrand- oder Wein­ verkostungen stehen hoch im Kurs. Die Weinabende finden bei schönem Wetter vor dem Laden statt. Ansonsten räumen wir den gesamten Laden leer und stellen Bänke und Tische hinein. Wir erzählen dann über Wein, Whisky, Portwein oder auch mal über Rum. Für diese Events muss man sich pünktlich eine Eintrittskarte kaufen, die sogenannten ›Privattastings‹ sind immer nur für 18 Personen.

Bei Pfeifenabenden denkt man schnell an alte Herren, die beiein­ andersitzen und an ihren Pfeifen ziehen. Ist das denn tatsächlich so? Nein. Das haben mich schon viele Leute gefragt, und ich muss immer sagen, der Pfeifenraucher ist relativ jung. Viele von ihnen rauchen vielleicht eine Pfeife in der Woche. Das sind meistens die etwas jüngeren Leute wie Studenten oder Berufs­ einsteiger. Pfeife rauchen ist im Moment en vogue. Selbstverständlich haben wir auch ältere Kunden, das ist wirklich querbeet.

Wann fingen Sie selbst an, Pfeife zu rauchen? Als ich den Laden übernahm. Frau Witek hat mich in die Pfeifen­ rauchermaterie eingeführt. Wir rauchten dann zusammen eine kunterbunte Pfeife von Fancy. Ich bin nicht die riesengroße Pfeifen­

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raucherin, sondern eher eine Zigarrenraucherin. Wenn wir neue Tabake haben, dann probiere ich diese. Ansonsten bin ich nicht diejenige, die den ganzen Tag mit einer Pfeife im Mund herumläuft. Das sind eher die Jungs im Team. Jeder im Laden hat seine Präferenz und ich bin eher für die Flüssigkeiten und Delikatessen da. Sind Pfeife- und Zigarrerauchen nicht mit Vorurteilen behaftet? Es gibt schon Leute, die sagen: Schau dir die Angeber mit der dicken Zigarre an. Oder: Das ist wieder so ein Stylist mit einer Pfeife. Wer sich eine Zigarre oder Pfeife in den Mund steckt, dem ist das sowieso egal. Man setzt sich damit ja nicht an eine Bushaltestelle. Die Pfeife nimmt man nur im richtigen Moment. Man muss eine chillige Situation haben. Man kann das nicht mit Zigarettenrauchen vergleichen. Mit einer Pfeife oder Zigarre setzt man sich hin und entspannt einfach ein bisschen. Das ist das Besondere daran.

Früher galt die Unternehmens­ führung als Männerdomäne. Wie behaupten Sie sich als Frau? Ich habe keine Probleme damit. Die Welt ist offen und ich würde nicht sagen, dass nur Männer oder Frauen sich mit Genussartikeln auskennen. Es gab am Anfang im Geschäft ein oder zwei Kunden, die ein bisschen die Nase rümpften. Würde ich hier als graues Mäuschen stehen, dann


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wäre das vielleicht heute noch so. Wenn man sich aber Fachkompetenz aneignet, Lehrgänge besucht und wirklich mitreden kann, dann spielt es keine Rolle, ob hier eine Frau oder ein Mann steht. Vielleicht muss man sich als Frau manchmal ein bisschen mehr beweisen. Es gibt schon Leute auf dieser Welt, die Frauen nicht ganz so ernst nehmen. Aber dann sage ich immer: sollen sie doch gehen.

Was ist das Beste am eigenen Ge­ schäft und der Selbstständigkeit? Ich bin ein sehr selbstbestimmter Mensch. Ich erfülle mir einen Traum, indem ich das mache, was ich für richtig halte, ohne dass jemand anderes darauf einwirken kann. Ich bin aber nicht allein. Wir haben hier ein Team und arbeiten hervorragend zusammen. Gibt es auch Schwierigkeiten? Vieles ist anstrengend am Selbstständigsein. Ich mache mir immer Gedanken, auch wenn es mal nicht gut läuft. Ich habe eine wahnsinnige Verantwortung für die Mitarbeiter und den Laden. Das muss einem bewusst sein. Wer ein Team hat, muss für das Team da sein.

Sie sind eine vielbeschäftigte Frau. Wie entspannen Sie am besten? Indem ich sonntags meine Freunde besuche. Zusammensitzen, einen schönen Feuerkorb anzünden, tolle Zigarren rauchen und herr­

lichen Wein trinken. Dabei ›fahren wir runter‹, unterhalten uns über andere Sachen als die Arbeit. Schöne Gespräche, nette Leute, das ist das Wichtigste. Aber Essen und Trinken sind auch wichtig. (lacht)

Wie oft rauchen Sie eine Zigarre? Etwa einmal in der Woche. Aber nur, wenn der Moment passt. Anders ist es, wenn eine neue Zigarre herauskommt und wir diese testen. Dann rauchen wir sie einmal an. Das würde ich persönlich nicht als Rauchen bezeichnen, nur weil ich 10 oder 15 Minuten mit der Zigarre beschäftigt bin. Das hat nichts mit Genuss zu tun. Mich hinsetzen, Beine hochlegen und neben mir ein netter Gesprächspartner, das ist wirklich Hochgenuss. Was wir machen, ist eher Arbeitstesten. Genauso läuft das bei den Flüssigkeiten, die ­müssen ja auch geprüft werden. Auf Ihrer Website steht, dass Sie Ihre Kunden mit Leidenschaft und Liebe zum Detail empfangen. Empfangen Sie Ihre Gäste zu ­Hause genauso? Ja. Wenn uns Freunde besuchen, möchte ich, dass sie sich wohlfühlen.

In Magdeburg sind Sie jedes Jahr auf der Messe Winterträume dabei. Wie kann man sich das vorstellen? Das ist eine Messe für Dekorationen, Kleidung, Feinkost und alles, was mit Winter und Weihnachten zu tun hat.

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»Die Magdeburger sind mehr GenieSSer, als man ­ orstellt.« sich das so v


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Die Messe ist eher frauenlastig und die Männer langweilen sich ein bisschen. Wir haben dort ein Genusszelt mit schönen Loungemöbeln. Bei uns können die Kunden sitzen, Zigarre rauchen, Wein trinken oder einen Whisky probieren. Oft landen die Männer nach einer Viertelstunde bei uns und verweilen, bis ihre Frauen sie wieder abholen und alle sind glücklich. Auf der Messe haben wir als Highlight immer eine Zigarrenrollerin dabei, meistens aus Brasilien, einmal kam sie aus Honduras.

Sind Sie nur als Ausstellerin auf Messen unterwegs oder auch als Besucherin? Beides. Wir sind jedes Jahr auf der weltweit größten Weinmesse ­ProWein im Frühling dabei und auch bei der Tabakmesse InterTabac in Dortmund. Außerdem fahren wir oft zu kleineren Messen wie zum Beispiel Rum-Events. Ansonsten sind wir auch Aussteller bei vielen Veranstaltungen und man kann uns als Genuss-Team oder auch einzeln als Genuss-Person für Events buchen, zum Beispiel für Firmenjubiläen. Was halten Sie von aktuellen Foodtrends? Schön ist, dass die Leute mehr darüber nachdenken, was sie in ihre Körper reinlassen. Sie essen und trinken nachhaltigere Lebensmittel. Vielleicht nur einmal in der Woche Fleisch, den Rest der Zeit dann eher Gemüse. Genauso ist das mit einer

tollen Spirituose, die zehn Euro mehr kostet oder mit einem hochwertigen Tabak. Grundsätzlich hat ein Trend, der in Richtung Gesundheit geht, immer etwas für sich. Man kann es aber auch übertreiben. Wichtig dabei ist, das Glücklichsein nicht zu vergessen.

»Man muss eine chillige Situation haben.«

Warum glauben Sie, dass ein Tabak- und Spirituosengeschäft ­ gerade in Magdeburg funktio­ niert? Die Magdeburger sind mehr Genießer als man sich das so vorstellt, auch wenn wir manchmal ein bisschen ›schnodderschnützig‹ sind. Aber so ein Laden hat eigentlich in jeder größeren Stadt eine Existenzberechtigung. Wichtig ist, dass die Leute, die darin arbeiten, sich Mühe geben und es mit Liebe machen. Ob man einen Spirituosenladen, ein Gastronomieobjekt oder eine Bäckerei hat, man muss seine Arbeit immer mit Leidenschaft tun.

Ich habe herausgefunden, dass Sie südafrikanische Rotweine ­lie­ben. Was macht diese aus? In Südafrika herrscht ein besonderes Klima. Es gibt viele Länder, die tolle

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»Pfeife rauchen ist im Moment en vogue.«

Weine herstellen. Da ich allerdings schon öfter in Südafrika war, ent­ wickelte ich ein Faible für die dortigen Weine. Das ist für mich ein Stück Erlebnisfaktor. Die landestypische Rebsorte ist Pinotage. Die Trauben sind sehr klein und schalenlastig. Daraus entstehen kräftige, dunkle Weine. So ein Wein passt super zur Zigarre, toll zur Schokolade und hervorragend zu deftigem Essen. Sind diese Reisen privat oder beruflich? Eher beruflich. In Südafrika besuchten mein Partner und ich

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in sieben Tagen 20 Weingüter. Ich war auch schon in Nicaragua oder auf La Palma, dort gibt es Zigarren­ plantagen. Ich würde solche Reisen gerne öfter unternehmen, irgendwo hinfahren und mir alles anschauen, aber dafür fehlt leider die Zeit. Wenn es passt, kombinieren wir das auch mit Urlaub. Dieses Jahr waren wir in Schottland auf der Insel Islay, wo wir eine Whiskytour gemacht haben. In zwei Tagen besuchten wir jede Destillerie auf der Insel. Das war ein hartes Programm. Danach fuhren wir aufs Festland in Richtung Edinburgh und haben dort auch noch


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verschiedene Brennereien besucht. Nach vier Tagen waren wir wieder in Magdeburg. Das war null Urlaub. (lacht)

Das klingt nach viel Whisky in vier Tagen. Man spuckt beim Tasting ja aus. Bei der Kommunikation muss ich klar bei Verstand sein. Wenn man als Privat­ person so etwas macht und nach dem dritten Whisky rote Bäckchen hat, dann ist das völlig in Ordnung. In beruflicher Hinsicht möchte ich jedoch wichtige Informationen bekommen und die richtigen Fragen stellen.

Whiskey oder Whisky? Trinkt man Whiskey, ist man in Irland. Trinkt man Whisky, ist man in Schottland. In Amerika schreibt man Whiskey auch mit ›e‹. Irland und Schottland streiten sich allerdings, wer der Urheber des Whisk(e)ys ist. Jeder behauptet, er war es. Das ist einfach eine Glaubenssache. Wenn es mal kein Wein, Whisky oder Rum sein soll, welches ist Ihr liebstes alkoholfreies Getränk? Gerne Tee, Kaffee und Wasser. Ich bin nicht unbedingt der Brausetyp. November 2018

Vista.Schon? Jennifer Stein, geboren 1980, wuchs in der Nähe von Magdeburg auf. Aus ihrem Jahrgang empfiehlt sie unter anderem den besonderen Portwein ­Colheita von J. H. Andresen. Nach der Schule studierte sie zunächst Design und arbeitete auch in diesem Bereich. Heute führt sie mit ihrem Lebens­ partner und gleichzeitigem Geschäftspartner Bottle & Pipe. Von ihrer Wohnung im Zentrum aus kann sie jeden Morgen zum Laden laufen. Ihr Geheimtipp für Magdeburg ist in den Wintermonaten definitiv der Weihnachtsmarkt, der direkt vor ihrer Tür stattfindet.


Julius Brinken

Julius Brinken »Muss es wirklich Malle sein?« Als Koordinator des Nachhaltigkeitsbüros der Otto-von-­GuerickeUniversität beschäftigt er sich nicht nur beruflich damit, die Welt zu verbessern. Privat ist er bei jedem Wetter mit dem Rad unterwegs und baut in einem Gemeinschaftsgarten eigenes Obst und Gemüse an. Inter.Vista erzählt er von seiner Idee eines essbaren Campus̕ und was er von Flugreisen hält. Interview und Fotos: Katharina Gebauer

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»Ich wuchs sehr ländlich auf, aber das fand ich als Jugendlicher irgendwann nicht mehr so cool.«

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Im Januar gibt es einen ­Science­-Slam zum Thema Nach­ haltigkeit. Wird man Dich dort auf der ­Bühne sehen? Ich bin ein bisschen in die Organisation eingebunden und unterstütze die zwei zuständigen Mitarbeiter bei der Planung. Tatsächlich habe ich mir überlegt, eine Nachhaltigkeitsidee dort zu ›pitchen‹. Wie sieht diese Idee aus? Es ist noch nichts Festes, aber ich hoffe, mit der Idee eines essbaren Campus’ zu begeistern.

