FALTER Beilage: Wiener Festwochen 23

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Nr. 18a/23

Wiener Festwochen 2023 ALLE VERANSTALTUNGEN UND TERMINE

Szene aus William Kentridges Kammeroper „Sibyl“. Foto: Stella Olivier

Wu Tsang und Marina Davydova Interviews +++ Susanne Kennedy „ANGELA (a strange loop)“ Marlene Monteiro Freitas „Lulu“ +++ COMISH Kabarett +++ Alexander Zeldin „The Confessions“ Kornél Mundruczó „Pieces of a Woman“ +++ Laure Prouvost Einzelausstellung Österreichische Post AG, WZ 02Z033405 W, Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien



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FOTOS: MARC BRENNER, BEA BORGERS

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Vorwort

Inhalt

illkommen zum Theatertreffen der W Welt: Von 12. Mai bis 21. Juni finden in diesem Jahr die Wiener Festwo-

Monströse Schönheit Die Choreografin Marlene Monteiro Freitas inszeniert Alban Bergs „Lulu“

chen statt, das Festival zeigt internationale Theaterproduktionen, Uraufführungen hier bekannter und noch unbekannter Künstler:innen, besondere Kompositionen. In diesem Falter-Special, das Sie gerade in den Händen halten, erfahren Sie alles, was Sie über das mehrwöchige Event wissen müssen. Besonders freuen wir uns über die Interviews, die wir führen konnten: Wu Tsang erklärt etwa, warum in ihrer Bühnenversion Pinocchio die Lektionen lehrt anstatt lernt, und Marina Davydova erzählt, was ihr Stück historisch und zugleich persönlich macht. Manchmal reicht die Erzählung eines einzelnen Lebens, um den Blick auf eine ganze Gesellschaft zu lenken. Biografien auf der Bühne ziehen sich in diesem Jahr wie ein roter Faden durch das Programm: Alexander Zeldin inszeniert ein Leben von Geburt bis zum Tod, das Musiktheater „Song of the Shank“ rückt die vergessene Vita des Schwarzen Pianisten Thomas Wiggins in den Blick, Sarah Vanhee erzählt von ihren Großmüttern und Mariano Pensotti schafft ein bizarres Erinnerungstheater. Traditionell sind die Festwochen ein spartenübergreifendes Festival: Die Schau „Ohmmm age Oma je ohomma mama“ ist die erste österreichische Einzelausstellung von Laure Prouvost. Auf Seite 21 finden Sie ein Porträt über die Künstlerin. Und warum es abenteuerlich ist, wenn sich die kapverdische Choreografin und Tänzerin Marlene Monteiro Freitas an die Inszenierung ihrer ersten Oper macht, lesen Sie auf Seite 4. Lassen Sie sich von den diesjährigen Wiener Festwochen überraschen. Die ein oder andere Produktion wird Sie bestimmt sogar beglücken. Versprochen! SARA SCHAUSBERGER

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Einsames Wandern, gemeinsames Marschieren Anne Teresa De Keersmaekers „Creation 2023“

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6 Wind, Eichenblätter, Zukunft William Kentridges „Sibyl“ über die gleichnamige Prophetin 6 Dev Hynes spielt Klassik im Burgtheater Ein seltenes Konzerterlebnis mit Devonté Hynes

Ein meisterhaftes Drama für Bühne und Netflix Kornél Mundruczós und Kata Wébers „Pieces of a Woman“ Aus aller Welt Neue Gesichter, neue Zugänge bei den Wiener Festwochen

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Spielplatz der Melancholie Doris Uhlich schickt ihre Performer:innen auf Spielgeräte

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Drei Mal Musik in Szene Neue Musik, neu inszeniert: Kompositionen zu brisanten Themen

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Seismografen unserer Gesellschaft Kritik und Perspektivenwechsel in Stücken der Wiener Festwochen Die Festnächte der Festwochen Das Partyprogramm des Festivals

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Kleinkunst als Tradition Die Veranstaltungsreihe „COMISH“ holt das Kabarett ins Festival zurück Wahlverwandtschaften im Porgy & Bess Die Konzertschiene „Elective Affinities“

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Das Menschliche in einem einzelnen Leben Alexander Zeldin erzählt in „The Confessions“ von seiner Mutter Das Leben ein Theater Biografien und Lebensgeschichten im Festwochen-Programm

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15 Anthropologe der Zukunft Joël Pommerats „Contes et légendes“ erzählt von Robotern und Teenagern 16 Einblicke in fremde Welten: Aug in Aug mit einem Teenager Anna Rispolis „Close Encounters“

16 „Du kannst Theater nie völlig kontrollieren“ Marina Davydova, Expertin für russisches Theater, im Gespräch 17 A bissl was Süßes geht immer Die Festwocheneröffnung am Rathausplatz 18 „Was ist denn ein echter Junge?“ Wu Tsang von Moved by the Motion im Interview über „Pinocchio“ 19 Mette Ingvartsen: Tanz und Rasanz in der Halfpipe Die Choreografin baut einen Skatepark ins Theater 19 Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk spricht in Wien „Rede an Europa“ am Judenplatz 20 G’schichtldrucker Mariano Pensotti und seine Grupo Marea erzählen eine abgefahrene Geschichte 20 Videokunst mit Saugnäpfen Die Künstlerin Laure Prouvost huldigt in der Kunsthalle fiktiven Großmüttern 21 „Ich lasse mich auf Experimente ein“ Ruth Goubran: Die „Vermehrt Schönes!“-Chefin im Interview 22 Planetarium einer neuen Zeitrechnung Jozef Wouters’ und Barry Ahmad Talibs „A Day Is a Hundred Years“

Impressum Falter 18a/23 Herausgeber: Armin Thurnher Medieninhaber: Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T: +43-1/536 60-0, E: wienzeit@falter.at, www.falter.at Redaktion: Sara Schausberger Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.; Layout: Raphael Moser; Lektorat: Helmut Gutbrunner; Geschäftsführung: Siegmar Schlager; Anzeigenleitung: Ramona Metzler Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau DVR: 047 69 86. Im Auftrag der Wiener Festwochen. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz ist unter www.falter.at/offenlegung/falter ständig abrufbar.


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MONSTR Groteske Körper: Marlene Monteiro Freitas schafft überwältigende Bilder und faszinierende Details. Nun inszeniert die kapverdische Choreografin und Tänzerin für die Wiener Festwochen Alban Bergs „Lulu“ PORTRÄT: THERESA GINDLSTRASSER

um Beispiel tanzen die Pupillen mit mit ihren extravaganten Fehlleistungen die Z den Schultern um die Wette. Und vom Maschine am Laufen. Was Marlene Monteiro Freitas schafft, weit aufgerissenen Mund bis zu den rastlo-

Als Abgrund quasi unendlicher Wiederho-

lung setzt sich dieses skandalöse Verhältnis auch zwischen all den tragischen Clowns und magischen Automaten, zwischen all den zerstörten und zerstörenden Figuren auf der Bühne fort. Einzelne Körper brechen aus dem Club aus, es ist Chaos, das heißt: ein anderes Tableau, dann entpuppt sich ein neues Ordnungsprinzip als allerneuestes Unordnungsprinzip, die Zahnräder greifen nicht ineinander und halten

das sind überwältigende Bilder und faszinierende Details. Die Tänzerin und Choreografin wurde 1979 auf Kap Verde geboren. Nach ihrem Tanzstudium in Brüssel und Lissabon folgten Zusammenarbeiten mit Emmanuelle Huynh, Loïc Touzé, Tânia Carvalho, Boris Charmatz und anderen. In Lissabon, wo sie heute zuhause ist, gründete sie die Produktionsstruktur P.OR.K.. Freitas wurde 2017 vom Staat Kap Verde für ihre kulturelle Leistung geehrt und im Jahr 2018 bei der Biennale di Venezia mit dem Silbernen Löwen für Tanz ausgezeichnet. Mit ihrem ekstatischen Solo „Guintche“ gastierte Freitas 2014 zum ersten Mal bei den Wiener Festwochen. Seit 2019, als Christophe Slagmuylder sein erstes Programm vorstellte, ist die Choreografin zum alljährlichen Gast in Wien geworden. So lässt sie sich als eine prägende Künstlerin der mit der diesjährigen Festivalausgabe zu Ende gehenden Intendanz Slagmuylders verstehen. „Bacantes – Prelúdio para uma Purga“ (2019) konterkarierte den rauschhaften Mord der „Bakchen“ von Euripides mit

FOTOS: LAURENT PHILIPPE, PETER HOENNEMANN-KAMPNAGEL

sen Gliedmaßen steht alles unter Strom – alles ist beweglich. Die einzelnen Körperteile treiben es wild, fragmentiert schaut das aus, wie von keiner Kontrollinstanz reglementiert. Oder jedenfalls von keiner solchen, die als kühler Kopf einen schwitzigen Körper beherrscht. Vielmehr sind in den Choreografien von Marlene Monteiro Freitas eine unheimliche Körperspannung und die so isolierten, so konkreten, so vielfältigen Bewegungen in ein skandalöses Verhältnis gebracht. Wer? Was? Wie? Oder mindestens: Grotesk! Die Körper entziehen sich dem Verstehen. Und strecken dabei fratzenhaftfröhlich die Zungen heraus.

Die Choreografin und Tänzerin Marlene Monteiro Freitas wurde 1979 auf Kap Verde geboren


FOTOS: INES BACHER, CHARLOTTE HAFKE

ÖSE einer Geburtsszene aus einem avantgardistischen Dokumentarfilm von Kazuo Hara aus den 70er-Jahren. Gartenschläuche mit Mundstücken und Trichtern verwandelten sich in Trompeten, Springschnüre und Stethoskope und der Abend gipfelte im unendlichen „Boléro“ von Maurice Ravel, währenddessen sich das Ensemble unendlich uneindeutig in Rausch und Wiederholung, Manie und Freiheit erging. Mit „Mal – Embriaguez Divina“ zelebrierte Freitas mitten in einem peniblen Gerichtssetting und frei nach den Schriften Georges Batailles die Überschreitung der ethischen Ordnung hin zum Üblen, Schmerzhaften und Bösen. 2021 bearbeitete sie auf Einladung der Wiener Festwochen und gemeinsam mit dem Dirigenten und Schönberg-Experten Ingo Metzmacher und der experimentellen Vokalistin Sofia Jernberg zum ersten Mal ein Werk des musikalischen Standardrepertoires: „Pierrot lunaire“ von Arnold Schönberg. In einem Interview für den Festwochen-Podcast charakterisierte Freitas damals die titelgebende Commedia-dell’ArteFigur als gleichzeitig tragisch, entzückend, unschuldig und sadistisch – und genau so ambivalent gestaltet sie in ihren Bühnenwerken alle Figuren, voll wahnsinniger Lebendigkeit.

Marlene Monteiro Freitas war schon öfters bei den Wiener Festwochen: 2019 etwa mit der „Bakchen“Konterkarierung „Bacantes – Prelúdio para uma Purga“ (oben links), 2022 mit dem intimen Solo „idiota“ (oben) und 2020 mit dem Tanztheater „Mal – Embriaguez Divina“ (oben rechts)

Lulu 27., 29. und 31.5., 2., 4. und 6.6., 19 Uhr, Museumsquartier, Halle E

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S C H Ö N H E I T

Das intime Solo „idiota“, bei dem Freitas 2022 ausgestellt in einer Vitrine im Museum für angewandte Kunst performte, verwies als Gegenstück bereits auf das diesjährige Großprojekt voraus. 2023 inszeniert Freitas als Koproduktion von Wiener Festwochen und Musiktheater an der Wien zum ersten Mal eine Oper. Ein abenteuerliches Unterfangen. Unter der musikalischen Leitung von Maxime Pascal wird „Lulu“, Alban Bergs erste nach der Zwölftontechnik komponierte und unvollendet gebliebene Oper, um Teile der „Lulu-Suite“ ergänzt und durch das ORF Radio-Symphonieorchester auf die Bühne gebracht. Frank Wedekinds „Lulu“-Tragödien handeln vom sozialen Aufstieg einer jungen Frau entlang der sie begehrenden Männer. Elf Sänger:innen und acht Tänzer:innen begeben sich für diese Premiere in mäandernde Assoziationen des groteskschillernden, animalischen Universums der Marlene Monteiro Freitas. Im Fokus steht nicht die soziologische Analyse der Figur, sondern die pure Emotion. Liebe, Hass und Eifersucht. Ungewöhnlich die szenische Position des

Orchesters: Die Musiker:innen sitzen auf der Bühne erhöht dem Publikum gegen-

über. Dazwischen der klaustrophobische und wandlungsfähige Raum, den Freitas aus den beiden Wedekind-Werken destilliert. An die hundert Musiker:innen, Sänger:innen und Tänzer:innen performen gemeinsam, alles ist Bewegung und keine Kunst isoliert von den anderen Künsten. In diesem musikalisch-tänzerischen Kosmos, den Freitas in ihrer Funktion als Kostümbildnerin in Schwarz und Weiß fasst, flirren Elemente aus Sportarena, Anatomiesaal, Zirkus und Stummfilm durcheinander. Letzteres kommt bereits bei Berg vor. Der

sieht nämlich für den Wendepunkt zwischen den beiden Szenen des zweiten Aktes einen Stummfilm vor, um die zwischenzeitlichen Ereignisse zu erzählen. Die Musik dazu ist als ein Palindrom komponiert und wiederholt den spiegelbildlichen Verlauf von Aufstieg und Abstieg Lulus. In Schleifen und wie unter Wiederholungszwang stehend, werden auch bei Freitas die Körper nicht fertig mit den Bewegungen. In einer Traumarbeit von Verschiebung und Verdichtung gebiert diese Choreografin bewegte Bilder der monströsen Schönheit. Alles ist unrein. Alles ist intensiv. Und alles bleibt: Überraschend. F


