HEUREKA 4/22

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REKA # 4

AUS DEM FALTER VERLAG

COLLAGE: FRAUKE KRÜGER-LEHN UND ELISABETH SPENGLER CASTILLO Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien, WZ 02Z033405 W, Österreichische Post AG, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien, laufende Nummer 2870/2022

Was macht noch den Unterschied? Stadt Land

Eine Million wohnt multilokal In Österreich geht ein neuer Trend zur „Multilokalität“: Wohnsitze zugleich in Stadt und Land Seite 12

Wohnbau in Österreich Ein Blick auf die letzten dreißig Jahre und Gründe, warum Wohnen jetzt so teuer ist Seite 18

Landwirtscha und Boden Wie Österreichs Bauernscha auf die Herausforderung Klimawandel reagiert – oder nicht Seite 16

H EU
2022
DAS WISSENSCHAFTSMAGAZIN

INSIDE FRIDAYS FOR FUTURE Benedikt Narodoslawsky

Insiderinfos zur politischen Dynamik der Bewegung und der Klimakatastrophe im Allgemeinen. Inklusive praktischer Tipps. 240 Seiten, € 24,90

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DEM INHALT

Das Geheimnis erfolgreicher Windenergieprojekte Seite 7

Projektentwicklern von Wind kraft droht ein Konfliktsieben kampf. Wie man ihn gewin nen kann, beschreibt eine neue Masterarbeit der TU Wien

Kopf im Bild Seite 4

Marcus Ossiander baut an der TU Graz ein Mikroskop zur präzisen Messung ultrakurzer chemischer Reaktionen

Der unausweichliche Baum Seite 8

Dem viel beschworenen „Retter unseres Klimas“ ist eine Aus stellung im Belvedere Wien gewidmet

Bauen mit 3-D-Drucker und Hanfplantagen Seite 14

Neue Formen des Bauens in Stadt und Land sollen zu nach haltigeren Ergebnissen führen Wohnraum oder Arbeitsraum? Seite 14

Ein architektursoziologisches Projekt zur Sanierung von Wiener Wohnhausanlagen

Eine Million Menschen lebt multilokal Seite 12

In Österreich liegen die größten Unterschiede zwischen Stadt und Land in der Mobilität

Der Avantgardist im Jenseits Seite 22

Dem Dichter Friedrich Hölderlin ist ein neues, vielfältiges Buch gewidmet

Der Landwirt und sein Boden Seite 16

Wie reagieren die Böden und wie die Landwirt*innen auf den Klimawandel?

Hoffnung

Sie kommt wie einst Thomas Sankara aus Afrika, genauer Burkina Faso („Land des aufrich tigen Menschen“, Sankaras Neu benennung von Obervolta, ehe er von seinem politischen Wegbe gleiter Blaise Compaoré ermordet wurde – 2022 dafür in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt). Sie heißt Diébédo Francis Kéré und ar beitet als Architekt in Deutschland. Als erster Afrikaner hat er den Pritzker-Preis gewonnen, eine Art Nobelpreis der Architektur.

Unter den bisherigen PritzkerPreisträger*innen finden sich ins gesamt fünf Frauen, was vielleicht erklärt, warum so viele der bekann testen Entwürfe ihrer Preisträger wie Penisverlängerungen aus Glas, Stahl und Beton aussehen.

Neubau in Stadt und Land Seite 18

Welche Maßnahmen können den Preisauftrieb im Wohnbau stoppen?

Nicht so Kérés Gebäude. Er möchte mit seinen Häusern Menschen glücklich machen, möglichst ohne die Umwelt zu belasten. So etwas hätte noch vor Kurzem in der Stararchitekturszene als Witz gegolten. Es wussten doch nur westliche Baukünstler (ohne *innen), wie Menschen zu woh nen und zu arbeiten haben – Glück kam wie Umweltschutz und Bäume, beides zentrale Motive für Kérés Architektur, so gut wie nicht vor.

Nun soll ein Afrikaner künfti ge Architekt*innen dazu inspirie ren, das besser zu machen, was ihre westlichen Vorbilder verbaut haben. Wir hoffen auf Afrika.

Das Wissenschaftsvertrauen (wieder) aufbauen

Wie kann man der Wissenschaft skeptisch gegenüberstehende Men schen erreichen? Dieser Frage wid met sich #TruSD22 – „Trust in Science and Democracy“ mit mehr als 400 Teilnehmer*innen aus der Bildungs-, Wissenschafts- und For schungscommunity. Am 22. Septem ber nahmen über 300 von ihnen an der ersten #TruSD22–Vernetzungs konferenz teil, zu der das Bundesmi nisterium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) in die Aula der Wissenschaften nach Wien geladen hatte. Die übrigen rund hundert hatten sich zumindest zeit weise online zugeschaltet.

Laut aktueller EurobarometerUmfrage 2021 können 53 Prozent der Menschen in Österreich we nig mit Wissenschaft anfangen. Wie lassen sich genau diese errei chen? Für die Impulsvortragende,

die Molekularbiologin Christine Marizzi, lohnt sich ein Blick in die USA oder nach Portugal. Man müs se den Nutzen von Wissenschaft im Alltag deutlich machen, betonte die Direktorin des New Yorker Science Centers BioBus. „Science is every where“, laute einer ihrer Leitsprüche in ihrer täglichen Arbeit mit Jugend lichen. Für Peter Nagele, den Leiter der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin an der Universität Chicago hat die verbreitete Wissen schaftsskepsis in Österreich mit feh lender Anerkennung zu tun. „Fast jeder in Österreich kennt die öster reichischen Skistars, nicht aber die Nobelpreisträger.“

Es gibt auch Good-Practice-Beispie le gelungener Wissenschafts- und Demokratievermittlung in Öster reich. Zum Beispiel das Lehr-Lern

labor der Montanuniversität Leoben, 2019 vom BMBWF mit dem IMST Award („Innovationen Machen Schulen Top!“) ausgezeichnet. Da bei führen Schüler*innen eigenstän dig Laborversuche an der Montan uni durch. Bei „Open Mind – De mokratie leben lernen“ der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diö zese Linz kommen Studierende und Hochschullehrende in Schulklas sen und setzen gemeinsam mit den Schüler*innen vor Ort demokrati sche Mitbestimmungsprozesse um.

Ein Fazit von #TruSD22: Es braucht mehr Wissenschaftler*innen, die als Botschafter*innen in die Schulen und zugleich mehr Schu len, die in die Hochschulen und For schungseinrichtungen kommen. Au ßerdem muss Wissenschafts- und Demokratievermittlung einen höhe ren Stellenwert im Studium und in

der Forschung einnehmen. Und wie in Portugal muss es auch hierzulan de eine umfassende Wissenschaftsund Demokratievermittlungsstra tegie geben, bei der alle wichtigen Stakeholder einbezogen werden.

Das BMBWF arbeitet nun daran. „Gute Wissenschafts- und Demokratievermittlung braucht Kommunikation auf Augenhöhe.“ Davon ist jedenfalls Helmut Jung wirth, der Leiter der sogenannten 7. Fakultät des Zentrums für Gesell schaft, Wissen und Kommunikation der Universität Graz, überzeugt. Als fixes Ensemblemitglied der „Science Busters“ muss er es wissen. „Alles, was wir bei den Science Busters ma chen, ist einstudiert und auswendig gelernt und funktioniert nur, weil uns mit Martin Puntigam ein Profi durch die Show führt“, betonte er in seinem Abschlussvortrag.

EDITORIAL SABINE HOFFMANN COLLAGEN: FRAUKE KRÜGER-LEHN UND ELISABETH SPENGLER CASTILLO CHRISTIAN ZILLNER
INTRODUKTION : HEUREKA 4/22 FALTER 39/22 3 :
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AUS

Attosekunden–physik

Eine Attosekunde, das Trilliards tel einer Sekunde, „verhält sich zu einer Sekunde wie eine Sekun de zum Alter des Universums“, sagt Marcus Ossiander. „Für das Design der nächsten Generation von Solarzellen oder Prozesso ren müssen wir Prozesse, die auf derart kurzen Längen- und Zeit skalen ablaufen, verstehen.“ Der Münchner hat in Harvard (USA) zur Metaoptik geforscht und wird nun an der TU Graz ein Mikro skop zur präzisen Messung ul trakurzer chemischer Reaktionen bauen – mit 1,2 Millionen Euro aus einem START-Preis vom Wissenschaftsfonds FWF. Mit herkömmlichen Linsen lässt sich das zur Beobachtung kleinster elektronischer Bewe gungen nötige extrem kurzwelli ge ultraviolette Licht nicht bün deln. Ossiander wird darum Na nostrukturen nutzen, wie man sie in Virtual-Reality-Brillen einsetzt. „Metaoptiken erlauben es uns, Linsen und Prismen zu schrump fen. Wenn sie nur noch einen halben Mikrometer dünn sind, können sie kein Licht mehr ab sorbieren, das eröffnet einen ganz neuen spektralen Bereich für Mikroskope.“

Im März hat der Vorarlber ger im Rahmen des Dokto ratskollegs „Trust in Robots“ promoviert, jetzt forscht er als Postdoc weiter in der „Vi sion for Robotics“-Gruppe daran, Robotern das Sehen beizubringen. „Etwas so Alltägliches wie ein unaufgeräumter Schreibtisch kann für einen Roboter eine komplexe Angelegenheit sein“, sagt der Informatiker. „Wie soll er im Durcheinander einzelne Gegenstände erkennen?“ Bauer setzt an der Tatsache an, dass die Welt physikalischen Gesetzmäßigkeiten folgt. „Eine Kaffeetasse zum Beispiel steht eher auf ihrem Boden, als dass sie auf ihrem Rand balanciert.“ Er entwickelt Me thoden, die die Wahrnehmung eines Roboters genauer machen und dessen Interaktionen er folgreicher. „Ein Assistenzroboter braucht solche Fähigkeiten, um das Richtige zu bringen.“

Matthias Hirschmanner, 32, Institut für Automatisierungsund Regelungstechnik Auch der Oberösterreicher forscht in der „Vision for Robotics“-Gruppe daran, wie Menschen Robotern neue In formationen vermitteln kön nen. Nach dem Bachelor in Elektro- und Infor mationstechnik und dem Master in Energie- und Automatisierungstechnik steht jetzt seine Disser tation im Doktoratskolleg „Trust in Robots“ im Fokus. „Ich finde das Interdisziplinäre an der Ro botik spannend, hier kommen nicht nur Mathe matik, Physik und Informatik zusammen, son dern auch Soziologie und Psychologie“, sagt er. „Roboter agieren nicht in einem Vakuum, son dern in der unmittelbaren Umgebung von Men schen. Man kann sie aber nicht für alle Aktivitä ten vorprogrammieren.“ Darum müssten sie von den Benutzer*innen lernen. „Etwa wenn diese vorzeigen, wie man den Geschirrspüler einräumt.“

Helena Frijns, 31, Institut für Managementwissenschaften

„Unsere Theorien beeinflus sen, wie wir die Interaktion mit Robotern gestalten“, sagt die Niederländerin, die bil dende Kunst, Mathematik und Medientechnologie studiert hat. Jetzt be schäftigt sie sich am Doktoratskolleg „Trust in Robots“ mit benutzer*innenfreundlichen Pro grammiermöglichkeiten von für soziale Zwe cke gedachten Maschinen. „Hier ist kritisches Reflektieren durchaus angebracht“, sagt sie. „Da Technologien Teil der Gesellschaft sind, halte ich es für wichtig, sich auch mit den Machtver hältnissen auseinanderzusetzen, die durch deren Nutzung eingeführt oder verstärkt werden.“ Die Entwicklung von Robotern zwinge uns, über die Interaktion mit ihnen sehr detailliert nachzu denken. „Dabei wird deutlich, wie komplex die menschliche Kommunikation tatsächlich ist.“

: KOPF IM BILD Dominik Bauer, 30, Institut für Automatisie rungs- und Regelungstechnik
4 FALTER 39/22 HEUREKA 4/22 : PERSÖNLICHKEITEN
:
USCHI
Die Roboter sind da, wie gehen wir am besten mit ihnen um? Das beschäftigt diese jungen Forschenden an der TU Wien aus unterschiedlichen Blickwinkeln FOTOS: PRIVAT

MARTIN HAIDINGER

: HORT DER WISSENSCHAFT

Energiesparen Red Flag Act

Zur Eisenherstellung aus Erzen verwendet man heute größtenteils kohlenstoffbasierte Reduktionsmit tel wie Koks oder Kohlenmonoxid und zunehmend auch Wasserstoff. Letzterer soll aus Elektrolyseuren kommen, die Strom nutzen, um Wasser zu zerlegen.

Die ambitionierten Dekarboni sierungspläne der EU, die Wasser stoffstahl gern als „grün“ darstellen, sind jedoch ein Mammutprojekt. Einige vereinfachende Annahmen wie hochqualitative Erze verwen den, dreißig Prozent des Stahls aus Schrott statt aus Erzen (also Recyc ling) herstellen und ein Überschuss von rund vierzig Prozent Wasser stoff ermöglichen eine überwälti gende Veranschaulichung. Das zu hinterfragende Prinzip: Die Nut zung von Hochöfen verursacht für 6,1 Millionen Tonnen österreichi schen Roheisens rund 8,5 Millio nen Tonnen CO2, Wasserstoff rein chemisch keines. Heureka?

Der mit der Wasserstoffpro duktion assoziierte CO2 Abdruck hängt von der Herkunft des elektri schen Stroms und des Wasserstoffs selbst ab. Bei Annahme von ei nem CO2 Ausstoß von etwa 200 bis 300 Gramm CO2 pro Kilowattstun de Energie („Grid Faktor“), 75 kg Wasserstoff pro Tonne Eisen und 55 kWh Strom pro Kilo Wasserstoff landet man bei 5,0 7,6 Millionen Tonnen CO2. Stammt der Wasser stoff aus Erdgas, sind es 4,3 Millio nen Tonnen. Das nicht „null“.

Die Wasserstoffmenge, sollte sie aus Elektrolyseuren stammen, die mit erneuerbarer Energie betrie ben werden, benötigt ca. 25,2 Tera wattstunden Energie pro Jahr. Die in Österreich installierte Kapazität aus rund 1.300 Windkraftanlagen beträgt 3.300 MW, was bei 2.200 Volllaststunden in etwa 7,3 Tera wattstunden jährlich entspricht. Es braucht also 4.500 Windräder für die inländische Eisenproduktion.

Bei allen vereinfachenden An nahmen, zu erwartenden Technolo gieverbesserungen und zu hoch ge schätzten Grid Faktoren ist ersicht lich, dass der Erneuerbarenausbau zu langsam geht. Die europäische Förderlandschaft sollte daher wei terhin diverse technologische An sätze unterstützen und Wasser stoff nicht als allheilbringende Kli malösung werten. An Sparsamkeit, die wir im Winter womöglich üben werden dürfen, aber auch an Car bon Capture and Utilisation Sto rage wird kein Weg vorbeiführen.