Wie muss ich mir das vorstellen? Auf dem Campus sind viele un­­ genutzte Grünflächen vorhanden, die für mehrjährige Obst- und Beeren­pflanzen zu Streuobstwiesen umfunktioniert werden könnten. Momentan werden die Beete von der universitätseigenen Gärtnerei genutzt. Hier könnte man überlegen auch Kräuter oder Salat anzu­pflanzen, um die tägliche Butterstulle aufzupeppen. Dadurch würde der C ­ ampus für Studierende und Mitarbeiter lebenswerter werden. Die Nachhaltigkeitsidee könnte außerdem durch kleine Gastgeschenke, wie Marmeladen oder Aktions­wochen, als Teil unserer Lebensqualität an der Uni nach außen vermittelt werden.

Wo liegt der Unterschied zwi­ schen dem Nachhaltigkeitsforum und dem Nachhaltigkeitsbüro? Das Büro fungiert als zentrale Anlaufstelle für die Vernetzung zwischen Nachhaltigkeitsaktivitäten verschiedener Ebenen, zum Beispiel bei Initiativen von Studierendengruppen hier an der Uni, daneben aber auch zwischen anderen Nachhaltigkeitsbüros und Universitäten oder Kontakten von städtischen Initiativen. Allerdings liefen viele Lehrveranstaltungen und Forschungsprojekte am Campus aufgrund fehlender Kommunikation getrennt voneinander ab, so dass eine Plattform für den konkreten Austausch auf Lehrstuhlebene entstanden ist: das Nachhaltigkeitsforum. Dort können sich Forscher und Lehrende zusammenfinden. So wurde zum Beispiel eine gemeinschaftliche Ringvorlesung zu Nachhaltigkeitsthemen auf die Beine gestellt. Das Forum agiert praktisch als eine von mehreren Vernetzungsebenen.

Wie kann man sich Deinen typi­ schen Arbeitstag vorstellen? Das variiert über die Semester hinweg, weil meine Aufgaben sehr vielfältig sind. Jetzt zum Jahresende bin ich damit beschäftigt, den Nachhaltigkeitsbericht für die Universität zu erstellen. Manchmal bereite ich Workshops oder Beiträge für Konferenzen vor. Ein typischer Tag fängt mit der Sichtung der Neuigkeiten im Bereich Nachhaltigkeit und der

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Beantwortung von E-Mails an. Vieles ist konzeptionelle Arbeit, das heißt, wir überlegen uns, welche Maß­ nahmen die Nachhaltigkeit hier an der Universität vorantreiben könnte. Natürlich gibt es auch viel Schreib­ arbeit.

Du meintest, Zeit sei bei Dir im Moment Mangelware. Ist das Dei­ ner Arbeit geschuldet oder bist Du einfach ein vielbeschäftigter Mann? Im Moment liegt das hauptsächlich an meiner Arbeit im Büro. Zum Jahres­ ende gibt es immer Sachen, die noch abgeschlossen werden müssen, wie eben der Nachhaltigkeitsbericht oder der Maßnahmenkatalog für die Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie. Für mich ist es gerade ein Balanceact zwischen der Arbeit und meinem Privatleben. Ich versuche jeden Tag so früh wie möglich nach Hause zu kommen, um viel Zeit mit meinem einjährigen Sohn zu verbringen. Wäre Home-Office eine Option für Dich? Es ist eher nicht vorgesehen, aber generell wäre es möglich. Bei wissenschaftlichen Mitarbeitern wird darauf geachtet, dass am Ende des Tages alle Aufgaben abgearbeitet sind und nicht von wann bis wann wir genau hier sind. Diese Flexibilität nutze ich vor allem dann, wenn der Kleine krank oder die Tages­ mutter mal verhindert ist.

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Was machst Du nach einem stressigen Arbeitstag um zu ent­ spannen? Ich strample mich erst einmal zwanzig Minuten ab, denn ich fahre jeden Tag und bei jedem Wetter mit dem Fahrrad zur Arbeit. Danach ist mein Kopf meistens durchgepustet und mein Feierabend kann beginnen.

»Für mich hat Magdeburg ein enormes Potenzial zur Selbst­­ verwirklichung.«

Du warst von Anfang an bei den Ökosozialen Hochschultagen da­ bei. 2019 gehen sie in die sechste Runde. Was hat sich über die Jahre im Programm verändert ­ und was gibtʼs Neues? Neu ist im nächsten Jahr eine Fokussierung auf einen Themenbereich. Das ist quasi eine Rückbesinnung auf die ersten Ökosozialen Hochschultage 2014. Damals hatten wir uns einen Überbegriff gesetzt: Stadt ohne Öl. Die Konzepte der darauf­ folgenden Jahre waren in den Veranstaltungsangeboten meiner Wahrnehmung nach sehr breit gefächert. Nächstes Jahr wollen wir dagegen thematisch in die Tiefe gehen. Die beiden Überbegriffe werden ›gender equality‹ und ›climate action‹ sein.


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Wir werden auf deren Aspekte eingehen und gucken, wo sich die beiden Felder überschneiden und so eine thematische Rahmung schaffen. Wo steht Ihr gerade in der Planung? Wir hatten gerade unsere ersten beiden Teamsitzungen. Dort lernten wir uns erst einmal kennen und schauten, welches Konzept wir uns bezüglich dieser Themen vorstellen. Der nächste Schritt wird dann die konkrete Erarbeitung von inhalt­ lichen sowie methodischen Veranstaltungsideen und deren Umsetzung sein. Gibt es noch weitere Projekte? Die Ökosozialen Hochschultage 2019 sind erstmal die nächste große Veranstaltung, sowohl vom Engagement als auch von der Öffentlichkeitsarbeit her. Im Januar schlagen wir dann den Maßnahmenkatalog mit zehn bis zwölf konkreten Punkten vor. Dieser beinhaltet ganz simple Vorschläge wie die Mülltrennung, aber auch komplexere Sachen, wie die Bereitstellung von Mitteln für weitere Nachhaltigkeitsprojekte.

Wo ist eine Mitwirkung möglich, wenn man sich für die Nachhaltig­ keitsidee an der OVGU engagieren will? Mindestens einmal im Monat veranstalten wir ein offenes Teamtreffen und wollen damit für Studierende und Mitarbeiter eine Möglichkeit

bieten, sich in den Nachhaltigkeitsprozess einzubringen. Neben dem Engagement hier im Büro kann man eigene Ideen in Workshops oder Aktionswochen im Rahmen von Veranstaltungsreihen umsetzen. Studierende können sich bestimmten Hochschulgruppen anschließen, um dort durch gesellschaftliches Engagement Projekte voranzu­ treiben.

Welche einfachen Änderungen kann jeder im Alltag vornehmen, um die Umwelt zu schonen? Ein ganz präsenter Aspekt ist nach wie vor der Klimawandel. Eines der wichtigsten Dinge, die man meiner Meinung nach tun kann, ist auf Flugreisen zu verzichten. Muss es wirklich Malle sein, oder Südafrika? Kann ich nicht vielleicht auch mit dem Nachtzug nach Barce­ lona oder auf den Balkan fahren? Interessante Urlaubsziele findet man auch in Deutschland. In der täglichen Mobilität kann man auch etwas ändern. Fahre ich früh am Morgen mit dem Auto oder mit dem Fahrrad zur Arbeit oder zur Uni? Ich als Familienvater mit einem jungen Kind kann aus eigener Erfahrung behaupten, dass es sehr gut möglich ist, jeden Tag das Fahrrad zu nutzen und auch die Wocheneinkäufe damit zu erledigen. Ich beobachte eine Selbstverständlichkeit der Autonutzung, die ich absolut nicht nachvollziehen kann, denn gerade hier besteht die Möglichkeit, die direkten

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Auswirkungen auf die Umwelt zu minimieren. Zudem kann der eigene Einfluss auf das Klima mit tierfreier Ernährung, sowohl vegetarisch als auch vegan, reduziert werden. Generell kann man bei der Ernährung viel durch sein Einkaufsverhalten tun, indem man möglichst regional und saisonal einkauft.

Bist Du noch in der Grünen Hoch­ schulgruppe aktiv? In der GHG brachte ich mich während meiner Studienzeit viel ein, mittlerweile bin ich dort nicht mehr aktiv. Nachdem ich meinen Job im Nachhaltigkeitsbüro annahm und mein Sohn geboren wurde, haben sich meine Interessen etwas verschoben.

»Ich beobachte eine Selbstverständlichkeit der Autonutzung, die ich absolut nicht nachvollziehen kann.«

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Was machst Du sonst noch, um möglichst nachhaltig zu leben? Privat betreibe ich ›urban gardening‹ in einem Gemeinschaftsgarten in Magdeburg und versuche damit, einen Teil der Nahrungsmittel für meine Familie und mich selbst anzubauen. Daneben geht es natürlich auch um Aspekte wie Gemeinschaft und sozialen Austausch. Zudem bin ich in einer Gruppe aktiv, die versucht, ein Mehrfamilienhaus zu erwerben, um ein soziales und demokratisches Wohnprojekt zu starten.

Kannst Du dieses Projekt näher erläutern? Wir sind eine Gruppe von zehn Personen und auf der Suche nach einem Haus, in dem wir und auch weitere Personen wohnen können. Unser Projekt soll im Rahmen des Mietshäuser Syndikats realisiert werden, eine deutschlandweite Initiative, die schon über 100 Wohnprojekte mit umsetzte. Es geht darum, Häuser zu kaufen, die dann dauerhaft in die Hand der Bewohner gegeben werden. Soll heißen, die Bewohner sind gleichzeitig die Besitzer des Hauses. Es gibt weder Vermieter, noch Investoren oder eine Hausverwaltung. Alles ist von den Bewohnern selbstorganisiert und selbstbestimmt. Alle Entscheidungen sollen nach dem Konsensprinzip gemeinschaftlich und demokratisch getroffen werden. Momentan haben wir allerdings noch kein Haus. Mit

diesem Wohnprojekt wollen wir aber nicht nur sozialverträgliche Mieten für uns selbst schaffen, sondern auch einen positiven Einfluss auf den Stadtteil, die Stadt und die Gesellschaft nehmen.

Quasi wie eine private Ge­nossen­ schaft? Ja genau, das Wohnprojekt Thiembuktu in Buckau zum Beispiel wurde auch im Rahmen des Mietshäuser Syndikats realisiert. Neben den genannten Aspekten der Demokratie, der Selbst­ bestimmtheit und Sozialverträglichkeit, geht auch möglichst eine gemeinschaftliche Nutzung einher. Räumlichkeiten werden geteilt, es gibt Veranstaltungs­räume, die zum Austausch dienen und Küchen­maschine, Lastenrad oder Auto sollen gemeinschaftlich genutzt werden. Du kommst ursprünglich aus Nieder­ sachsen. Was hat Magde­ burg, was andere Städte nicht haben? Für mich hat Magdeburg ein enormes Potenzial zur Selbstverwirklichung. Wenn man sich erstmal auf die Stadt eingelassen und Fuß gefasst hat, kann man hier sehr viele Dinge bewirken und umsetzen, vielleicht sogar mehr als in anderen Städten. Die Wege sind kurz, aktive und engagierte Leute kennen sich untereinander und Möglichkeiten werden geteilt. Wenn man eine gute Idee hat oder ein cooles Projekt

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umsetzen möchte, erfährt man viel Unterstützung aus der ›Szene‹. Ich bezweifle, dass Projekte, wie die Ökosozialen Hochschultage, das Nachhaltigkeitsbüro oder unser Gemeinschaftsgarten in der Form auch in anderen Städten so möglich gewesen wären. Das macht Magdeburg eben aus. Gerade weil es hier weniger gibt, ist es guter Nähr­boden, um eigene Dinge zu schaffen. Wo ist Dein Lieblingsort in Magdeburg? Das ist am Stadtpark direkt an der Elbe, kurz vor der Rotehorn-Spitze. Im Sommer spanne ich dort meine Slackline und kann mit Blick auf’s Grüne und die Elbe in Ruhe die Natur genießen.

Deinen Master hast du in Wirt­ schaftsingenieurwesen Logistik gemacht. Wie kam es dazu? Ich entschied mich schon vor dem Bachelor für dieses Masterstudium, weil ich mich nicht auf eine bestimmte Laufbahn oder einen Karriereweg begrenzen wollte. Wirtschaftsingenieurwesen ist ein sehr interdisziplinärer Studiengang mit unterschiedlichen Fächern, der sehr viele Möglichkeiten für das spätere Arbeitsleben bietet. Das sieht man auch an meinem jetzigen Job, der ja eigentlich wenig mit Logistik zu tun hat. Trotzdem konnte ich vieles aus dem Studium mitnehmen. Allerdings weniger Fachwissen wie beispielsweise die Eigen­ schaften

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von Gabelstaplern, sondern eher bestimmte Methoden und Denkweisen, Prozess- und System­ verständnis sowie interdisziplinäres Arbeiten, was ich in meinem Job auch anwenden kann.