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Einsames Wandern, gemeinsames Marschieren

Dev Hynes spielt Klassik im Burgtheater

TEXT:

PORTRÄT:

DITTA RUDLE

KATHARINA SEIDLER

nne Teresa De Keersmaekers A neueste Choreografie handelt vom einsamen Wandern und ge-

evonté Hynes hat in seinem Leben schon viele Musikstile D ausprobiert. Zu Beginn seiner Kar-

meinsamen Marschieren: „I woke up this morning, feeling round for my shoes / You know by that, people, I must have got the walking blues.“ Son House hat den Song 1930 komponiert und gesungen, durch Robert Johnson ist der „Walkin’ Blues“ 1936 bekannt geworden. Muddy Waters hat auch gesungen und sich inspirieren lassen, um seinen eigenen Walking-Song aufzunehmen: „I Feel Like Going Home“. Vom Gehen erzählt auch Anne Teresa De Keersmaeker in „Creation 2023“, denn „das Gehen ist mein Tanzen“, wie die belgische Choreografin und Tänzerin oft betont hat.

riere vor etwa 20 Jahren hatte der heute 37-jährige ausgebildete Pianist und Cellist mit der Band Test Icicles ein paar kleinere Dance-PunkHits, ab 2007 wandte er sich mit seinem ersten Soloprojekt Lightspeed Champion dem verschroben-verspielten Indiefolk zu. Der große Durchbruch erfolgte für Dev Hynes dann als Blood Orange. Unter diesem Namen produzierte der Londoner ein paar wegweisende Soloalben an der Schnittstelle von R’n’B und Bedroom Pop und war des Weiteren maßgeblich an der Produktion von Pophits anderer Artists wie etwa Solange, Sky Ferreira oder Kylie Minogue beteiligt. Als Blood Orange konnte er seine Vision von stilistischer Offenheit mit politischen Inhalten vollständig realisieren; Alben wie „Freetown Sound“ (2016) oder „Negro Swan“ (2018) zeugen davon. Die Musik darauf blieb gerne ver-

Begleitet wird sie nicht nur vom fast

hundertjährigen „Walkin’ Blues“. Songs über die Fortbewegung zu Fuß gibt es in vielen Varianten: weggehen und heimkommen, das Wandern im Regen und im Sonnenschein, in Memphis und auf jeden Fall in den eigenen Schuhen, die sind schließlich zum Gehen gemacht. Nicht erst die Popmusik hat Walking Songs entdeckt, besonders in der Romantik huldigten Dichter:innen und Komponist:innen dem Gehen. Deshalb wandert De Keersmaeker auch dahin zurück, bindet Klänge von Franz Schubert in die Soundchoreografie ein. Die junge belgische Sängerin Meskerem Mees hat für das Gruppenstück gemeinsam mit dem Gitarristen Jean-Marie Aerts und dem Tänzer und Gitarristen Carlos Garbin eine Reihe von Variationen und Adaptionen von Walking Songs komponiert, die sie live performen. Die Tänzer:innen erzählen vom einsamen Wandern und gemeinsamen Marschieren, vom Individuum und dem Kollektiv und von der Spannung zwischen der LiF nie und dem Kreis. Creation 2023 15. und 16.6., 19 Uhr, Volksoper

Anne Teresa De Keersmaeker betont oft: „Das Gehen ist mein Tanzen“

Ein seltenes Konzerterlebnis: Popstar Dev Hynes alias Blood Orange mit Orchester

Devonté Hynes hat in seinem Leben schon viele Musikstile ausprobiert

waschen. Verhatschte, scheppernde Beats aus der Drummachine trafen auf scheinbar verträumten Gesang, der es inhaltlich allerdings faustdick hinter den Ohren hatte. „My father was a young man, my mother off the boat“, so beginnt etwa die Single „Augustine“, die Geschichte von Dev Hynes’ Vater, der als Geflüchteter mit dem Boot aus Sierra Leone nach Großbritannien kam. An anderer Stelle geht es um Alltagsrassismus und Polizeigewalt in seiner Wahlheimatstadt New York. Seit einiger Zeit nun tritt Hynes vermehrt als klassischer Komponist

in Erscheinung. Er hat eine Handvoll Film- und Serien-Soundtracks geschrieben, darunter für Luca Guadagninos TV-Serie „We Are Who We Are“, und mit seinem ersten instrumentalen Percussion-Album „Fields“ gleich zwei Grammy-Nominierungen eingeheimst. Nun kommt man auch in Wien in den Genuss eines seiner seltenen Konzerte in dieser aktuellen Komponisten-Inkarnation. Impressionistisch anmutende, perlende Solo-Klavier-Stücke, durchbrochen von plötzlichen harscheren Ausbrüchen, treffen auf große, dramatische Orchesterwerke, die Hynes in Wien gemeinsam mit dem Big Island Orchestra unter Martin Gellner mit dem Pianisten Adam Tendler und der Wiener Cellistin Marie Spaemann aufführen wird. Wer sich vorbereiten will, dem sei die PodcastReihe „BBC Composed“ empfohlen, die Hynes’ klassischen Musikeinflüssen derzeit zwölf einstündige Folgen widmet. F Selected Classical Works 29.5., 20 Uhr, Burgtheater

Wind, Eichenblätter, Zukunft William Kentridge macht aus Kohlezeichnungen Theater. Dieses Mal über eine Prophetin AUFZEICHNUNG: MARTINA GIMPLINGER

er 1955 in Johannesburg geborene William Kentridge ist D für seine ausdrucksstarken Trickfilm-Zeichnungen in Kohle und Tusche bekannt. Die im fortwährenden Auslöschen und Neuzeichnen aufflackernden Bilder verwebt der Zeichner und Theatermacher eindrucksvoll mit Projektionen, Live-Performances, Musik und Schattenbildern – dieses Mal, um von einer Prophetin zu erzählen. Das Schicksal derjenigen, die sie um Auskunft bitten, hält die Prophetin Sibylle auf einem Eichenblatt fest – Blatt für Blatt stapeln sich am Eingang ihrer Felsenhöhle die Schicksale vieler. Wollte man sein weissagendes Blatt abholen, wirbelte ein Wind die Blätter durcheinander, sodass man nicht wusste, ob man sein eigenes Schicksal oder das von anderen erfuhr. „Es ist dieser wirbelnde Wind, der mich in der Geschichte hält“, sagt Kentridge. Die poetische Vorstellung davon verdient Aufmerksamkeit – vor allem in einer Welt,

In der Kammeroper „Sibyl“ hält die Prophetin Sibylle Schicksale fest

in der das kolonial basierte autonome Subjekt des Westens vergessen macht, wie sehr wir voneinander abhängige und verletzliche Lebewesen sind. Sie erinnert ganz konkret daran, wie sehr wir von einer intakten Umwelt abhängig sind – von der Luft, die wir atmen. Ein Atmen, das an vielen Orten schwerfällt – an manchen mehr als an anderen, für manche Körper mehr als für andere. Das Element Luft bettet uns in kosmische und atmosphärische Zusammenhänge ein und stellt eine respiratorische Allianz zwischen Mensch und Natur her.

In Wien ist Kentridge mit einem zweiteiligen Abend zu Gast: dem Film mit Live-Musik „The Moment Has Gone“ und der Kammeroper „Waiting for the Sibyl“. Kyle Shepherd am Klavier und ein männlicher Chor unter der Leitung von Nhlanhla Mahlangu begleiten die filmischen Bilder. Die Kammeroper entfaltet sich in einer Reihe von nichtlinearen Szenen, die durch das Fallen und Heben des Vorhangs unterbrochen und enthüllt werden. „Das Bild von im Universum verstreuten und im Buch der Sibylle gesammelten Blättern ist ein zentrales Bild dieser Arbeit“, so Kentridge. Eine Arbeit, die fragt, was es bedeutet, im gegenwärtigen Moment unserer Geschichte am Leben zu sein und der Ungewissheit der Zukunft zu begegnen: Enthält der Wind unser Schicksal? Die ein- und ausgeatmete Luft – ohne die es kein Denken, kein Sprechen, keine Musik, keinen Tanz, keine Geschichte, schlichtweg kein Leben gäbe? F Sibyl 19.–21.6., 20 Uhr, MuseumsQuartier, Halle E

FOTOS: JOHAN JACOBS, BADMANDENIRO, STELLA OLIVIER

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Die Verwandtschaft weiß es besser: Sie mischt sich nach dem Kindstod in den Trauerprozess ein

Ein meisterhaftes Drama für Bühne und Netflix Kornél Mundruczós und Kata Wébers preisgekröntes Stück „Pieces of a Woman“ kommt nun endlich auch nach Wien EINBLICK: THERESA GINDLSTRASSER

aja liegt in der Badewanne und verM sucht zwischen den Wehen vom Schmerz zu entspannen. Die Kamera fixiert in einer Nahaufnahme das Gesicht der Schauspielerin Justyna Wasilewska, wie sie vorsichtig atmet, das Zucken der Muskulatur, die Erschöpfung des Körpers, wie ihr Blick ins Leere geht. Dumpfes Licht und ätherische Klänge markieren eine Ruhepause, doch die Hausgeburt verläuft alles andere als friedlich. Anstelle der erwarteten Hebamme Barbara betritt eine junge Vertretung die Einzimmerwohnung. Maja und ihr Mann Lars begegnen dieser Ewa mit Misstrauen, immerhin soll es das erste Mal sein, dass sie eine Geburt begleitet. Nervös verfolgt die Kamera die hektischen Vorbereitungen. Maja weint vor Schmerz. Plötzlich ist da Blut in der Badewanne, kurz darauf tut das Neugeborene erste Schreie, doch dann wird es still, das Kind ist tot.

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Das Schreiben wurde für mich zu einem therapeutischen Akt. Es hat mir geholfen, herauszufinden, wer ich nach dem Verlust war KATA WÉBER

festspielen in Venedig auch eine NetflixAdaption des Stoffes. Geschrieben wurde beides, der im katholischen Warschau situierte, humorvollere Stücktext und das ein jüdisches Boston imaginierende Drehbuch, von Kata Wéber. Das Paar, regelmäßig bei den Wiener Festwochen zu Gast, verhandelt mit „Pieces of a Woman“ auch die eigene Geschichte einer Fehlgeburt. „Das Schreiben wurde für mich zu einem therapeutischen Akt. Es hat mir geholfen, meine Erfahrung besser zu verstehen und herauszufinden, wer ich nach dem Verlust war. Es wurde zur einzigen Möglichkeit, das Schweigen zu brechen und mit den Menschen, die ich liebe, offen über dieses Thema zu sprechen“, so Wéber 2021 in einem Interview mit der Los Angeles Times. Auch die Schauspieler:innen brachten viel Persönliches in die Entwicklung der Charaktere mit ein. Justyna Wasilewska etwa erhielt gleich mehrere Auszeichnungen für ihre schauspielerische Leistung in der Rolle der Maja. Wesentlich für die Arbeit an „Pieces of a Wo-

FOTO: NATALIA KABANOW

Nach der 30-minütigen Eröffnungsszene geht

es in einem detailliert zur Familienwohnung eingerichteten Bühnenbild weiter. Die ganze Verwandtschaft Majas kommt sechs Monate nach dem traumatisierenden Ereignis am Esstisch zusammen und hört nicht auf, es besser wissen zu wollen. 2018 als Theaterproduktion am TR Warszawa realisiert, präsentierte der viel- Pieces of a Woman fach ausgezeichnete ungarische Regisseur 14.–18.5., 19.30 Uhr Kornél Mundruczó 2020 bei den Film- Akademietheater

man“ war auch die Auseinandersetzung mit dem Gerichtsprozess gegen die Hebamme Agnes Geréb. Nach dem Tod eines Neugeborenen wurde diese 2010 wegen Totschlags verurteilt. Internationale Unterstützerinnen und Unterstützer beklagten eine schleichende Kriminalisierung von Hausgeburten in Ungarn. Der einerseits persönliche, andererseits gesellschaftskritische Zugang zum Thema ist „Pieces of a Woman“ anzumerken.