Typisches Stadtkind, bin ich als kleiner Bub wenigstens an den Wochenenden und in den Ferien in jener ländlichen Wiener Randge gend im 22. Bezirk teilaufgewach sen, in der ich noch immer neben ansässig bin. Dominierendes Fort bewegungsmittel in Wien Essling war zu Anfang der 1970er Jah re neben einer dahinbummeln den Straßenbahn und danach dem Autobus 26A das Automobil – wie sonst hätte man in die entlegenen Gartensiedlungen gelangen sol len? Radlfahrer waren damals vor allem in Gestalt ältlicher Damen mit rustikalen Kopftüchern wahr nehmbar, die ob ihrer Gebrechlich keit nicht mehr zu Fuß von zuhau se zum Greißler oder zur Grabpfle ge auf den Friedhof gehen konnten und daher das Zweirad wie einen Rollstuhl benutzten. Auch betag te Herren geigelten hin und wieder auf ihren Waffenrädern ins Wirts haus und wieder zurück.

Dazwischen flitzten wir jungen Leute auf unseren Kinderradeln hin und her, doch wer das 16.Lebens jahr erreicht hatte, stieg in der Re gel auf die „Reibm“, das „Mopperl“, also das Moped, um und blieb der Motorkutsche, ob zwei oder vier rädrig, bis zum Tode treu. Radfah ren war eine Randerscheinung.

Das hat sich grundlegend gewandelt. Die sonntägliche Radlinvasion in der Lobau ist eine Sache, der Berufsverkehr auf

dem Drahtesel eine weitere. Bis zur U Bahn Station in der See stadt braucht man mit dem Fahr rad von der Stadtgrenze zu Großen zersdorf wenig mehr als 13 Minu ten. Ist man in den Steinbezirken angelangt, stellt sich die Situation noch einmal anders da. Bis vor we nigen Wochen war das so gut wie aufgelassene ORF Funkhaus auf der Argentinierstraße in Wien 4 für 32 Jahre mein innigst geliebter Arbeits platz. Das ist leider vorbei. Nach wie vor dient allerdings die abschüs sige lange Argentinier Gerade als Rennstrecke für besonders eilige Velozipedisten jederlei Geschlechts.

Wenn ich notorischer Fußgänger wieder einmal den Sausewind so ei nes Tieffliegers im Nacken spüre, denke ich nicht nur an den Litera ten Karl Kraus, der 1936 nächtens von einem Rad angefahren und zu Tode gebracht wurde, sondern auch an den „Red Flag Act“ im England des 19. Jahrhunderts. Dieses Gesetz sah vor, dass vor jedem Automo bil, das mit mehr als 6,4 km/h un terwegs war, ein Fußgänger mit ei ner roten Warnflagge einherzuge hen habe, auf dass keinem Passan ten ein Leid geschehe. Vielleicht sind im Rathaus vom 1. Mai für die hurtigsten Radler noch ein paar rote Fähnchen übrig? Natürlich nur für die Stadt. Auf dem Land, in Essling, sind wir ohnehin gemüt licher unterwegs. Ob auf dem Rad oder im kontemplativen Autobus.

FLORIAN FREISTETTER

: FREIBRIEF

Bildungserfolg

Corona-Pandemie und Klimakrise sind zwei aktuelle Phänome ne, die uns mehr als deutlich vor Augen führen, dass es sich lohnt, über Wissenschaft Bescheid zu wis sen. Wenn man zumindest ein paar Grundlagen verstanden hat, fällt es leichter, sich in der Gegenwart zurechtzufinden. Mit dem nötigen Wissen ist man den Entscheidun gen der Politik nicht ganz so hilf los ausgeliefert und kann, halbwegs informiert, Teil der Gesellschaft sein. Informierte Entscheidungen zu treffen ist immer eine gute Sa che, insbesondere dann, wenn man diese Entscheidungen nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere trifft. Im Fall von Corona und Kli ma betrifft das die Politikerinnen und Politiker, denn sie sind es, die beschließen, welche Regeln für uns gelten und welchen Weg wir in der Zukunft gehen müssen.

Wissenschaftliche Erkenntnis se können (und dürfen) natür lich nicht die einzige Grundlage für politische Entscheidungen sein. Eine Gesellschaft, die rein ratio nal organisiert wird und dabei die inhärent menschliche Irrationali tät nicht berücksichtigt, kann nicht funktionieren.

Aber umgekehrt gilt eben auch, dass man die Wissenschaft nicht völlig ignorieren darf. Auch dann, wenn es nicht um Naturwissen schaft geht. Die in den anderen Wissenschaftsdisziplinen gefun denen Erkenntnisse sind vielleicht nicht von ähnlicher Aussagekraft wie die mathematisch orientierter Fächer. Aber man kann Aussagen treffen und man kann beurteilen, ob bestimmte Strategien zielführender sind als andere.

Ein politisch durchaus relevan tes Beispiel betrifft die Bildung. In Österreich wird schon in der Volks schule festgelegt, ob ein Kind später das Gymnasium oder einen anderen Schultyp besuchen wird. Jeder Ver such, das zu ändern, trifft auf hart näckigen Widerstand aus der Po litik. Die Wissenschaft ist jedoch sehr eindeutig: Die frühe Auslese macht (unter anderem) Bildungserfolg undurchlässiger, das Schul system teurer und drängt Kindern einen Weg zu einem Zeitpunkt auf, an dem ihre Begabungen und Inter essen noch längst nicht feststehen.

Bildungspolitik sollte wissen schaftliche Evidenz ebenso ernst nehmen wie die Gesundheits oder Umweltpolitik. Ignoranz macht schwere Entscheidungen nicht leichter. Nur dümmer.

KOMMENTARE : HEUREKA 4/22 FALTER39/22 5 : FINKENSCHLAG
ZEICHNUNG (AUSSCHNITT)
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NACHRICHTEN AUS FORSCHUNG UND WISSENSCHAFT

Seiten 6 bis 9

Wie Wissenschaft in unsere alltäglichen Lebensumstände eingreift und sie verändert

Dumme Frösche?

Männer halten Frauen mit ho her Stimmlage für jünger als mit Normalstimme, berichtet die Wie ner Kognitionsforscherin Christina Krumpholz im Fachjournal „Fron tiers in Psychology“. Das macht die Frauen in den Männerköpfen entge gen herrschender Theorien aber we der attraktiver noch weiblicher.

Krumpholz spielte 104 sich als heterosexuell deklarierenden Män nern zwischen 19 und 38 Jahren Vi deos mit sprechenden Gesichtern von zwanzig Frauen vor, die 18 bis 45 Jahre alt waren. Die Teilnehmer sahen die Videos zweimal, einmal davon mit höherer Stimme.

attraktiver machen. „Die Stimmhö he ist nämlich ein Indikator für Ju gendlichkeit, Weiblichkeit und auch Gesundheit“, sagt Krumpholz, die am Institut für Psychologie der Ko gnition, Emotion und Methoden der Universität Wien forscht: „Aus evo lutionärer Sicht sollten Männer sol che Dinge an Frauen schätzen, weil sie tendenziell den Reproduktions erfolg erhöhen“. Da dies in der Stu die nicht bestätigt wurde, müsse man diese Theorie in Frage stellen. Für solche Einschätzungen ist jedenfalls wohl bloß das Gesicht wichtig, die Stimme jedoch nichtssagend.

Der Blick nach innen

Ob in der Akutmedizin, als Vorsor ge- oder Kontrolluntersuchung: So nografien sind heute Routine. Dabei wandern für das menschliche Ohr unhörbare Ultraschallwellen durch den Körper und werden von den Ge weben und Organen wie ein Echo zu rückgeworfen. Der Computer errech net daraus das Bild, das Ärzt*innen zur Diagnose heranziehen.

Wer gut getarnt im Dickicht hockt, hat kein großes Gehirn nötig. Das fand der Biologe Alexander Kotrschal beim Camouflagemuster- und Denk zentralenvergleich von mehr als hun dert Froscharten heraus. Er forscht in den Niederlanden am Department of Animal Sciences der Universität Wageningen.

„Wenn man auffällig ist, braucht man Hirn, um auf intelligenzbasier te Fluchtstrategien zurückgreifen zu können“, erklärt Kotrschal. Ist man ein bunter Frosch und zusätzlich ausgesprochen dumm, landet man rasch im Bauch einer Schlange.

Ob Schlauheit oder Camou flage das Überleben besser fördern, kommt auch auf die Zahl an Beu tegreifern an. Leben wenige Fress feinde in einem Gebiet, was die Ge fahr niedrig hält, in deren Mägen zu landen, können es sich die Frösche eher leisten aufzufallen und ein gro ßes Gehirn für intelligentes Flucht verhalten und andere kognitive Fä higkeiten entwickeln. Sie haben dann die geistige Kapazität, das Risiko durch eher selten nahende Fressfein de gut abzuschätzen und die best geeignete Fluchtstrategie zu wählen. Unterstützt werden gewiefte Frösche dabei meist von besonders muskulö sen Hinterbeinen für den Sprung ins Dickicht. „Diese Strategie wird wohl bei hohem Jägerdruck weniger effizi ent, was kleine Hirne und stattdes sen vermehrte Tarnung bevorzugt“, erklärt Kotrschal mit Kolleg*innen im Fachjournal Science Advances

Die hohe Stimmlage führte dazu, dass die Gesichter jünger eingeschätzt wurden, im Schnitt um ein halbes Jahr. Die Bewertung von Attraktivi tät, Weiblichkeit und Gesundheit ver änderte die Stimmlage aber nicht.

Bisher dachte man, dass höhere Frauenstimmen ihre Besitzerinnen

„Dahinter stecken mathematische Modelle auf Basis von partiellen Dif ferentialgleichungen“, erklärt Teresa Rauscher von der Universität Klagen furt. „Mit Letzteren lassen sich viele komplexe biologische, medizinische und technische Prozesse beschrei ben.“ Im Zuge ihres Doktorats, das mit einem Forschungsaufenthalt an der Radboud-Universität in den Nie derlanden verbunden ist, hat es sich die 25-Jährige zum Ziel gesetzt, so nografische Methoden zu verbessern.

„Gängigen mathematischen Model len liegt eine sehr lineare Vorstellung von Akustik zugrunde“, sagt sie. „Da bei werden aber etliche physikalische Effekte vernachlässigt.“ Dies wiede rum beeinträchtige die Exaktheit der Darstellung.

Tatsächlich breiten sich die Ul traschallwellen im Körper strah lenförmig aus, sie werden nicht nur reflektiert, sondern auch gestreut oder absorbiert. „Je intensiver und fo kussierter sie sind, desto mehr nicht lineare Effekte gibt es“, so Rauscher.

JOCHEN STADLER

In menschlichen Antlitzen hausen Milben, die sich dort nächtens paa ren. Aufgerüttelt werden sie dazu von einem Hormon, das Menschen zur Dämmerungszeit in die Haut ausschütten, um besser einschlafen zu können, nämlich Melatonin.

Kleine wirbellose Tiere wie die „Demodex folliculorum“-Milben

den könnten, meint der Mexikaner Alejandro Manzano Marin vom Zen trum für Mikrobiologie und Umwelt systemwissenschaften der Universi tät Wien. Er hat das Erbgut der Tier chen inspiziert, die dermaßen isoliert und fest in menschlichen Hautporen leben, dass sie sich „einer dauer haften Existenz mit den Menschen nähern“.

„Und die so entstehenden höheren Frequenzkomponenten kann man für die bildliche Darstellung nutzen.“ Sie konzentriert sich darum auf nichtli neare partielle Diffentialgleichun gen, genauer gesagt Wellengleichun gen. „Die Bildgebung muss man dann als sogenanntes inverses Pro blem betrachten.“ Dabei geht es um die mathematische Ableitung unbe kannter Größen – wie eben die nicht direkt messbaren nichtlinearen Effek te – aus indirekten Parametern.

macht es hingegen nachtaktiv. Die mikroskopisch kleinen Tierchen ent wickelten sich durch ihre sehr spe zielle Lebensweise in der mensch lichen Gesichtshaut zu derart ver einfachten Organismen, dass sie bald mit dem Menschen eins wer

Mütter übertragen die Hautmil ben auf ihre Kinder, wahrscheinlich beim Stillen. Dabei sind Tempera tur und Feuchtigkeit erhöht, erklärt Marin. So trägt sie fast jeder Mensch im Gesicht und an den Brustwarzen. Hier ernähren sie sich von Talg, den die Poren abgeben. Inzucht hat die Tierchen um das Gen für die Nacht aktivität gebracht, daher sind sie auf menschliches Hormon angewiesen. Auch das Gen ging verloren, das sie bei Tageslicht munter macht. Ein Vorteil für die Parasiten, weil ihnen auch jene für UV-Lichtschutz fehlen.

Der Hauptvorteil der Einbezie hung der Nichtlinearität sei eine op timalere Auflösung der Ultraschall bilder. „Weniger Fehler durch Unge nauigkeit erhöht die Sicherheit der Patient*innen.“ Teresa Rauscher, Universität Klagenfurt

PRIVAT, ANOUK WILLEMSEN, PHOTO RICCIO | DI WALTER ELSNER, FOTO WILKE JOCHEN STADLER JOCHEN STADLER USCHI SORZ
: MIKROBIOLOGIE
Hohe Frauenstimmen gelten traditionell als attraktiv – Irrtum, sagt eine neue Studie
Sie wollen gar nicht wissen, was Milben nachts auf Ihrem Gesicht treiben
Eine hohe Stimme lässt eine Frau in Männerköpfen als jung erscheinen. Das ist aber wohl auch schon alles
Tarnkleidung lässt ihr Gehirn schrumpfen
Und wir sind dafür auch noch verantwortlich, schütten wir doch abends ein stimulierendes Hormon aus
Alejandro Manzano Marin, Universität Wien
Alexander Kotrschal, Universität Wageningen
6 FALTER 39/22 HEUREKA 4/22 : NACHRICHTEN FOTOS:
: BIOLOGIE : MATHEMATIK
: KOGNITIONSFORSCHUNG

Das Geheimnis erfolgreicher Windenergieprojekte

Als der Bauer seinen Traktor am Feldrand wendete, sah er ein Fahrzeug langsam nä herkommen. Er erkannte einen Lieferwa gen, aus dem zwei Männer stiegen und sich an der Heckklappe zu schaffen machten. Sie hoben Stangen, Bohrgeräte und technische Ausrüstung aus dem Wagen und breiteten alles neben dem Wagen aus. Als sie ihn ent deckten, winkten sie ihm kurz zu und setz ten ihre Arbeit fort. Der Bauer fuhr wieder aufs Feld und setzte die Aussaat fort.