Wurde Dir der Umgang mit der Natur und der Umwelt schon früh mit in die Wiege gelegt? Nachhaltigkeit ist ja ein Konzept aus der Forstwissenschaft und da mein Vater Förster ist, kann ich schon sagen, dass mich diese Idee bereits früh begleitete. Ich wuchs sehr ländlich auf, aber das fand ich als Jugendlicher irgendwann nicht mehr so cool. Das prägende Ereignis war wohl mein Zivildienst, denn ich wollte nicht wie viele andere in den Krankentransport, sondern viel lieber etwas in der Natur machen. Den Dienst leistete ich dann in der Ökologischen Schutzstation Stein­ huder Meer. Dieser beinhaltete praktische Naturschutzarbeit wie Moore entwalden und wieder vernässen, sowie umweltpädagogische Aspekte wie die Zusammenarbeit mit Kindern. Der Dienst hat mich sehr geprägt und mir eine Vor­stellung gegeben, in welche Richtung ich später gehen will.

Was wolltest Du sonst werden? Tatsächlich wollte ich immer in die Richtung Ingenieurwissenschaften gehen, allerdings nicht zu technisch. Dadurch kam der Schwerpunkt Logistik anstatt Maschinenbau oder


ÂťInteressante Urlaubsziele findet man auch in Deutschland.ÂŤ 215


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Elektrotechnik zustande. Die Entscheidung lag dann zwischen dieser Richtung oder dem Lehrerberuf. Diese Möglichkeit resultierte aus meiner Zeit im Zivildienst, in der mir die pädagogische Arbeit mit Kindern sehr viel Spaß gemacht hat. Zum Beispiel über Feuchtwiesen laufen oder an Wasserstellen keschern. In den Campusgeschichten der OVGU nanntest Du als Deinen beruflichen Wunsch, nach dem Studium Unternehmen zu helfen, ›ihre Geschäfte nachhaltig zu ge­

stalten‹. Bleibst Du dem Nachhal­ tigkeitsbüro vorerst erhalten? Im Moment sehe ich meine Zukunft hier und würde mir auch wünschen, noch möglichst lang Projekte umsetzen zu können. Wenn meine Stelle nicht mehr verlängert wird, könnte ich mir durchaus vorstellen, in der Industrie oder in der Wirtschaft zu arbeiten. Mein Ziel wäre dann, Veränderungsprozesse von Unternehmen und Organisationen in Richtung Nachhaltigkeit und gesellschaftlicher Verantwortung zu unterstützen. Ich hoffe, dass meine Zukunft in Magdeburg ist. Dezember 2018

Vista.Schon? Julius Brinken, 1989 in Celle geboren, studierte im Bachelor Maschinenbau und machte anschließend seinen Master im Wirtschaftsingenieurwesen mit Schwerpunkt Logistik. Er lebt mit seiner Frau und seinem einjährigen Sohn in Stadtfeld. Für das Nachhaltigkeitsbüro der Otto-von-Guericke-­Universität ist er als Koordinator tätig. Der gebürtige Niedersachse assoziiert mit Magdeburg Grün, Freundschaft und Selbstverwirklichung. Wäre er Lehrer anstatt wissenschaftlicher Mitarbeiter geworden, würde er Biologie unterrichten und ein Fach, das ihm nicht so viel Spaß macht.


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Karin Meyer »Tiere sind ja auch bloSS Menschen.« Hundeführerin bei der Polizei Sachsen-Anhalt und Ur-Magde­ burgerin. Karin Meyer spürt mithilfe ihres vierbeinigen Partners Xerxes Sprengstoff, Waffen und Munition auf und war bereits 2007 beim G8-Gipfel im Einsatz. Welche Orte sie in ihrer Heimatstadt am meisten schätzt, inwiefern Fußball ein großes Thema in ihrem Job ist und wie sie am liebsten ihren Feierabend verbringt, erzählt sie uns im Interview. Und welche Eigenschaften musste eigentlich Xerxes mitbringen, um Polizeihund zu werden? Interview und Fotos: Julian Seemüller und Katharina Gebauer

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»Hundeführer und Hund bilden eine Einheit, sie sind unzertrennlich.«


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Angenommen, ich würde plötz­ lich ein Messer ziehen und Sie angreifen, wie würde der Hund reagieren? Er würde mich verteidigen, auch ohne entsprechendes Kommando meinerseits. Dazu wurde er ausgebildet. Auch wenn ich nicht in der Lage bin, den Befehl zum Angriff zu erteilen. Sie entscheiden in einer Situation wie dieser selbst, ob Verteidigung geleistet werden muss. Wie heißt Ihr Hund? Xerxes.

Wie viele Diensthunde hatten Sie vor Xerxes? Das ist mein zweiter. Eine weitere Dienst­ hündin habe ich gerade in Ausbildung.

Wie finden Hund und Hunde­ führerin zusammen? Wir bekommen eine Mitteilung, dass ein Hund bereitsteht. Den gucken wir uns dann beim Züchter oder Hundeverkäufer an. Anschließend wird vorgeführt, was der Hund alles kann. Dabei müssen die polizeilichen Standards erfüllt werden. Und natürlich spielt auch die Sympathie eine große Rolle. Wenn man merkt, dass das Verhältnis gar nicht passt, kann man es auch lassen. Um sicher zu gehen, gibt es eine Probezeit von vier Wochen. In diesem Zeitraum wird dann überprüft: Ist der Hund gesund? Macht er, was von ihm

gefordert wird? Und vor allem: Stimmt die Chemie?

Welche Hunderassen eignen sich besonders für die Polizei? Hauptsächlich werden die Rassen deutscher und belgischer Schäferhund geführt. Auf welche Kriterien wird bei der Auswahl der Hunde geachtet? Wann taugt er etwas? Erstmal muss der Hund gute Triebanlagen haben. Triebe sind die ­ Motoren eines Hundes und bestimmen sein Verhalten. Für die Ausbildung ist vor allem der Spieltrieb wichtig. Dann schaut man auf Sachen wie die Umweltsicherheit des Hundes. Heißt: Der Hund sollte überall mit- und reinkommen. Er muss sich zurechtfinden in seiner Umgebung, da dürfen auch keine Abstriche gemacht werden. Natürlich sollte er auch nicht die Pfoten einziehen und wegrennen, sondern mich im Ernstfall verteidigen. Zuletzt der gesundheitliche Aspekt, der Hund muss in bester Verfassung sein. Wenn das alles stimmt, steht eigentlich nichts mehr im Weg. Wie sieht die Ausbildung aus? Die Ausbildung erfolgt von Anfang an mit dem Hundeführer. Zuerst gibt es eine vierzehnwöchige Ausbildung zum Schutzhund und parallel für uns zum Schutzhundeführer. Dabei wird der Fokus darauf gelegt, die Quali­ fikationen zu erlangen, generell

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Karin Meyer

einen Hund zu führen. Die Spezialisierung passiert dann in der zweiten Stufe, einer zwölfwöchigen Ausbildung, die auch wieder mit dem Hund zusammen vollbracht wird.

Einmal angenommen, ich ­ hätte einen ›normalen‹ Hund zu Hause und möchte, dass er zum Polizeihund wird. Wie stehen die Chancen? Genaue Zahlen habe ich nicht parat, aber man sollte niemals nie sagen. Wenn man der Polizei einen Hund anbietet, wird er erst einmal überprüft. Wenn er alles mitbringt, warum sollte er dann kein Polizeihund werden?

Auf was ist Xerxes spezialisiert? Xerxes sucht und spürt Sprengstoff, Waffen und Munition auf. Wieso genau darauf? Entscheidet sich das nach dem Bedarf bei der Polizei, nach Wunsch des Hunde­ führers oder nach den Eigen­ schaften des Hundes? Bei mir war das so, dass ich eine Schutzhundeausbildung gemacht habe. Zu der Zeit wurden aber Spreng­stoffhunde gebraucht. Also wurde entschieden, dass ich, solange mein Hund die Voraus­ setzungen dafür mitbringt, diese Richtung einschlage. Dabei bin ich dann geblieben. So funktioniert das auch in der Regel. Es wird geschaut,

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was gebraucht wird, und dann, welche Hunde sich dafür eignen.

Erinnern wir uns mal an die Krimiserie Kommissar Rex: Wie loyal und innig ist die Beziehung von Polizeihund und Herrchen tatsächlich? Ich kann jetzt nur aus meiner Erfahrung sprechen. Xerxes kommt nach der Arbeit mit zu mir nach Hause und sobald er dort ist, kann er in der Familie, seinem Rudel also, Ruhe finden. Da kann man kuscheln. Aber mein Hund weiß auch: Im Einsatz ist er kein Familienhund mehr. Dann ist er in der Lage, wieder umzuschalten. Das können unsere Hunde gut voneinander unterscheiden. Und wenn er nicht mehr arbeitsfähig ist, aufgrund seines Alters oder der Fitness, bleibt er trotzdem mein Familienhund. Das nennt sich dann ›passiver Diensthund‹. Es gibt nur sehr wenige Ausnahmen, wo der Hund nach seiner Laufbahn nicht beim Hundeführer bleiben kann.

»Der Hund muss in bester Verfassung sein.«

Was haben Sie vor der Polizei­ arbeit gemacht, wie kamen Sie hierher? Ich war Elektronikfacharbeiterin. Bei uns im Betrieb wurden die


Karin Meyer

jungen Kollegen entlassen. Meine Bewerbung bei der Polizei war eher eine spontane Sache. Der Beruf Polizist interessierte mich schon immer und zum Glück hat es dann auch funktioniert.

Was reizt Sie konkret an Ihrem Beruf? Mit den Menschen zusammen­ zu­ arbeiten. Der Polizeiberuf hat viele gute Seiten, denn ich kann hier erworbenes Wissen auch privat anwenden, bei Familienstreitereien zum Beispiel. Oder Bürger bedanken sich einfach und sagen: Gut, dass Sie da sind. Natürlich gibt es aber auch die andere Seite. Wenn dir einer gegenübersteht und meint, er müsse den großen Max machen. Es gibt, wie bei jedem Job, gute und schlechte Seiten. Wann war der Weg zur Hunde­ staffel für Sie klar? Zuerst war ich zwölf Jahre bei der Schutzpolizei. Ich bemerkte, dass mich die Arbeit mit Hunden reizt und ich ließ mich dann versetzen. Das funktionierte auch reibungslos. Inwiefern hatten Sie bereits davor Erfahrung mit Hunden? Zu Hause hatte ich einen kleinen Yorkie (Yorkshire Terrier, Anm. d. Red.). Der war aber nicht zu ver­ gleichen mit unseren Polizeihunden. (schmunzelt)

Der technische Fortschritt macht auch vor der Polizei nicht halt, trotzdem bleiben Hunde ein alt­ bewährtes Mittel. Woran liegt das? Hunde sind flexibel. Gerade im Sprengstoffbereich probierte man viele Alternativen aus. Man hat beispiels­ weise Ratten in Kriegs­ gebieten eingesetzt, weil die leichter sind und so schnell nichts Explosives auslösen. Zurzeit werden technische Sensoren ausprobiert, die aber weder laufen noch klettern können, um Waffen, Munition und Sprengstoff zu finden. Die Nase eines Spürhundes lässt sich also nicht künstlich nach­ bauen oder konstruieren? Nein. So weit sind wir einfach noch nicht. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihren ersten Einsatz? Das war mit meinem ersten Diensthund, im Januar 2007. Da musste ich im Vorfeld des Neujahrs­ empfangs die Räumlichkeiten nach Sprengstoff, Waffen und Munition absuchen.

Und welcher war Ihr heikelster Einsatz? 2007 in Heiligendamm, beim G8-­ Gipfel. Da waren wir mit Sprengstoffhunden im Einsatz, haben aber angesichts der Situation auf Schutzhunde umgestellt. Brenzlig wurde es nämlich, als die Demonstranten über die Absperrung klettern wollten.

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»Ein Hund sorgt in der Regel zusammen mit dem Dienstführer für mehr Respekt.«


Karin Meyer

Musste Xerxes zum Einsatz kommen? Nein, zum Glück musste er nicht aktiv eingreifen. Welche Einsatzbereiche sind hier in Magdeburg die Größten? Der Fußball macht einen großen Teil aus, genauso wie Demonstrationen. Ansonsten kleinere Bereiche und eben normale Streifen. Man hat den Eindruck, die Hemm­ schwelle gegenüber der Polizei ist gesunken. Inwiefern kann ein Hund da weiterhelfen? Sie ist tatsächlich gesunken. Wir merken das besonders bei den Fußballeinsätzen. Da sind wir mit Schutzhunden vor Ort. Ein Hund sorgt in der Regel zusammen mit dem Dienstführer für mehr Respekt, als wenn die Einsatzkräfte allein unterwegs sind. Man merkt, dass dieser Respekt steigt, wenn ein Hund dabei ist. Gegenüber Polizisten ist er leider kaum noch vorhanden.