Wéber hat ihre Figuren so plastisch entworfen und lässt sie so unprätentiös miteinander kreuz über quer in Kontakt treten, dass sich das Gefühl einstellt, mitten drin zu sein im Geschehen. Wie Magdalena ihre Tochter Maja dafür gewinnen will, die Hebamme Ewa zu verklagen und dabei die eigenen Motive zu verschleiern versucht, das zeigt die beiden Frauen in einer gewachsenen und komplexen Beziehung. Immer organisch, nie thesenhaft erschließen sich auch die Biografien der einzelnen Figuren. So wird Majas Partner Lars ganz beiläufig als Nicht-Muttersprachler ausgewiesen: Er verwechselt zwei Zeitformen ähnlichen Klanges, weil er aus Norwegen stammt. Auch bei Mundruczós Inszenierung „Schein-

leben“, uraufgeführt bei den Wiener Festwochen 2016, zeichnete Wéber verantwortlich für den Text. Gewalt gegen Roma und Lebensrealitäten in Ungarn wurden durch die Verwüstung einer Wohnung als Drehung des Bühnenraumes um seine horizontale Achse ausgedrückt. Das Beieinander von behutsam psychologischem Spiel und unvermittelten Wendungen ins poetisch Surreale, respektiv Horrende, macht auch die Spannung von „Pieces of a Woman“ aus. Das Licht und die Klänge scheinen einer eigenen Dramaturgie des Entsetzens zu folgen. Gleichzeitig verkörpert Maja auch die Selbstermächtigung einer Frau, wenn sie im Trauerprozess entscheidet, ihren eigenen Weg zu gehen. F


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AUS ALLER

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Neue Gesichter aus Ländern von Brasilien bis Georgien bringen Sprechtheater mit prägenden Zugängen nach Wien nternationales Sprechtheater nach panie und der Berliner Volksbühne, wo der IHauptaufgabe Wien zu holen – das wird gerne als die 36-Jährige bereits eine radikale Auseinander Festwochen beschrie- dersetzung mit der deutschen Literaturgeben, auch wenn diese traditionell ein spartenübergreifendes Festival sind. Tatsächlich gastiert hier 2023 eine ganze Reihe von internationalen Theaterstars, die dem Wiener Publikum bisher noch kein Begriff waren. In ihren Ländern – Belgien, Frankreich, Slowenien, Georgien, Ungarn und Brasilien – sind sie längst etabliert und werden wegen ihrer distinkten Zugänge und Ästhetiken geschätzt. Fünf komplett neue Gäste und einen Wiederkehrer möchten wir hier vorstellen. Hätte es die Pandemie nicht gegeben, wäre

Anne-Cécile Vandalem in Wien keine Unbekannte. Bereits 2020 sollte sie mit dem Ensemble des Burgtheaters ihr eigenes Stück „Tristesses“ auf Deutsch neu inszenieren. In diesem ersten Teil einer Trilogie über das Scheitern der westlichen Zivilisation geht es um einen Schlachthof auf einer fiktiven dänischen Insel. Während wir diese Produktion vermutlich nie sehen werden, zeigen die 44-jährige Belgierin und ihre Kompanie Das Fräulein im Jugendstiltheater nun Teil drei im französischen Original: „Kingdom“ ist inspiriert von einem semidokumentarischen Film des Regisseurs Clément Cogitore, der in Sibirien eine Gruppe von Aussteigern begleitete. In Vandalems Theaterfassung, die neben dem Film auch auf andere Quellen zurückgreift, sieht man das Filmteam auf der Bühne. Es interviewt den Gründer des „Kingdoms“, seinen Sohn und dessen nach einem Bärenangriff entstellte Frau, vor allem aber die nächste Generation. Der Jugendliche leidet an der Einöde, seine Schwester hat sich à la Romeo und Julia in den Junior der verfeindeten Nachbarn verliebt. Vandalem erzählt eindringlich die düstere Geschichte der gescheiterten Flucht aus der Zivilisation, ohne dabei in Hyperrealismus zu verfallen. Besonders beeindruckt hat bei der Premiere beim Festival in Avignon ihre Arbeit mit den vier für die Produktion gecasteten Kindern. Der Franzose Julien Gosselin hat seine Theatergruppe in der nordfranzösischen Hafen- und Arbeiterstadt Calais etabliert. Schon seine 2016 herausgekommene Adaption des Romans „Elementarteilchen“ von Michel Houellebecq erregte großes Aufsehen und schon damals zeigten die Wiener Festwochen Interesse. Jetzt bei „Extinction“ agiert das Festival als Koproduzent gemeinsam mit Gosselins Kom-

STARSTRUCK: MARTIN PESL

schichte inszeniert hat. Auch in Frankreich traute man ihm trotz seiner jungen Jahre schon früh die großen Bühnen zu. Kleiner geht es bei ihm wegen seines wuchtig-radikalen Ansatzes auch nicht: „Extinction“ wird in der Halle E des Museumsquartiers laufen. In Wien ist Gosselin mit dieser Uraufführung am richtigen Ort, ist doch sein Ankerpunkt kein geringerer als Thomas Bernhards Roman „Auslöschung“, den er anderen Werken der österreichischen Literatur, vor allem Arthur Schnitzlers, gegenüberstellt. Gosselin möchte aus der Vergangenheit in die Zukunft blicken, er möchte zerstören, um Neues zu schaffen. Zu diesem Zweck beginnt er seinen Abend weder mit Bernhard noch mit Schnitzler, sondern mit einer 45-minütigen DJ-Line, für die das Publikum auch auf die Bühne darf. Dann ist es bereit für den Sprung zurück ins Fin de Siècle und die anschließenden Kommentare des berühmtesten Nestbeschmutzers des Landes. Der mit 50 Jahren älteste der Neo-Theater-

stars ist streng genommen gar nicht neu. 2010 gastierte Tomi Janežič mit dem Belgrader Theater Atelje 212 im Rahmen der Wiener Festwochen im Schauspielhaus. Auch damals durfte das Publikum auf die Bühne – und nur dorthin, denn gespielt wurde das Stück „Šuma blista (Der Wald leuchtet)“ im Zuschauerraum. Janežičs Inszenierung schaffte es, mit kalkulierter Zähigkeit die schrägen, heruntergekommenen Figuren auf der Bühne zu gewinnen. Beste Voraussetzungen für die Arbeit an einem Autor, bei dem Zähigkeit Programm ist: Anton Tschechow. Nach einigen Jahren Pause vom Theater präsentiert der gebürtige Slowene Janežič mit dem State Small Theatre of Vilnius einen „Onkel Wanja“ („Dėdė Vania“ auf Litauisch). Text und Handlung der Tragikomödie aus dem Jahr 1899 verändert er dabei nicht. Gespielt wird auf Litauisch, während auf den Übertiteln die deutschen Worte von Angela Schanelec zu lesen sind, die diese für die Inszenierung des großen Regisseurs Jürgen Gosch 2008 in Berlin anfertigte. Die Ansammlung lümmelnder Loser verspricht große Komik im Theater Akzent: Sonja, Wanja und die anderen hängen auf dem von ihnen zu verwaltenden Landgut ab wie eine Rockband, die zum Proben zu faul ist. Aber es darf auch ernst werden: Der georgische Theatermacher Mikheil Charkviani beschäftigt sich in „Exodus“ mit dem

„Kingdom“ 13.–14.5., 18 Uhr, 15.–16.5., 20 Uhr Jugendstiltheater „Extinction“ 12.–13.6., 19 Uhr, MuseumsQuartier, Halle E „Dėdė Vania“ 31.5.–1.6., 18.30 Uhr, Theater Akzent „Singing Youth“ 1.–3.6., 20.30 Uhr, Schauspielhaus „Exodus“ 9.–11.6., 20 Uhr, brut nordwest „Feijoada“ 30.5.–1.6., 19.40 Uhr, brut nordwest

Thema Flucht, zu dem er zahlreiche Menschen in Wien interviewt hat. Einige sind selbst geflüchtet, andere haben Flüchtende empfangen und willkommen geheißen. Vorbild für die Wiener Version ist Charkvianis Stück über Krieg – in seiner Heimat Georgien leider Dauerthema. Das Besondere an dieser Form des Dokumentartheaters: Charkviani studiert mit seinen Expert:innen des Alltags keine Details ein. Auf der Bühne sprechen diese einen ungeschliffenen Monolog, durch den sie zum Kern ihrer Zeitzeug:innenschaft vordringen, oft mithilfe von Requisiten. Es kann sich übrigens auch lohnen, zwei oder alle drei der Abende im brut nordwest zu besuchen, denn jedes Mal sprechen fünf andere Personen auf der Bühne. Innerhalb einer Aufführung spannt sich anhand der Auswahl der Mitwirkenden ein Bogen: von der Entscheidung zur Flucht über die beschwerliche Reise selbst bis zur Ankunft. Die Skulptur eines ehemaligen Geflüchteten, des Griechen Memos Makris, dient als Ausgangspunkt für das A-capella-Stück „Singing Youth“ von Judit Böröcz, Bence György Pálinkás und Máté Szigeti. Das Budapester Kollektiv entwickelt eine Collage von Zitaten aus politischen Reden des beginnenden Kommunismus in Ungarn, aktuellen Reden Orbáns sowie Songs aus beiden Zeiten, vorgetragen von sechs Sänger:innen. Diese handeln allesamt von Propaganda mittels Sport und Kultur und zeigen verblüffende Verbindungen auf. Letztes Jahr beschäftigten sich gleich zwei Formate mit Essen, heuer ist für die Kulinarik vor allem eine Produktion zuständig: „Feijoada“ von Calixto Neto, die obendrein auch Tanz, Musik und Storytelling bietet. Das Publikum kommt hier zu einer Roda de Samba zusammen. Während das titelgebende Gericht aus Bohnen, Fleisch und zahlreichen weiteren Zutaten zubereitet wird und immer köstlicher duftet, erzählen die Performenden mit Körper und Sprache dessen Geschichte. Obwohl diese viel mit Kolonialismus zu tun hat – die Feijoada stammt ursprünglich aus Portugal, gilt in Brasilien aber als Nationalgericht –, muss man kein dröge anklagendes Diskurstheater fürchten. Im Gegenteil: Am Ende tanzen alle Samba. Wir fassen zusammen: Ein belgisches Stück

nach einem französischen Film über Menschen in Sibirien, französische Zertrümmerung österreichischer Literatur, ein Georgier führt Gespräche in Wien, ein Slowene, der in Litauen einen Russen inszeniert, singende Ungar:innen und brasilianisches Essen samt Samba. Die Weltreise kann beginnen. F


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F OTO S : C H R I S TO P H E E N G E L S , T I K U K O B I A S H V I L I , R AO U L G I L I B E R T , S I M O N G O S S E L I N , D. M AT V E J E V

Produktionsfotos im Uhrzeigersinn, links oben beginnend: „Kingdom“ von Anne-Cécile Vandalem, „Exodus“ von Mikheil Charkviani, „Extinction“ von Julien Gosselin, „Dėdė Vania“ von Tomi Janežič und „Feijoada“ von Calixto Neto

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2023 gastieren eine ganze Reihe von internationalen Theaterstars, die dem Wiener Publikum bisher noch kein Begriff waren

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WIENER FESTWOCHEN 23 „Song of the Shank“ rückt die unbekannte Vita des Pianisten Thomas Wiggins in den Blick

Spielplatz der Melancholie: Wer spielt mit wem? PARKBESUCH: SARA SCHAUSBERGER

ns Altgriechische rückübersetzt Igalligkeit. bedeutet Melancholie: SchwarzEinst wurde sie patholo-

Canti di Prigionia 24.–26.5., 20.30 Uhr Jugendstiltheater Song of the Shank 13.–15.6., 20.30 Uhr MuseumsQuartier, Halle G

Drei Mal Musik in Szene Kompositionen zu brisanten Themen zeigen, wie inhaltlich relevant heutige Musik sein kann EINFÜHRUNG:

Als Künstlerin schaut die gebürtige

Oberösterreicherin gerne dahin, wo andere wegschauen, etwa auf Menschen, die sich am Rande der Gesellschaft bewegen: „Ich glaube, diese sagen viel über das Zentrum aus.“ In „melancholic ground“ spielen Performer:innen unterschiedlichster Generationen mit. Uhlich hat darauf geachtet, ein diverses Ensemble zusammenzustellen: im Alter und in den Abilities. Auch eine Performerin im Rollstuhl ist dabei: „Jemand im Rollstuhl ist auf dem Spielplatz ein Fremdkörper“, stellt die Choreografin fest. Der Spielplatz stimme sie manchmal melancholisch, so Uhlich: Er ist ein Ort der Leichtigkeit und des Experiments, aber gleichzeitig auch des Wettbewerbs und Vergleichs. Kinder spielen auf Geräten, die Erwachsene sich für sie ausgedacht haben. Im übertragenen Sinn setze sich der Spielplatz im eigenen Leben fort: Wer spielt mit wem welche Spiele?F melancholic ground 7. und 9.6., 20 Uhr, 8. und 10.6., 9 Uhr, Donaupark, Sparefroh-Spielplatz (Eintritt frei)

