ATLAS 07 deutsch

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Wo laufen Sie denn? HARALD MARTENSTEIN über Maulwürfe

und Päpste, Perfektionisten und Skeptiker

W

enn zwei Menschen gemein­ sam unterwegs sind, dann be­ sitzt in der Regel einer dieser beiden einen etwas besseren, der an­ dere einen etwas schlechteren Orientie­ rungssinn. Ich zum Beispiel bin als jun­ ger Mensch in jeder Zweierkonstellation immer davon ausgegangen, dass ich die Person mit dem schlechteren Orien­ tierungsvermögen bin. Ich bin dem oder der anderen einfach hinterhergelaufen. Der oder die wird schon wissen, wo es langgeht. Mit sechzehn trampte ich mit einem Freund quer durch Europa, unsere erste Station hieß Luzern. Wir wollten zu ­irgendeinem Konzertsaal in der Altstadt, liefen los, unterhielten uns angeregt, lie­ fen immer weiter, ziemlich lange, bis wir plötzlich am Ende einer Sackgasse stan­ den, um uns herum Garagen und Indus­ triegebäude. Da merkten wir, dass wir in dieser Hinsicht genau gleich tickten. Wir waren beide stillschweigend davon aus­ gegangen, dass der andere schon weiß, wo es langgeht. Wenn einer von uns eine zufällige Bewegung in eine Richtung machte, dann fasste der andere diese als Signal auf und bog beherzt in die ent­ sprechende Seitenstraße. Natürlich hat­ ten wir keine Ahnung, wo wir waren. Ein völlig anderes Problem stellen Menschen dar, die ihren Orientierungs­ sinn für unfehlbar halten. Wenige Jahre

nach dem Luzern-Desaster war ich mit einer Frau zusammen, die dachte, dass sie einen in dieser Hinsicht perfekten In­ stinkt besitze, wie eine Brieftaube. Wo auch immer wir hingingen oder hinfuh­ ren, sie wollte immer eine Abkürzung nehmen, nicht etwa den simplen Weg zum Ziel, den jeder blinde Maulwurf be­ nutzt. Wo die Abkürzung verlief, wusste sie einfach, dazu brauchte sie selbstver­ ständlich keine Karte. Oft endete der Weg in einer Sackgasse, fast nie kamen wir pünktlich an, aber davon hat sie sich niemals zu Selbstzweifeln verführen ­lassen. Einmal waren wir in meiner Hei­ matstadt Mainz, ich bin da aufgewach­ sen, sie war nur dieses eine Mal dort. Ein älteres Paar sprach uns am Rhein an und fragte nach dem Weg zum Bahnhof. Ich wollte ansetzen, aber sie legte die Hand auf meinen Arm, um mich zum Schweigen zu bringen, und schilderte den Weg. Er führte, meiner Schätzung nach, in die sumpfigen Rheinauen am Stadtrand. Da merkte ich, dass ich mich auf eine schwierige Beziehung einge­ lassen hatte. Neben den Menschen mit Handicap, blinden Maulwürfen, die null Peilung haben, den Perfektionisten, die immer den kürzesten Weg finden möchten, kos­ te es, was es wolle, und dem Typus des Papstes, der sich in Orientierungsfragen für unfehlbar hält, ein Papstamt, das

auch Frauen offensteht, gibt es noch den Skeptiker. Der Skeptiker überlässt in der Regel dem Partner die Routenführung, äußert aber während des Weges unun­ terbrochen Zweifel und Kritik. »Meinst du wirklich, dass wir hier abbiegen müs­ sen? Ich hab das ganz anders in Erinne­ rung.« Oder: »Wir hätten doch lieber die Landstraße nehmen sollen und nicht die Autobahn, dann wären wir längst da.« Der Skeptiker ist immer dagegen, scheut sich allerdings, ähnlich wie in der Politik gewisse Populisten, selbst Verantwor­ tung zu übernehmen. Ist man glücklich angekommen, sagt der Skeptiker: »Siehst du, ich hab’s ja gleich gesagt.« Hat man sich heillos ver­ irrt, sagt der Skeptiker den gleichen Satz. Bittet man aber den ständig kriti­ sierenden Skeptiker, doch besser gleich selbst das Steuer zu übernehmen, dann sagt dieser: »Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt, ich will doch nur helfen.« Im Laufe der Zeit habe ich mich vom Maul­ wurf zum Skeptiker hochgearbeitet.

Harald Martenstein ist Autor der Kolumne ­»Martenstein« im Z ­ EIT magazin und Redakteur beim Berliner Tages­ spiegel. ­Zuletzt ist von ihm ­erschienen Nettsein ist auch keine Lösung: Einfache Geschichten aus ­einem schwierigen Land.


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