ATLAS 07 deutsch

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die letzten weissen flecken 53

venezuela

Río Caroní

Orinoco guyana

Kukenán Tepui

kolumbien brasilien

Der Kukenán Tepui in Venezuela. Die Tepuis, fast 3.000 Meter ­hohe Tafelberge, sind vom ­Regenwald nahezu völlig isoliert, einerseits aufgrund ihrer Höhe und der sich daraus ergebenden klimatischen Unterschiede zum Regenwald, andererseits durch ihre unüberwindlichen Steilwände.

Orte locken. In seinem Atlas der unentdeckten Länder besucht der Autor die autonome Provinz Karakalpakistan am Aralsee, den Mikrostaat Akhzivland in Israel, die Südseeinsel Pitcairn und eine Geisterstadt in Ra’s al-Chaima, einem saudi-arabi­ schen Emirat. Es sind keine weißen Flecken im geografischen Sinn, aber sehr abgelegene Ausläufer unserer Zivilisation, die Gastmann auf unterhaltsame Art zugänglich macht. Weiße Flecken sind auch eine politische Frage. »Geowis­ sen ist Macht«, sagt Kartograf Manfred Buchroithner. Das war zu Zeiten von Kolumbus so, und es ist heute immer noch so – in Nordkorea ebenso wie in Russland, den USA und in Syrien. Vor dem Syrienkrieg sollte Buchroithner touristische Karten für das Assad-Regime erstellen. Alles wurde vermessen und digitalisiert, aber bis heute sind die Straßen auf Google Maps

»Weiße Flecken sind auch eine politische Frage. ›Geowissen ist Macht‹.«

teuerlichen Reisen, in der Hoffnung, damit Macht und Ruhm zu mehren. Im Jahr 1883 sprach Sir Clements Markham, briti­ scher Forscher und Präsident der Royal Geographical Society, zum ersten Mal von »blank of the maps«, was der schwedi­ sche Asienreisende Sven Hedin als »weiße Flecken« über­ setzte. Diese von der Weltkarte zu tilgen war das Ziel von For­ schern wie Alexander von Humboldt und Sven Hedin. Heute kann man sich mit der Computermaus an fast jeden beliebigen Punkt der Erde klicken, man kann am Bildschirm virtuell den Mount Everest besteigen (www.everest3d.de; pro­ ject360.mammut.ch), es gibt Dokumentationen über die Ant­ arktis in HD-Qualität. Im Netz scheint es, als sei die Welt zu einem Dorf geschrumpft. Wozu macht man sich überhaupt die Mühe, eine Expe­ dition zu einem namenlosen Sechstausender in Kirgisistan zu unternehmen? Für Dennis Gastmann sind es fremdartige Kulturen und bizarre Umgebungen, die ihn an völlig entlegene

nicht zu finden – weil in Syrien niemand daran Interesse hat. Auch bei Google Earth gibt es viele Stellen, die gefakt sind, wie früher in der DDR. Nicht nur aus militärischen Gründen, auch aus wirtschaftlichen: In Afrika existieren laut Buchroith­ ner Wasserprojekte, die auf keiner Karte auftauchen. Die Kartografen haben noch viel zu tun. Sie haben erst damit begonnen, fast senkrechte Felslandschaften im Hoch­ gebirge zu erfassen, samt Routen und exponierten Stellen. Forscher des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) haben in Zusammenarbeit mit der Firma 3D Reality Maps den Mount Everest mithilfe optischer Satellitendaten in einer maximalen Auflösung von einem halben Meter drei­ dimensional abgebildet. Wer dort in Not gerät, kann nun seine Position punktgenau an die Bergrettung melden, vorausge­ setzt, er hat eine Verbindung und kann die Finger noch bewe­ gen. Und ein geophysikalisches Vermessungsprojekt am ­Südpol ergab vor Kurzem, dass die Antarktis keine zusammen­ hängende Landmasse ist, sondern eher ein Schärensystem aus Inseln und Fjorden. Es wird noch einige Jahrzehnte dauern, bis wir wirklich alles über die Erdoberfläche wissen.

Titus Arnu, geboren 1966 in Laufenburg (Schweiz), studierte in München an der Deutschen Journalistenschule und schreibt für die Süddeutsche Zeitung, GEO, Natur und verschiedene Reise- und Outdoormagazine. 2016 unternimmt er eine Expedition in das Tsum Valley in Nepal, wo es noch weiße Flecken auf der Landkarte gibt.


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