Choreografin Doris Uhlich schaut regelmäßig da hin, wo andere wegschauen

MARIE-THERESE RUDOLPH

drei Produktionen setzen die Ile nWiener Festwochen heuer aktuelund weniger bekannte Musik in szenische Kontexte. Der Clou dabei: Themen wie Rassismus, Faschismus und Dystopie werden in vielfältigen künstlerischen Zugängen emotional erfahrbar gemacht. „Song of the Shank“ beruht auf einer tragischen Geschichte: 1849 in den Südstaaten der USA geboren, sollte Thomas Wiggins ein Leben als Sklave vorgegeben sein – wäre er nicht von Geburt an blind gewesen, was ihm das Privileg bescherte, am Klavier der Herrschaftsfamilie spielen zu dürfen. Diese sahen das Potenzial und versuchten aus dem Wunderkind, das nach einmaligem Hören alles nachspielen konnte, mehr zu machen. Sein Renommee brachte „Blind Tom“ sogar eine Konzerteinladung ins Weiße Haus, was ihn dennoch nicht vor rassistischen Angriffen schützte. Diese Geschichte hat der US-amerikanische Autor Jeffery Renard Allen in einem Roman erzählt, den er für „Song of the Shank“ als Monodrama für die Bühne adaptierte. Ein Countertenor und ein Pianist sind die tragenden Protagonisten in der szenischen Fassung mit Musik von George Lewis, beauftragt vom Frankfurter Ensemble Modern. Mit seiner Komposition versucht Lewis, Wiggins äußeren und inneren musikalischen Klangkosmos ins Heute zu übertragen. Verbunden durch eine langjähri-

ge Zusammenarbeit, geht das Konzept des Videokünstlers Stan Douglas in eine ähnliche Richtung. Er will „eine Sprache und Bilder finden, die ihn in seiner ganzen Komplexität zeigen. Seine innere Welt, die vor allem eine Klangwelt war, sichtbar machen.“ Gleichzeitig stellt sich das künstlerische Team der aktuellen Frage, was „Blind Toms“ Lebensgeschichte heute bedeutet, wie sich Rassismus im Alltag und speziell im Musikbetrieb zeigt. Vor zwei Jahren war der kroatische

Choreograf und Regisseur Matija Ferlin mit „Sad Sam Matthäus“, seiner szenischen Auseinandersetzung mit Johann Sebastian Bach, erstmals bei den Wiener Festwochen zu Gast. Nun widmet er sich einem weniger bekannten Komponisten mit einem umso tragischeren Lebensschicksal. Der Italiener Luigi Dallapiccola saß während des Ersten Weltkriegs in Graz in Haft, studierte später Klavier und Komposition und brachte die damals revolutionäre Zwölftonmethode Arnold Schönbergs nach Italien. Dallapiccola schrieb vor allem Vokalmusik, darunter auch einige Opern. Mit seinen „Canti di Prigionia“, den „Gesängen aus der Gefangenschaft“, hat er während des Zweiten Weltkriegs auf ein Gebet aus Stefan Zweigs „Maria Stuart“, Teilen von Boethius’ „Der Trost der Philosophie“ und dem Psalm „In Te Domine Speravi“ von Girolamo Savonarola aus tiefster Überzeugung versucht, dem faschistischen Regime Mussolinis eine vielstimmige Antwort entgegenzusetzen.

Matija Ferlin schafft dafür drei inszenatorische Ebenen: mit den Musiker:innen des Wiener Ensembles Phace, den Sänger:innen von Cantando Admont und Schauspieler:innen. Er selbst agiert ebenfalls auf der Bühne, kommentiert und reflektiert den Prozess, in den die Biografie Dallapiccolas eingewoben ist, dem zentralen Wegbereiter von politisch gleichgesinnten Komponisten wie Luigi Nono und Luciano Berio. Ganz im Heute siedeln die beiden aus Japan gebürtigen Künstler, der Regisseur Toshiki Okada und der Komponist Dai Fujikura, ihre erste Zusammenarbeit an. Darin soll die Musik nicht, wie oftmals erlebt, Emotionen illustrieren, sondern als weitere Akteurin besonderen Stellenwert erhalten. Die beiden international erfolgreich agierenden Künstler sprechen sogar von einer neuen Art des Musiktheaters. Ihre Kollaboration beruht seit Beginn an auf einem intensiven Austausch und Abgleich, einem künstlerischen Ping-PongSpiel, bei dem Setting und Einfälle fortgesponnen werden. So gewöhnlich die Geschichte von

„Verwandlung eines Wohnzimmers“ beginnt, in der Musiker:innen des Klangforum Wien und sechs Schauspieler:innen aus Okadas Theaterkompanie mit der fiktiven Situation der Delogierung einer Familie konfrontiert sind, so unvorhersehbar verläuft diese weiter. In dieser Produktion geschehen Dinge, für die unser herkömmliches Vokabular nicht mehr ausreicht. Steht gar das Ende unserer anthropozentrischen Welt bevor? F

FOTOS: KATARINA SOSKIC, NATIONAL MUSEUM OF AFRICAN AMERICAN HISTORY & CULTURE

gisiert; in der Romantik gönnte man sie den Schriftsteller:innen und Maler:innen hingegen total. Es hieß, sie schaffe Genies. Nun widmet sich Doris Uhlich in einer Trilogie dem Gefühlszustand. Die Performance „melancholic ground“, die bei den Festwochen ihre Uraufführung feiert, bildet den Auftakt. Die Choreografin und Tänzerin findet, die Melancholie sei eine spannende Gemütslage: „Sie ist keine Depression, sondern oft ein selbstgewählter Zustand, in den man eintaucht.“ Wer melancholisch ist, klinke sich aus der Geschwindigkeit und den Regelwerken der Gesellschaft aus. „Ein widerständiger Akt!“, so Uhlich und schickt ihre Performer:innen auf den Spielplatz.

Verwandlung eines Wohnzimmers 13.–15.5., 20.30 Uhr MuseumsQuartier, Halle G


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Seismografen unserer Gesellschaft Klimawandel, Kapitalismus und Kolonialismus: Kritik und Perspektivenwechsel bei den Wiener Festwochen ERFORSCHUNG: LINA WÖLFEL

as Problem ist nicht, dass ihr nicht D wisst, dass unsere Wälder brennen und unsere Völker sterben. Das Problem

ist, dass ihr euch an dieses Wissen gewöhnt habt.“ Mit diesen Worten hätte die brasilianische Schauspielerin und Aktivistin Kay Sara 2020 die Wiener Festwochen im Burgtheater eröffnet. Als erste indigene Frau hätte sie dort eine Rede gehalten. Die Pandemie kam dazwischen und wurde zum Brennglas und Kompressor ihres Anliegens: die Abholzung der amazonischen Regenwälder, der Genozid an der indigenen Bevölkerung Brasiliens, die Austrocknung der Nebenflüsse des Amazonas verwoben mit Kapitalismus- und Kolonialismuskritik. Als letzter Teil seiner „Antiken-Trilogie“, die mit „Orest in Mossul“ (2019 bei den Wiener Festwochen) begann, erzählt Milo Rau, der ab Juli 2023 die Intendanz des Kultur-Festivals übernehmen wird, gemeinsam mit Kay Sara und der Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (MST) in „Antigone im Amazonas“ die Geschichte von Recht und Unrecht als Aufeinandertreffen von traditioneller Weisheit und Turbokapitalismus nach. Antigones Aufbegehren gegen Kreons Tyrannei wird darin zur umfassenden Anklage: Mit Zitat auf die Sophokles-Tragödie beobachtet und kommentiert das Ensemble als Chor der Landlosen das Bühnengeschehen von einer riesigen Videowand herab. Zentral darin ist die radikale Forderung nach einer Landreform.

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Wenn Rechtlosigkeit Gesetz wird, wird Widerstand zur Pflicht KAY SARA

FOTO: MICHIEL DEVIJVER

Parallel zum Stück wird es eine Anti-Green-

washing-Kampagne geben, die Milo Rau zeitgleich mit der Premiere in Gent am 13. Mai launchen wird. Es ist das Anliegen des Regisseurs, viele Menschen zu erreichen und nicht im Theater stecken zu bleiben. Was das Theater aber wie kein zweites Medium kann, ist einen Perspektivenwechsel zu ermöglichen. Diese Kulturtechnik macht sich auch die Produktion „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead“ (dt. Titel: „Gesang der Fledermäuse“) zu Nutze. Der Plot: In einer abgelegenen Sommerhaussiedlung sterben mitten im Winter Männer durch mysteriöse Umstände. Die ortsansässige Janina Duszejko, eine ehemalige Brückeningenieurin, Lehrerin und Astrologin, verdächtigt Waldtiere, Rache an jenen Menschen zu nehmen, die das Leben der Tiere nicht achten. Der 2009 von der polnischen Autorin und Literatur-Nobelpreisträgerin des Jahres 2018 Olga Tokarczuk veröffentlichte Kriminalroman erhält vor dem Hintergrund aktuellen Öko-Aktivismus eine besondere Brisanz. Der britische Theatermacher Simon McBurney, der zuletzt 2016 mit „The Encounter“ bei den Wiener Festwochen zu Gast war, greift die zentralen Fragen des Romans mit einem zehnköpfigen Ensemble auf. So kommt das Publikum ganz nah

Der Chor der Landlosen fordert in Milo Raus „Antigone im Amazonas“ eine Landreform

Sun & Sea 19. bis 22.5, 18.30, 19.30 und 20.30 Uhr, 23.5., 19.30 und 20.30 Uhr Semperdepot Drive Your Plow Over the Bones of the Dead 22. bis 26.5., 20 Uhr Theater Akzent Antigone im Amazonas 25. bis 27.5., 20 Uhr Burgtheater

an die zentralen Figuren heran, versteht ihr Anliegen, fühlt sich in ihre Motive ein. Theater macht erfahrbar. Auch im Fall der Indoor-Beach-Oper „Sun & Sea“ von Rugilė Barzdžiukaitė, Vaiva Grainytė und Lina Lapelytė. An einem Sandstrand versammeln sich reiche Urlauber:innen. Um sie herum verteilt: Plastikschaufeln, Handtücher, Wasserbälle, Cocktailgläser. Das Publikum blickt in Vogelperspektive auf die Performer:innen und Sänger:innen hinab. „Es flattern rosafarbene Kleider, Quallen tanzen pärchenweise. Mit Tüten und Flaschen grün wie Smaragde und roten Kronkorken. So viele Farben gab’s im Meer noch nie!“, heißt es im Libretto der Oper, die 2019 bei der Biennale in Venedig mit einem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Barzdžiukaitė, Grainytė

und Lapelytė thematisieren darin Kapitalismus und Klimawandel, Tourismus und Privilegien, vielleicht mit der Erkenntnis: Die Gesellschaft, die da porträtiert wird, zu der gehöre ich auch. In Kay Saras Rede hieß es am Ende: „Seien

wir wie Antigone. Denn wenn Rechtlosigkeit Gesetz wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Und der fängt bekanntermaßen bei sich selbst an. Theater, und vor allem Künstler:innen, können – wenn wir es erlauben – Seismografen unserer Gesellschaft sein, die vorfühlen, welche Themen sich aufdrängen oder anbahnen. Bei „Sun & Sea“, „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead“ und „Antigone im Amazonas“ sollten wir zuhören. Auch wenn wir glauben zu wissen, was sie uns erzählen wollen. Auch wenn es schmerzt. F


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Die Festnächte der Festwochen: Das Partyprogramm

Kleinkunst als Tradition

PARTY-HOPPING:

ANKÜNDIGUNG:

KATHARINA SEIDLER

LINA PAULITSCH

icht nur bei der großen EröffN nung am Rathausplatz am 12. Mai wird bei den Wiener Festwochen

der Kleinkunst stecke „klein“ Eine widersinnige Abwertung, Iso ndrin. die Ausgangsthese von COMISH.

gefeiert. Gleich ab dem Folgetag verwandelt sich der Jazzclub Porgy & Bess regelmäßig in die sogenannte Festival Lounge, etwa am 13. Mai ab 22 Uhr im Anschluss an das Konzert der US-Jazz-Punk-Ikone Moor Mother. Danach kann man dort an jedem Festwochen-Freitag (also am 19. und 26. Mai und am 2., 9. und 16. Juni) bei DJs und Drinks den Abend ausklingen lassen. Aber auch in der Galerie Franz Josefs Kai 3, die ihre Adresse praktischerweise im Namen trägt, werden Musik, Tanz, Getränke, Performance und bildende Kunst zu einem großen Ganzen. Die Latex-, Epoxidharz-, Palmenblätter- und Stahlskulpturen der in Wien lebenden Bildhauerin Liesl Raff, die derzeit dort die Einzelausstellung „Liaison“ präsentiert, werden zwischen 25.5. und 18.6. jeweils donnerstags und sonntags zur Bühne.

Warum gilt etwa das Theater als Hochkultur, nicht aber das Kabarett? Diese Frage versucht Maria Muhar, selbst Kabarettistin und nunmehrige Kuratorin, an drei Abenden im Wiener Metropol künstlerisch beantworten zu lassen. Am 24. Mai startet die Veranstaltungsreihe als Themenabend zum „komischen Resonanzkörper“. Vier Künstlerinnen treten auf, die Humor mit Musik in Verbindung bringen. Die Kärntner Zwillingsschwestern Birgit und Nicole Radeschnig steuern eigens für COMISH geschriebene Lieder bei. Die Österreicherin Stefanie Sourial liefert eine Slapstick-Performance, die Amerikanerin Erin Markey ein Musical-Stand-up.

