ATLAS 07 deutsch

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text:  Andreas Uebele

D

ie Maggi-Werbung am Bahnhof in Singen am Hohen­ twiel – ein großer Schriftzug auf einem Hausdach – sagt dem Reisenden, dass der Zug in wenigen Sekunden in Singen halten wird und er sich zum Aussteigen bereit ma­ chen muss. Fast hätte er den Halt verschlafen. Zwar kann er lesen, und auch die Durchsage der Bahn kam rechtzeitig, aber vielleicht hat er geträumt oder Musik gehört. Doch das visu­ elle Zeichen des Schriftzugs ist ein Signal. Es gehört nicht zum Orientierungssystem der Deutschen Bahn, aber der Zielbahn­ hof ist im Gedächtnis des Reisenden untrennbar mit der wür­ zigen Werbung verbunden. Ein schönes Beispiel, wie grafische Elemente Orte prägen, diesen ihre Identität verleihen und den Reisenden durch Raum und Zeit bei der Orientierung helfen. Beim Autofahren verhält es sich ähnlich: Passiert man die Grenze, fordern der Verkehr, die Route, die Mautstelle zur Gänze die Konzentration des Fahrers. Und doch stellt der Reisende fest, dass »etwas« anders aussieht. Die Verkehrsbe­ schilderung zeigt ein anderes Format, die Schrift ist eine ande­ re. Selbst wenn man keine typografischen Kenntnisse hat, fällt auf, dass sich das visuelle Bild des öffentlichen Raumes, die Gesamtheit aus Konstruktion, Farbe, Piktogramm, Pfeil und Schrift, deutlich verändert hat. Die unterschwellige Wahr­ nehmung des Grenzgängers erfasst, dass er nun nicht mehr in Deutschland, sondern in Frankreich ist. Die »typisch deut­ sche« DIN-Schrift weicht einer eleganten, schmal laufenden Versalschrift. Umgekehrt wird dem französischen Besucher in Deutschland der eigenwillige Charme der aus Geraden und Kreisen Maschinenbau-ähnlich konstruierten DIN-Schrift verdeutlichen, dass die deutsche Seele gerne französisch isst und trinkt, in der Konstruktion von Schrift, Technik und dem Reisegefährt aber kein Pardon kennt und einer soliden Bauart vor einer eleganten den Vorzug gibt. Mit den verschiedenen Typografien und der unterschied­ lichen Gestaltung von Verkehrsschildern ändert sich auch die Wahrnehmung von bestimmten Situationen. US-amerika­ nische Schilder kommunizieren direkt: »Don’t even think of parking here« ist eine sehr deutliche, klare, unmissver­ ständliche, aber auch persönliche und humorvolle Ansprache,

die sich von der amtlichen Verbots- und Gebotssprache in Deutschland oder Österreich unterscheidet. Der amerikani­ sche Hinweis mit dem verbal erhobenen Zeigefinger versucht sich in den Angesprochenen hineinzuversetzen, im Gegen­ satz zur distanzierten, straßenverkehrsordnenden Leier. Wem hört man wohl lieber zu: Dem Paragrafenreiter oder einem ­humor- und verständnisvollen unsichtbaren Dritten? V ie l falt und Einhe it  In Europa finden wir trotz natio­ nenübergreifender Vorgaben zu Verkehrszeichen viel Spiel­ raum bei der Umsetzung dieser Regeln. Die schönen Beispiele für unterschiedliche »Stop«-Schilder 1 zeigen, dass sich jede Nation eine individuelle Frei­heit in der Gestaltung vorbehält, oder besser: herausnimmt. Das Wort ist vorschriftsgemäß in Weiß auf rotem Grund ­gesetzt. Merkt doch kein Mensch, wenn wir da eine andere Schrift nehmen! Es ist der sympathi­ sche Ungehorsam gegenüber Normen und Regeln und der Versuch, eine nationale Identität zu behaupten. Selbst in den – nur für Fachleute sichtbaren – kleinen Details wie der Wahl der Schrift. Subversive Typografie! Besonders bei kleineren Ländern stellt man immer wieder fest, wie sehr Schrift und Identität miteinander verzahnt sind. Hier zeigt sich die Vielfalt Europas auf besonders schöne Wei­ se. Vielleicht ist es der Wille zur Abgrenzung von übermäch­ tigen Nachbarn und alles beherrschenden Sprachen? Luxem­ burg zeigt seine Sprache auf seinen Verkehrsschildern. Aber nicht nur das: Für Lëtzebuergesch gibt es eine eigene Schrift­ art; in Irland sogar für Gälisch einen eigenen Schnitt. In Island wurde die dort verwendete Schrift Transport Heavy um die Sonderzeichen Eth und Thorn erweitert. 2 E xport un d I mport von S c hriftkult ur ­ Die Länder haben sich in der Vergangenheit bei der Gestal­ tung von Beschilderungssystemen an Vorbildern orientiert: Griechenland (für Verkehrsschilder) und Italien (für Auto­ kennzeichen) haben die deutsche DIN-Schrift übernommen und verändert. In Italien etwa ist der angepasste Schnitt ge­ genüber dem Original etwas leichter, wahrscheinlich um das


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