Thema Fußball: Mit Magdeburg bringt man vor allem den FCM in Verbindung. Wie anstrengend ist ein Einsatz am Stadion, wenn Spieltag ist? Das kommt darauf an, welche Mannschaft zu Gast ist. Es gibt feindliche, neutrale und freundliche Mannschaften. Gewinnt eine feindliche Mannschaft, kommt es oft zu Ausschreitungen.

Wir Menschen haben alle mal schlechte Tage. Wie sieht man das einem Hund an? Tiere sind ja auch bloß Menschen. (lacht) Die haben auch mal einen schlechten Tag. Dann wollen die nicht so richtig, stehen einfach ein bisschen neben sich. Dann guckt man auch, ob vielleicht gesundheitlich etwas vorliegt.

»Im Einsatz ist er kein Familienhund mehr.«

Woran merkt man das? An der gesamten Mimik. Ein Hunde­ führer sollte seinen Hund lesen können. Wenn die Ohren zur Seite stehen und der Hund nur trottet, kann man die Gestik interpretieren.

Erwächst daraus auch mal eine ›Beziehungskrise‹? Sie sind ja schließlich die meiste Zeit mit Ihrem Hund zusammen. Natürlich kann das manchmal schwierig werden, aber solche Krisen werden überwunden. Auf­ geben oder den Hund weggeben ist keine Option. Das wäre so, als wenn man das eigene Kind ins Kinderheim schickt. Xerxes gehört zur Familie. Hundeführer und Hund bilden eine Einheit, sie sind unzertrennlich.

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Karin Meyer

Was machen Sie nach einem stressigen Tag auf der Arbeit? Einfach eine große Runde mit dem Hund spazieren. Ein bisschen durch die Gegend laufen. Abschalten. Wie hundefreundlich ist die Stadt Magdeburg? Welche Einschrän­ kungen haben Sie hier erfahren? Kaum welche. Ich gehe aber auch nicht mitten in der Stadt mit meinem Hund auf der Hauptstraße spazieren. (lacht) Im Stadtpark oder am Herrenkrug kann ich ihn laufen lassen. In Gaststätten nehme ich ihn nicht mit. Wirkliche Hürden habe ich mit meinem Hund in der Stadt

keine. Ich muss ihn ja auch nicht immer dabeihaben.

Was fasziniert Sie als Ur-Magde­ burgerin an der Stadt am ­meisten? Die Geschichte und die Entwicklung der Stadt. Die Altstadt, die Festung Mark und der Elbauenpark, vor allem im Sommer. Mit Xerxes bin ich am liebsten am Herrenkrug.

Welche Attribute schreiben Sie dem typischen Magdeburger zu? Stur. (lacht) Trotzdem freundlich und hilfsbereit. Januar 2019

Vista.Schon? Karin Meyer, Jahrgang 1965, ist Hundeführerin bei der Polizei Sachsen-­ Anhalt. Die gebürtige Magdeburgerin arbeitete als Elektronikfacharbeiterin, bevor sie sich für eine Laufbahn bei der Polizei entschied. Nach zwölf Jahren bei der Schutzpolizei ließ sie sich in die Hundestaffel versetzen, startete dort mit Polizeihund Lex und bestreitet derzeit ihren Berufsalltag mit Hund Xerxes. Ihre Heimat beschreibt Sie mit den Worten schön, geschichtsträchtig und kulturell vielfältig. Abseits der Arbeit ist Karin Meyer glühende FCM-­ Anhängerin.


Karin Meyer

»Wer öffentlich kegelt, muss wissen, dass gezählt wird.« Wer hatʼs gesagt?

Lösung: Das ganze Interview gibt es auf www.inter-vista.de

Wulf Gallert, Ausgabe 4 227


Alexander Kusserow

»Jeder kann hier so ein bisschen seine ­Leidenschaft vertiefen.« Ein Mann mit wahrem Gründergeist. Nach der eigenen Werbeagentur rief er 2012 Getränkefeinkost ins Leben. Verkauft werden ausschließlich exklusive Limonaden und Biere. An einem kalten Vormittag im Januar sprechen wir im hinteren Bereich seines Ladens über Szene­getränke, was einen Feinschmecker ausmacht und wie er durch dunkle Biere auf den Geschmack von Espresso gekommen ist. Interview und Fotos: Maximilian B. Lesch



Alexander Kusserow

In welchem Land hast Du das beste Getränk Deines Lebens gekostet? Ich habe schon sehr viele, sehr gute Getränke genossen. Das Erlebnis, das mir am meisten in Erinnerung geblieben ist, war in Chioggia bei Venedig. Dort war ich auf einem Fischfest und an einem Stand wurde Prosecco vom Fass serviert, in Ein-Liter-Pitchern. Sensationell. Achtest Du sehr auf die lokalen Ge­ tränke, wenn Du auf Reisen bist? Auf jeden Fall, manchmal plane ich Reisen auch gleich in dieser Richtung. Ich besuchte einmal einen Kunden in Schweden, den ich selbst beliefert habe. Er hatte einen bis oben hin mit den schrägsten Limonaden vollgestopften Getränkeladen. Da gab es alles von Gurkenlimos bis hin zu amerikanischen Getränken,

wie Vanille-Limo. Meine nächste Tour plane ich nach Asien, wo ich mich dann mit jemandem treffen werde, der deutsche Biere importieren will. Es wird also immer genetzwerkt in der Getränkebranche.

Woher stammt Deine Leiden­ schaft für Limonade? Als Kind wurde bei uns daheim nur Wasser getrunken, manchmal Apfelschorle. Aber Cola oder Limonade waren nicht üblich. Als ich dann meine erste Coca-Cola probierte, war das seltsamerweise gar nicht so mein Ding. In Hamburg habe ich irgendwann eine Premium Cola probiert, wirklich etwas ausgefallenes. Dieses Getränk hat mich dann dazu inspiriert, mich immer weiter durchzuprobieren. So hat das Ganze angefangen. Wenn man dann einmal in die Tiefen eingetaucht ist, dann

»Dieser Mehrwegkreislauf ist schon ganz schön gaga.«

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Alexander Kusserow

ist es verdammt schwer, da wieder rauszukommen.

2016 bist Du bei Deiner Werbe­ agentur hummelt und kusserow ausgestiegen, um Dich nur noch auf Getränkefeinkost zu konzen­ trieren. Fehlt Dir manchmal die Arbeit aus der Agentur? Nicht wirklich. Eigentlich war das eine sehr gute Vorbereitung auf das, was ich jetzt mache. Als kleiner selbstständiger Unternehmer kannst du deine Kreativität soweit du es möchtest, ausbauen. Wenn ich etwas im Laden ändern will, mache ich das einfach. Außerdem war ich nie jemand, der gerne vor dem Computer sitzt. Auch damals in der Agentur verstand ich mich mehr auf den Kundenkontakt. Die Webseite für Getränkefeinkost hat übrigens meine ehemalige Agentur programmiert. Wir sind schließlich Nachbarn und sehen uns auch immer noch häufig.

Was wolltest Du als Kind später mal werden? Ich wollte schon immer meine eigene Firma haben. Allerdings wollte ich auch Archäologe werden. Mich hat das schon immer fasziniert. Mein Vater hat einmal einen Bausatz für einen Metalldetektor gekauft, mit dem sind wir dann manchmal losgezogen, um Schätze zu finden. Natürlich wurde das nie was. Dieses Suchen und Finden fasziniert mich bis heute. Irgendwann wurde mir

allerdings klar, dass es schwierig werden würde, als Archäologe einen längerfristigen Job zu finden. Und nun bin ich hier. Die Zeit, mit einem Metalldetektor herumzulaufen, habe ich zwar heute nicht mehr, aber ich sammle alte Flaschen. Manchmal fahre ich ein oder zwei Stunden irgendwohin und suche an historischen Orten nach ausgefallenen Flaschen. Im Getränkefeinkost Stadtfeld haben wir eine riesige Vitrine hingestellt, in der all diese Sachen, die ich so im Laufe der Zeit gefunden habe, ausgestellt werden.

Ihr habt seit 2014 auch eine Filia­ le in Berlin. Dass in Szene-Vierteln wie Friedrichshain ein Laden wie dieser gut ankommt, kann man sich denken – aber wieso funktio­ niert es auch hier in Magdeburg? Die Leute denken immer, dass so etwas in Berlin perfekt reinpasst. Aber ich finde, es funktioniert viel besser in kleineren Städten. In den Großstädten gibt es bereits ein breites Angebot an einfach allem. Während man dort also irgendeine Nische suchen muss, kann man hier in Magdeburg noch richtig auffallen. Was schätzt Du an Magdeburg, was Berlin nicht hat? Das Nachbarschaftliche. Berlin ist wirklich cool, wenn du jung bist und was erleben willst, aber hier gibt es mehr Struktur, Ordnung und eben die Nachbarschaft. Außerdem die kurzen Wege: du steigst aufs Rad

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Alexander Kusserow

und bist in maximal 20 Minuten bei einem Freund. Ich mag einfach die Stadt, die Architektur, die Elbe und dass es hier nicht so überlaufen ist. Ich merke auch, dass immer mehr Leute nach dem Studium hierbleiben oder sogar wieder zurück­ kehren. Das gefällt mir sehr gut. Was fehlt Magdeburg noch? Ein besseres Angebot an Restaurants. Es wird zwar langsam besser, aber für jemanden, der gerne mal etwas ganz Aufgefallenes probiert, gibt es hier noch nicht viel zu holen. Es fehlt auch an Bars, die hoch­ wertige Getränke anbieten. Da ist auf jeden Fall noch Luft nach oben.

Zurück zu Deiner Leidenschaft. Was ist Dein Lieblingsgetränk? Alkoholisch? Nicht-alkoholisch? Das kommt immer auf die Situation an, privat trinke ich leidenschaftlich gerne Schaumwein. Wenn es alkohol­frei sein soll, dann Premium Cola, einfach weil es eine großartige Cola ist und weil ich das Konzept und die Werte, die hinter diesem Produkt stehen vertreten kann. Warum gibt es bei Dir zum ­Beispiel keine Bionade? Zu ›main­ stream‹? Grundsätzlich haben wir hier nichts gegen mainstreamige Getränke, wenn sie kultig sind und der Hinter­ grund stimmt. Zum Beispiel ClubMate – der Megatrend. Das ist meiner Meinung nach absolut kein guter

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Mate-Tee, aber weil es ein ­Produkt einer kleinen Privatbrauerei ist, führe ich es weiterhin. Bionade hat sich an einen Großkonzern verkauft, das ist für mich dann ein Grund, dieses Produkt abzulehnen. Ich ­ möchte lieber kleinere Hersteller unterstützen, sonst ist der Laden voll mit Zeug, das alles in der Hand von Dr. Oetker, Nestlé oder Unilever ist.

Was glaubst Du, was nach dem Mate-Tee das nächste hippe ­Getränk werden wird? Matcha entwickelt sich extrem in diese Richtung. Und auch Eistees sind wieder im Kommen, vor allem weniger süße, die wirklich auf Tee basieren. Insgesamt geht der Trend in Richtung weniger Zucker und weniger süß, das ist spürbar. Wie sieht der Prozess bei Deiner Auswahl von Getränken aus, die ins Sortiment kommen sollen? Das ist sehr unterschiedlich. Manchmal kommen die Hersteller auf uns zu und manchmal gehen wir auf die Suche. Die Frage ist immer, ob es auch logistisch machbar ist, manche Sachen zu beschaffen, die wir gerne hier hätten. Was sind die Kriterien dafür, dass etwas bei Dir im Regal stehen darf? Kriterium Nummer eins ist, dass es schmeckt. Rein optisch muss es auch ansprechend sein. Die Erfahrung


ÂťIch habe nie das gefĂźhl, dass das hier wirklich arbeit ist, weil ich die ganze Zeit Dinge tue, die ich sowieso gerne mache.ÂŤ


Alexander Kusserow

sagt, dass ein Produkt nur dann funktioniert. Wichtig ist uns auch, dass wir die Zutatenliste vertreten können. Ein weiterer Punkt ist die Herkunft, die bestmöglich konzern­ unabhängig ist. Und natürlich müssen es Mehrwegflaschen sein, in denen die Getränke verkauft werden. Wir achten sehr darauf, dass es möglichst die gleichen Flaschenformen sind, die verwendet werden. Denn es ist oft so, dass viele verschiedene Formen später bei der Sortierung dann einfach weggeworfen werden, obwohl es Mehrwegflaschen sind. Einfach wegen der Bequemlichkeit. Dieser Mehrwegkreislauf ist schon ganz schön gaga.

mit ein. Ansonsten ist da aber schon zum Großteil Getränkefeinkost drin.