Die Veranstaltungsreihe COMISH holt das Kabarett zurück auf die Festwochen-Bühne

Für die Wiener Festwochen sei es wich-

tig gewesen, lokale und internationale Kunstschaffende zusammenzubringen, erzählt Maria Muhar, die

„Gerade bewegt sich sehr viel in der Kabarettszene“, so Muhar. „Eine junge Generation bringt neue Themen, Perspektiven und Spielarten von Stand-up bis Sample-Kunst auf die Bühne.“ Muhars Debüt „Storno“ war eine der

Lea Blair Whitcher beschäftigt sich humoristisch mit Mutterschaft

die acht Acts eingeladen hat. Mit der Kleinkunst knüpfe das Festival wieder an eine Tradition an: „Bis in die 90er-Jahre hinein wurde immer wieder Kabarett gezeigt. Erst ab den 2000ern hat das aufgehört.“ Am zweiten Abend, am 31. Mai, liegt der Fokus auf Politkabarett. Kunstfigur Malarina – eine derbe Austroserbin – widmet sich der „Völkerverständigung zwischen Schwabos und Tschuschen“. Auch die Beiträge von David Scheid an den Turntables und des deutschen Poetry Slammers Jean-Philippe Kindler nehmen Gesellschaftskritik in den Blick.

bemerkenswertesten Kabarett-Produktionen des vergangenen Jahres. 2022 erschien auch der Debütroman der gelernten Köchin: „Lento Violento“. Mit pointiert-lässiger Sprachkunst ist Muhar sowohl in ihren Bühnenauftritten als auch in der Literatur nah dran an den Achs und Wehs der Millennial-Generation. Am dritten COMISH-Abend, am 7. Juni, ist die Kuratorin selbst Teil des Line-ups rund um feministischen Humor. Tiktokerin Toxische Pommes steuert Videos zu Alltagsrassismus bei. Lea Blair Whitcher, US-Schweizerin, fokussiert auf Care-Arbeit und Mutterschaft. Themen, die auch den Berufsalltag von Kabarettistinnen stark bestimmen. F COMISH 24.5., 31.5., 7.6., 20 Uhr, Wiener Metropol

„Club Liaison“ nennt sich die Schiene,

Jeden Festwochen-Freitag gibt es im Porgy & Bess DJs, Drinks und Tanz

Wahlverwandtschaften im Porgy & Bess Konzertschiene „Elective Affinities“: An der Schnittstelle von Klangkunst, Jazz und Noise HÖRPROBE: KATHARINA SEIDLER

ie Vereinbarkeit von WissenD schaft und Poesie, das ist sehr grob gesagt das Grundthema hinter Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“. Auch in der Chemie stand dieser Begriff früher für eine Anziehung zwischen verschiedenen Stoffen; es ist daher alles andere als Zufall, dass die neue Konzertschiene der Wiener Festwochen, „Elective Affinities“, sich diesen Ausdruck auf die Fahnen schreibt. Im Jazzclub Porgy & Bess finden unter diesem Motto an sechs Abenden Konzerte statt, bei denen Virtuosität auf kreative Entfesselung trifft. Zum Auftakt am 13. Mai betritt dort die US-amerikanische Poetin, Aktivistin und Musikerin Camae Ayewa alias Moor Mother die Bühne. In ihrer Kunst bringt Moor Mother politische Dichtung, Noise, Theorien des Afrofuturismus und Free Jazz zusammen. „Slaveship Punk“ oder „Blk Girl Blues“, das ist die Eigenbeschreibung, die die Künstlerin für ihre Musik wählt.

Poetin, Aktivistin und Musikerin Camae Ayewa alias Moor Mother

Am 19. Mai treffen dann die minimalistischen Kompositionen von Dai Fujikura aus Japan auf die elektronischen Klanglandschaften des Norwegers Jan Bang. Sie tun sich mit dem norwegischen Gitarristen Eivind Aarset und dem österreichischen Trompeter Franz Hautzinger unter dem Projekttitel „The Bow Maker“ zusammen. Am 26. Mai ist bei „Elective Affinities“ dann der ägyptische Experimentalmusik-Star Maurice Louca zu Gast, und am 2. Juni präsentiert das Wiener Duo PNØ, bestehend aus der Experimental-Stimmkünst-

lerin Agnes Hvizdalek und dem Bass- und Klangkasterl-Zauberer Jakob Schneidewind, ihre radikalen Soundentwürfe. Der britische Komponist und Tabla-Virtuose Kuljit Bhamra kennt zwischen Soundtrackmusik („Bend it like Beckham“), Musical-Auftritten (Andrew Lloyd Webbers „Bombay Dreams“) und der stürmischen Tanzmusik Bhangra aus der Punjabi-Diaspora keine stilistischen Berührungsängste. Er trifft am 9. Juni auf die UK-Bass-Produzentin und Rhythmus-Enthusiastin Beatrice Dillon. Und zum krönenden Abschluss am 16. Juni lädt der New Yorker Musiker Josiah Wise unter dem Namen serpentwithfeet R’n’B und elektronischen Gospel mit Sinn und Sinnlichkeit auf. In der Vergangenheit hat serpentwithfeet bereits die Herzen von Kollaborations-Partner:innen wie Björk oder Moby erweicht: queere Lovesongs für ein besseres Morgen. F Elective Affinities 13., 19., 26.5., 2., 9., 16. 6., 21 Uhr, Porgy & Bess

FOTOS: INÉS BACHER, PIA GRIMBUEHLE, SAM LEE

bei der etwa die Wiener Musikerin Karo Preuschl alias Coco Béchamel furchtlose Vokal-Soli improvisiert (25. Mai) oder die Göteborger Schlagzeugerin und Performerin Stina Fors eine „One-Woman-PunkShow“ verspricht (1. Juni). Zum schillernden Abschluss ruft am 18. Mai am Franz Josefs Kai 3 die Wiener Theoretikerin und Rapperin KDM Königin der Macht unter dem Motto „Royal rage against toxic masculinity!“ über brodelnde Bässe zum queer-feministischen „Matryarkhat“: „Egal ob du willst oder nicht, ich verbiete getrieben die männliche Ordnung / KDM am Thron / queere Positionen.“ Im Club U, stilecht im und unter dem Otto-Wagner-Pavillon in der Künstlerhauspassage, können Nachtschwärmer:innen des Weiteren jede Samstagnacht zum Tag machen: „Tanzen bis zum Sonnenaufgang“ lautet dort das Motto der Festwochen Nights. F


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Autor und Regisseur Alexander Zeldin, 38, Sohn einer Australierin und eines Russen

Das Menschliche in einem einzelnen Leben Alexander Zeldin kehrt mit einer Uraufführung zurück. „The Confessions“ behandelt nichts weniger als ein ganzes Leben PORTRÄT: MARTIN PESL

lexander Zeldin is back! 2021 raubte A der bescheidene Theaterstar aus England dem Festwochen-Publikum den Atem mit „LOVE“ und „Faith, Hope and Charity“, den zwei letzten Teilen seiner Trilogie „The Inequalities“ über das echte Leben echter Menschen. Dieses Jahr wird zwar nicht der coronabedingt damals ausgelassene Teil eins nachgeholt, dafür gibt es die Weltpremiere einer völlig neuen Arbeit zu sehen. „The Confessions – Die Bekenntnisse“. Im Falter-Gespräch wird der 38-Jährige mit der weichen Stimme schnell grundsätzlich: „Ein Stück ist immer auf drei Zeitebenen angesiedelt: in der Gegenwart des Zuschauerraums, in der Zeit der Ereignisse auf der Bühne und in der Zeit, in der es geschrieben wurde. Die Schauspieler:innen sollen etwas verkörpern, das sie wirklich betrifft. Dadurch bekommt ihr Spiel eine gewisse Transparenz, eine Fragilität, sodass es uns dem Gefühl des Lebens näherbringt.“

F OTO : A LY S S A S C H U K A R

„The Confessions“ soll die recht gewöhnliche

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Das Theater ist ein Schlachtross. Es wird immer seinen Platz in der Welt finden

fiktionale Aspekt trage zur künstlerischen Intention bei: „Theater soll uns näher ans Leben heranführen.“ Seit seiner Jugend reist Zeldin um die Welt und sucht nach Orten, „wo Theater eine Notwendigkeit ist“. Nachdem seine erste Inszenierung, noch als Schüler, beim Edinburgh Festival zur schlechtesten der Saison gewählt worden war, las er sich alle großen Schauspieltheoretiker an – unter anderem Peter Brook, dem er später auch assistierte –, fuhr nach Ägypten und wandte das Erlernte dort an. Unter anderem stellte er einen professionellen Exorzisten auf die Bühne. „Ich sage nicht, dass es gut war. Aber es war auf jeden Fall anders als alles, was 19-Jährige in England damals gemacht haben“, erinnert er sich. Mit Mitte 20 entdeckte ihn einerseits das

ALEXANDER ZELDIN

Biografie einer 1943 geborenen Frau bis zu ihrem Tod etwa 80 Jahre später komplett abbilden. Die Figur, sie heißt Alice, beruht auf Gesprächen Zeldins mit seiner eigenen Mutter. Trotzdem betont er: „Es ist kein Stück The Confessions über meine Mutter, sondern ein Stück über 14.–17.6., 19.30 Uhr ein Leben im Laufe der Zeit.“ Der auto- Volkstheater

Londoner National Theatre, andererseits erkannte er seine Berufung in der Arbeit an der Schauspielschule East 15. Dort gab es kein Geld, keine Struktur und keinen Druck. Zeldin hatte Zeit, den Lernenden Stücke auf den Leib zu schreiben. Der „soziale“ Aspekt von Zeldins Arbeit hat mit seiner Herkunft zu tun. Zwar in England geboren, fühlte er sich dort als jüdischer Sohn eines Russen und einer Australierin, der im intellektuell abgehobenen Oxford auch noch auf eine französische Schule ging, nie heimisch. Für sein Stück „Beyond Caring“, in dem es um Zeitarbeiter:innen ging, jobbte Zeldin selbst als solcher. Noch heute be-

kommt er SMS-Anfragen, nachts irgendwo zu putzen. Anfangs wollte den ersten Teil der heute berühmten Trilogie niemand sehen, heute gilt er als sein größter Erfolg. 2022 inszenierte Zeldin „Beyond Caring“ an der Berliner Schaubühne neu, mit deren Ensemble, in der Fremdsprache Deutsch und ohne den Mix von Laien und Profis, für den man ihn so bewundert. „Das war erfrischend“, sagt er über diese Erfahrung, aber auch: „Ein Theatermacher braucht halt ein Publikum – und eine Gage.“ Auch in „The Confessions“ agieren ausschließlich erfahrene Schauspielprofis, diesmal auch aus Australien, weil Zeldins Mutter dort herkam. Wie bei der „Inequalities“-Trilogie geht der Autor und Regisseur dabei von der Wirklichkeit aus, denn: „Scheinwelten interessieren mich nicht.“ Die Pandemie, in der „gewöhnliche“ Leute vor allem in Zahlen aufschienen – Zahlen Erkrankter, Genesener, Gestorbener –, habe dem Thema noch mehr Dringlichkeit verliehen. „,The Confessions‘ ist der Versuch, das Menschliche in einem einzelnen Leben anzuerkennen, in jedem Leben.“ Apropos Pandemie: Sie hatte in Zeldins Augen auch etwas Gutes. „Diese Phase hat uns geholfen, die Essenz des Theaters wiederzufinden.“ Dementsprechend ist er auch zuversichtlich, was die Zukunft des Genres angeht: „Das Theater ist ein Schlachtross, das Seuchen, Kriege und technologische Revolutionen überlebt. Es wird immer seinen Platz in der Welt finden.“ F


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DAS

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LEBEN

E I N T H E AT E R

Das Private ist politisch: Biografien ziehen sich in diesem Jahr wie ein roter Faden durch das Programm der Wiener Festwochen Widerstand schreiben 14.5., 18 Uhr, Odeon 5.6., 18 Uhr, MuseumsQuartier, Halle G 7.6., 18 Uhr, Schauspielhaus Timescape 16.-19.5., 20.30 Uhr, Theater Nestroyhof Hamakom Mémé 21.–23.5., 25.5., 20 Uhr, 26.5., 18 Uhr, Theater Nestroyhof Hamakom ANGELA (a strange loop) 28.5.–1.6., 20 Uhr, MuseumsQuartier, Halle G

Grenzsituationen in „Das Kind“ (oben); Susanne Kennedy: die Regisseurin von „ANGELA (a strange loop)“ (rechts); Sarah Vanhee erinnert sich im Solo „Mémé“ an ihre Großmütter (unten); die Autorin Naghmeh Samini (links) spricht im Rahmen der Reihe „Widerstand schreiben“

