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Verbindungen nach Osten: Thonet Stories Gebrüder Weiss fördert Designvermittlungsprojekt

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us Wiens Kaffeehäusern ist er nicht wegzudenken: der Wiener Kaffeehaussessel oder ThonetStuhl Nr. 14, heute als Modell 214 be­ kannt. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist er eines der meistverbreiteten und meist­ verkauften De­signobjekte, und vermut­ lich werden die meisten Europäer irgend­ wann einmal im Leben auf ihm Platz genommen haben. Selbst in der Kunst ist der Stuhl Nr. 14 zu finden: Auf dem bekanntesten Gemälde des georgischen Malers Pirosmani, Frau mit Bierkrug, ist der Wiener Kaffeehausse­ssel eindeu­ tig zu erkennen, es hängt in der georgi­ schen Staatsgalerie in Tiflis. Aber auf welchen Wegen gelangte er in das Bild? In Zusammenarbeit mit der Interna­ tional Design School an der Technischen Universität Tiflis IDS und mit Unter­ stützung von Gebrüder Weiss befasst sich das Kunst- und Designvermittlungs­ projekt THONET STORIES: Spurensuche einer ­Distribution – Dekonstruktion des Tho­net Nr. 14 der Universität für ange­ wandte Kunst Wien mit den kulturellen Ver­bindungen zwischen Österreich und Georgien. Für den ATLAS haben wir mit der Leiterin des Projektes, Tatia Skhirtladze, gesprochen. Kann man heute noch nachvollziehen, wie der Wiener Kaffeehaussessel im vorigen Jahrhundert nach G ­ eorgien gelangen konnte?

Ein Original des 214 ist leicht zu erkennen: An der Unterseite der Sitzfläche befindet sich das eingebrannte Firmen-Signet mit Jahreszahl der Herstellung. Seit 1960 hat das Möbelstück allerdings eine trapezförmige statt der ursprünglich runden Sitzfläche – ein Zuge­ständnis an den Komfort.

Damit befassen wir uns innerhalb des Projektes intensiv. Grob gesagt, führten damals zwei Wege in Richtung Geor­ gien, beide verliefen zunächst über die Donau bis ans Schwarze Meer. Der erste Weg führte weiter in Richtung des damaligen Russischen Reiches, etwa nach Odessa. Der zweite Weg verlief von der Donaumündung bis nach Kon­ stantinopel, dem heutigen Istanbul, und von dort aus nach Osten. Um den genauen Transportverlauf nachzuvoll­ ziehen, sind wir derzeit in Kontakt mit der Thonet Zentrale in Deutschland, und unsere Projektpartner in Georgien recherchieren ebenfalls. Die Ergebnisse der Nachforschungen werden wir Ende Oktober in Georgien präsentieren. Welchen Einfluss hatte die Wiener ­Monarchie in Südosteuropa? Der Einfluss der Wiener Monarchie war sehr groß, was sich nicht zuletzt an der Entwicklung von Kurorten in Georgien gut nachvollziehen lässt. Shovi beispiels­

weise wurde 1929 auf Initiative eines georgischen Arztes gegründet, der von 1905 bis 1910 an der Universität Wien Medizin studiert hatte und den Stil von dort in den Kaukasus impor­ tiert hat. Gibt es Bemühungen, diese Verbindungen wiederzubeleben? Das Projekt THONET STORIES: Spurensuche einer Distribution nimmt die ­Wiederaktivierung dieser ehemaligen Netzwerke vor. Wir betreiben das über Kunst und Design. Es gibt aber auch rege Kontakte zwischen österreichi­ schen und georgischen Winzern: In Österreich wird derzeit die Kultur der georgischen Quevri-Weine, das sind in Ton-Amphoren gegorene Weine, aus­ probiert und popularisiert. Wie sieht der Abschluss Ihres Projektes aus, was ist das Ziel? Geplant ist, dass die österreichischen Studierenden zwei Flussfahrten unter­ nehmen. Gerade bauen sie dafür ein schwimmfähiges Objekt aus recycelten Resten von Thonet-Sesseln. Die erste Flussfahrt findet auf der Donau statt, von Wien aus Richtung Osten als Sta­pel­ fahrt, in Form eines künstlerischen ­Re-Enactments der Distri­butions- und Transportwege. Ende Oktober wird zum gemeinsamen Abschluss des Pro­ jektes auf dem Fluss Mtkvari in Tiflis eine zweite Flussfahrt statt­finden. | MH


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