Findet man bei Dir zu Hause im Kühlschrank auch mal ganz ­klassisch eine Fanta? Eher selten, aber manchmal schleicht sich dann doch mal eine stinknormale Cola in der Glasflasche

2017 gaben die deutschen Haus­ halte 20,4 Milliarden Euro für alko­ holfreie Getränke aus. Das sind circa 40 Euro im Monat. Hebst Du Dich von diesem Durchschnitt ab? Schwer zu sagen. Zum Glück bekomme ich viele Proben und auch

Dein Laden heißt Getränke­ feinkost. Würdest Du Dich als Feinschmecker bezeichnen? Was ist schon ein Feinschmecker? Ich würde das nicht so definieren, dass man nur gute oder besondere Sachen isst und trinkt. Ein Feinschmecker ist jemand, der gerne Dinge probiert und seinen Gaumen schult und weiterbildet. So gesehen: ja, ich würde mich so bezeichnen. Aber ich habe auch gegen konven­ tionelle Produkte nichts.

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Wie wurdest Du zum Bierkenner? Früher mochte ich überhaupt kein Bier, es war mir einfach zu bitter. Vor circa sechs Jahren habe ich dann im Laden ein abgelaufenes Pale Ale gesehen und, weil ich es nicht wegkippen wollte, eben ausgetrunken. Ich war überrascht, wie fruchtig und interessant es schmeckte und das war dann mein Schlüsselerlebnis. Danach habe ich angefangen, mich durchzuprobieren. Im Winter trinke ich gern dunkle Biere, die haben wundervolle Röstaromen. Witzigerweise habe ich auch nie Kaffee gemocht, bin allerdings über diese dunklen aromatischen Biere auf den Geschmack von Espresso gekommen, den trinke ich jetzt regelmäßig. Es ist wirklich kurios, wie man seine Vorlieben und Leidenschaften weiterentwickelt und wohin einen das führen kann. Mein nächster Plan ist, den Diplom-Biersommelier zu machen. Dann kann ich den Leuten, die hier in den Laden kommen, noch mehr erzählen und sie an gute Biere heranführen.


Alexander Kusserow

Unterscheidet sich das Sortiment an den unterschiedlichen Stand­ orten Eurer Filialen oder fahrt Ihr überall die gleiche Schiene? Manche Produkte sind in all unseren Läden zu finden. Wir legen aber einen großen Schwerpunkt Ein Getränkehandel lebt auch auf lokale Biere, da lassen wir den von der Zusammenarbeit mit der Partnern vor Ort freie Hand bei Gastro­ nomie. Beliefert Ihr Bars der Auswahl. Es ist uns ja auch ein Anliegen, lokale Kleinunternehmer oder Restaurants in Magdeburg? Ja, wir beliefern einige Gastros hier zu unterstützen, die vielleicht gar in Magdeburg. Ungefähr 50 Prozent nicht die Mengen erreichen, um in unseres Umsatzes machen wir mit Lebensmittelläden vorhanden zu der Gastronomie. Wir beliefern sein. Das sind Unternehmen, die Bars, Clubs und auch viele Büros, zu uns passen. Hier in Magdeburg vor allem in der IT-Branche. Und haben wir wahnsinnig viele lokale da gibt‘s dann wirklich alles, vom Frischbiere, die wir verkaufen, wie Techno-Club über kleine Kaffee-­ zum Beispiel Brewckau, Elbbrauerei Bars, Start-Ups, Tattoo-Studios bis Frohse, Wasserburg Gommern und demnächst auch die Braukatze aus hin zu Firmen. Buckau. Diese Biere sind alle handHast Du einen Geheimtipp für werklich hergestellt, vom Kron­unsere Leser, wo man in Magde­ korken bis hin zum Etikett ist alles von Hand gemacht. Jeder kann hier burg mal gewesen sein sollte? Es gibt da einen schönen Laden, der so ein bisschen seine Leidenschaft sich Getränkefeinkost nennt. (lacht) vertiefen. Wenn einer gut mit Wein Es gibt wirklich viele schöne Orte oder mit Gin kann, dann darf er sich hier in der Stadt. Der Aussichtsturm da voll ausleben. In Berlin beispielsim Stadtpark neben der Stadthalle ist weise verkaufen wir viel an interwertige wirklich zu empfehlen und auf jeden nationalem Bier, wie hoch­ Fall das Dach vom Hundertwasser- Craft Biere. Alle paar Monate fahre haus. Wenn man mal die Gelegen­heit ich mal durch Deutschland und hat, sich das anzuschauen, sollte schaue mir alle Filialen an, aber ich man sie nutzen. Außerdem bin ein gebe ungern etwas Genaues vor. großer Fan der Hubbrücke, die Wir sind da wirklich kein normales ist wirklich beeindruckend. Eine Franchise­system, das stelle ich mir kulinarische Empfehlung wäre das selbst so unglaublich langweilig vor. Crops, die machen tolles veganes Essen und das Flying Fish. einiges geschenkt. Würde ich für alles zahlen, was ich so trinke, dann wäre das echt teuer. (lacht) Ich vermute, dass alle meine Kollegen über diesem Durchschnitt liegen und ich sicher auch.

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»Würde ich für alles zahlen, was ich so trinke, dann wäre das echt teuer.« Was ist die neueste Anschaffung bei Euch? Ganz neu ist von der Wasserburg Gommern das Rauchbier und ansonsten bekommen wir auch fast monatlich saisonale Biere von Brewckau hier aus dem Stadtteil Buckau.

Was ist Dein größtes Laster? Es fällt mir sehr schwer, Verantwortung abzugeben. Ich gebe mir Mühe, mich zu bessern. Und Dank unserer hervorragenden Mitarbeiter wird es auch immer leichter, das zu machen. Bist Du manchmal in Gefahr, Dich zu übernehmen? Ich weiß nicht. Ich bin es gewohnt, viel zu arbeiten. Das hat mich nie gestört, zumindest nicht, was den Laden hier betrifft. Ich kann sechs Tage die Woche, zehn Stunden hier

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sein und natürlich bin ich dann manchmal ausgepowert, aber es tut mir nicht weh. Ich habe nie das Gefühl, dass das hier wirklich Arbeit ist, weil ich die ganze Zeit Dinge tue, die ich sowieso gerne mache. Wenn ich mal einen Tag nicht hier bin, dann fehlt mir die Arbeit sofort.

Du hast mit ein paar anderen den ersten Platz bei einer Video­ exposition der OvGU gewonnen. Hast Du eine Leidenschaft für Film? Ich schaue gerne Filme, aber ich bin kein Filmemacher. Der Film ist im Rahmen unseres Studiums entstanden. Ich ärgere mich heute noch darüber, dass ich es nie abgeschlossen habe. Das war damals nicht möglich, weil unsere Firma so schnell gewachsen ist. Ich habe mich dann für


Alexander Kusserow

eines von beidem entschieden. Den Kurzfilm zu machen war auf jeden Fall spannend, die Zusammenarbeit hat toll funktioniert. Allerdings war es wirklich stressig, darum würde ich das auch nicht nochmal machen. Aber ich bin froh, dass ich dabei war. Ich habe schon immer versucht, alle Möglichkeiten, die sich bieten, auszuschöpfen und Dinge, die ich mag, miteinander zu verbinden. Menschen und Orte verbinden, alle Möglichkeiten miteinander zu verknüpfen. 2014 hast Du Dich auf Facebook an alle Magdeburger gewandt und nach einem Spot für frisches

Fladenbrot gefragt. Hast Du ihn mittlerweile gefunden? Ja, ich hatte ihn gefunden, bis er seinen Fladenbrotlieferanten gewechselt hat. Ärgerlich! Und somit stehe ich jetzt wieder da und habe dasselbe Problem wie vor fünf Jahren. In Münster habe ich einen Laden mit fantastischem Fladenbrot entdeckt. Bei Bedarf lasse ich mir dann von dort etwas mitbringen, wenn jemand gerade wieder auf Tour ist. Aber ich werde nicht aufgeben, bis ich mein Lieblings-Fladenbrot auch hier gefunden habe. Januar 2019

Vista.Schon? Alexander Kusserow wurde 1981 in Braunschweig geboren und wuchs auf dem Land auf. Mit seinen Freunden erkundete er schon früh den Osten und als seine Schwester dann fürs Studium nach Magdeburg zog, folgte er ihr in die Elbestadt. Nach zwei Ausbildungen gründete er neben der eigenen Werbeagentur das Geschäft Getränkefeinkost, das sich auf den Verkauf von ausgewählten Limos und Craft Bier konzentriert. 2016 zog er sich aus der Agentur zurück, um sich nur noch auf seinen Laden zu konzentrieren. Getränkefeinkost ist heute ein Franchise-Unternehmen mit Standorten in Berlin, Leipzig, Münster, Magdeburg-Buckau und Magdeburg-Stadtfeld.


Birgit Münster-Rendel

Birgit Münster-Rendel

»Manchmal fahren wir einfach weiter.« Nicht nur als Geschäftsführerin der Magdeburger Verkehrsbetriebe bewegt sie viel. Auch privat schaut sie, dass alles gut läuft. Im Interview spricht die Managerin über Familienrituale, Frauenquoten und die Idee des kostenlosen Nahverkehrs. Außerdem erfahren wir einiges über Gefäßgrößen, Ticketkontrolleure und, dass Freiwasserschwimmen vor Island ganz schön anstrengend sein kann. Interview: Rosalie Henkel und Marvin Michitsch Fotos: Juliane Schulze und Lara-Sophie Pohling

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Birgit MĂźnster-Rendel

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»Ich hatte Hier nicht das Gefühl von Stillstand.«

Hand aufs Herz, sind Sie schon einmal schwarzgefahren? Ja. (lacht) Da war ich aber noch nicht bei der MVB.

Wann haben Sie zuletzt den öffent­lichen Personennahverkehr der Magdeburger Ver­kehrsbetriebe ge­nutzt? Vor zehn Minuten. Müssen Sie ihre Fahrkarte be­ zahlen? Wenn ich dienstlich unterwegs bin, nicht. Dienstfahrten sind für unsere

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Mitarbeiter frei. Nutzt man diese Freifahrt auch privat, muss man das versteuern und das mache ich. Sie sind BWL-Absolventin der ­O tto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Was bewog Sie zu dieser Studienwahl? Ich bin Neunziger-Abiturjahrgang. Mit der politischen Wende wurde alles anders. Es winkte die große Freiheit. Manche Studienrichtung, die man sich vorher ausgeguckt hatte, gab es gar nicht mehr. BWL zu studieren stand in keiner Weise


Birgit Münster-Rendel

in meinem Fokus, ganz im Gegenteil. Ich schwankte zwischen Journalismus und Sportwissenschaften. In der DDR habe ich die Aufnahme­prüfung für Journalismus nicht bestanden, weil ich die einschlägigen Fragen nicht korrekt beantwortet hatte, zum Beispiel die der Partei­zugehörigkeit. Für Sportwissenschaften schaffte ich die Aufnahmeprüfung auf Grund meiner Unsportlichkeit nicht. (lacht) Insofern bin ich dann erst einmal für zwei Jahre in verschiedenen Studienrichtungen unterwegs gewesen. Irgendwann kristallisierte sich heraus, dass es doch BWL sein könnte, was mich mehr interessiert. Während des Studiums wurde immer deutlicher, dass es die richtige Studienrichtung ist. Mit den Vertiefungsrichtungen Unter­nehmensorganisation und Personal­ management hat sich das auch im Nachhinein bestätigt. Welchen Beruf hätten Sie als Sportwissenschaftlerin aus­ üben wollen? Ich wäre gern Trainerin gewesen. Mein BWL-Studium spielte sich wenig an der Uni, sondern mehr in der Schwimmhalle ab oder im Büro meines Arbeitgebers, einer Magdeburger Baufirma. Ich habe schon als Jugendliche Zeit damit verbracht, Schwimmtrainerin zu sein. Ich hatte auch die höchste Ausbildung, die man im Breitensportbereich erreichen kann. Dann wollte ich das auch beruflich machen. Zur Aufnahme­

prüfung musste man aber eben nicht nur schwimmen können, und schon gar nicht nur theoretisch. (lacht)

Was war Birgit Münster-Rendel für eine Studentin? Wenn mich etwas interessiert hat, war ich sehr fleißig. Ich habe immer den Praxisbezug gesucht und mich gefragt, wie ich das später umsetzen kann. Das Studentenleben habe ich sehr genossen. Ich erinnere mich immer an das Dreieck zwischen Uni, Schwimmhalle und Büro. Außerdem war ich auf jedem Keimzeit-Konzert, das in dieser Zeit lief.