Als er einige Stunden später wieder an der Stelle vorbeikam, stand in einiger Entfernung ein etwa hundert Meter ho her Stahlmast, der alle paar Meter schma le Ausleger mit technischen Geräten auf wies. Von dem Lieferwagen und den Män nern war keine Spur mehr zu sehen. Der Bauer schüttelte den Kopf, fuhr den Traktor auf die Straße und trat den Heimweg an. Während der Fahrt grübelte er, was der Mast wohl zu bedeuten hätte. Das Feld, auf dem der Mast aufgestellt war, gehört sei nem Nachbarn. Hatte der nicht letztens er wähnt, die Landwirtschaft bringe ihm nicht mehr genug ein und er werde sich um ande re Einnahmenquellen umsehen, wenn das so weitergeht? War das Feld vielleicht in Bauland umgewidmet worden, ohne dass es wer mitbekommen hatte? Oder soll dort nach Öl gebohrt werden? Oder geht es viel leicht um einen Windpark, von dem er im Wirtshaus gehört hat? Die heimliche Akti on am Feld des Nachbarn bedeutete jeden falls nichts Gutes. Da musste man auf der Hut sein, dachte der Bauer bei sich.

Wie man Konflikten bei Windenergieprojekten begegnet

So wie in dieser Geschichte beginnen Wind energieprojekte, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind. Wo Informatio nen fehlen, entstehen Gerüchte, die rasch in Widerstand umschlagen können. Eine transparente Vorgangsweise von Anfang an ist daher eine der wesentlichen Grund bedingungen für das Gelingen der Projekte.

Wird zu Beginn eine Informationsveran staltung organisiert, wo alle Bürger geladen sind und das Vorhaben in seiner Gesamt heit präsentiert wird, können Zweifel und Gegenstimmen frühzeitig adressiert werden, bevor sie sich gegen das Projekt formieren. Die Schaffung solcher Räume für Partizi pation und offenen Austausch ist für lokale Vorhaben von großer Bedeutung.

Dies ist eine der Erkenntnisse der Mas terarbeit „The Conflict Heptagon: Under standing local wind energy conflicts in Ger many“, die im Lehrgang Renewable Ener gy Systems an der TU Wien im Frühjahr 2022 fertiggestellt wurde. Der Autor Rapha el Thurn Valsassina hat versucht, die Frage zu beantworten, mit welchen Maßnahmen man zur Konfliktvermeidung bei lokalen

Windenergieprojekten beitragen kann, um ihre Umsetzung zu erleichtern.

Die Masterarbeit baut auf Erfahrungen mit Windenergieprojekten in Deutschland auf, die Erkenntnisse sind jedoch auf Ös terreich übertragbar. Thurn Valsassina hat einen sozialwissenschaftlichen Ansatz ge wählt, der nicht in der Tradition von Sozi alverträglichkeitsstudien steht, die Betrof fenen oft egoistische Motive unterstellen, zwar grundsätzlich für die Energiewende zu sein, aber nicht vor der eigenen Haus tür, sondern versucht, Wesen und Charakter von Energiekonflikten tiefer zu verstehen.

Als theoretischer Rahmen dient ihm die Diskurstheorie, die allen Argumenten in nerhalb eines gesellschaftlichen Diskurses wertneutral begegnet und sie grundsätzlich ernst nimmt. Auf dieser Basis entwickelt er ein Modell, das sieben Dimensionen von Argumenten aufzeigt, die bei lokalen Wind energiekonflikten eine Rolle spielen.

Der Konfliktsiebenkampf bei Windkraftprojekten

Der demokratische und transparente Pro zess zu Beginn der Projektentwicklung ist eine der Dimensionen, die in der Master arbeit betrachtet werden. Wird keine Mög lichkeit des Mitwirkens für Betroffene ge schaffen, kann das im Lauf des Projekts zu intensiven Konflikten führen. Eine weitere Dimension ist die Beteiligung der Gemein de und möglichst vieler Bürger am Profit des Projekts. Ob die zentralen Akteure des Projekts als ehrlich, glaubwürdig, kompe tent und fair wahrgenommen werden, spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Das Kriterium des „Vertrauens“ zu den handelnden Akteu ren ist eine oft unterschätzte Dimension. Eine wichtige Dimension sind auch die Ge sundheitsbedenken der Anwohner, die von Schallemissionen über Schattenwurf bis zu Eisabwurf der Rotorblätter reichen.

Alle diese Bedenken haben ihre Berech tigung und müssen im Prozess offen ange sprochen werden, sind jedoch durch gesetz liche Auflagen strikt geregelt. Bei Projekten wie Windparks spielt besonders die ökologi sche Auswirkung eine Rolle. Windkraftgeg ner führen häufig ins Feld, dass Windparks für Vögel und Fledermäuse gefährlich seien, da diese den rasch laufenden Rotorblättern nicht rechtzeitig ausweichen können. Um dieses Risiko zu minimieren, wird die Stand ortplanung üblicherweise mit Naturschützern abgestimmt, um die Aufstellung von Windrä dern in Vogelzugrouten zu vermeiden.

Die Statistik zeigt überdies, dass Hun derte Millionen Vögel jedes Jahr durch Kol lisionen mit Autos und Glasfenster (hun dert Millionen allein an Glasfassaden) sterben, durch Windkraftanlagen dagegen „nur“ 100.000 Vögel pro Jahr getötet wer den (Zahlen für Deutschland). Auch wenn

jeder dieser Fälle traurig macht, zählen Windräder in keinem Fall zu den Haupt verursachern für den Vogeltod im Land.

Gegner lokaler Windparkprojekte stellen gern die Sinnhaftigkeit lokaler Maßnahmen für die Eindämmung der Erderwärmung in Frage. Auch die Unzuverlässigkeit des Win des und die Notwendigkeit von Förderun gen werden als Argument angeführt, um Projekte in ein schlechtes Licht zu rücken. Die Projektgegner verweisen dabei auf Al ternativen wie Atomkraft und Wasserstoff, die ihrer Meinung nach besser zu Lösung des Klimaproblems beitragen.

Um diesen Argumenten zu begegnen, schlägt Thurn Valsassina vor, regelmäßige Energieworkshops in den Gemeinden ab zuhalten, um in einem partizipativen Pro zess ein gemeinsames Verständnis der He rausforderungen des 21. Jahrhunderts zu schaffen und mit den Menschen kommuna le Energie und Klimaschutzpläne zu erar beiten. Die letzte Dimension ist der Respekt vor lokalen Identitäten und Heimatverbun denheit, wobei es vor allem um das Land schaftsbild geht. Windräder sind aufgrund ihrer Höhe von Weitem sichtbar und verän dern das gewohnte Bild der Landschaft, in der die Anrainer aufgewachsen sind. Die äs thetischen Bedenken müssen ernst genom men werden und dürfen keinesfalls leicht fertig vom Tisch gewischt werden.

Zu einem transparenten Projektentwick lungsprozess gehört daher, in Bürgerdialo gen über lokale Identitäten und Vorstellun gen zu diskutieren und professionelle Visu alisierungen des geplanten Windparks zu zeigen, die mit verschiedenen Perspektiven und Aufstellungsorten arbeiten.

Worauf Projektentwickler unbedingt achten sollten Nicht alle sieben Dimensionen sind in der Praxis von gleicher Wichtigkeit, wie die Masterarbeit zeigt. Für Projektentwickler am wichtigsten: zu Beginn für gut organi sierte demokratische Verfahren, finanzielle Beteiligungsmöglichkeit und vertrauensvol len Beziehungen zwischen allen involvier ten Akteuren zu sorgen. Diese drei Kon fliktdimensionen haben sich als entschei dend für eine erfolgreiche Umsetzung loka ler Windenergieprojekte erwiesen.

Wenn dies gut organisiert und gepflegt wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die anderen Konfliktdimensionen wie gesund heitliche und ökologische Belange oder all gemeine Debatten über Klimawandel und erneuerbare Energien nicht stark ins Feld geführt werden. Projektentwicklern soll die Masterarbeit helfen, die richtigen Prioritä ten in der Projektgestaltung zu setzen und mit geeigneten Maßnahmen zur Konflikt vermeidung beizutragen. Dieser Anspruch bedeutet eine hohe Praxisrelevanz.

Projektentwicklern von Windkraft droht ein Konfliktsiebenkampf. Wie man ihn gewinnen kann, beschreibt eine neue Masterarbeit der TU Wien Roger Hackstock, Austria Solar
NACHRICHTEN : HEUREKA 4/22 FALTER 39/22 7
: ENERGIEFORSCHUNG
ROGER HACKSTOCK, SACHBUCHAUTOR ZUR ENERGIEWEN DE UND GESCHÄFTS FÜHRER DES BRAN CHENVERBANDES AUSTRIA SOLAR, MITGLIED IM THINK TANK ENERGY ACA DEMY UND LEHR BEAUFTRAGTER AN DER TU WIEN

Der unausweichliche Baum

Dem viel beschworenen „Retter unseres Klimas“ ist eine Ausstellung im Belvedere Wien gewidmet

GROW. Der Baum in der Kunst“ heißt die Herbstausstellung im Belvedere Wien. Ihr Kurator Miroslav Haľák erklärt das Konzept der Schau.

Herr Haľák, warum Bäume? Was ist das Spannende an ihnen und wie sie in der Kunst dargestellt werden? Miroslav Haľák: Warum der Baum? Weil er unausweichlich ist! Die Kunst dreht sich kulturgeschichtlich um einige konstante Motive: Sonne, Sterne, Figuren und ihre Teile wie Handabdrücke, Tiere und Bäume. Sie bilden ein Basisrepertoire und sind bis heute in der Kunst präsent. Anhand die ser Motive entfaltet sich eine komplexe Ge schichte der menschlichen Zivilisation. Das Thema Baum kann wie eine soziokulturel le Sonde die geistige Entwicklung unserer Gesellschaft sichtbar machen. In der Aus stellung geht es darum, den immensen Um fang dieses Themas in der Kunst relevant zu präsentieren. Dabei soll es keine forma listische Stilanalyse, aber auch keine aus ufernde „Allesschau“ sein.

Sehen wir uns die Gegenwart an. Heute haben wir die Achtung vor den Bäumen bis zu einem gewissen Grad verloren. Die Zellen der Bäume, dieser „Lunge der Welt“, werden durch Abgase verunreinigt, es wird in Flora und Fauna eingegriffen, sie wird ausgebeutet und kapitalistisch genutzt. Was kann eine Ausstellung wie diese dazu beitragen, für dieses Thema zu sensibilisieren?

Haľák: Sprechen wir von der „Lunge der Welt“, denken wir an Bäume mit all ihren organischen Funktionen, vergleichen sie aber auch mit uns selbst, wir projizieren un sere Inhalte in sie. Das heißt, wir anthropo morphisieren, also vermenschlichen Bäume. Und sehen in ihnen obendrein auch noch unsere Retter. Die Bäume sollten uns aus der Krise heraushelfen, die wir selbst verur sacht haben. Die Kunst hat auf diese akute Bedrohung durch uns selbst und unseren unverantwortlichen Umgang mit unserer Umwelt sehr prompt und intensiv reagiert. Ihre äußerst prägnanten Aussagen bilden den wichtigsten Teil der Ausstellung. An hand beispielhafter Kunstpositionen wird die Wichtigkeit des Baums als Stellvertre ter für die ganze Natur deutlich gemacht. Und da jeder von uns ein Statement set zen kann, um in der Zeit des kollabieren den Klimas auf die Überlebensnotwendig keit eines radikalen Umdenkens aufmerk sam zu machen, versuchen wir das mit der Ausstellung selbst: Sie verzichtet auf her kömmliches Ausstellungsdesign. Statt plas tikfoliierter Saaltexte, Poster, Blow-ups und Kunststofflabels nutzen wir Wand- und Schablonenmalerei und Samenpapier. Das Samenpapier hat dabei auch einen symboli schen Wert. Die Beschriftungen der Kunst werke in der Ausstellung werden dadurch biologisch abbaubar – und nach Gebrauch

„Statt plastikfoliierte Saaltexte, Poster, Blow-ups und Kunststofflabels nutzt die Ausstellung Wand- und Schablonenmalerei sowie Samenpapier“

entsorgt, das heißt eingepflanzt, kann aus ihren Samen etwas Neues wachsen – also: „GROW“!

Die Wortwurzel des Begriffes „Baum“, wobei die Bezeichnung „Wortwurzel“ sich hier besonders anbietet, geht auf das west germanische „boum“ zurück. Wikipedia bietet dafür die Definition „Wuchsform einer Pflanze“. In der Botanik oder in der Philosophie – man denke an die sogenannten Baumstrukturen, deren hierarchische Prinzipien spätestens seit Deleuze’ und Guattaris „Rhizom“ kritisch beleuchtet wer den –, aber auch in Märchen und Mythologie begegnen uns Bäume in allen Winkeln der Welt: Als Vorformen des Menschen etwa im „Popol Vuh“ der Quiché-Indianer in Guatemala oder etwa als Fantasy-Figuren wie die baumartigen „Ents“ in Tolkiens „Herr der Ringe“. Was kann die Ausstellung unserer Wahrnehmung hinzufügen? Haľák: Zu denken, eine Ausstellung könn te anhand ausgewählter Kunstwerke ein lineares Narrativ von den Totems bis zum Rhizom konstruieren, wäre falsch. Erstens, weil die Entwicklung nicht linear ist, und zweitens, weil auch die einzelnen Motive wie „Rhizom“ und „Totem“ im poststruk turalistischen Diskurs nicht strikt vonein ander zu trennen sind. Ich gehe beim The ma Baum auch auf den Begriff des Rhizoms ein, denn ich sehe bei Deleuze und Guat tari in der Ablehnung der „Wurzel“ als ei nes historisch kontaminierten Konstrukts die größte Schwachstelle ihrer Begriffser klärung einer „antihierarchischen“ Struktur. Es ist trotzdem den Versuch wert, in Baum darstellungen eine Ordnung zu suchen. Das bedeutet, die Bäume als Zeichen zu betrach ten, mit denen wir konkrete Inhalte kom munizieren. Dabei wird sichtbar, dass der Baum in der Kunst vor allem als Zeichen übernatürlicher Botschaften oder als form reiches Naturelement dient, und zwar un abhängig von Epoche, Kultur, Stil und Me dium. Die „GROW“-Ausstellung will beim Verstehen der einzelnen Baumdarstellun gen helfen. Sie zeigt, wie der Wandel anti ker Baumsymbole durch die Moderne fort gesetzt wurde. In diesem Wandel wurden die Baumzeichen entweder um neue meta phorische Schichten ergänzt oder der meta physischen Ebene gänzlich entzogen.

Welche Werke, die sich mit dem Baum als religiöser Chiffre befassen, präsentieren Sie in der Ausstellung?

re ikonografische Motive. Etwa den „Baum des Lebens“ (arbor vitae) oder die „Wurzel Jesse“ (radix jesse). Der Baum ist als Attri but mit dem Leben und Tod der Heiligen wie Sankt Christophorus oder Sankt Sebas tian verbunden. Die Perspektive der jüdischchristlichen Tradition ist natürlich nicht die einzige, das Bild eines „kosmischen Bau mes“ ist in anderen Religionen oder My thologien ebenfalls stark präsent. In allen diesen Fällen wird der Baum als Medium einer übernatürlichen Kraft betrachtet. Die se Kraft kann göttlichen oder dämonischen Ursprungs sein. Baumsymbole vermitteln deshalb nicht nur positive Inhalte, sondern auch den Untergang. Das zeigt sich an den zwei Paradiesbäumen: Einer gilt als „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ (lignum sapientiae boni et mali) und ist mit der Ver treibung der Menschen aus dem Paradies verbunden. Der andere ist der „Baum des ewigen Lebens“ (arbor vitae), das die Reli gionen versprechen. Auf diese Ambivalenz beziehen sich viele Kunstwerke. Mit Waldund Baumdarstellungen wird also eine gan ze Palette existenzieller Themen abgedeckt.