FOTOS: AKHTAR TAJIK, NUSHIN JAFFARY, FRANZISKA SINN, SARAH VANHEE

Das Kind 4.–7.6., 20.30 Uhr, MuseumsQuartier, Halle G


WIENER FESTWOCHEN 23 SARA SCHAUSBERGER

ie erzählt man die Geschichte W eines Lebens auf der Bühne? Gleich mehrere Projekte der diesjährigen Wiener Festwochen beschäftigen sich mit Biografien. Der britische Regisseur Alexander Zeldin etwa probt ein Stück über das gesamte Leben seiner Mutter (s. auch S. 13); das Musiktheater „Song of the Shank“ (s. auch S. 10) arbeitet sich stark an der Vita des Pianisten Thomas Wiggins ab. Es erzählt sehr direkt von diesem realen Leben, mit Dokumenten und Musikstücken, und rückt es in unseren Blick. Weil er Schwarz war, habe seine Geschichte keine Öffentlichkeit erreicht, meinen die Macher des Stücks, Autor Jeffery Renard Allen, der bildende Künstler Stan Douglas sowie der Komponist George Lewis. Das Theater ist ein Raum der Fiktionen, wie frei kann man auf der Bühne Lebensgeschichten erzählen? Was davon ist echt? Der Argentinier Mariano Pensotti beispielsweise geht der fiktiven Biografie eines vermeintlichen Juden nach, der sein Leben nachstellen lässt, und verpackt es als Dokumentartheater (s. auch S. 20). Das Private ist politisch: Die Inszenierung eines einzigen Lebens, ob real oder erfunden, kann den Blick auf gesellschaftliche und politische Gegebenheiten öffnen. Auch Sarah Vanhees Performance „Mémé“ lenkt den Blick vom persönlichen Schicksal aufs größere Ganze. So wie Zeldin stellt auch die belgische Künstlerin kein außergewöhnliches Leben auf die Bühne. Im Gegenteil: Sie schöpft aus dem realen, gewöhnlichen Sein. Vanhee erzählt von ihren beiden Großmüttern. Zwei Biografien, die in den Geschichtsbüchern nicht vorkommen. Die eine Oma hatte sieben Kinder, die andere neun. Beide arbeiteten hart: auf dem Feld und zuhause. Heute spricht man von Care-Arbeit, damals war dies das Leben von Frauen, das unhinterfragt anzunehmen war: „Da war kein Platz für so etwas wie Wünsche oder Selbstverwirklichung“, stellt Vanhee fest. Ein einziges Hobby pflegten ihre bei-

den Vorfahrinnen: Als die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, trat die eine Großmutter – „Mémé“ genannt – einer Amateurtheatergruppe bei. Die andere – „Oma“ – war Amateurmalerin. In ihrem Stück fragt die 1980 Geborene: Was hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert? Vanhees Lebensumstände unterscheiden sich fundamental von den Lebensumständen ihrer beiden Großmütter, sie lebt als international erfolgreiche Künstlerin in Brüssel. Selbst ihre Sprache ist anders: Sie spricht nicht mehr den westflämischen Dialekt ihrer Kindheit. Wessen Arbeitskraft wird heute ausgebeutet, damit

Menschen wie sie sich selbstverwirklichen können? 2019 war Vanhee mit „Oblivion“ zu Gast bei den Wiener Festwochen. Was hinterlassen wir, fragte sie in der großartigen Performance. Ein ganzes Jahr lang sammelte sie ihren eigenen Müll, den realen und den virtuellen, um ihn dann in mehreren Stunden auf der Bühne auszubreiten. Sie hob Zeitungen auf und Spam-E-Mails. Eintrittskarten und Plastikflaschen. Welchen Wert haben die Dinge? Ab wann ist Mist kein Mist mehr? „Oblivion“ war Vanhees bislang persönlichste Arbeit und hatte einen großen Effekt auf sie: „Mir wurde klar, dass ich mich mit meiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzen muss, um in der Zukunft handeln zu können.“ „Mémé“ entstand. Uraufführung feiert das Solo im Mai beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel, bevor es nach Wien kommt. Die mexikanische Künstlerin Toztli Abril de Dios schuf lebensgroße Puppen, die Vanhees Großmütter darstellen: Sie sind weich wie Pölster,

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Ich musste mich mit meiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, um in der Zukunft handeln zu können SARAH VANHEE

man kann sich richtig in sie hineinlegen. Die ganze Familie von Mémé ist in Objekten auf der Bühne anwesend: alle neun Kinder, 20 Enkelkinder und 34 Urenkel. Die Geschichte von Oma ist düsterer und Vanhee weiß weniger über sie: „Deshalb habe ich beschlossen, in der dritten Person von ihr zu erzählen“, so die Performerin. „Ich mache ein Schattentheater mit den Figuren ihrer Familie.“ Vanhee sagt aber auch: „Für mich ist das Biografische der Performance gar nicht so wichtig. Es ist eine Geschichte über das Frausein in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, in einem bestimmten Körper, in der sich viele Leute wiedererkennen werden.“ Eine Frau steht auch in „ANGELA (a

strange loop)“ im Mittelpunkt. Die deutsche Regisseurin Susanne Kennedy und der Multimediakünstler Markus Selg erzählen von einer Figur, die sich aus vielen Frauen und ihren Erfahrungen zusammensetzt. Das Stück befindet sich noch im Pro-

benprozess. Angela, eine ganz normale Person, leidet an einer Krankheit, die nicht näher spezifiziert wird. Festwochen-Stammgast Kennedy sagt in einem Interview mit dem Festival d’Avignon, sie untersuche in der Arbeit, ob man ein Leben unter dem Mikroskop betrachten könne. Auf der Bühne Angelas Schlafzimmer: „Es könnte aber auch der Schauplatz einer Reality-TV-Folge oder eines Films sein“, meint die Regisseurin. „Dieser Raum hat etwas sehr Alltägliches an sich. Er ist gleichzeitig persönlich und unpersönlich. Sehen wir hier das tägliche Leben, die Realität der Figur? Oder eine inszenierte Version ihrer Realität?“ Das Spiel mit der Inszenierung kommt auch im Stück von Keyvan Sarreshteh vor. Der iranische Schriftsteller, Theatermacher und Geschichtenerzähler bringt in seiner neuesten Arbeit „Timescape“ sein eigenes Leben mit der Figur eines Zeitreisenden ins Gespräch. Dafür verwendet er persönliche, aber unvollständige Objekte auf der Bühne: Filmnegative, leere Seiten alter Tagebücher oder unbenutzte Kindersachen.

Einblicke in fremde Welten: Aug in Aug mit einem Teenager BEGEGNUNG: WOLFGANG KRALICEK

ie kleinste Produktion der letztD jährigen Festwochen war auch eine der besten: In „Close Encounters“ von Anna Rispoli sitzt man allein einem Teenager gegenüber und unterhält sich mit ihm. Das Projekt, das die italienisch-belgische Künstlerin ursprünglich 2019 für das Kunstenfestivaldesarts in Brüssel realisiert hatte, wurde 2022 für Wien vollkommen neu produziert – und wird heuer wiederaufgenommen. Spielort ist in diesem Jahr das frisch renovierte Parlament. Um das Stück zu entwickeln, brachte Rispoli Oberstufenschüler:innen des Gymnasiums Schopenhauerstraße und Lehrlinge aus der „Spar“-Akademie zusammen; die insgesamt 15 Jugendlichen unterhielten sich über Lebensentwürfe und Zukunftsvorstellungen, Ängste und Träume. Das so gewonnene Textmaterial komprimierte Rispoli dann zu einem 30 Minuten langen „Musterdialog“ zwischen einer Gymnasiastin und einem Lehrling.

Was definiert eine Biografie von An-

fang an? Welche Startbedingungen hat ein Mensch abhängig davon, wo er geboren wurde? Diese Frage stellt „Das Kind“. In der reduzierten Inszenierung der iranischen Regisseurin Afsaneh Mahian – sie war zuletzt 2016 mit „Die Anpassung“ bei den Festwochen zu Gast – verlassen drei Frauen aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimat und werden an der Grenze zu Europa verhört. Bei sich haben sie ein Neugeborenes: Keine der Frauen bekennt sich zu dem Kind, um ihm im Falle einer Abschiebung den Aufenthalt in Europa zu sichern. Den Text zum Stück hat Naghmeh Samini geschrieben. Im Rahmen von „Widerstand schreiben“ spricht die iranische Autorin über 100 Jahre weiblichen Widerstand im Iran. Auch bei der dreiteiligen Reihe zieht sich das Thema der Biografie wie ein roter Faden durchs Programm: Neben Samini treten die britisch-simbabwische Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga und die spanische Anarcho-Autorin Cristina Morales auf. Dangarembgas autobiografische Romantrilogie erzählt vom Ringen einer Schwarzen Frau in Simbabwe um Selbstbestimmung. Ihr Essay „Schwarz und Frau“ erschien erst kürzlich auf Deutsch. Morales nimmt in ihrem Buch „Leichte Sprache“ die Perspektive von vier Frauen ein, die mit unterschiedlichen Graden von Behinderungen leben, und schreibt wütend gegen deren Bevormundung an. Schon Shakespeare sagte: „All the World’s a Stage.“ Das Leben ist Erzählung, die Bühne ist der konzentrierte Blick darauf. F

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In der Aufführung wird dieser Dialog

dann re-enacted: Je ein:e Besucher:in und ein Teenager werden zusammen in ein Zimmer gesetzt, via Knopf im Ohr bekommt jede:r von ihnen eine der beiden Rollen eingespielt und spricht den Text nach. Bestechend an dem Projekt ist, dass es auf zwei Ebenen gleichzeitig Einblicke in fremde Lebenswelten ermöglicht: einerseits zwischen den Jugendlichen und den Theaterbesucher:innen, andererseits aber auch zwischen den Schüler:innen und den Lehrlingen. Dass etwa die Gymnasiastin weitere drei Jahre Schule vor sich hat und dann auch noch studieren will, kann ihr Gesprächspartner gar nicht fassen: „Da bist du ja nicht mehr jung, wenn du fertig bist! Ich möchte mit 23 schon eine Frau und zwei F Kinder haben.“ Close Encounters 13. und 14.5., 3. und 4.6., 17–19.30 Uhr (im Halbstundentakt), Parlament Österreich

FOTO: NURITH WAGNER-STR AUSS

BIOGRAFIN:

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Eins-zu-eins-Begegnungen zwischen Theaterpublikum und Jugendlichen


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Anthropologe der Zukunft Was passiert, wenn Roboter Erziehungsaufgaben übernehmen? Joël Pommerats Theaterabend erzählt spielerisch davon ENTWURF: KARIN CERNY

ind wir nicht alle Konstrukte? Spätestens in der Pubertät suchen wir verS stärkt nach unserer Identität. Täglich erfinden wir neue Bilder von uns, probieren unterschiedliche Lebensentwürfe aus. Eigentlich ein sehr theatralischer Vorgang, findet auch der französische Dramatiker und Regisseur Joël Pommerat, geboren 1963. „Ausgangspunkt dieses Projekts war die Kindheit. Genauer gesagt, die Kindheit als Zeit des Aufbauens und Selbstmachens“, sagt er über seine jüngste Arbeit „Contes et légendes / Märchen und Legenden“. Der Clou dieser Produktion: Sie spielt in einer

Humanoide Roboter und Jugendliche: Jede Szene beginnt harmlos, spitzt sich aber schnell zu

futuristischen Gesellschaft, in der humanoide Roboter in unser tägliches Leben integriert sind. „Es ging mir aber nicht darum, eine weitere Revolte der Maschinen zu inszenieren“, stellt Pommerat klar. „Ich habe versucht, eine mögliche Kopräsenz zwischen einer sogenannten natürlichen Menschheit und einer rekonstruierten zu erforschen, zu schauen, inwieweit sich die- Contes et légendes se unterscheiden. So ist eine Reihe kleiner 14. bis 16.6., 20.30 Uhr, Geschichten entstanden, in denen sich Kin- Odeon

der und Roboter begegnen.“ Während die meist abwesenden Eltern ihren Jobs nachgehen, machen erzieherische Androide die Hausaufgaben mit den Kindern, unterstützen sie im Lernalltag. Wie ein Anthropologe der Zukunft beobachtet Pommerat diese Beziehungen. Joël Pommerat ist berühmt für diese frag-

mentierte Form, in leichtfüßigen, aber visuell starken Szenen erzählt er scheinbar banale Dinge. Er denkt im Kleinen über größere gesellschaftliche Zusammenhänge

nach. Bei den Wiener Festwochen war von ihm 2015 „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ zu sehen, das Publikum saß auf gegenüberliegenden Tribünen, dazwischen trafen und verloren sich Paare durchaus tänzerisch wie auf einem Laufsteg. Pommerats Texte entstehen gemeinsam mit seinen Akteur:innen, in diesem Fall eine beeindruckende Gruppe an Schauspielerinnen und Schauspielern im Alter von 26 bis 32 Jahren, die aber höchstens wie 14 aussehen. Jede Szene beginnt harmlos, spitzt sich aber schnell zu. Viele haben einen doppelten Boden, hinterfragen gängige Konzepte von Authentizität und Lüge. Gruppenzwang und Mobbing, Privilegien und Benachteiligung, aber auch Geschlechterrollen, in die man gezwängt wird, sind zentrale Themen. Erstaunlich spielerisch und mit viel Humor packt „Märchen und Legenden“ diese heißen Eisen an. Die französische Zeitung Libération nannte den Abend „eine kraftvolle Reflexion über die Konstruktion von Identität“ und lobte das starke Ensemble, das auch die Androiden spielt. „Durch diese künstlichen Wesen können wir herausfinden, woraus die lebende Menschheit gemacht ist“, sagt der Regisseur. Und lässt offen, ob wir F dabei gut oder schlecht abschneiden.