Was macht Magdeburg als Studien­standort für Sie aus? Zunächst ist es meine Heimatstadt und durch meine Freunde und Familie bin ich eng mit der Stadt verbunden. Ich lebe sehr gerne hier. Es war auch von der Fachrichtung her die richtige Wahl. Die Wirtschafts­ fakultät war damals auf Bundes­ ebene im vorderen Bereich. Das, was ich an der Uni lernte, hat mich auf jeden Fall für den Job gerüstet. Wenn ich das heute aus der Ferne betrachte, bin ich begeistert, was man so alles studieren kann. Es ist meiner Meinung nach die Universität der kurzen Wege, es liegt alles dicht beieinander und es gibt ein super Semesterticket. (schmunzelt) In einem Kurzinterview mit Ihrer ehemaligen Universität haben Sie

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Birgit Münster-Rendel

sich als ›Hierbleiberin‹ beschrie­ ben. Was meinen Sie damit? Aus meiner Abiklasse sind in Magdeburg noch genau drei, alle anderen verließen die Stadt. Das lag an diesem Mischmasch aus Perspektiv­ losigkeit und der großen weiten Welt, die mit einem Mal offen stand. Lange Zeit habe ich es als Makel in meiner Biografie gesehen, dass ich nicht nach New York oder in eine andere Stadt gegangen bin. Aber je mehr ich darüber nachdachte, wie gut meine Ausbildung war und wie behütet ich studieren konnte, desto klarer wurde mir, dass es die richtige Entscheidung war. Deshalb kann ich heute sagen,

dass ich in Magdeburg meinen Traumjob machen darf und stolz bin, eine ›Hierbleiberin‹ zu sein.

Hatten Sie nie den Gedanken, Magdeburg zu verlassen? Doch natürlich. Ich wollte unbedingt nach Berlin, wie meine große Schwester. 1990 ging ich an die Humboldt-Uni und fand heraus, dass man sich zwar für Journalistik einschreiben konnte, aber keine Lehrveranstaltungen stattfanden. Also beendete ich das. Außerdem war die ›Leere‹ dieser großen Stadt einfach nicht das Richtige für mich.

»Mir fällt es oft gar nicht auf, dass ich schon wieder alleine als Frau in einer Herrenrunde sitze.«

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Birgit Münster-Rendel

Wie schafft es die Stadt Magde­ burg, Sie festzuhalten? Hauptsächlich ist es die Familie und das Umfeld, in dem ich mich wohlfühle. Ich befand mich immer in Situationen, in denen ich etwas bewegen konnte. Ich hatte hier nicht das Gefühl von Stillstand. Ich geriet in eine Zeit, in der sich ganz viel bewegte und ich konnte Teil davon sein und sie sogar mitgestalten. Ich hatte nicht den Anlass wegzugehen, weil es hier so viel zu tun gab.

Nach dem Studium waren Sie in einer Immobilienagentur in Magdeburg tätig. Was war das für ein Job? Das war bei TLG Immobilien, meine zweitlängste berufliche Station nach der MVB. Ich war damals für Ver­ mietung zuständig. Das war auch ein Job, bei dem ich in Magdeburg Dinge schaffen konnte, die bleiben. Wir hatten von der Geschäftsführung in Berlin relativ freie Hand. Wir mussten nachweisen, dass die betriebswirtschaftlichen Kennziffern erfüllt wurden. Mein Team und noch ein weiteres haben zum Beispiel drei seniorengerechte Wohnanlagen er­ richtet. Diese wurden anschließend voll vermietet, ein Erfolg also. Das sind nach wie vor erfolgreiche Projekte, die man sehen und an­ fassen kann. Der Tätigkeitsbereich ­weitete sich sogar bis nach Thüringen und Sachsen aus. Ich kam mir vor wie ein Handelsreisender, jeden

Tag woanders. Mit einem kleinen Kind war mir das zu viel.

Seit 2012 sind Sie Geschäfts­ führerin der MVB. Welche Eigen­ schaften sollte man in einer solchen Führungsposition mit­ bringen? Das Wichtigste ist, ruhig zu bleiben. Zu 95 Prozent gelingt mir das auch. In einem Verkehrsunternehmen gibt es eigentlich zwei Handlungsstränge. Der normale Betrieb, damit draußen alle Straßenbahnen und Busse fahren. Dann planen wir für die Zukunft und bauen sehr groß und umfangreich, Projekte im dreistelligen Millionenbereich. Daneben gibt es immer noch kurzfristige Einflüsse, wie 2013 das Hochwasser, aber auch schwer­wiegende Verkehrsunfälle, die uns aus dem Tagesablauf ­reißen. Insofern ist das Wichtigste an dieser Stelle: Ruhe bewahren und strategisch denken. Wir reden hier im Hause bereits über Dinge, die gehen weit über mein erwar­ tetes Berufsleben hinaus. Wichtig ist auch, vertrauen zu können.

Nur circa ein Viertel aller Be­ schäftigten auf einer Führungs­ ebene sind Frauen. Wie stehen Sie zu dieser Unterrepräsentation? Haben es Männer leichter? Mir fällt es oft gar nicht auf, dass ich schon wieder alleine als Frau in einer Herrenrunde sitze. In unserer Branche ist das üblich. Es gibt deutschlandweit nicht viele Frauen,

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Birgit Münster-Rendel

die Schienenverkehrsunternehmen führen und ich kenne eigentlich alle persönlich. Bei der MVB haben wir in der obersten Führungsebene im Moment wieder verhältnismäßig wenige Frauen, das war mal anders. Dennoch bin ich kein Unterstützer der Frauenquote. Ich glaube, dass man entweder Führungskraft sein kann oder man kann es eben nicht, das ist auch okay. Dieses Zwanghafte gefällt mir nicht. Ist es Ihnen in Ihrer Karriere jemals schwergefallen, sich zu behaupten? Ist das überhaupt das Ansinnen? Ich sehe eher, dass es um die Sache geht. Aber natürlich merke ich, dass manchmal Diskussionen nur deshalb laufen, weil ich eine Frau bin. Dafür haben wir bei der MVB bestimmte Taktiken entwickelt, wie wir damit umgehen. Die verrate ich natürlich nicht. (lacht)

Innerhalb von vier Jahren stiegen Sie zur Geschäftsführerin auf, wie haben Sie das gemacht? Als ich Assistentin wurde, war ich an einer ganz wichtigen Stelle angekommen. Das war mir nie so bewusst. So konnte ich sehen, wie das Unternehmen funktioniert. Während der vier Jahre hatte ich nicht das Ziel, Geschäftsführerin zu werden. Es war wie so oft in meiner Karriere: Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. So ging es mit meiner Interimsgeschäftsführung los. Danach kam

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das ordnungsgemäße Bewerbungsverfahren, bei dem ich mich als eine unter vielen durchsetzte. Eigentlich war immer klar, dass ich gerne bei der MVB arbeiten würde. Schon als Kind interessierten mich Straßenbahnen und Busse. Ich bin auch schon immer ÖPNV-Nutzerin.

»Ich kam mir vor wie ein Handelsreisender, jeden Tag woanders.«

Wie flexibel ist Ihr Arbeitsalltag und wann endet Ihr persönlicher Fahrplan? Eigentlich endet er nie. Es kann passieren, dass ich nachts angerufen werde und dann bin ich da, egal, ob ich vorher auf einer Party war oder nicht. Allgemein habe ich einen sehr geregelten Arbeitsalltag, der allerdings bis zu 12 Stunden lang sein kann. Die MVB tickt sehr früh, dementsprechend bin ich auch früh da. Das passt aber gut zu meinem persönlichen Lebensumfeld.

Bleibt bei so viel Arbeit noch ­ausreichend Zeit für die Familie? An den Wochenenden versuchen wir es. Meine Tochter und mein Mann sind auch gut beschäftigt und haben ebenfalls sehr lange Tage. Natürlich bin ich nicht die Mutter, die nach­ mittags, wenn das Kind aus der


Birgit Münster-Rendel

Schule kommt, zu Hause mit einem Stück Kuchen und einer Tasse Kakao wartet. Wir kommen zur gleichen Zeit nach Hause und verbringen dann gemeinsam Zeit.

Was bringt Sie nach einem aus­ gedehnten Arbeitstag am besten zur Ruhe? Als Familie achten wir darauf, das Abendbrot zusammen einzu­ nehmen. Mein Mann kocht gerne, insofern bin ich da entlastet. Dass wir drei gemeinsam am Tisch sitzen, ist für uns wichtig. Ich lese recht viel, mehr als ich zum Beispiel fernsehe. Vor ein paar Jahren habe ich mir noch ein zweites Hobby zugelegt, ich häkle. Das wirkt beruhigend. Welches Buch liegt momentan auf Ihrem Nachttisch? Aktuell die Trilogie von Carmen Korn. Die Geschichte spielt in Hamburg beginnend um 1900 und endet zur Jahrtausendwende. Es geht um vier Frauen und deren unter­schiedliche Entwicklungen durch die beiden Weltkriege. Das ist Ge­ schichtsunterricht noch einmal anschaulich erzählt. Wie schwer ist es heutzutage, kompetentes Personal bzw. Aus­ zubildende zu finden? Sieben Ausbildungsberufe gibt̕s bei uns. Insgesamt müssen wir uns mehr anstrengen, um die Stellen zu besetzen. Manchmal gelingt das erst im letzten Moment. Wir bilden

so aus, dass wir die Leute auch übernehmen können. In diesem Jahr haben wir 21 Straßenbahnfahrer neu eingestellt und selbst ausge­bildet. Das ist auch etwas für Quereinsteiger. Die reine Fahrschule dauert zwölf Wochen. Straßenbahnfahrer kann man mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung und einem Führerschein werden. Busfahrer zu finden ist schon schwieriger, weil wir die nicht selbst ausbilden. Wir müssen am Markt grasen und sehen, dass wir nicht anderen Busunternehmen die Mitarbeiter wegnehmen. Wir pflegen eine gute Zusammenarbeit mit der Arbeitsagentur. Kaufleute finden wir noch ganz gut, aber Ingenieure sind schwer zu bekommen. Wie wird man eigentlich Ticket­ kontrolleur? Dafür gibt es einen IHK-Lehrgang. Anschließend werden sie von uns geschult, wenn wir Tarife ändern oder neue Fahrkarten einführen. Wie hoch ist der jährliche Wirt­ schaftsschaden durch Schwarz­ fahrer? Schwer zu sagen, weil doch ein großer Anteil an Graufahrern dabei ist. Wir gehen branchenweit von ungefähr drei Prozent Schwarz­ fahrern aus, aber die wenigsten davon werden tatsächlich festgestellt. Ungefähr 41 Millionen Fahrten w ­ erden jährlich mit uns unternommen,

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ungefähr drei Prozent davon finden ohne Fahrschein statt. Wünschen Sie sich aus diesem Grund mehr Kontrolleure? Eigentlich schon. Das kostet jedoch Geld und muss im Verhältnis mit den damit erwirtschafteten Einnahmen stehen. Die Kunst ist, zu variieren, dass der Fahrgast nicht berechnen kann, auf welcher ­ Strecke gerade kontrolliert wird. Einige Verkehrs­ unternehmen machen auch schon Abgangskontrollen. In Paris bin ich

selbst einmal hinein­ geraten. Man kann den Bahnhof nicht verlassen, ohne einen Fahrausweis gezeigt zu haben. Aber das geht bei uns nicht, weil wir auf der Straße unterwegs sind.

Gibt es in Magdeburg eine ›No-Go­­ Station‹, an der Sie ungern aus­ steigen würden? Natürlich nicht. Meiner Meinung nach ist man im ÖPNV sicher. Wir haben wenig Vorfälle. Wenn sich jemand unsicher fühlt oder bedroht

»Es war wie so oft in meiner Karriere: Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort.«

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wird, kann er sich immer beim Fahrer melden, die haben einen direkten Draht zur Leitstelle.

Die MVB beschreibt sich als mo­ dernes Unternehmen mit ­großer Tradition. Was macht es so modern? Die Herausforderung der neuen Zeit. Wir haben die Chance, in Magde­ burg unser Straßenbahnnetz um 25 ­Prozent zu erweitern. Wir werden auch demnächst neue Straßenbahnen beschaffen, wir sind gefordert, uns permanent mit neuer Technik auseinander zu setzen und sie auch unseren Kunden zu bieten. Im Verhältnis zu anderen sind wir ja ein relativ kleines Verkehrsunternehmen, aber unser Auftritt im Social-Media-Bereich wird gut angenommen. Auf Facebook haben wir 11.000 Follower, mehr als die Leipziger Verkehrsbetriebe, die doppelt so groß sind. Mit einem gewissen Wortwitz treffen wir den Nerv der Fahrgäste. Zur Zeit fahren wir häufig mit einer recht alten Straßenbahn zur 8 Uhr–Vorlesung, woran liegt das? Unser Fahrzeugpark ist extrem knapp bemessen. Wenn Fahrzeuge länger ausfallen, dann fehlen sie uns. Anfang des Jahres hatten wir beispielsweise einen schweren Unfall mit einem 30-Tonner und einer Straßenbahn. Dieses Fahrzeug befindet sich nach wie vor in Reparatur. Ein Auto verschrottet man, die Straßenbahn kann man aber nicht

einfach zum Schrottplatz bringen, weil man sie nicht einfach neu kaufen kann. Also wird sie wieder aufgebaut. Einen ähnlich schweren Unfall hatten wir im Breiten Weg, das Fahrzeug fiel drei Monate aus. Die fehlen in der Berechnung und dann müssen wir auch auf die Alten zurückgreifen.