Miroslav Haľák, Kurator der Aus stellung „GROW. Der Baum in der Kunst“ im Belvedere Wien

Haľák: Spirituelle Motive sind nicht die einzigen, die den Baum zum Symbol über natürlicher Kräfte machen, aber wohl die wichtigsten. Da wir in Österreich aus ei ner gegebenen kulturellen Perspektive auf die Werke blicken, ist die jüdisch-christ liche Tradition ausschlaggebend, um Bei spiele der Symbolwerdung des Baums zu zeigen. Diese Tradition entwickelte mehre

Es muss nicht immer christlich sein. Auch in der Antike begegnen uns Bäume in Hülle und Fülle. Schenkt man der griechischen Mythologie Glauben, werden sie von sogenannten Dryaden bewacht. Das sind nymphenartige Wesen, die sich mit Vorliebe bei Eichen aufhalten. Eine von ihnen ist Daphne, die vom Gott Apollo begehrt und verfolgt wird und sich zu ihrem Schutz in einen Baum verwandelt. Sehen Sie den „Baum“ als etwas, das in unserer abendlän dischen Vorstellung eher mit dem Weiblichen als mit dem Männlichen assoziiert wird? Haľák: Die geschlechtliche Positionierung des Baums ist auch eine Frage der Projek tion. Oft bleibt das Symbol Baum neutral, weil es als Medium dient und erst im Kom munikationsprozess eine konkrete Identität annimmt, sei es eine feminine Nymphe oder ein maskulin erscheinender Gott des Alten und Neuen Testaments. Die Bäume selbst treten selten als Gottheiten auf. Eine Aus nahme im alten Ägypten identifiziert Bäu me mit weiblichen Gottheiten, die Bedürf tige mit Früchten und Schutz beschenken. Wie erwähnt, hängt die Geschlechtlichkeit der Bäume in der Kunst von individuellen Projektionen ab. Ob wir eine Birke mit einer Frau oder einen Baobab mit einem Mann identifizieren, bestimmen kulturelle Fakto ren, wobei die Sprachform, also das gram matikalische Genus, schon viel Einfluss hat.

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“, schrieb Rainer Maria Rilke, und man ist dabei an den Querschnitt eines Stammes erinnert. Die Kreise, die der ins Wasser gefallene Assoziationsstein zieht, sind endlos. Bäume eröffnen Räume. Ein Wortspiel schließt den Kreis zum Anfang hin.

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FOTO: KRISTÍNA HAĽÁKOVÁ

Kalzium und Krebs

Ein Forschungsprojekt befasst sich mit den Zusammenhängen zwischen Kalzium in Zellen und Krebsanfälligkeit

Kalzium ist wichtig für unseren Knochen aufbau. Es spielt darüber hinaus von An fang an eine lebenswichtige Rolle in un serem Körper. Schon gleich nach der Be fruchtung einer Eizelle durch ein Spermi um kommt es zu einem Kalziumsignal, das bei der Entwicklung des Embryos Pro zesse steuert. Später bestimmt es die Ent wicklung, das Nervensystem, den Mus kelaufbau und die Funktion unseres Im munsystems mit. Dazu muss eine aus gewogene Konzentration Kalzium in unseren Zellen sein. Kommt es zu Kon zentrationsänderungen, kann dies schwer wiegende Folgen haben: Ein Überschuss an Kalzium in den Zellen führt zu autoimmunen Prozessen: Das Immunsystem greift plötzlich körpereigene Zellen an. Zu viel Kalzium löst außerdem Gewebs entzündungen und andere pathologische Zustände in unserem Körper aus.

Bei einer Unterversorgung der Zellen mit Kalzium werden Zellprozesse nicht korrekt ausgeführt. Das Immunsystem kann seine Fähigkeit verlieren, reaktive T Zellen zu bilden. Die Folge ist ein Aus bleiben einer Immunreaktion bei bakte riellen oder viralen Infektionen. Kalzium beeinflusst auch die Reaktion bei einer In fektion mit Viren wie SARS CoV 2

Um die richtige Konzentration von Kalzium in Zellen aufrechtzuerhalten, muss verbrauchtes nachgefüllt werden. Dazu dienen Ionenkanäle in der äußeren Hülle von Zellen. Der wohl am besten untersuchte Ionenkanal ist der CRAC Ka nal. Seine Fehlfunktion führt zur Immun defizienzerkrankung, zu Muskelerkran kungen, zu Veränderungen von Muskeln, Augen und Haut und hat auch Anteil an Krebsarten.

Am Institut für Biophysik der Johannes Kepler Universität Linz wird der Zusam menhang von Veränderungen in CRAC Kanälen und der Entstehung von Krebsar ten untersucht. Die CRAC Kanäle können durch Mutation – entweder durch Verer bung oder im Laufe des Lebens erworben – so verändert sein, dass vermehrt Kalzi um in die Zelle gelangt und dies zu einem Überschuss führt. So beginnt die Zelle, sich unaufhörlich zu teilen und zu wach sen – Zeichen für einen Krebs.

Wenn sich feststellen lässt, welche Veränderungen in den Ionenkanälen die Krebsentstehung begünstigen, lassen sich therapeutische Ansätze entwickeln. Im Idealfall kann man Ionenkanäle wieder „gesund“ machen und Krebs vorbeugen.

Bilder in der Ausstellung „GROW – Der Baum in der Kunst“: Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld, „Die Breite Föhre nächst der Brühl bei Mödling“, 1838; Giovanni Segantini, „Die bösen Mütter“, 1894; Dorota Sadovska „#StayHome 2“, 2020 IRENE FRISCHAUF : BIOPHYSIK Irene Frischauf, Johannes Kepler Universität, Linz
NACHRICHTEN : HEUREKA 4/22 FALTER 39/22 9
FOTOS: BELVEDERE, WIEN, FOTO JOHANNES STOLL, BELVEDERE, WIEN, BILDRECHT WIEN 2022 FOTO DOROTA SADOVSKÁ, PRIVAT

TITEL-THEMA

STADT – LAND WAS MACHT NOCH DEN UNTERSCHIED?

Seiten 10 bis 22

0,7 Prozentpunkte

427Naturdenkmäler gibt es in Wien, darunter einzelne Bäume, Baumoder Alleegruppen und flächige Naturdenkmäler wie Wiesen – die meisten, nämlich 84, in Döbling, gefolgt von Hietzing mit 66 und Liesing mit 47. Die wenigsten Naturdenkmäler, nämlich zwei, hat Mariahilf.

höher als in Wien war 2021 die Inflationsrate von Haushalten in kleinen Gemeinden. Grund dafür: Die Verbraucherpreise für Energie lagen 2021 um 11,1 Prozent höher als im Jahr zuvor. Das trifft Haushalte in ländlichen Gebieten ungleich stärker.

7Megacities gibt es in Europa und Nordamerika: Paris, Moskau, Istanbul, London, New York, Los Angeles und Chicago. In Asien sind es rund dreimal so viele. Als Megacity gilt eine Stadt mit einer Bevölkerung von mehr als zehn Millionen Menschen. In Tokio, der weltgrößten, leben über 37 Millionen.

jener Energie, die für die Herstellung industrieller Baustoffe wie Stahlbeton benötigt wird, braucht Lehm als Baustoff.

In Deutschland gibt es seit 2013 wieder verbindliche Normen für den Lehmbau.

Sie gelten für werksmäßig hergestellte Lehmsteine, Lehmmauermörtel und Lehmputzmörtel.

pro 1.000 Einwohner*innen hat Wien, gefolgt von 5,89 pro 1.000 Einwohner*innen das Bundesland Salzburg. Die geringste Ärzt*innendichte herrscht im Burgenland (4,39), in Vorarlberg (4,36) und Oberösterreich (4,3).

Euro umfasste der Luxusimmobilienmarkt in Österreich 2021, um eine Milliarde Euro oder 31,5 Prozent mehr als 2020. Ein Top-Ten-Einfamilienhaus in Wien kam im Durchschnitt auf fünf Millionen Euro, in Tirol auf 10,4.

Baubewilligungen für Wohnungen wurden 2021 österreichweit ausgestellt, das ist ein Minus von 6,1 Prozent im Vergleich zu 2020. Die im ersten Quartal 2022 baubewilligten 13.871 Wohnungen entsprechen einem Minus von 27,4 Prozent zum Vorjahresquartal (siehe auch Seite 18 f).

beträgt der jährliche Anteil jener Gelder, die das Umweltbundesamt in Projekte investiert, die dem UN-SDG-Ziel Nr. 13 „Maßnahmen zum Klimaschutz“ zuordenbar sind. 11,59 Prozent fallen in Projekte zum Ziel Nr. 15 „Leben am Land“, und 9,89 Prozent in das Ziel Nr. 11 „Nachhaltige Städte und Gemeinden“.

Frauke Krüger-Lehn arbeitet als selbstständige Illustratorin und Kunstlehrerin, ihre Tochter, Elisabeth Spengler Castillo, studiert Visuelle Kommunikation an der ABK Stuttgart. Gemeinsam gestalten sie illustrative Projekte wie die Collagen in dieser Ausgabe. In ihren künstlerischen Arbeiten überwinden sie die Widersprüche Stadt-Land. Mit Papier und Schere bauen sie eine Gartenstadt, eine Insel der schrägen Vögel, ein Naturhaus, ein Großstadtbienen-Paradies und einen Gemüseprinzen. Mehr Arbeiten unter www. fraukeswelt.net oder www.instagram.com/eliquent__ : AUSGESUCHTE ZAHLEN ZUM THEMA ZUSAMMENGESTELLT VON SABINE EDITH BRAUN
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COLLAGEN: FRAUKE KRÜGER-LEHN UND ELISABETH SPENGLER CASTILLO
72.377
4,15 Milliarden1 Prozent 6,93 Ärzt*innen 20,66 Prozent
TITELTHEMA : HEUREKA 4/22 FALTER 39/22 11 COLLAGE: FRAUKE KRÜGER-LEHN UND ELISABETH SPENGLER CASTILLO

Eine Million Menschen lebt multilokal

Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts lebten weltweit mehr Menschen auf dem Land als in Städten. Seit 2008 ist das anders. Schätzungen der Vereinten Natio nen zufolge wohnen 57 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, 2030 soll der Anteil bei sechzig Prozent, 2050 bei knapp mehr als zwei Dritteln liegen. Dieser Anteil ist in Deutschland mit 77 Prozent bereits über schritten. In Österreich liegt er bei 58,75 Prozent und steigt seit 2010 (57,4 Prozent) stetig, aber sehr gemächlich an.

Das Phänomen der Landflucht konnte in vielen Landesteilen Österreichs in Grenzen gehalten werden. Martin Heintel vom Insti tut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien erklärt dies vor allem mit der kleinen Fläche des Landes und der damit in der Regel ganz guten Erreichbar keit höherrangiger Zentren. Wobei er eine differenzierte Sicht des Phänomens „Land“ einfordert: „Es gibt den ländlichen Raum nicht. Ein stadtnaher ländlicher Raum sieht anders aus als ein peripherer oder ein wirt schaftlich monostrukturierter Raum, dessen Fläche primär agrarisch oder industriell ge nutzt wird. Nicht einmal die Grenzregionen performen gleich. Die Performance hängt von der Distanz sowie den Verkehrsanbin dungen zu einem Zentrum oder der Lan deshauptstadt ab. So sieht’s vermutlich im inneren Lungau schlechter aus als etwa im Weinviertel.“ Diese periphereren Gegenden scheinen sich nicht nur geografisch von den Städten zu entfernen.

Der Gegensatz zwischen Stadt und Land wird krasser „Die in allen Lebensbereichen zunehmen de Polarisierung der Gesellschaft äußert sich auch im Gegensatz zwischen Stadt und Land“, sagt Peter Zellmann, Lei ter des Wiener Instituts für Freizeit und Tourismusforschung (IFT). „Wir bewegen uns diesbezüglich keineswegs aufeinander zu, wie das viele gern hätten, sondern wer den immer unterschiedlicher.“ Am fehlen den Ausgleich sei die für die Rahmenbe dingungen verantwortliche Politik schuld. „Wir haben schon vor zwanzig Jahren nicht nur aus touristischer Sicht gewarnt: Verges sen Sie den ländlichen Raum nicht! Doch ist er immer weiter ausgedünnt worden –bei Schulen, Apotheken, niedergelassenen Ärzten und öffentlichen Verkehrsanbindun gen. Ein sträfliches Versäumnis, in diesem Fall, muss man wohl sagen, der Landespo litik, aber auch der Gemeindepolitik, dass man diesen Entwicklungen, die sich über Jahrzehnte abgezeichnet haben, kein Au genmerk geschenkt hat, weil man nur von Wahl zu Wahl denkt.“

Am augenfälligsten tritt der Unterschied zwischen Stadt und Land in der Mobili tät zutage: Während in größeren Städten öffentliche Verkehrsnetze stetig verdichtet werden, kann man auf dem Land ohne Auto praktisch nicht existieren.

Der Ausbau des Radwegenetzes ist gerade auf dem Land nötig „Der öffentliche Verkehr im ländlichen Raum kann noch deutlich besser werden. Besonders die Frequenz und Qualität an den Achsen sowie Angebote in den Ort schaften sind möglich und durchaus um setzbar“, konstatiert Thomas Knoll, Land schaftsökologe und Präsident der Österrei chische Gesellschaft für Landschaftsarchi tektur (ÖGLA). Er räumt aber ein, dass eine geringe Siedlungsdichte der Angebotsviel falt Grenzen auferlegt. Umso wichtiger fin det Knoll den Ausbau des Radwegenetzes gerade auf dem Land, um Anschlüsse zum öffentlichen Verkehr herzustellen. „Auch Homeoffice wirkt sich auf den ländlichen Raum günstig aus, wo die Wohnflächen et was größer als in Städten sind. Schon ein Tag weniger Pendeln pro Woche stellt ei nen hohen Beitrag zur Lebensqualität dar.“

Regionalforscher Heintel sagt dazu: „Wenn wir uns die nächsten zehn Jahre anschauen, wird sich sehr viel punktgenau entwickeln. Für einzelne Regionen werden relevante Mobilitätsangebote bereitgestellt, aber es wird nicht unbedingt der klassische öffentliche Anbieter sein, der jede Stunde fährt. Es wird zielgruppenspezifische An gebote geben, Abrufangebote, Angebote zu bestimmten Zeiten, und das Angebot wird wesentlich flexibler sein als jetzt.“

Entscheidend für die Mobilitätsversor gung am Land sei eine gesamthafte Ver knüpfung von den ÖBB bis zum Sharing Angebot auf der letzten Meile. „Es geht ja weniger darum, wie ich nach St. Pöl ten komme, sondern wie ich von St. Pöl ten nach Kochholz oder Annaberg komme.