Planetarium einer neuen Zeitrechnung Wir brauchen mehr Zeit: Jozef Wouters und Barry Ahmad Talib lassen einen 100 Jahre währenden Tag anbrechen

HELMUT PLOEBST

as tun, wenn die Miete steigt, wähW rend das Haus brennt? Erst einmal Eiswürfel langsam auf der Zunge zergehen lassen? In Zeiten von Inflation und Erderhitzung, wankender Krankenversorgung, überschnappenden Social Media und Kaltem Krieg 2.0 neigen Geist und Körper zu Panikattacken oder allergischen Reaktionen. Dafür muss sich niemand schämen. Aber vielleicht ist es keine schlechte Idee, mit der Einnahme von handelsüblichen Zerstreumitteln oder Sedativa zu pausieren und stattdessen im Theater wieder zu sich zu kommen. Der Titel „A Day Is a Hundred Years“ zum Beispiel klingt vielversprechend – wenn außen alles hetzt, wird innerlich ein anderes Zeitsystem aktiviert. Dabei hilft der belgische Bühnenbildner und

Performancekonstrukteur Jozef Wouters auf exemplarische Art, wie er bereits im Vorjahr bei den Festwochen mit dem ausgedehnten Abend „Infini 1–18“ bewiesen hat. Nun wird aus dem „endlosen“ Bühnenprospekt ein sehr langer Tag. Das ist der Punkt: In unserer neoliberalen Nor-

Szenografen: der Theatermacher Jozef Wouters und der Künstler Barry Ahmad Talib

A Day Is a Hundred Years 8.–10.6., 20.30 Uhr, Odeon

mativität mit ihrer Treibjagd in die KI-gesteuerte digitale Selbstverbrennung ist das Dehnen von Zeiträumen pure Anarchie. Für „Infini“ hatte Wouters eine ganze Reihe von Kunstschaffenden eingeladen, ihr ganz persönliches Werk für einen Theaterraum ohne Darstellende zu erarbeiten. In „A Day Is a Hundred Years“ gibt er nun einem speziellen Gast die Bühne: dem bildenden Künstler Barry Ahmad Talib aus Guinea, Artist in Residence bei Wouters’ Decoratelier. Diese Formation ist eine Allianz von Techniker-, Musiker-, Performer-

Im Mittelpunkt steht Talibs Arbeit. Und die zeichnet sich durch eine Leidenschaft für Nachhaltigkeit aus. Überflusskonditionierte Europäer:innen können davon viel lernen. „Ich arbeite nie mit einem Lineal oder einem vorläufigen Entwurf auf Papier, sondern lasse mich von dem Material und den Werkzeugen leiten, die mir zur Verfügung stehen“, erklärt Barry Ahmad Talib. Unternehmergeist, Neugierde und Unabhängigkeit bilden den Kompass für seine Kunst. Darin werden Geduld und Sparsamkeit zum Prinzip, etwa in dem Ehrgeiz, tausende Blütenblätter aus einer Teppichrolle zu schneiden, ohne auch nur einen Zentimeter Stoff zu verschwenden. So entsteht aus Zurückhaltung ein neuer Reichtum. F

FOTOS: ELISABETH CARECCHIO, ENZO SMITS

und Poet:innen mit ihren Materialien und Fertigkeiten. Das neue Stück kommt gleich nach seiner Antwerpener Uraufführung ins Wiener Odeon. Aus der Idee der gemalten Kulisse bei „Infini“ wird jetzt der Traum von einer Art Planetarium, das auf einer Drehbühne um sich selbst zirkuliert und, so Wouters, „eine Welt zwischen Nacht und Tag, Zeitlichkeit und Zukunft, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit“ generiert.

AUFZEICHNUNG:


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Marina Davydova schreibt über Theater, kuratiert es und inszeniert bei den Festwochen

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Ich verließ Russland mit nur einem Koffer und ohne Job. Es war das zweite Mal, dass ich ins Exil gehen musste MARINA DAVYDOVA

„Du kannst Theater nie völlig kontrollieren“ Marina Davydova ist Expertin für russisches Theater. Ein Gespräch über Autoritäten, Vertreibung und ihr lebendiges Museum INTERVIEW: KARIN CERNY

arina Davydova ist keine Unbekannte Marina Davydova M in Wien. 2016 war die Theaterwissenschaftlerin, Theaterkritikerin und Kulturmanagerin für das Schauspielprogramm der Wiener Festwochen verantwortlich. Nun wird ihre Arbeit „Museum of Uncounted Voices“ beim Festival uraufgeführt.

FOTO: VERA MARTYNOV

Falter: Was erwartet die Zuschauer:innen im „Museum of Uncounted Voices“? Marina Davydova: Es ist ein Theaterstück, das im Museum spielt. Immer wenn ich ins Museum gehe, stelle ich mir vor, dass die Objekte zum Leben erwachen. Dass Stimmen aus der Vergangenheit plötzlich beginnen, mit mir zu sprechen. Ich male mir aber auch aus, dass diese Stimmen anfangen, miteinander zu streiten. Darüber, wie es wirklich gewesen ist. Und die Besucher:innen in diese Gespräche verwickelt werden.

Geschichte wird also lebendig? Davydova: Ja, und die Zuschauenden werden Teil der Show. Das Museum verändert sich ständig, sie werden Zeugen von historischen Ereignissen, die gerade stattfinden. Ich möchte nicht allzu viel spoilern, aber es wird Musik geben, Livesounds, viele Stimmen, die etwas erzählen, aber auch die Objekte werden zu Darsteller:innen. Und es gibt eine Schauspielerin in der Aufführung, ihr letzter Monolog wird einige Geheimnisse dieses Museums enthüllen.

wurde 1966 in Baku, Aserbaidschan, geboren. Sie leitete das Moskauer NET-Festival (Neues Europäisches Theater) und war Chefredakteurin des Magazins Teatr. 2016 war sie für das Schauspielprogramm der Festwochen verantwortlich, ab Oktober 2023 ist sie Schauspielchefin der Salzburger Festspiele

Museum of Uncounted Voices 22.–24.5., 26. und 27.5., 17 und 21 Uhr, Odeon

Worum geht es inhaltlich? Davydova: 2022 jährte sich der 100. Geburtstag der UdSSR. Wenn ich mit Europäer:innen spreche, merke ich oft, dass dieses riesige Gebiet der Sowjetunion mit seinen unzähligen Republiken noch immer für viele Terra incognita ist. Die wenigsten können die ehemaligen 15 Republiken aufzählen, wissen nicht, wie sich die Kultur in Belarus von der in Armenien unterscheidet. Mir war wichtig, dass man all die unterschiedlichen Sprachen in meiner Performance hört. Ich erkläre, wie bestimmte Grenzen von der Sowjetmacht gezogen wurden. Warum viele Grenzen Zeitbomben waren, die gerade in die Luft gehen. Es interessiert mich aber auch die komplexe Beziehung der Teilstaaten untereinander. Es gibt nicht eine Wahrheit, sondern viele Perspektiven darauf. Das ist die oberflächlichste Ebene der Performance. Die Grundidee ist, dass die persönliche Erfahrung einer Person niemals in einen historischen Diskurs passt. Und deshalb lügen im Großen und Ganzen alle historischen Museen. Sie sind selbst im aserbaidschanischen Baku geboren, das damals noch zur Sowjetunion gehörte. Wie sehr spielen persönliche Erfahrungen eine Rolle? Davydova: Meine Arbeit ist historisch, aber zugleich auch sehr persönlich, das zeigt sich vor allem im finalen Monolog. Ich musste im März 2022 aus Moskau fliehen. Nachdem ich eine Petition gegen den Krieg in der Ukraine unterschrieben hatte, wurde ich anonym bedroht über E-Mail

und Telefon, meine Wohnungstür wurde beschmiert. Ich verließ das Land mit nur einem Koffer und ohne Job. Es war das zweite Mal, dass ich ins Exil gehen musste, und vielleicht auch deshalb ein wenig einfacher, weil ich in Europa bereits ein Netzwerk habe. Als ich Ende der 1980erJahre aus Baku nach Moskau übersiedelte, kurz bevor es eine Welle von Attentaten gab, hatte ich keine Berufserfahrung, meine Eltern waren früh gestorben. Warum haben die russischen Autoritäten vor allem das Theater im Visier, wenn es um Restriktionen geht? Davydova: Auch für mich stellt sich diese Frage immer wieder, Theater ist in Russland gerade eines der Hauptopfer der restriktiven Politik. Es wurde fast alles zerstört, die Wissenschaft, die Ausbildung, die Kultur. Aber Theater ist mit Abstand am meisten betroffen. Wenn alle Medien gleichgeschaltet sind, ist es doch ohnehin nicht so wichtig, was in einem Theater passiert. Da sitzen maximal 1000 Menschen an einem Abend, das ist doch nichts. Aber ich denke, Theater hat in Russland eine große symbolische Macht. Sogar in Sowjetzeiten hatten die Autoritäten Angst vor Theater, vielleicht, weil es so schwierig zu zensurieren ist. Es ist immer live, man weiß nicht genau, was passieren wird. Während man im Kino oder in der Literatur eine zensurierte Fassung hat, kann im Theater jede Vorstellung anders sein. Du kannst Theater nie völlig kontrollieren. Das macht es aber auch so spannend. F


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A bissl was Süßes geht immer Hyung-ki Joo plant zur Eröffnung der Wiener Festwochen eine musikalische Party für alle – mit ganz vielen Pralinenschachteln Und weiter: „Jede Darbietung für sich ist, wie in einer gut sortierten Pralinenschachtel, ein kleines Kunstwerk.“ Da kann man nur hoffen, dass es nicht zu einem Zuckerschock und kompletten SchokoOverkill kommen wird. Das Schöne an der langen Liste der auftretenden Künstlerinnen und Künstler ist: Sie besteht nicht nur aus bekannten Marken und Geschmacksrichtungen.

VORSCHAU: SEBASTIAN FASTHUBER

ngesagte Apokalypsen sind bislang zum Glück stets ausgeblieben – A und auch Utopien zumeist solche geblieben. Eine letzte Nacht auf Erden rief der Autor und Regisseur David Schalko als Verschränkung von pessimistischer und positiver Zukunftsvision im Vorjahr zur Festwochen-Eröffnung am Rathausplatz aus. „Last Night on Earth“ war ein audiovisuelles Gesamtkunstwerk mit Kruder & Dorfmeister an den Reglern, das vor allem durch die Bühnenpräsenz von Bilderbuch (positiv) und Yung Hurn (ja, darf denn der da auftreten?!) in Erinnerung blieb.

kultivierten – Volksfest hat. Die Auftaktveranstaltung ist traditionell das Alien im Programm. Bei freiem Eintritt soll sie niederschwellig ein breites Publikum ansprechen. Heuer zeichnet Hyung-ki Joo für die Party am Rathausplatz verantwortlich. Der Eröffnung koreanisch-britische Pianist könnte eigent- 12.5., 21.20 Uhr lich auch selbst auftreten, ist er doch ein Rathausplatz

verdammt guter Entertainer. In den letzten Jahren hat er den Klassikbetrieb ordentlich aufgemischt, vor allem seine Shows zusammen mit dem Geiger Aleksey Igudesman als Duo Igudesman & Joo haben etwas von Konzerthaus meets Comedy. Joo möchte das Publikum überraschen. Das Programm ist breit aufgestellt und soll etwas für jede und jeden bieten. In der Ankündigung heißt es: „Akrobatik trifft auf Klassik, Vivaldi auf Screamin’ Jay Hawkins, Streichquintett auf Breakdance, Poesie auf Flamenco, Beat Boxing auf Chanson.“

geschummelt, die einem noch nicht selbstverständlich über die Lippen gehen. Wer im Internet öfter was mit Humor anklickt, wird vielleicht Beardyman kennen. Der britische Musiker, Vokalist und Komiker ist Urheber einiger viral gegangener Videos und arbeitet stimmlich mit allen Mitteln: Beatboxing, Singen, Rappen, Scatten und noch mehr, viel mehr. Auf die Kraft ihrer Stimme setzt auch die deutsche Obertonsängerin Anna-Maria Hefele. Ein Multitalent ist der Italiener Patrizio Ratto, er wechselt fließend zwischen Klavierspiel und Tanz. Aus Wien mit dabei sind u.a. der stilistisch breit aufgestellte Gitarrist und Komponist Wolfgang Muthspiel, die Cellistin und Sängerin Marie Spaemann, für die das ebenfalls gilt, oder die Chanteuse Valerie Sajdik. F

AK Wiener Stadtgespräch mit Wochenzeitung Falter: Spannende Gäste diskutieren zu aktuellen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, demokratieund medienpolitischen Themen. Schauen Sie auf unsere Website! www.wienerstadtgespraech.at

FOTO: INES BACHER

Der FestwochenAuftakt: Garant Eröffnung der Wiener Festwochen vorm für einen vollen Rathaus ein bisschen was von einem – Rathausplatz Worauf man sich verlassen kann: Dass die

Hyung-ki Joo hat einige Namen auf die Liste


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„Was ist denn ein echter Junge?“ Festwochen heuer auch für Kinder: „Pinocchio“ von Wu Tsang und Moved by the Motion

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Mette Ingvartsen: Tanz und Rasanz in der Halfpipe

INTERVIEW:

SHOWING-OFF:

SARA SCHAUSBERGER

HELMUT PLOEBST

inocchio war nicht nur ein Stück P Holz, Pinocchio war einmal ein Baum. In der Bühnenversion von Wu

er in den Sixties nicht mit so ambivalenter Lektüre wie MiW cky Maus sozialisiert wurde, kann

Tsang und ihrem Kollektiv Moved by the Motion am Zürcher Schauspielhaus entstammt die kleine Holzpuppe einer Pinie mit Augen. Warum Pinocchio als ehemaliger Baum den Menschen viel lehren kann, erklärt Wu Tsang im Gespräch.

sich vielleicht kaum vorstellen, dass es in den wöchentlichen Heften auch einmal eine Geschichte über das Skateboard als Verkehrsmittel gab. Es war der große Brettrausch: So wie heute viele gern mit dem E-Scooter fahren, tuckerten alle Entenhausner – Omi, Papa und die Kleinen – mit motorisierten Skateboards inklusive kleinen Auspuffen durch die Straßen: verbretterte Verbrennerzeit. Nach Österreich kam das Skateboard erst in den 70ern. Im Gegensatz zum sportmuffligen Verfasser dieses Wörterslaloms hatte Mette Ingvartsen eine aktive Skaterjugend. Und so kamen bei der bekannten dänischen Choreografin einschlägige Erinnerungen hoch, als sie in Europas belgischer Hauptstadt die rasanten und riskanten Aktivitäten in einem Skatepark sah.