Welche Probleme bringt die Viel­ zahl an Baustellen in Magdeburg für die MVB mit sich? Wir sind teilweise auch Auslöser dieser Baustellen. Wir dürfen unser Streckennetz erweitern und das baut man natürlich nicht auf der grünen Wiese, sondern da, wo Menschen wohnen. Wir sind also ein Teil des Problems, aber auch andere Baustellen haben gravierende Auswirkungen. Pro Jahr hat man normalerweise drei bis vier Fahrpläne und die werden angepasst, sobald es eine Baustelle gibt. Wir hatten jedoch in der MVB allein im Jahr 2017 200 Fahrplanänderungen, das merkt der Fahrgast mitunter gar nicht. Neuer Fahrplan heißt immer neuer Dienstplan, Beantragung bei der zuständigen Behörde, Mitbestimmung des Betriebsrates, kurz: ein extremer Aufwand. Dann gibt es Bauvorhaben, die uns zwingen weite Umwege zu fahren. Der ›Tunnel‹ zum Beispiel bedeutet für uns das Fehlen einer wichtigen Ost-West-Achse und wir müssen mit allen Bahnen, die in den Westen der Stadt fahren, zehn Minuten Umweg in Kauf nehmen.

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Haben Sie Zukunftsprojekte, was innovative Beförderungstechni­ ken angeht? Wie stellen Sie sich den ÖPNV der Zukunft vor? Leider hat noch keiner das Beamen erfunden. Und selbst wenn – wie funktioniert das, wenn 130 Leute gleichzeitig vom Alten Markt zum Herrenkrug fahren wollen, wie beame ich die? Da braucht man ja auch Fahrkarten. Volocopter sind schon erfunden, das ist eine Drohne zum Einsteigen. Das wird aber auch nicht die Beförderungsart der Zukunft sein. Unsere Branche wird als Verkehrsunternehmen im Umweltverbund immer der Mittelpunkt sein, weil wir mit unseren Gefäßgrößen [Größe der Fahrzeuge, Anm. d. Red.] die meisten Leute von A nach B befördern können. Der ÖPNV der Zukunft geht aber noch weiter. Als modernes Verkehrs­ unternehmen muss man sich mit dem ›first mile, last mile‹-Problem beschäftigen, also mit der Frage, wie kommt der Fahrgast zur Halte­ stelle und was macht er danach. In Hamburg gibt es mit Switchh Carsharing-Systeme. Wir hatten in Magdeburg schon mal so ein An­ gebot, das wurde allerdings kaum in Anspruch genommen. Vielleicht wäre Bikesharing ein Thema oder kleine Elektroroller. Wie steht es um die E-Mobilität? Rein technisch gesehen, wird das im Bussektor noch eine Weile dauern. Wir fahren elektromobil mit

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der Straßenbahn, im Busbereich schauen wir uns an, wie sich das entwickelt. Wir beschäftigen uns auch mit Technologien des Ticket­ erwerbs. Handytickets haben wir ja schon. Das bargeldlose Bezahlen mit der NFC-Technologie kann für uns ein ganz großer Weg sein, vieles zu vereinfachen und die Bargeldmenge zu reduzieren.

Was ist Ihre Meinung zum Thema kostenloser Personennahverkehr? Eigentlich könnte es mir egal sein. (lacht) Am Ende muss es ja irgendwer bezahlen. Der kostenlose ÖPNV ist nur die halbe Wahrheit. Die Frage ist, woher das Geld kommt. In Tallinn wird es beispielsweise über eine Zwangsabgabe organisiert. Das kann ein Weg sein, man muss sich dabei aber immer fragen, für wen das F ­ ahren kostenfrei ist. Für jeden Magde­ burger und für Gäste nicht? Dann brauche ich trotzdem die gesamte Ver­ triebsstruktur, Fahrkarten­automaten, Fahrkarten­ häuschen, Kontrolleure und alles Mögliche. Oder sagt man, dass es deutschland- oder europaweit zählt? Das ist eine politische Frage, die kann ich nicht beantworten. Ich sage aber, es muss bezahlt werden, es kostet Geld, was wir da draußen tun. Wie sieht es mit autofreien Innen­ städten aus? Bei einem guten ÖPNV-Angebot wie in Magdeburg, wäre das natürlich eine Möglichkeit. Wir beschäftigen


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uns auch in Zusammenarbeit mit den Potsdamer Verkehrsbetrieben mit der Frage, was passieren würde, wenn sich die Anzahl der Fahrgäste plötzlich verdoppelt. Aus technischer Betrachtung fragt man sich, ob die Fahrzeuge ausreichen. Und wie verdoppelt sich die Anzahl der Fahrgäste? Die Rahmenbedingungen müssten sich ändern. Ob das eine autofreie Innenstadt ist, weiß ich nicht. Auf jeden Fall muss der ÖPNV attraktiver als Autofahren sein. Das ist nicht nur durch Preissenkung möglich. In Oslo kostet es beispielsweise etwa 35 Euro, sein Auto einen ganzen Tag zu parken, eine ÖPNV-Tageskarte kostet etwa sieben Euro. Da fängt man an zu überlegen.

Welchen Beitrag kann die MVB zum Projekt Kulturhauptstadt Magdeburg 2025 leisten? Wir entwickeln gerade Ideen. Man kann eine Art Kombiticket-Lösung für Gäste anbieten. Die Essener Kollegen hatten 2010 eine Straßenbahnlinie als Kulturhauptstadtlinie. Die Strecke gab es sowieso, aber an ihr lagen sehr viele Attraktionen.

Wo waren Sie in diesem Jahr im Urlaub und wohin geht die nächste Reise? Zuletzt waren wir in Kroatien. Eine spontane Entscheidung. Wir waren mit einem kleinen Wohnmobil unterwegs, damit ist man völlig frei, solange man einen gültigen Reisepass hat. (lacht) Teilweise ist das

wetterabhängig. Manchmal fahren wir einfach weiter. Die nächste Reise ist allerdings nicht so spontan. Über die Weihnachtsfeiertage wollen wir zum Skifahren nach Südtirol. Sie sind engagierte Blutspende­ rin. Wie wichtig sind Ihnen der­ artige gesellschaftliche Beiträge? Was ich an ehrenamtlichen Beiträgen leisten kann, versuche ich umzusetzen. Dazu gehört auch Blutspenden. Meiner Gesundheit tut es auch gut. Eine Win-Win-Situation. 2013 waren Sie Teilnehmerin am Harz-Gebirgslauf. Wie halten Sie sich heute fit? Ich laufe immer noch. Jahrelang bin ich geschwommen, dann habe ich eine Zeit lang Triathlon gemacht. Ein- bis zweimal im Jahr absolviere ich auch ein Freiwasserschwimmen. In diesem Jahr habe ich mich an einem Marathon probiert, das muss ich aber nicht nochmal haben. (lacht)

Wo finden diese Freiwasser­ schwimmen statt? Beim Sundschwimmen in Stralsund bin ich jedes Jahr. Dort schwimmt man von der Insel Rügen nach Stralsund. 2017 habe ich auch mal beim Freiwasserschwimmen in Island mitgemacht. Dort gingen wir mit einem Neoprenanzug ins Wasser, doch meiner hatte leider keine Ärmel. Bei acht Grad Wasser­ temperatur. (lacht) Eigentlich

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wollte ich 1.500 Meter schwimmen, aber der Veranstalter meinte, da gibt es nur zwei Starterinnen und das waren wir Deutschen. Es gibt bestimmt einen Grund, warum die anderen das nicht tun, also dachten wir, machen wir das lieber auch nicht. Wir wollten nicht die einzigen sein, die erfrieren. Im Nachhinein hätten wir es geschafft, die Temperaturen sind nicht so schlimm, wenn man einmal im Wasser ist.

Wo laufen Sie in Magdeburg am liebsten? Im Stadtpark. Oder irgendwo die Elbe entlang. Wir probieren aber auch immer mal was anderes aus. Ich kenne in Ottersleben oder nach Niederndodeleben raus gute Laufstrecken. Dezember 2018

Vista.Schon? Birgit Münster-Rendel wurde 1971 in Magdeburg geboren. Mit zwei älteren Geschwistern wuchs sie in der Landeshauptstadt auf. Sie studierte BWL mit den Vertiefungsrichtungen Unternehmensorganisation, Personalmanagement und Operations Research. Seit 2012 ist die Diplom-Kauffrau Geschäftsführerin der Magdeburger Verkehrsbetriebe. Bestellt ist sie bis 2023. Einige Kunstwerke aus der Galerie ihrer Schwester schmücken ihr Büro im Hauptgebäude der MVB. Magdeburg beschreibt sie mit folgenden Worten: Zuhause, Grün und manchmal etwas verschlafen.


Hochschule MagdeburgͲStendal Breitscheidstraße 2 Haus 11 39114 Magdeburg Tel: 0391 886Ͳ4431 Fax: 0391 886Ͳ4531 EͲMail: stura@hsͲmagdeburg.de

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Matthias Nawroth

Matthias Nawroth

»Konkurrenz gibt es grundsätzlich nicht, nur Mitbewerber.« Seit einigen Jahren fühlt sich das Urgestein der Hotellerie als ›Magdeburger im Herzen‹. Im Gespräch mit Inter.Vista erzählt der 44-Jährige, wie er 9/11 in Washington D. C. erlebte, was er mit dem Ratskeller vorhat und warum es ihn überhaupt nicht interessiert, wenn Hotelbetten zerwühlt sind. Interview und Fotos: Swantje Langwisch

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»Mit über 325 Jahren gehören unsere Räumlichkeiten zu den ­ä ltesten Restaurants Deutschlands.« Du warst beruflich schon viel unter­ wegs. Wo hat es Dir am ­besten gefallen? Schwer zu sagen. Meine Heimat war immer dort, wo ich gerade war. Aber es gab immer einen Punkt, an dem es mich wieder in die Welt hinauszog und ich Veränderung brauchte. Beruflich hat es mir überall gefallen, privat fühle ich mich in Magdeburg zum ersten Mal angekommen.

Was zog Dich nach Magdeburg, obwohl Du in größeren Städten auch erfolgreich warst? Ich war für den Maritim-Konzern in Berlin als Wirtschaftsdirektor tätig und bekam irgendwann einen Anruf vom Hauptgeschäftsführer, der sagte, er brauche mich in Magdeburg. Ich dachte erstmal: Okay, Magdeburg. Ich bin dann ein

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Wochenende vorab hergefahren und sah, dass die Stadt relativ cool ist.

Was hat Magdeburg anderen Städten voraus? Dynamik. Der Bereich um den Alten Markt hat noch viel Potenzial und man merkt immer stärker, dass sich hier etwas tut. Es macht Spaß, diese Entwicklung mitzubekommen. Wir sind wahrscheinlich die einzige Landes­ hauptstadt, in deren Innenstadt es noch Entwicklungsräume gibt, weil Magdeburg noch nicht komplett entwickelt und modernisiert ist. Mittlerweile bin ich knapp sieben Jahre hier und merke, dass sich immer noch etwas verändern kann. Nicht ohne Grund wurden wir vor drei Jahren Stadtmarke des ­ Jahres und setzten uns im Finale gegen Bern durch. Zur gleichen Zeit sind wir von der Wirtschaftswoche zur ›dyna-


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mischsten Großstadt Deutschlands‹ gewählt worden. Ich finde auch das Thema Netzwerk in Magdeburg großartig. Es hat genau die richtige Größe, um ein Netzwerk aufzubauen, ist aber auch groß genug, um Ecken zu finden, wo man nicht gesehen wird, wenn man es nicht will. Die Mischung macht es einfach. Warum bist Du weg vom Maritim Hotel? Ich war zwanzig Jahre im Hotel­ management und es war immer mein Ziel, das lebenslang zu machen und im Direktionsposten zu bleiben. Dann hörte ich von der Historie des Ratskellers und davon, dass er lange geschlossen war. Wir haben ja das große ›Ratskeller-Sterben‹ in vielen Städten Deutschlands. Ich hörte, dass es für die Einbauten (Sitzbänke, Trennwände, sonstiges Mobiliar, Anm. d. Red.) einen Interessenten aus der Ukraine gab. Ich wusste, dass bei einem Verkauf des Inventars, der Ratskeller nie wieder als Restaurant entstehen würde. Aber eine Stadt wie Magdeburg braucht so etwas einfach. Also entschied ich, die ganze Hotelkarriere hinzuwerfen und den Ratskeller zu übernehmen.