In diese Richtung werden neue Angebote entwickelt werden. Einige Regionen werden es besser machen, andere nicht so gut und wieder andere gar nicht. Das Ganze hängt stark von Ideen, Personen und Gemeinden ab. Wer gute Ideen hat, wird sich entwickeln können. Je mehr in kooperativen Verbünden erarbeitet wird, umso besser wird es gelin gen.“ Heintel sieht in der bislang gesetzlich noch nicht verfassten Einheit „Region“ gro ßes Zukunftspotenzial.

Regionen als ländliche Einheiten der Zukunft

In einigen Regionen Österreichs sinkt die Einwohnerzahl. Landschaftsökologe Knoll nennt das nördliche Waldviertel als Bei spiel, relativiert aber: „Es gibt jedoch auch ermutigende Zeichen der erhöhten Nach frage nach Wohnobjekten in diesen Regi onen. Interessanterweise kommt es in ex trem erfolgreichen Tourismusgemeinden wie Serfaus zu Einwohnerverlusten. Hier führen auch die hohen Lebenshaltungs kosten zur Abwanderung.“ Eine breite Entvölkerung hat bisher nicht stattgefun den. Knoll schreibt dies auch der von Pe ter Zellmann gescholtenen Regionalpoli tik zu: „Zumindest ist es klarer politischer

Wille, die Besiedlung aller Dauersiedlungs räume im Land zu erhalten. Der Prozess ist jedoch eine Volksabstimmung mit den Füßen. Richtung Zentralräume. Das muss aber nicht die Landeshauptstadt sein. Oft gelingt es, die Abwanderung im nächsten größeren Bezirksort zu stoppen. So kommt es zu einem Wachstum in Orten wie Horn oder Amstetten.“

Der Trend läuft in Richtung ländlichem Raum – was bedeutet das?

Momentan zeige der Trend laut Knoll in Richtung ländlichem Raum: „Die Mög lichkeiten der Eigentumsbildung sind hier etwas besser als in der Stadt.“ Regionalfor scher Heintel ergänzt, nicht zuletzt die Pan demie habe ländliche Räume aufgewertet, vor allem aber ein Phänomen, das er „Mul tilokalität“ nennt. „In Österreich lebt schon über eine Million Menschen multilokal, also an unterschiedlichen Orten. Fragmentierte Familienverhältnisse, neue Arbeitszeitmo delle, nicht zuletzt die Digitalisierung und letztendlich neue Lebensstile führen dazu, dass mehrere Standorte gleichzeitig genutzt werden – sowohl in der Stadt als auch am Land. Das wurde auch durch die Pandemie forciert. Jeder, der sich’s leisten kann, nutzt mehrere Möglichkeiten. Aber auch viele, die gezwungen sind, weil sie sich das Wohnen in Wien nicht mehr leisten können, wohnen am Land, arbeiten aber in Wien.“

Peter Zellmann kann dieser Entwick lung wenig abgewinnen: „Ich sehe das SUV vor mir in der Draschestraße im 23. Bezirk. Die Türen öffnen sich, zwei Kinder steigen aus und gehen in die Schule, das SUV fährt weiter und bringt den Papa ins Büro. Und dann werden sie wieder abgeholt. Kinder aus Baden oder Mödling, die in Wien in die Schule gehen, nicht in Mödling, wo es ja auch Gymnasien gibt. Weil Vater und Mutter in Wien arbeiten, nehmen sie die Kinder gleich mit – und mit einer Pend lerfahrt ist alles erledigt. Das ist nicht die Ausnahme, das ist in den Randbezirken die Regel: Fünfzig Prozent der Schulkin der kommen nicht aus dem Sprengel. Men schen, die dort wohnen, empfinden das als grobe Ungerechtigkeit: Mehr Verkehr, und der Parkplatz wird ihnen weggenommen.“

Um Ressentiments nicht weiter wach sen zu lassen, empfiehlt er: „Wir sollten in Umweltfragen Stadt und Land verknüp fen. So sehen wir, dass wir alle in dersel ben Welt leben. Es ist ein langer Prozess, bis ich erkenne: Eigentlich hat der Städter nicht wesentlich andere Bedürfnisse als der Landbewohner. Allerdings ist die Entwick lung der letzten zwei Generationen dahin gegangen, dass sich ihre Lebenslagen im mer weiter voneinander entfernt haben. Wir brauchen den Bauern, und wir brachen den App Entwickler. Ohne den einen wie den andern kann die Gesellschaft nicht funkti onieren. Aber wir spielen zunehmend die einen gegen die anderen aus.“

„Es gibt den ländlichen Raum nicht. Die Performance ist überall anders“
MARTIN HEINTEL, REGIONALFORSCHER, UNIVERSITÄT WIEN
In Österreich liegen die größten Unterschiede zwischen Stadt und Land in der Mobilität
Peter Zellmann, Institut für Freizeit- und Tou rismusforschung, Wien
Thomas Knoll, Landschaftökolo ge und Präsident der ÖGLA, Wien
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FOTOS: UNIVERSITÄT WIEN, ZELLMANN.NET, KNOLLCONSULT
TITELTHEMA : HEUREKA 4/22 FALTER 39/22 13 COLLAGE: FRAUKE KRÜGER-LEHN UND ELISABETH SPENGLER CASTILLO

Neue Formen des Bauens in Stadt und Land sollen zu nachhaltigeren Ergebnissen führen

SABINE EDITH BRAUN

Ist nachhaltiges Bauen eher ein The ma für die Stadt oder für das Land? Eva Schwab, stv. Leiterin des Instituts für Städtebau an der TU Graz, plädiert dafür, die beiden Begriffe nicht zu trennen. „Dynamik in Form des Zu zugs in die Städte und Zentralgebie te wird es weiterhin geben. Man soll te sich daher eher an Siedlungsstruk turen und Mobilität orientierten“, sagt sie. Was derzeit wachse, seien weniger die Stadtkerne als vielmehr die Speck gürtel. „Urbanes Leben ist eine Frage des Mindsets und weniger eine Fra ge, wo ich wirklich bin.“

Diesem neuen Denken hat sich ein Netzwerk von Forschenden aus 18 Instituten der TU Graz verschrie ben. Sie wollen das Bauwesen in seiner Gesamtheit neu denken und Umwelteinwirkungen verringern.

Ein Hohlkörper zur Treibhausgaseinsparung Center-Sprecher Stefan Peters, Lei ter des Instituts für Tragwerkent wurf, erklärt anhand seines eigenen

Forschungsbereichs, was nachhalti ges Bauen bedeuten kann. Fest steht, dass dabei die „Vielfalt des Bauens“ beibehalten werden soll. „Wir propa gieren kein bestimmtes Material, son dern überlegen, wie wir Material raus nehmen und das Ganze ewas leichter machen können.“

Beim Tragwerk hat die Decke die meiste Masse. Die Idee war daher, bei gleicher Deckenstärke weniger Beton zu verwenden – durch hohle Ausspa rungskörper aus Beton. Aber wie stellt man diese emissionsarm und kosten günstig her? Der Schalungsprozess ist teuer. „Wir machen die Hohlkörper selbst – mit dem 3-D-Drucker“, sagt Peters. Der Drucker wurde im Rah men eines dreijährigen Forschungs projekts konstruiert. Ein Copyright darauf gibt es nicht. „Mir wäre es wichtig, kopiert zu werden!“ Die ge druckten Hohlkörper entstehen bin nen Minuten. Durch einen Schnell härter ist die Aushärtezeit kurz. Eine deutsche Baufirma hat schon einen Betondrucker. Bei einer Tiefgarage in

Nördlingen konnten so 35 Prozent CO2 und Geld gespart werden. „Das ist angewandte Wissenschaft“, sagt Stefan Peters. Zeit zum Verschnaufen hat der Betondrucker kaum: Für das nächste Projekt, einen Werkstoffhof in Bludenz, werden gleich 640 Hohlkör per benötigt.

Vom Hanfstängel zum nachhaltigen Ziegel

Der Südtiroler Baustoffproduzent Werner Schönthaler stellt einen spe ziellen Werkstoff her: Ziegel aus Hanf. Hanf wächst fünfzigmal schneller als Holz, und die Teile der Pflanzen, die Schönthaler verarbeitet, nämlich die hölzernen Stiele, sind eigentlich ein Abfallprodukt. Das ergibt eine

Bauen mit 3-D-Drucker und Hanfplantagen Wohnraum oder Arbeitsraum?

Ein architektursoziologisches Projekt zur Sanierung von Wiener Wohnhausanlagen

SABINE EDITH BRAUN

„Wir wollen die Wissenschaft nicht von der Praxis trennen“, sagt Daniele Karasz, Gründer und Leiter des Wie ner Forschungsinstituts „Search and Shape“. Das zeigt er an einem trans disziplinären Forschungsprojekt na mens „Labour@Home – Kleine Ein griffe für das digitale Arbeiten zu Hause“. Dabei geht es um die gene relle Frage, wie Wohnraum in großen Wiener Wohnhausanlagen genützt werden kann. Hierbei spielen mehrere Faktoren zusammen, wie der Sozial wissenschaftler erklärt: „Was kann heute über das übliche Verständnis hi naus als Arbeit verstanden werden? Welche Rolle spielen digitale Medi en dabei? Welche räumlichen Konse quenzen haben diese Arbeitsabläufe in Wohnungen und Wohnhausanlage? Und wie kann mit kleinen, günstigen Eingriffen reagiert werden?“

Was bedeutet Arbeiten in der Wohnung heute? Gefördert wird das Projekt vom Di gitalisierungsfonds Arbeit 4.0 der AK

Wien, Projektpartner bzw. Projekt partnerin sind der Architekt und Ar chitekturtheoretiker Andreas Rumpf huber sowie Niloufar Tajeri, eben falls Architektin und Architekturthe oretikerin. Als Kooperationspartner fungieren der österreichische Ver band Gemeinnütziger Bauvereini gungen (GBV), Wiener Wohnen und das Österreichische Siedlungswerk (ÖSW). Die Bauträger haben die Kon takte für die rund fünfzig qualitativen ethnografischen und biografischen In terviews vermittelt, die im Zuge des Projekts in den Wohnungen geführt wurden. Etwa die Hälfte der Befrag ten hatte Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Türkisch oder Afghanisch als Mut tersprache. Die Berufe reichten vom Kleinunternehmer über die Putzkraft, das Alter zwischen Teenager und über Achtzigjährigem.

Die Wohnbauten stammen aus der Nachkriegszeit bis in die 1970er-Jah re. „Das ist Wohnsubstanz, die jetzt saniert werden muss. Dabei soll es nicht bloß um Dämmung gehen, es

sollen auch soziale und Arbeitsaspek te berücksichtigt werden“, sagt Dani ele Karasz. Seine Hypothese: In der Arbeitswelt hat eine Entgrenzung stattgefunden – was bedeutet dies für Arbeit heute. „Dazu genügt es nicht mehr, in Büros oder Fabriken zu ge hen, wir müssen im Haushalt begin nen – das ist auch unser Bezug zur feministischen Ökonomie.“

Wer muss mit seiner Tätigkeit ausweichen?

Die Interviews erbrachten eine Lis te von Tätigkeiten, die in der Woh nung erledigt werden: Lernen, einen Deutschkurs machen, Haushaltsar beit, aber auch Lohnarbeit. „Im Haus halt wird Lohnarbeit nicht immer so

negative CO2-Bilanz. Die Hanfmas se wird mit Naturkalk im Kaltluft verfahren zu Ziegeln gepresst, drei bis vier Wochen müssen diese dann trocknen. „Wir wollen so regional wie möglich wirtschaften – das er zwingt allein schon das Produkt“, sagt Schönthaler. Der Hanf stammt aus Österreich, Deutschland und Frank reich. Die fertigen Steine exportiert er in die Nachbarländer, nach Deutsch land, Luxemburg und sogar bis Israel. „Hempcrete“, so der Name des Pro dukts, ermöglicht Bauen ohne Däm mung. Sechs bis 38 Zentimeter dick sind die Hanfziegel. Sie erinnern ein wenig an Ytong-Steine, sind aber viel weicher. Der Zuwachs und die Akzep tanz seines Produkts sind zuletzt ex trem gestiegen. „Vor allem am Anfang war es schwierig, aber sobald die Leu te das Produkt sehen und die Fakten kennen, passt es. Da steckt auch viel Informationsarbeit dahinter.“

www.tugraz.at/institute/ite www.hanfstein.eu

Daniele Karasz, Forschungsinsti tut „Search and Shape“, Wien

hierarchisiert wie im öffentlichen Dis kurs“, sagt Karasz. Ein Beispiel: Wenn es in der Wohnung nur einen PC gibt, an dem das Kind Homeschooling macht und die Mutter gleichzeitig ei nen AMS-Kurs belegt – wer muss aus weichen? Nicht unbedingt das Kind. Das zeigt ein Beispiel, in dem sämt liche Tätigkeiten im Haushalt dem Gymnasiumsbesuch des Sohnes un tergeordnet wurden. Eine andere Fa milie mit einer Wohnung aus zwei Zimmern erklärte einen Raum zum „lauten“, den zweiten zum „stillen“. Hier stehen die Schreibtische, PCs und die Betten.

Eingriffe zur Arbeitseinrichtung reichen von der Schallisolierung bis zum Aufstellen von Wänden – was eigentlich nicht erlaubt ist. Aus den Skizzen der Wohnungen, die wäh rend der Interviews angefertigt wur den, wird nun ein Katalog erstellt, der dazu beitragen soll, im Zuge der Sa nierung Freiflächen in den Wohnun gen zu schaffen, die frei von Konflik ten bleiben.

14 FALTER 39/22 HEUREKA 4/22 : TITELTHEMA FOTOS: ITE TU GRAZ, DANIEL SHAKED
: STÄDTEBAUFORSCHUNG :
TITELTHEMA : HEUREKA 4/22 FALTER 39/22 15 COLLAGE: FRAUKE KRÜGER-LEHN UND ELISABETH SPENGLER CASTILLO

Der Landwirt und sein Boden

Sechs Prozent der Erdoberfläche werden für Landwirtschaft genutzt. Vergleicht man die Erde mit einem Apfel, ist die land wirtschaftlich genutzte Fläche eine schma le Apfelspalte. Die Schale symbolisiert jene zwei Meter der Erdkruste, die wir für unsere Nahrungsmittelproduktion nutzen können. Diese dünne Schicht ist die Ressource, von der wir leben. Darauf müssen wir achtge ben“, erklärt Andreas Klik das Thema seiner langjährigen Arbeit. Am Institut für Boden physik und landeskulturelle Wasserwirt schaft der BOKU in Wien hat er in einem Projekt analysiert, wie Starkregen fruchtba re Böden bedroht. Bodenerosion habe Aus wirkungen auf Pflanzenertrag, Wasserqua lität, Bodengesundheit und unsere Versor gung mit Trinkwasser wie Lebensmitteln. Der Krieg in der Ukraine zeige, wie schnell es auch bei uns kritisch werden kann.

Starkregen und wie man sich gegen seine Wirkung schützt

Für die Studie wurde der Niederschlag drei Jahre lang mit Distrometern auf nicht be wachsenen Böden in unterschiedlichen Re gionen gemessen. Die Geräte ermitteln die Verteilung der Tropfengrößen und die Fall geschwindigkeit. „Mit einer Formel kann man die Energie des Niederschlags berech nen, um eine Beziehung zwischen Regenenergie und Bodenabtrag zu finden.“ Ein Landregen im Salzkammergut mit klei nen Tropfen und geringer Fallgeschwin digkeit verursacht weniger erosiven Scha den als Starkregen mit großen Tropfen in Ostösterreich. Ein Niederschlag von drei ßig Millimetern in acht Stunden hat weni ger Intensität und ist weniger erosiv als die selbe Regenmenge in einer Stunde. Bodenerosion kennen wir aus der Ge schichte, etwa in Griechenland. In der jün geren Vergangenheit begann sie durch die Intensivierung der Landwirtschaft und die Umstellung der Fruchtfolge. Der Klimawan del verstärkt den Bodenschwund, Starkregen wird häufiger. Klik empfiehlt: „Die Böden müssen ganzjährig bepflanzt werden. Nach der Ernte sollte die Winterbegrünung fol gen. Im Sommer sollte man eine Kultur anbauen, die den Boden rasch möglichst gut bedeckt, etwa Getreide. Dagegen be decken Mais, Kartoffeln oder Zuckerrüben erst Ende Juni den Boden vollständig. Die meisten hoch erosiven Niederschläge treten bei uns jedoch von Mai bis Anfang Juli auf.“ Geeignete Schutzmaßnahmen gegen Bo denerosion beschreibt das Programm zur Förderung einer umweltgerechten, exten siven und den natürlichen Lebensraum schützenden Landwirtschaft (ÖPUL). Dazu zählt die konservierende Bodenbearbeitung: Statt mit dem Pflug die Erde bis zu dreißig Zentimeter tief umzubrechen, soll der Bo den nur bis maximal zehn Zentimeter Tiefe gelockert werden. Die Maßnahme der Win terbegrünung wurde mit dem EU Beitritt Österreichs eingeführt, damals, um den Ni

tratgehalt im Grundwasser zu reduzieren:

Die Grünmasse bindet im Winter die Nähr stoffe, es kommt zu keiner Auswaschung. Die Nährstoffe bieten nach ihrer Minera lisierung wieder Nahrung für die Vegetationsperiode im Frühjahr. Als Erosionsschutz bekommt die Winterbegrünung im mer mehr Bedeutung: Pflanzen wie der gelb blühende Senf sterben bei Frost ab und be decken den Boden, die Pflanzenreste blei ben bei der Aussaat im Frühjahr liegen und schützen die Oberfläche, bis die neue Kul tur angewachsen ist.

Wie bei jeder Methode gebe es auch Nachteile, sagt Klik: „Das kann zu mehr Unkrautwuchs führen oder in einem feuch ten Frühjahr zu Pilzkrankheiten, die mehr Einsatz von Pflanzenschutzmitteln erfor dern. Landwirte müssen das wirtschaftlich abschätzen. Das passiert aber noch zu sel ten. So haben wir die Spritersparnis berech net, weil man bei reduzierter Bearbeitung weniger oft über das Feld fahren muss.“

Herkömmlich sind bei Getreide bis zu fünf Arbeitsgänge nötig: pflügen im Herbst und Frühjahr, Saatbeet herrichten und an bauen. Bei reduzierter Bearbeitung sind es nur zwei Arbeitsgänge, nämlich im Herbst grubbern (auflockern) und begrünen und im Frühjahr direkt in die abgefrosteten Pflanzenreste anbauen. Statt achtzig Liter Diesel pro Hektar braucht man nur etwa zwanzig. Bei einem Dieselpreis von zwei Euro eine Ersparnis von 1.200 Euro pro Hektar. „Die ältere Generation nimmt die Maßnahmen nur teilweise an. Sie wollen einen ,reinen Tisch‘, denn gepflügt heißt für sie kein Unkraut. Seit den 1990er Jahren haben wir mit Fachschulen in Niederöster reich eine Kooperation für konservierende Bodenbearbeitung und hoffen, dass die jun gen Leute die Vorteile sehen. Wir kennen die geeigneten Maßnahmen schon lange, sie müssen nur umgesetzt werden, um un seren wertvollen Boden gegen Erosion zu schützen.“

Wie bringt man Landwirt*innen zur Klimawandelanpassung?

Landwirt*innen passen sich an, aber nicht alle in ausreichendem Maß. Diesen Ein druck bekam auch Hermine Mitter von der BOKU im Zuge ihrer Forschung. Sie initiierte am Institut für Nachhaltige Wirt schaftsentwicklung, gefördert vom Kli ma und Energiefonds, das Projekt „Ent wicklung von LandwirtInnen Typen zur Stärkung von Adaptionsmaßnahmen in Österreich“.

Bäuerliche Betriebe seien in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit von häufi geren bzw. intensiveren Extremwetterereig nissen betroffen, erklärt Mitter. „Wir möch ten herausfinden, wie Landwirt*innen pla nen, damit umzugehen, und wie öffentli che Akteur*innen sie besser unterstützen können. Es gibt Politikinstrumente oder Weiterbildungsmaßnahmen, die regionale

Gegebenheiten wie etwa die Berglandwirt schaft im alpinen Raum berücksichtigen. Aber auf individuelle Wahrnehmungen und Handlungsabsichten von Landwirt*innen wird derzeit kaum Rücksicht genommen.“

In der ersten Projektphase wurden mit Landwirt*innen in unterschiedlichen Pro duktionsgebieten leitfadengestützte Inter views im Kontext des Klimawandels ge führt. „Aus diesen Statements haben wir einen Fragebogen erstellt, um verständlich in der Sprache der Befragten zu kommu nizieren.“ Man entschied, sich darauf zu beschränken, wie Dürreereignisse wahr genommen und welche Maßnahmen ge plant werden. Dazu wurden per Zufallszie hung Fragebögen an 2.500 landwirtschaft liche Betriebe in Österreich versendet. Der Rücklauf bislang: knapp zwanzig Prozent.

Aus der qualitativen Forschungsphase wurden vier Typen abgeleitet: Erstens die „Klimawandelanpasser“. Sie nehmen Kli maveränderungen und die damit verbun denen vorwiegend negativen Auswirkun gen für ihren Betrieb deutlich wahr, ken nen eine Bandbreite an wirksamen Maß nahmen und setzen diese um. Zweitens die „Integrativen Anpasser“. Sie betonen, dass umweltfreundliche Produktions und Be wirtschaftungsverfahren gleichzeitig bei der Anpassung an Klimaveränderungen hilf reich sind. Drittens die „Kosten Nutzen Rechner“. Sie sammeln viele Informationen und wägen bei jeder Maßnahme ab, ob sie jetzt oder später für den Betrieb sinnvoll ist. Und viertens die „Fatalisten“. Sie glauben an den Klimawandel und bewerten ihn als hohes Risiko, obwohl sie bisher wenig be troffen waren. Sie planen keine Maßnah men, sondern wollen die Verantwortung an öffentliche Hand oder Konsument*innen übertragen.

Wie erreicht man die vier mit Anpas sungsvorschlägen? Das Team um Mitter hat es noch nicht konkret getestet, aber Ideen dazu. So sollte man Kosten Nutzen Rech nern detaillierte Informationen zu Zeit aufwand, möglicher Effizienzsteigerung und Investitionskosten zur Verfügung stel len. Bei Integrativen Anpassern sollten die Umwelteffekte einer Maßnahme wie Arten schutz oder Steigerung des Humusgehalts mitkommuniziert werden. Und die Fatalis ten? „Am ehesten könnte eine soziale In teraktion über Menschen wirken, denen sie vertrauen und mit denen sie bereits erfolg reich zusammengearbeitet haben.“

Zu bedenken sei auch, dass der Klima wandel nur ein Thema ist, mit dem sich Landwirt*innen befassen müssen. Aktuell brauchen sie Strategien im Umgang mit steigenden Preisen für Dünger und Futter mittel. „Wir beschäftigen uns am Institut vor allem mit nationalen Fragen zur land wirtschaftlichen Produktion und Ernäh rungssicherheit. Der Klimawandel aber ist ein globales Problem. Das sollten wir nicht aus den Augen verlieren.“

FOTOS:
WILKE, J. HUBMANN
„Wir können jetzt bessere Voraussagen machen, wie viel Erosion bei bestimmten Niederschlägen auftreten kann.“
ANDREAS KLIK, BODENPHYSIKER, BOKU WIEN
Wie reagieren die Böden und wie die Landwirt*innen auf den Klimawandel?
Hermine Mitter, BOKU Wien
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Neubau in Stadt und Land

Wohnen ist ein Grundrecht. Artikel 11 des „Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rech te“ schreibt es fest. Denn Wohnen erfah ren wir als ein elementares und existenziel les Grundbedürfnis. Ein schönes Zuhause bietet Raum für Erholung und Selbstent faltung, Vertrautheit, Sicherheit und Pri vatheit. Damit trägt es ganz wesentlich zu einem Gefühl der Geborgenheit bei.

Nicht zuletzt zeigt sich die Identität ei nes Menschen an der Wahl seiner eige nen vier Wände. Sie belegen seinen ge sellschaftlichen Status und seinen ökono mischen Aufstieg, womit das für so viele Menschen wichtige Bedürfnis nach sozia ler Anerkennung befriedigt wird. Die Hal tung zum Wohnen kann als Abbild einer Gesellschaft verstanden werden. Eine hohe Wohnqualität schafft den sozialen Rahmen für eine kulturell und intellektuell emanzi pierte Gesellschaft.

Die Wertschöpfungskette rund um das Wohnen

Daneben hat Wohnen auch eine wirt schaftliche Dimension. Es ist die vermut lich wichtigste Stütze der österreichischen Volkswirtschaft. Nach Berechnungen von Kreutzer Fischer & Partner steuert der Sek tor etwa 21 Prozent zum Bruttoinlands produkt bei und ernährt rund 776.000 Er werbstätige und deren Familien.

und Zweifamilienhäuser zwischen 2015 und 2020 in Tirol und Vorarlberg um jähr lich fünf beziehungsweise acht Prozent, im Großraum Wien im Jahresdurchschnitt um knapp sieben Prozent. Der durchschnittli che Verkaufspreis pro Quadratmeter von Eigenheimen erhöhte sich im selben Zeit raum im Bundesschnitt um fast fünf Pro zent pro Jahr, in Vorarlberg waren es jähr lich sogar elf Prozent.

Immobilienwirtschaft mit viel Verve den Markt für Nebenwohnsitze und Wohnun gen, die als reine Finanzanlagen angeschafft wurden. Wohnraum zum Zwecke einer dauerhaften Bewohnung wurde zu wenig gebaut.

Andreas Kreutzer, geschäftsführender Gesellschafter der Branchenradar. com Marktanalyse GmbH

Noch etwas stärker war der Preisauf trieb bei Eigentumswohnungen. Im Jah resdurchschnitt stieg der Preis pro Quad ratmeter um etwas mehr als sechs Prozent auf Bundesebene und um rund neun Pro zent in Niederösterreich, Oberösterreich und Vorarlberg.

Die Mieten steigen bereits seit Beginn der 2000er Jahre überdurchschnittlich rasch. In den letzten zwanzig Jahren er höhte sich der durchschnittliche Mietzins pro Quadratmeter mehr als doppelt so rasch wie die Inflation.

Zwischen 1990 und 2020 wuchs die Zahl der Hauptwohnsitze in Österreich um 34 Prozent auf 3,99 Millionen. Die Zahl der Nebenwohnsitze und Wohneinheiten ohne Wohnsitzangabe erhöhte sich im sel ben Zeitraum indessen um 114 Prozent auf rund 913.000.

Rund fünfzehn Prozent der in den letz ten dreißig Jahren mit Wohnbauförderung errichteten Wohnungen in Mehrfamilien häusern wurden im Jahr 2020 nicht dau erhaft bewohnt – das sind rund 104.000 Wohnungen. Mit einem zwischenzeitlichen Leerstand lässt sich eine derart hohe Zahl nicht erklären.

Offensichtlich wurden mit Hilfe der staatlichen Wohnbauförderung Neben wohnsitze und Anlagewohnungen finan ziert. Damit entzog man dem sozialen Wohnbau jede sechste bis siebente neu er richtete geförderte Wohnung. Zumindest 4,6 Milliarden Euro an Wohnbauförde rung wurden an der eigentlichen Bestim mung „vorbeigebaut“.

Andreas Kreutzer, geboren 1963, unterstützt seit mehr als dreißig Jahren Unternehmen in Fragen der strategischen Neuaus richtung, des Marketings und in M&A Projekten. Seine Leidenschaft gehört dabei dem Bausektor, allen voran der Er ist geschäftsführender Gesellschafter Marktanalyse GmbH und Begründer Standorten in Wien und Berlin.

Andreas Kreutzer ist Autor zahlreicher Wirtschaftskommentare in nationalen und internationalen Printmedien und gefragter Interviewpartner bei Printmedien, Fernsehen und Rundfunk.

In den letzten dreißig Jahren stiegen die Mieten, Häuserund Wohnungspreise deutlich rascher als die Inflation. Leistbares Wohnen steht zur Disposition. Andreas Kreutzer analysiert, weshalb die meisten politischen Vorschläge zur Einhegung des Preisauftriebs nur bedingt greifen werden. Er argumentiert, warum Handlungsbedarf entlang der gesamten Wertschöpfungskette besteht: in der Raumplanung, bei der Widmung von Bauland, bei der Wohnbauförderung, bei der Höhe von Baukosten und Baupreisen, hinsichtlich ordnungspolitisch. Vor allem aber braucht es eine dauerhaft hohe Neubauproduktion über den unmittelbaren Bedarf inanspruchnahme zum Trotz. Denn in den letzten dreißig Jahren wurde zu einem guten Teil für Nebenwohnsitze und Anlagezwecke gebaut. Der aktive Leerstand ist daher zu gering, um Druck auf Mieten und Preise auszuüben. Doch nur ein hoher aktiver Leerstand garantiert, dass Bauen und Wohnen leistbar bleibt.

Die Wertschöpfungskette „Wohnen“ zieht sich wie ein roter Faden durch unser Leben. Sie beginnt bei der Mobilisierung von Bauland und der Errichtung der not wendigen Infrastruktur. Sie erstreckt sich weiter über Bauträger, Architekt*innen und Planer*innen bis hin zur Baustoffindustrie, den Baustoffhandel und dem ausfüh renden Sektor der Bauwirtschaft. Sie en det bei den der Bauwirtschaft nachgelager ten Bereichen.

Dazu zählen die Immobilienwirtschaft, Energieversorger, Herstellende von Einrich tungsgegenständen und Haushaltselektro nik sowie deren Vertriebskanäle, Versiche rungen, Handwerks und Reparaturdiens te. Kurzum, im ökonomischen Kontext ist Wohnen omnipräsent.