Wie hat die Übernahme funk­tio­ niert? Es war ein bisschen holprig. Zunächst kaufte ich die Einbauten und das übrige Inventar aus Privatvermögen, um es zu sichern. Danach fing ich an, mit der Stadt und den

Banken über die Finanzierung und Rahmenbedingungen für die Pacht zu sprechen. Zum Glück wurden wir uns einig. Dann renovierten wir hier umfangreich und konnten so den Ratskeller wiedereröffnen. Eine Bedingung an die Stadt war, dass ich auf dem Martin-Luther-Platz, wo zur Weihnachtszeit der Mittelaltermarkt stattfindet, einen Biergarten betreiben darf. Das war nicht so einfach, aber am Ende kriegten wir alle Behörden unter einen Deckel und bekamen die Genehmigung. Das war zwingend notwendig, weil die Leute im Sommer ungern im Keller sitzen. Jeder will die Sonnenstrahlen erleben und nicht in einem fensterlosen Restaurant sitzen. Das war wahrscheinlich auch das Problem des Vorbesitzers. Warum ist es eine Bereicherung für Magdeburg, dass Du den ­Ratskeller übernommen hast? Ich weiß nicht, ob es eine Bereicherung ist, dass ich ihn übernahm. Aber es ist toll für die Stadt, dass der Ratskeller weiterhin besteht und es im Sommer auf der Freifläche unter den wunderschönen alten Linden den Ratsgarten gibt. Zudem ist der Ratskeller ein geschichtsträchtiger Ort. Mit über 325 Jahren gehören unsere Räumlichkeiten zu den ältesten Restaurants Deutschlands. Vorher war der Ratskeller unter anderem das Stadtgefängnis. So etwas sollte erhalten werden. Das Gewölbe selbst ist fast 800 Jahre alt.

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Isst Du selbst im Ratskeller? Ja, täglich. Aber nicht im Gastraum. Ich esse mit meinen Mitarbeitern. Auch für uns bereiten die Köche, in der Regel die Azubis, immer etwas Frisches zu. Was gab es heute? Noch nichts, weil wir immer nachmittags essen. Aber es wird selbstgemachte Pizza sein.

Was ist Dein Lieblingsgericht auf der Karte? Keines, alles ist lecker. Wir haben ein Gericht auf der Karte, das heißt »Omas Rinderroulade«. Es wird tatsächlich nach dem Rezept meiner Großmutter zubereitet und natürlich esse ich das sehr gerne. Ansonsten mag ich alle Gerichte, sonst stünden sie nicht auf der Karte. Was ist Dein Lieblingsplatz in Magdeburg? Meine Wohnung.

Was war bisher Dein berufliches Highlight? Es waren alles Highlights, sonst hätte ich es pro Station nicht mehrere Jahre ausgehalten. Aber die Zeit in den USA hat mich zumindest in der beruf­ lichen Entwicklung stark geprägt. Deine Managementausbildung hast Du in den USA absolviert. Wie war das? Am Anfang war es anstrengend und ein schwieriges Pflaster. Ich war

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ja noch relativ jung. Mit 23 Jahren war ich das erste Mal Wirtschaftsdirektor in einem Fünf-Sterne-Hotel in den USA und musste mich echt durchbeißen. Aber dafür ist so eine Managementausbildung auch da. Ich lernte einen anderen Führungsstil. Ich musste erst realisieren, dass nicht alles, was ich aus Deutschland kannte, unbedingt der richtige Weg ist. Vor allem dieses ›mit dem Kopf durch die Wand‹. Das dauerte eine Weile. Sonst empfand ich die Zeit als sehr angenehm.

Bewog Dich der 11. ­September wieder nach Deutschland zu gehen? Nein, das kam zwangsläufig so. Das Arbeitsvisum in den USA ist arbeitgebergebunden. Es ist sehr teuer, es auf einen anderen Arbeitgeber umzuschreiben. Und durch den 11. September verlor ich meinen Job. Ich hätte vier Wochen Zeit gehabt, das Visum umzuschreiben. Normalerweise zahlen die Arbeitgeber das, weil man dort sehr um europäische Mitarbeiter bemüht ist, besonders in der Hotelbranche. Aber nach dem 11. September war die Hotellerie am Boden, die Chancen sehr gering, noch etwas zu finden und ich entschloss mich dazu, zurückzugehen. Wie hast Du diesen Tag erlebt? Arbeitend in einem Hotel in Washington D. C. Wir hatten ein Restaurant mit integrierter SportsBar. Vormittags liefen dort immer


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Nachrichten auf den Flat Screens und ich sah live, wie die beiden Flugzeuge nacheinander in die Twin Towers flogen. Parallel lief eigentlich ein Abteilungsleiter-Meeting, das ich dadurch etwas versäumte. Und dann gab es noch die Anschläge vor Ort. Eine Autobombe vor dem Capitol Building, eine Bomben­ drohung im Hotel, das Flugzeug, das in das Penta­gon flog. Meine Wohnung war dort in der Nähe und die U-Bahn-Station, an der ich hätte aussteigen müssen, lag direkt darunter. Natürlich gesperrt. Es war alles sehr chaotisch, Hubschrauber über uns, gepanzerte Fahrzeuge in

der Stadt. Das war keine Erfahrung, die ich noch mal machen möchte.

Hat Dir Dein USA-Aufenthalt mehr Türen öffnen können, als eine hiesige Ausbildung es gekonnt ­ hätte? Definitiv. Eine Managementaus­ bildung in dem Sinne, wie man sie in den USA machen kann, gibt es hier meines Wissens nach gar nicht. Das Ausbildungssystem dort ist ein komplett anderes. Hier haben wir ein duales System in jeder Ausbildung (Berufsschule und Praxis, Anm. d. Red.) und dort ist die Ausbildung ausschließlich praxisorientiert. Und

»Ich musste erst realisieren, dass nicht alles, was ich aus Deutschland kannte, unbedingt der richtige Weg ist.«

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natürlich öffnet einem ein beruf­ licher Auslandsaufenthalt immer ein paar Türen, die sonst verschlossen bleiben würden.

Wie siehst Du die Menschen in Hotellerie und Gastronomie? Macht man sich überhaupt ein Bild von den Gästen? Ganz selten. Ich glaube, worüber sich Gäste Gedanken machen, darüber denken die Mitarbeiter überhaupt nicht nach, weil es Alltag ist. Wenn jemand im Restaurant die Tischdecke total bekleckert, ist ihm das unangenehm, die Kellner interessiert das nicht die Bohne. Darüber wird nicht mal gesprochen. Oder wenn das Bett im Hotel­ zimmer total zerwühlt ist, das interessiert das Housekeeping gar nicht. Das ist tägliches Business. Aber natürlich lernt man durch den permanenten Umgang mit Menschen die verschiedenen Typen kennen und auch, sie zu lesen. Da gibt es auch immer Extreme, dann wird im Team halt auch mal drüber gesprochen. Es geht darum, sich auf die verschiedenen Typen einzustellen. Mit den Mit­ arbeitern und ­Kollegen ist das nicht anders. Sowohl auf Kollegenbasis, als auch als Vor­gesetzter, kann man nicht jeden gleich behandeln. Der eine braucht eine etwas stärkere Ansage, der andere bricht dadurch zusammen. Mit dem muss man etwas sanfter umgehen, das lernt man mit der Zeit.

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Und das hast Du drauf? Da musst du meine Mitarbeiter ­fragen. (lacht)

Empfindest Du Magdeburg eher als Kulturnest oder Kulturhaupt­ stadt? Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg zur Kulturhauptstadt 2025. Wir müssen noch ein bisschen was tun. Ein Kulturnest sind wir auf keinen Fall. Wir sind noch irgendwo dazwischen, aber haben ja noch ein paar Tage Zeit. Bist Du selbst ein umgänglicher Hotelgast oder suchst Du nach Fehlern, da Du selbst aus der Branche kommst? Nach Fehlern suche ich nicht mehr, das habe ich lange getan. Sogar meine Eltern sagten vor ein paar Jahren, es mache keinen Spaß mehr, mit mir Essen zu gehen. Heute ist das nicht mehr so. Mir fallen natürlich Fehler auf und ich bin dann auch sehr explizit, was das angeht. Ich spreche schon direkt an, wenn mir Dinge nicht gefallen.

Wie wird es für Dich in Magde­ burg weitergehen? Frau finden, Haus bauen, Kinder zeugen, Baum pflanzen. (lacht) Nein. Natürlich weiter am Ratskeller und am Ratsgarten arbeiten, das Geschäft und Catering ausbauen. Es gibt einige Projekte, die es über die nächsten Jahre zu realisieren gilt, die aber alle noch nicht spruchreif sind. Die


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Belebung des Alten Markts ist gerade in der Entwicklung als eine Art Gegenstück zum Hasselbachplatz. Die Leute können hier flanieren und überall etwas erleben: Essen, ein Eis, später einen Cocktail trinken.

Wie siehst Du die Konkurrenz in der Branche? Konkurrenz gibt es grundsätzlich nicht, nur Mitbewerber. Grundsätzlich unterstützen wir uns als Gastronomen in Magdeburg gegenseitig. Gerade jetzt, auch mit der Tunnelbaustelle, müssen wir gemeinsam zusehen, dass wir genug Gäste in die Altstadt bekommen.

Woher kam das ursprüngliche Interesse für die Hotellerie? Es war einfach da. Ich habe in der Schulzeit schon immer gesagt, ich werde entweder Hotelfachmann oder Bankkaufmann.

Was für ein Schüler warst Du? Schwierig und sehr rebellisch, für meine Lehrer und Lehrerinnen mit Sicherheit nicht der einfachste Kandi­dat. Ich war leistungs­technisch ein sehr guter Schüler, das ärgerte sie obendrein. Februar 2019 ­

Vista.Schon? Der Geschäftsführer des Magdeburger Ratskellers wurde 1974 in Wittenberg geboren, wo er die ersten 19 Jahre seines Lebens verbrachte. Nach Abitur und Zivildienst machte er eine Ausbildung zum Hotelfachmann im ›­schönen Münsterland‹ und eine weitere in Bochum zum Restaurantfachmann. Anschließend ging er für ein Praktikum in die USA, wo er insgesamt vier­ einhalb Jahre arbeitete, unter anderem in New York, Washington D. C. und Williamsburg, Virginia. Danach eröffnete er als Gastronomischer Leiter das Kempinski Hotel auf Rügen mit, war als Wirtschaftsdirektor in Bad ­Saarow in einem Wellnesshotel tätig, danach beim Maritim Hotel in B ­ erlin. 2016 übernahm er den Magdeburger Ratskeller. Magdeburg beschreibt er als ­dynamisch, sich entwickelnd und er sieht noch Luft nach oben.


REDAKTION

NICO ESCHE

Lisa Marie Felgendreff

Niclas Fiegert

Katharina gebauer

kevin Gehring

Sandra Glossmann

Rosalie Henkel

Marvin Jakstadt

Swantje Langwisch

Simeon Laux

Maximilian benedikt Lesch

Marvin Michitsch

Lara-Sophie Pohling

Celine Rebling

Juliane Schulze

Julian SeemĂźller

Sophie Traub

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Jana Bierwirth

Dr. Uwe Breitenborn


Projekt- und Produktionsleitung Dr. Uwe Breitenborn

Koordination Jana Bierwirth, Lara-Sophie Pohling, Juliane Schulze

Autoren der Ausgabe Nico Esche, Lisa Marie Felgendreff, Niclas Fiegert, Katharina Gebauer, Kevin Gehring, Sandra Glossmann, Rosalie Henkel, Marvin Jakstadt, Swantje Langwisch, Simeon Laux, Maximilian Benedikt Lesch, Marvin Michitsch, Lara-Sophie Pohling, Celine Rebling, Juliane Schulze, Julian Seemüller, Sophie Traub Layout Jana Bierwirth

Satz Jana Bierwirth, Juliane Schulze

Lektorat Lisa Marie Felgendreff, Rosalie Henkel, Swantje Langwisch, Simeon Laux, Lara-Sophie Pohling, Celine Rebling, Sophie Traub

Korrektorat Katharina Gebauer, Sandra Glossmann, Swantje Langwisch, Lara-Sophie Pohling Bildbearbeitung Juliane Schulze

Redaktionsfotos Axel Fichtmüller, Marco Starkloff

Coverfoto Valerie Schmitt & Alexander Wassilenko Foto:Juliane Schulze

Online publiziert auf www.inter-vista.de und www.issuu.com Inter.Vista Nr. 7 | März 2019 Redaktionsschluss Februar 2019

Ein Projekt von Studierenden des BA Journalismus FB Soziale Arbeit, Gesundheit und Medien Hochschule Magdeburg-Stendal Breitscheidstraße 2, 39114 Magdeburg www.hs-magdeburg.de Druck Harzdruckerei, Wernigerode


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