Wohnen wird immer teurer, Preise und Mieten steigen Wohnen bedient deshalb nicht nur mensch liche Grundbedürfnisse, Wohnen ist auch Ware und Dienstleistung. Selbst im Sozia lismus wurde und wird nicht kostenfrei ge wohnt. Es stellt sich daher nicht die Frage, ob man mit Wohnen ein Geschäft machen darf. Wohnungen sind ein Wirtschaftsgut. Allerdings eines, das sich zuletzt massiv verteuert hat.

Laut Erhebungen von Statistik Austria stiegen die Grundstückspreise für Ein

Wohnen ist Sozial- und Wirtschaftsgut zugleich. Die Wertschöpfungskette „Wohnen“ steuert rund zwanzig Prozent zur Wirtschaftsleistung Österreichs bei. Doch es läuft nicht alles rund im System. Mit bestechender Klarheit identifiziert Andreas Kreutzer damit spannende Einblicke in die kom plexe Gemengelage des Wohnsektors in Österreich. Er erklärt warum Normen und Gesetze Bauen und Wohnen unnötigerweise verteuern. Er rechnet vor, wie viele geförderte Wohnungen zweckentfremdet verwendet werden und um wie viel günstiger wir bauen und wohnen könnten, wenn man Par Er legt den Finger auf die Schwachstel len einer noch immer in weiten Teilen handwerklichen Bauproduktion und beschreibt gut verständlich, warum wir unsere Vorstellungen über die Art und Weise, wie wir Bauen ändern sollten.

Für viele stellt sich daher die Frage: „Wie lange können wir uns Wohnen noch leis ten?“ In der öffentlichen und medialen Dis kussion geht es zumeist um leistbare Mie ten, zuletzt auch verstärkt um rasch steigen de Häuserpreise. In Salzburg und Tirol wird der Ausverkauf von Grund und Boden an Ausländer*innen diskutiert. Die Lösungs vorschläge reichen von der Mietpreisbremse oder dem Mietpreisdeckel über die Abschaf fung der Maklergebühr für Wohnungssu chende bis hin zu gesetzlichen Regelungen zur Bauland und Wohnraummobilisierung.

Die dem Preisauftrieb zugrunde liegen den Probleme werden damit nicht angespro chen. Denn dass Bauen und Wohnen immer teurer werden, hat mit drei Faktoren zu tun.

Andreas Kreutzer stellt der zumeist nur oberflächlich geführten Diskussion über leistbares Wohnen fundierte Daten und Fakten gegenüber, welche Er schärft mit seinen Analysen den Blick für die großen Herausforderungen im Wohnbau.

Collage Verlag, Wien Andreas Kreutzer, Das Ende der Maurerkelle –30 Jahre Wohnbau in Österreich 1990–2020. ISBN: 978-3-9500638-7-5

Das Buch analy siert die Entwick lungen im öster reichischen Wohn bau der letzten dreißig Jahre, hin terfragt kritisch die dahinterliegen den Mechanismen und Treiber und skizziert die neue Wirklichkeit des Wohnbaus

Die Faktoren für die enorme Verteuerung des Wohnens

Dass sich Bauland mancherorts massiv ver teuerte, lag im Wesentlichen daran, dass ge nau dort die Umwidmungen von Forst und Agrarflächen in Bauland im letzten Jahr zehnt dramatisch zurückgefahren wurden, obgleich die Nachfrage nach Bauflächen für den Wohnbau wuchs. Die rückläufige Be reitstellung von Grund und Boden für den Wohnbau war Ergebnis der Diskussion über Bodenversiegelung und der Angst vor über handnehmendem Zuzug.

Der aktive Leerstand, also die am Markt zum Kauf oder zur Vermietung an gebotenen Wohnungen und Häuser, über steigt selten die Marke von vier Prozent des Wohnungsbestandes. Um Wohnungs und Mietpreise unter Druck zu setzen, ist ein Leerstand von zumindest acht Prozent erforderlich.

In den letzten drei Dekaden wurden in Österreich mehr als 1,4 Millionen Wohn einheiten neu errichtet. Dabei bediente die

Mit den Jahren verlor die Wohnbauför derung mehr und mehr von ihrer preis dämpfenden Funktion. Zum einen, weil der Förderdurchsatz in den letzten Jahren mas siv schrumpfte. Zwischen 1990 und 2010 wurden etwa 95 Prozent aller Mehrfamili enhäuser mit staatlicher Förderung errich tet. Zuletzt waren es nur noch sechzig Pro zent. Bei Eigenheimen in den letzten zehn Jahren nur dreißig Prozent.

Zum anderen ist die Dotierung der Wohnbauförderung seit dreißig Jahren bei etwa zwei Milliarden Euro pro Jahr gedeckelt. Da die Baupreise in diesem Zeit raum stiegen, stand ab 2011 nur noch die Hälfte des marktrelevanten Outputs der 1990er Jahre zur Verfügung. Seit 2018 ist es nur noch ein Drittel.

Ein weiterer Faktor: Die Bauwirtschaft hält im Großen und Ganzen an handwerk lichen Bauprozessen fest.

Die Arbeitsproduktivität am Bau ist kaum gewachsen Zwischen 1990 und 2020 wurden im groß volumigen Wohnbau Kostensteigerun gen bei Lohn und Material Jahr für Jahr mehr oder weniger eins zu eins an die Bauherr*innen weitergegeben.

Folglich wuchsen im Wohnungs und Siedlungsbau die Baupreise jährlich um durchschnittlich 2,6 Prozent und damit um etwa ein Drittel rascher als die Infla

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Welche Maßnahmen können den Preisauftrieb im Wohnbau stoppen?
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FOTO: SIMA PRODINGER/SI.MA.PIX
Das Ende der Maurerkelle 30 Jahre Wohnbau in Österreich 1990 – 2020 Andre A s Kreutzer Das Ende der Maurerkelle Andreas Kreutzer
TITELTHEMA : HEUREKA 4/22 FALTER 39/22 19 COLLAGE: FRAUKE KRÜGER-LEHN UND ELISABETH SPENGLER CASTILLO

Stadt und Land – das Glossar

Arbeitsplätze Gibt es in den Städten zahlreich und für ver schiedenste Qualifikationen, am Land spärlich und für deut lich weniger Berufsfelder.

Artenvielfalt In der Stadt le ben nicht nur unterschiedlichs te Menschen, sondern auch Pflanzen und Tiere zusammen, viele Grünzonen in den Städten sind deutlich artenreicher als landwirtschaftlich intensiv ge nutzte Flächen auf dem Land. Ausbildungsmöglichkei ten Reichen in den Städ ten von der Grundschule bis zu Universitäten und berufs begleitender Fortbildung, auf dem Land bis zur Mittelschule.

Autos Bringen Landbewoh nende unter der Woche zuhauf in die Städte und verstreuen am Wochenende die Städter*innen zuhauf am Land.

Fremdenangst Ist in Öster reich dort am größten, wo es ohnehin kaum Zuwanderung aus anderen Ländern gibt, nämlich auf dem Land.

Geländewagen In der ös terreichischen Hauptstadt und dem recht flachen Um land (Wien, Niederösterreich und Burgenland) werden laut Statistik Austria besonders viele Gelände- und Pseudo geländeautos gekauft (und zugelassen).

Infrastruktur Wurde durch hohe Individualmobilität zu nehmend vom Land verbannt und an trostlose Einkaufszen tren mit hektarweise zubeto nierten Parkplätzen um die Städte herum verpflanzt. So gibt es viele ehemals blühen de Ortschaften am Land, die zu reinen Einfamilienhaussiedlun gen mutiert sind.

Landflucht Umzug vom Land in die Stadt, hauptsächlich um der dortigen Arbeitsplät ze und Ausbildungsmöglichkei ten wegen.

Landwirtschaft Findet auch in der Stadt statt, so werden etwa in Wien 14 Prozent der Fläche zum Anbau von Ge müse, Obst und Ackerfrüchten genutzt.

Nachbarn Kennt man auf dem Land seit ewig und genau, um sie regelmäßig einzuladen, zu besuchen, hinter ihrem Rü cken über sie zu reden, und teils erbittert mit ihnen zu streiten. In der Stadt ist das irgendein*e Fremde*r, der oder die um die se oder jene Zeit vielleicht jene Geräusche macht, die durch das

Mauerwerk oder aus dem Fens ter dringen.

Öffentlicher Verkehr Ist in vielen Städten attraktiv und günstig, und manchmal sind auch die Verbindungen vom Land direkt in die Hauptstäd te passabel. Von einem Punkt am Land zum anderen zu kom men, ist aber heutzutage per Öffis zwischen nervenaufrei bend bis unmöglich.

Pendeln Tägliches Kilome terfressen von Landbewohn nenden, um zum Arbeits- oder Ausbildungsplatz in der Stadt zu gelangen.

Politische Einstellung Stadt eher liberal, Land eher konservativ.

Speckgürtel Ringförmiger Bereich um die Ballungszentren mit Passivhäusern Gutbetuch ter, großflächig betonierten Ter rassen, Carports und Zufahrten auf ehemaligen Grünflächen.

Stadtflucht Verzweifelte Su che nach Haus mit Garten, gu ter Verkehrsanbindung und ra schem Internetanschluss für das Zuhausebüro in nicht re novierungsbedürftigem Zu stand zu leistbarem Preis etwa während der Coronapandemie. Stadtklima Gegenüber dem Umland verändertes Lokal klima durch dichte Verbauung, fehlende Vegetation, Abwärme und vermehrte Luftschadstoffe.

Urbanisierung Weltweiter Trend von Menschen, vom Land in Städte zu ziehen. Welt weit ist die Zahl der Menschen, die in Städten wohnen, von 1950 bis 2018 von 751 Millio nen auf 4,2 Milliarden um das Fünfeinhalbfache gestiegen. In derselben Zeit wuchs die Welt bevölkerung von 2,5 auf 7,5 Milliarden „nur“ auf das Drei fache an.

Urbanisierungsgrad Anteil der Stadtbewohnenden eines Landes. In Österreich anno 2021 knapp sechzig Prozent (siehe Seite 12), bis 2050 sollen es rund siebzig Prozent sein.

Verdichten Sinnvolle, aber selten umgesetzte Steigerung der Siedlungsdichte innerhalb der Dörfer und Städte durch Renovierung und Höherwer den, anstatt die grünen Flä chen rundherum zu verbauen.

Zweitwohnsitze Der dop pelte Platzbedarf von Leuten, die sich nicht zwischen Stadt und Land entscheiden können, führt zum Trend der „Multi lokalität“ (siehe auch Seite 12).

Fortsetzung von Seite 18 tion. Diese lag im Mittel bei zwei Prozent pro Jahr. Während sich die Lebenserhal tungskosten seit 1990 um 82 Prozent er höhten, verteuerten sich die Errichtungen von Mehrfamilienhäusern um 113 Prozent.

Für Häuslbauer*innen kam es noch dicker. Hier lag der jährliche Preisauftrieb bei durchschnittlich 3,2 Prozent. In Sum me ergab das in den letzten dreißig Jahren eine Verteuerung um 160 Prozent.

Während sich zwischen 1995 und 2020 die Arbeitsproduktivität gesamtwirtschaft lich um mehr als ein Drittel verbesserte, entwickelte sich die Bauwirtschaft diesbe züglich bestenfalls seitwärts. Zwar ist etwa der Vorfertigungsgrad im Rohbau in den letzten Jahrzehnten gestiegen, doch das reichte offenbar nicht, um die Arbeitspro duktivität zu steigern.

Denn gleichzeitig wuchs auch der Ar beitsaufwand infolge immer umfangrei cherer ordnungspolitischer bau- und ver fahrenstechnischer Reglements sowie einer komplexeren Bauproduktion.

Nicht förderlich für Produktivitätsstei gerungen erwies sich auch die enorme An zahl an Stakeholdern entlang der Wert schöpfungskette „Wohnen“. Mit ihren un terschiedlichen, oft gegensätzlichen Inte ressen haben auch sie Innovationen und Prozessverbesserungen gebremst und da mit zum Preisauftrieb beigetragen.

Die Möglichkeiten zur Steigerung der Effizienz erscheinen enorm. Lediglich 31 Prozent der Arbeitszeit auf der Baustel le werden für das Bauen verwendet, stellt die ETH Zürich in einer Studie fest. Weitere neun Prozent der Arbeitszeit benötigt man für Transporte. Vierzehn Prozent entfallen auf unproduktive, aber bauprozessbeding te Wegzeiten. Beides kann man unter not wendigem Logistikaufwand subsummieren.

Dazu kommen 22 Prozent der Arbeits zeit, die unproduktiven Tätigkeiten der Baustellenlogistik zugeordnet werden kön nen. Dazu zählen personalbedingte Unter brechungen, Auf- und Umräumen, stö rungsbedingte Unterbrechungen und Ma terialsuche. Die Personalstehzeiten werden von der ETH mit 19 Prozent der Arbeits zeit quantifiziert.

In Summe gibt es daher zumindest theoretisch zwischen 30 und 40 Prozent Rationalisierungspotenzial. Mit einer bes seren Planung und einem effektiveren Bau stellenmanagement könnte dieses abge schöpft werden.

Ein Wohnbau ist eine teure Maßarbeit geblieben

Wir sind es gewohnt, dass neunzig Prozent der von uns gekauften Waren aus indus trialisierter Fertigung kommen. Beim ver gleichsweise hochpreisigen Produkt Wohn bau setzen wir aber nach wie vor auf indivi duelle Maßarbeit. Nahezu jedes neu errich tete Wohngebäude wird projektspezifisch geplant, danach gesondert ausgeschrieben und als Einzelstück errichtet. Also mit im mer wieder unterschiedlichen Baustof fen und Ausbaumaterialien sowie anderer Gebäudetechnik.

Die Bauprozesse werden jedes Mal ge sondert organisiert, wodurch sich die Lern kurve deutlich flacher entwickelt als in der

Sachgüterindustrie. Nicht zuletzt führt die se Art des Losgröße-1-Bauens dazu, dass die Bauwirtschaft steigende Kosten, etwa bei Material- oder Personalaufwand, nicht durch eine erhöhte Produktivität, zumin dest teilweise, abfangen kann.

Dabei wäre der Handlungsbedarf für eine stärkere Industrialisierung groß. In einer GU-Preisberichtigung des Wirt schafts- und Arbeitsministeriums aus den späten 1950er-Jahren wird der Arbeitskos tenanteil im Wohnbau mit lediglich 22 Pro zent angegeben. Heute sind es abhängig vom Gewerk zwischen vierzig und sech zig Prozent.

Warum im Wohnbau zumeist Unikate produziert werden, kann niemand genau sa gen. Es war eben immer schon so.

Vordergründig wird die Vorgangsweise mit dem vermeintlichen Anspruch an in dividuell errichtete Wohngebäude begrün det. Tatsächlich ist es aber wohl so, dass dieses Bauen in Losgröße 1 die tradier ten handwerklichen Strukturen und Pro zesse zementiert. Und offensichtlich wol len alle, die mit Wohnbau Geld verdienen, diese nicht antasten. Ein in Serie produzier tes Eigenheim kostet um die Hälfte weniger als ein in Maßarbeit errichtetes.

Industrielle Bauweise

zur Senkung der Kosten

Bei einer industriellen Bauweise würde sich die Wertschöpfung wohl völlig anders verteilen als heute. Im Geschoßwohnbau könnte um zumindest vierzig Prozent güns tiger gebaut werden. Um diese Diskussion nicht führen zu müssen, wird das individu elle Wohngebäude zum Dogma erklärt und serielles Bauen mit uniformen Plattenbau ten gleichgestellt.

Dabei schließen in Serie gefertigte Pro dukte Individualität nicht aus. Es bedarf keiner Maßarbeit, um Individualität zu produzieren. Die Automobilindustrie ist ein gutes Beispiel dafür, wie Serienferti gung mit Individualität in Gleichklang ge bracht werden kann. So ist ein VW Golf der letzten Generation, berücksichtigt man alle Kombinationsmöglichkeiten wie etwa Mo torisierung, Lackierung oder Innenausstat tung, rein rechnerisch ab Werk in 250.000 Varianten zu haben.

Im Gebäudebestand würde man eine großflächige Umstellung des Wohnbaus auf industrielle Fertigung kaum merken. Selbst unter der unrealistischen Annahme, dass wir im Geschoßwohnbau bis 2050 nur noch in zehn verschiedenen Varianten bau en und jährlich ein Prozent des Wohnbau bestandes abreißen, würde bei konstanter Bauleistung die Variantenvielfalt im Ge bäudebestand von heute rund 177.000 un terschiedlichen Gebäudetypen lediglich auf 138.000 Varianten sinken.

Die Befürchtung von monotonen, gleich artigen Stadt- und Ortsbildern ist unbe gründet. Im Rahmen einer Podiumsdis kussion brachte einer der Teilnehmenden, die Art, wie wir heute Wohnbau realisie ren, wie folgt auf den Punkt: „Zwei identi sche Wohngebäude sind ein Zufall, bei drei gleichen Gebäuden sprechen wir bereits von einer Serie.“ Erlauben wir uns doch, etwas großzügiger zu denken.

20 FALTER 39/22 HEUREKA 4/22 : TITELTHEMA
: VON A BIS Z
TITELTHEMA : HEUREKA 4/22 FALTER 39/22 21 COLLAGE: FRAUKE KRÜGER-LEHN UND ELISABETH SPENGLER CASTILLO

Der Avantgardist im Jenseits

Dem Dichter Friedrich Hölderlin ist ein neues, vielfältiges Buch gewidmet

Mythen ranken sich um einen Dichter, der unter dem Pseudonym „Scardanelli“ seine letzten Werke schrieb. Friedrich Hölderlin, 1770 in Lauffen am Neckar geboren und 1843 in Tübingen gestorben, darf immer noch als einer der bedeutends ten Lyriker auch unserer Zeit gelten. 2020 war ein Gedenkjahr, doch ließen die Wellen der Pandemie die meisten Feiern und Veranstaltungen unterge hen oder zu entsinnlichten Treffen in der digitalen Sphäre verkommen. Pro jekte, in denen geprüft werden soll te, ob Hölderlins Werk uns noch be geistern und kraft der Begeisterung einen Weg zur Besonnenheit weisen kann, blieben ebenso unverwirklicht wie einst Hölderlins Traum von einer Deutschen Republik.

Dennoch gab und gibt es weiter hin Versuche, den Dichter aufleben zu lassen. So auch der Band „Hölderlins frag würde Aktualität“, der im Juli die ses Jahres bei Königshausen und Neu mann erschienen ist. Darin stellen die unterschiedlichsten Beiträge Hölderlin auf den „Prüfstand“. Ziel ist, Enthu siasmus und Nüchternheit im Lichte jener „höheren Aufklärung“ zu verei nigen, die der Dichter betreiben woll te. Dazu werden verschiedene Medi en, Genres und Formate genutzt: Ge dichte, persönliche Statements, Bilder, literarische Essays, gelehrte Abhand lungen und auch das LyricConcert HölderlinGroove.

Worin die Modernität Hölderlins be steht, hat die Forschung bereits in den 1990er Jahren mit Nachdruck zu be stimmen versucht und – so wird viel fach behauptet – auch erschöpfend dargelegt. Etwa Gerhard Kurz, Va lérie Lawitschka und Jürgen Werthei mer als Herausgeber von „Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsauf nahme“, Tübingen 1995.

Demnach haben Hölderlins Schrif ten für die Moderne eine paradigmati sche Funktion. Seine ist eine Sprache, die stets an ihren eigenen Rändern ba lanciert und zwischen Erzählen, Sin gen, Zirpen, Klingen und dem Vorantreiben einer Handlung changiert – etwa in seinem Roman „Hyperion“. Bei dessen Analyse gelangt die Ger manistik an ihre Grenzen. Der Text ist einer, der aus dem Rahmen fallen möchte, wie auch sein Dichter selbst aus dem Rahmen fällt. Als er den Text verfasste, kippte Hölderlin in eine Art „geistige Umnachtung“, aus der er Zeit seines Lebens nicht mehr herausfin den sollte. So entstand dieser Brief­

roman vor einem drastischen autobio grafischen Hintergrund.

„Zu einem modernen Dichter wird Hölderlin, indem er sich jenseits des Postulats der Nachahmung der Antike mit den alten Mustern kritisch auseinandersetzt, um daraus eine poetische Logik zu entwickeln , die neue Formen des Dichtens in Szene zu setzen vermag“

ACHIM GEISENHANSLÜKE, LITERATURWISSENSCHAFTLER, GOETHE-UNIVERSITÄT, FRANKFURT AM MAIN

Hyperion, ein Mann mittleren Al ters, erzählt seinem deutschen Freund Bellarmin in Form von Briefen über sein Leben. Er wächst in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Südgriechenland auf. Die Liebe zur Natur sowie ein wohliges Sich Wiegen im Einklang mit allen Dingen bestimmen seine Existenz. Gleich zu Beginn des Texts begegnet dem fiktiven Ich Erzähler, ei nem literarischen Hybrid, das an man chen Stellen mit dem Ich des Autors zu verschwimmen scheint, die Ein heit mit der Allheit in Form von spru delnden Quellen, Wolken und Wie sen. Doch „wer bloss an einer Pflanze riecht, der kennt sie nicht!“

Der Lehrer Adamas führt ihn in die Heroenwelt des Plutarch und wei ter in das Zauberland der griechischen Götter ein. Es gelingt ihm, Hyperi on für die griechische Vergangenheit zu begeistern, der junge Mann wird, von großen Sehnsucht gepackt, zum Suchenden. Sein Freund Alabanda weiht ihn in Pläne zur Befreiung Grie chenlands vom osmanischen Joch ein. Dann verliebt sich Hyperion in Dioti ma, die ihm die Kraft zum Handeln eingibt – er nimmt 1770 am Befrei ungskrieg der Griechen gegen die Os manen teil.

auf ein Publikum, ausgerichtet ist. Es gilt dem Freund, an den die Briefe adressiert sind, ließe sich aber auch in Bühnengeschehen umsetzen. „Hyperion“, ein Hybrid, changiert zwischen archaischen Strukturen und moder nen Sprachansätzen. Dieser Text des laut Zeugenaussagen meist „umnach teten“ Dichters ist lyrische Epik, stets oszillierend zwischen Sprachspiel und dem Weitertreiben einer Handlung. Damit erinnert er auch noch an Rezi tative und Arien einer Oper. Ist „Hy perion“ eines der ersten modernen Musiktheater?

Hölderlins frag-würdige Aktualität, Lisa Wolfson, Sophie Reyer (Hg.), Königshausen & Neumann, 2022, ISBN-13: 9783826069758

Wie es schon in den ersten Zeilen des Briefromans angedeutet wird, ist alles in der Welt von der Sehnsucht geprägt, zum Urquell zurückzukeh ren. Während er den Schmerz sinn loser Schlachten erlebt, kehrt in Hy perion die Sehnsucht nach Natur und der Seligkeit des Sich in ihr Wiegens zurück. Abgestoßen von der Rohheit des Krieges und schließlich schwer verwundet muss er zusehen, wie Ala banda flieht und seine Geliebte Dioti ma stirbt. Er geht nach Deutschland, aber auch dort wird ihm das Leben unerträglich. Nach Griechenland zu rückgekehrt, fristet er sein Dasein als Eremit, findet Schönheit in der Ein samkeit und der Natur und überwin det alle Tragik, die im Alleinsein des Menschen liegt. Mit der Schöpfung verbunden, erlebt Hyperion den Rest seiner Tage – mit Versen, die von ihr singen. Ist er „heimgekehrt“?

Der Text selbst hält diese Frage offen: „Hyperion“ weist wohl eine Fülle an Eigenheiten des Briefromans, des Ent wicklungsromans und des Bildungsro mans auf, evoziert aber auch die Form des Dramas. Etwa durch ein mono logische Sprechen, das auf ein „Du“,

Was Hölderlin zum literarischen Avantgardisten macht, sucht die An thologie „Hölderlins frag würde Ak tualität“ zu entdecken. Der Literatur wissenschaftler Achim Geisenhanslü ke fasst die wichtigsten Erkenntnis se und Thesen pointiert zusammen. „Hölderlin folgt der ,Querelle des An ciens et des Modernes‘, um sie dialek tisch zu überwinden: Hatte die grie chische Poesie, wie Hegel und Höl derlin überzeugt sind, in der Form der Tragödie ihre Erfüllung gefun den, so fordert die moderne Poe sie nach einer eigenen, davon unter schiedenen Form. Hölderlin sucht sie zunächst im Kontext der Tragö die selbst, indem er sich darum be müht, mit dem ,Tod des Empedokles‘ eine eigene dramatische Form zu fin den. Aus dem Scheitern seiner Bemü hungen zieht er ebenso radikale wie produktive Konsequenzen: Die lyri schen Bestandteile der antiken Tra gödie, die Chorlieder, wie die An knüpfung an Pindar führen ihn zu den neuen hymnischen Formen, die sein Spätwerk bestimmen. Anstelle des gattungspoetisch und geschichts philosophisch begründeten Vorrangs der antiken Tragödie, wie ihn noch Hegel in seiner ,Ästhetik‘ zu begrün den versucht, gewinnt bei Hölderlin die Lyrik eine paradigmatische Funk tion für die Moderne – eine Lyrik, die geschichtsphilosophisch auf der Dif ferenz zwischen Antike und Moder ne beharrt und zugleich in ihrer eige nen Formbestimmtheit gattungspoe tische Grenzen außer Kraft zu setzen sucht. Zu einem modernen Dichter wird Hölderlin, indem er sich jenseits des Postulats der Nachahmung der Antike mit den alten Mustern kri tisch auseinandersetzt, um daraus eine poetische Logik zu entwickeln, die eigenen Gesetzen gehorcht und so neue Formen des Dichtens in Szene zu setzen vermag.“

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FOTO: JOHANN WOLFGANG GOETHE-UNIVERSITÄT

Michael Donhauser

Seit „Der Holunder“, einer Sammlung von Prosagedichten aus 1986, veröf fentlichte der in Wien lebende Autor Michael Donhauser (geb. 1956 in Va duz) ein gutes Dutzend Bücher – Pro sa, Lyrik und Übersetzungen. Zuletzt erschienen im Berliner Verlag Matthes & Seitz die Stifter-Paraphrase „Wald wand“ (2016) und „Wie Gras. Legen den“ (2022).

Nah den Bäumen, ihren Nüssen, nah dem Lispeln wie von Blättern war bewegt, was sich als Äste steif dem Taumel widersetzte, während Halmen gleich bald wankte, bald sich neigte dieses Leben, das uns rührte durch die Anmut seiner Schönheit im Vergehen.

ERICH KLEIN

: WAS AM ENDE BLEIBT

Tottaubheit

Der ukrainisch-amerikanische Dich ter Ilya Kaminsky eröffnet sein großes Poem „Republik der Taubheit“ provo kant und spricht vom „Glück während des Krieges“. Damit gemeint ist der distanzierte Zuschauer. Am Schau platz des Geschehens selbst, in der von fremden Truppen besetzen, fikti ven Stadt Vasenka herrscht Versamm lungsverbot. Ein Junge wird erschos sen. Dessen Cousine, ganz Antigo ne, hebt zu einem Klagelied an: Ihr Schrei reißt ein Loch in den Himmel. Es folgen rasch aufeinander Szenen wie in einem Stummfilm. Die Stadt, beginnt sich zu erheben. Verhaftun gen setzen ein. Immer wieder wird der tote Junge umkreist. Der Dichter zögert bei dessen Beschreibung: „Der Körper des Jungen liegt auf dem As phalt wie eine Büroklammer.“ In der nächsten Zeile korrigiert er sich und verwirft die metaphorische Rede: „Der Körper des Jungen liegt auf dem As phalt wie der Körper eines Jungen.“

Wer sich dichtend am Rande von Tod und Verderben bewegt, läuft Ge fahr, in Kitsch zu verfallen. Kaminsky vermeidet das durch eine Strategie der Indirektheit: Über den Todesschuss heißt es nur: „Das Geräusch, das wir nicht hören, schreckt die Möwen vom Wasser“. Auch Taubheit als Symbol des Widerstandes mutet reichlich pa radox an. Vor allem aber wendet sich der Dichter mit der örtlichen NichtIdentifikation des ganzen Geschehens gegen die unbeteiligte Leserin und den distanzierten Leser! Ob er mit „Republik der Taubheit“ die Beset zung der Krim, den russischen Krieg in der Ost-Ukraine oder einen ande ren Krieg im Sinn hatte, bleibt offen und spielt letztlich keine Rolle. In ei nem Interview betonte Kaminsky, er habe sein Poem beim Einmarsch der Amerikaner in den Irak konzipiert und dann fünfzehn Jahre daran ge arbeitet. Einige Szenen polizeilicher Gewalt könnten in den USA spielen oder an die leeren Straßen während der Pandemie der letzten Jahre erin nern. Wäre also alles eins?

Falter

Redaktion: Christian Zillner; Fotoredaktion:

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Wasner;

Ganz im Gegenteil! Der erste Akt des Poems endet mit einer Art Hym nus, einer rhetorischen Frage und ei ner minimalistischen Antwort: „Was ist Stille? Etwas vom Himmel in uns.“ Im zweiten Akt nehmen sur real Bilder voller Gewalt überhand –am Ende steht abruptes Aufwachen wie aus einem Alptraum. „Wir sitzen im Publikum, reglos. Stille saust, wie die Kugel, die uns verfehlt hat.“ Die Dichtung bringt die Pastorale unse res Alltags gehörig ins Wanken: Der Schrecken dieser Welt ist nicht ab zuschalten. Sind es nicht wir, die in einer „Republik der Taubheit“ leben? Dementsprechend lautet der Schluss: „Was ist ein Mann? Eine Stille zwi schen zwei Bombardements.“

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