Falter: Zu Beginn Ihrer „Pinocchio“Inszenierung heißt es: „Seid ihr zu alt, um an Wunder zu glauben?“. Ihr Stück ist für Kinder ab sieben Jahren, appellieren Sie mit diesem Satz an die Erwachsenen im Publikum, sich ebenfalls auf die Reise einzulassen? Wu Tsang: Wir haben uns viel damit befasst, was einen mit sieben, acht Jahren beschäftigt. Es ist eine magische Phase im Leben: Du nimmst alles aus der Umgebung auf, aber lebst gleichzeitig viel in deiner eigenen Fantasie. Wir bitten das Publikum, es auszuhalten, wenn sich nicht alles logisch erklären lässt, was auf der Bühne passiert. Wir wünschen uns eine Offenheit, sich auf das sinnliche Erleben einzulassen.

„Pinocchio“ ist das erste Stück von Moved by the Motion für Kinder. War der Arbeitsprozess sehr anders? Tsang: Es fühlte sich überraschend natürlich an für uns, weil wir mit denselben Mitteln arbeiteten wie sonst auch. Wir sind außerdem in einem Alter angelangt, in dem einige von uns und viele in unserem Umfeld Kinder haben. Wir beschäftigten uns mit unserer Rolle als Erwachsene und überlegten, was Kinder uns beibringen. In diesem Sinne dachten wir auch über Pinocchio nach.

FOTOS: DIANA PFAMMATTER, BEA BORGERS

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In der klassischen Erzählung ist es Pinocchio, der Lektionen lernen muss, um in der Gesellschaft aufgenommen zu werden. Warum ist das in Ihrer Inszenierung anders? Tsang: Nachdem er als ein Stück Holz beginnt, muss er ja einmal ein Baum gewesen sein. Und wir überlegten uns, welche Erfahrungen Bäume mitbringen und uns Menschen beibringen können. Also machten wir uns schlau und erfuhren faszinierende Dinge: Sie leben etwa gesellschaftlich strukturiert. Bäume einer Baumgruppe stellen sicher, dass alle überleben. Kannten Sie „Pinnocchio“ schon als Kind? Tsang: „Pinocchio“ war einer meiner ersten Disney-Filme: Ich fand ihn beängstigend. Im Buch, das ich

Der Spaß, den Ingvartsen dort beobach-

In der Version von Moved by the Motion war Pinocchio einmal eine Pinie

erst jetzt im Zuge der Recherche gelesen habe, finde ich die Geschichte noch unheimlicher: Wirklich schlimme Dinge passieren ihm. Fürs Stück haben wir ein bisschen ummodelliert. Wir dachten, es geschieht genug Schreckliches auf dieser Welt, deshalb konzentrieren wir uns eher auf den Humor, die Schönheit und den Aspekt der Lektionen in der Erzählung. Denn diese beängstigenden Sachen in der Geschichte hatten wahrscheinlich auch die Funktion, den Kindern beizubringen, wie sie sich richtig zu benehmen haben. Warum dann ausgerechnet „Pinocchio“? Tsang: Pinocchio versucht die ganze Zeit, ein „echter Junge“ zu werden. Ich fühlte mich angezogen von der Frage, was denn ein „echter Junge“ ist. Vor allem geht es um moralische Benimmregeln, die ihn am Menschsein hindern. Viele der Lektionen handeln davon, wie er als individueller Mensch an der Gesellschaft teilnehmen kann. Aber der Individualismus ist nicht die einzige Art, in dieser Welt zu sein, es gibt auch andere Arten des Zusammenlebens. Davon erzählen wir.

Auch Sie arbeiten bevorzugt mit ihrem Kollektiv Moved by the Motion, mit dem Sie als Hausregisseurin ans Schauspielhaus Zürich gegangen sind. Wie haben Sie sich als Gruppe gefunden? Tsang: Wir alle begegneten uns mehr oder weniger übers queere Nachtleben in L.A. Wir begannen als Freunde und entwickelten darüber hinaus eine Arbeitsbeziehung. Man liest über Sie, Sie seien nicht nur Künstlerin, sondern auch Aktivistin. Tsang: Es passiert leicht, dass man als trans Künstlerin in eine gewisse Ecke geschoben wird. Ich würde mich aber nicht als Aktivistin identifizieren, weil es so viele großartige Aktivist:innen gibt, die wichtige Arbeit machen. Ich verdiene den Titel nicht. Dennoch fühle ich als trans Künstlerin und PoC eine gewisse Verantwortung. Ich mag es jedoch mehr, dem Publikum meine Botschaften nicht aufzudrücken, sondern es eigene Erfahrungen machen zu lassen und daraus Rückschlüsse zu ziehen. F Pinocchio (ab 7 J.) 3.6., 4.6., 17 Uhr, 5.6., 10 Uhr Volkstheater

tete, war: „… sowohl ein Raum für virtuoses physisches Experimentieren als auch ein öffentlicher Ort für kulturübergreifende Begegnungen zwischen Gemeinschaften“. Was sich die Youngsters heute in den Halfpipes selbst beibringen und bei Wettbewerben aufführen, ist echt beeindruckend. Kein Wunder also, dass Mette Ingvartsen den Drang verspürte, zu zeigen, wie verwandt Skaten und Tanzen miteinander sind. In ihrem auf die Theaterbühne transferierten „Skatepark“ arbeiten sich ein Dutzend Performer:innen und Skater:innen an der Lust auf Showing-off ab, sogar mit Einbindung der lokalen Szene. Hier wird erweiterter Tanz als soziales Phänomen jenseits von Clubs und Ballrooms gezeigt, mit Leuten ganz verschiedener Herkünfte, die ansonsten vielleicht nicht so einfach zusammengefunden hätten. F Skatepark 19. und 20.5., 20 Uhr, 21.5., 15 Uhr MuseumsQuartier, Halle G

Mette Ingvartsen bringt den virtuosen Spaß eines Skateparks ins Theater


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Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk spricht in Wien

Gschichtldrucker Das Kollektiv Grupo Marea liebt gutes Storytelling. Das neue Stück ist echt abgefahren Bühnenbildnerin Mariana Tirantte, der Musiker Diego Vainer, der Lichtdesigner David Seldes und die Produzentin Florencia Wasser, also wieder nach Wien. Wieder mit einer abgefahrenen Fiktion und neuen Schauspieler:innen. Oder auch einer wahren Geschichte, wer weiß. Auch in „La Obra/Das Stück“ geht es um eine Ortschaft. Die hat sich ein gewisser Simon Frank, ein polnischer Jude, seit den 1960er-Jahren in Zentralargentinien geschaffen. Offenbar hatte er vor den Nazis nach Südamerika fliehen können. Über Jahrzehnte hat der Mann in seiner neuen Heimat La Pampa, so die Geschichte, die Häuser, Wohnungen und Straßen seines Lebens im Warschau vor dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut. Als fixe Kulisse in seinem Garten, um dort – mithilfe immer mehr Beteiligter – bei einem jährlich stattfindenden Festival sein eigenes Leben und das seiner Familie und Freund:innen nachzuspielen. Schließlich nimmt die komplette Ortschaft La Pampa an diesen privaten Passionsspielen teil, mehr und mehr identifizieren sich die Laiendarsteller:innen auch unabhängig vom eigentlichen Theaterevent in ihrem eigenen Leben mit den Menschen im Warschau der Vorkriegszeit.

TEXT: MATTHIAS DUSINI

ie Rede ist von der ukrainischen Menschenrechtsanwältin OlekD sandra Matwijtschuk. Sie tritt am 9. Mai auf dem Judenplatz auf, um an Europa zu appellieren. Unter dem Titel „Ohne Freiheit kein Frieden, ohne Recht keine Gerechtigkeit“ wird sie daran erinnern, wie wichtig Solidarität und der Widerstand gegen Unrecht sind. Platz und Termin sind gut gewählt, denn der 9. Mai wird als Europatag begangen und das Mahnmal am Judenplatz erinnert an die Verbrechen des Holocaust. Matwijtschuk leitet in Kiew die Menschenrechtsorganisation Center for Civil Liberties, die 2022 den Friedensnobelpreis bekam. Die Organisation wurde gegründet, um die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine zu fördern. Die Juristin erlebte die Niederschlagung der Euromaidan-Proteste 2013, wo Menschen getötet und entführt wurden. Tausende Freiwillige engagierten sich ehrenamtlich für die Opfer und ihre Angehörigen. 2014 annektierte die Russische Föderation die Krim und begann im Donbas einen Krieg. Das Center for Civil Liberties dokumentiert die Kriegsverbrechen der Besatzungsmacht. Das Engagement beschränkt sich nicht auf die Ukraine. Matwijtschuk setzt sich auch für die Rechte politischer Gefangener in Putins Diktatur ein. Die Aktivistin wollte zivilisierten Frieden, geriet nach dem Überfall des Nachbarstaates auf die Ukraine im Februar 2022 jedoch immer mehr in die Abgründe des Krieges. Ihre Nobelpreisrede schrieb Matwijtschuk bei Kerzenlicht, russische Raketeneinschläge hatten die Energieversorgung in Kiew unterbrochen. Nun fordert sie vehement die Schaffung eines internationalen Sondergerichts: „Wir müssen Putin, Lukaschenko und andere russische Kriegsverbrecher zur Verantwortung ziehen – und wir dürfen nicht mehr damit warten.“ Hör her, Europa! F Eine Rede an Europa 9.5., 19 Uhr, Judenplatz

Die Anwältin Oleksandra Matwijtschuk setzt sich für Menschenrechte ein

Irgendwann jedoch nimmt das Ganze

Der argentinische Theatermacher und Autor Mariano Pensotti

SPURENSUCHE: CHRISTOPHER WURMDOBLER

an kann das Ganze natürlich M auch so herum sehen. „Fiktionen schaffen uns überhaupt erst“, sagt der argentinische Theatermacher und Autor Mariano Pensotti in einem Interview mit den Berliner Festspielen und erklärt: „Wir verhalten uns so, wie wir es von den großen Erzählungen gelernt haben. Wir sind genau so, wie uns die Filme, die Bücher, das Fernsehen gemacht haben.“ Und neuerdings schaffe auch noch Social Media konstant Fiktionen unserer Realität, mache uns vor, wie wir zu sein haben. „Aber“, so Pensotti weiter, „ich glaube, dass das Schaffen von Fiktionen auch eine starke Hoffnung beinhaltet, die Idee einer möglichen anderen Utopie, dass ein anderes Leben möglich ist. Geschichten schaffen neue Perspektiven, die zuvor nicht da waren.“ Wie kaum ein anderer vermag der 50-jährige Regisseur, der Film, bildende Kunst und Theater studierte, sich Geschichten auszudenken und mit eher filmischen Mitteln des

Theaters zu erzählen. Nämlich so, dass man die Storys fix für wahr hält. 2019, in seinem ersten FestivalJahr, hatte Intendant Christophe Slagmuylder den Argentinier mit seiner Company Grupo Marea zuletzt zu den Wiener Festwochen geholt, um in der riesigen Eishalle Kagran das Kaff „Diamante“ aufzubauen: eine private Stadt für die Arbeiter:innen und Angestellten einer Mine mitten im argentinischen Dschungel. Sechs Stunden lang spazierte damals

das staunende Publikum zwischen Holzhäusern mit komplett eingerichteten Wohnungen, einer Kneipe oder einem Parkplatz mit Autos umher und ließ sich von den Schauspielerinnen und Schauspielern die großen und kleinen privaten Geschichte(n) dieser bizarren Reißbrettstadt mitten im Dschungel Argentiniens erzählen. Beeindruckendes Storytelling war das, eine Art immersive Roman-Erzählung, auch wenn dem Publikum nur eine Beobachter:innenposition zugewiesen wurde. Nun kommt das Kollektiv Grupo Marea, neben Pensotti sind das die

dann eine völlig überraschende Wendung, die an dieser Stelle nicht gespoilert werden soll. Jedenfalls endet das bizarre Erinnerungstheater des geflüchteten Juden Simon Frank jäh und die polnische Kulissenstadt in der argentinischen Provinz wird demontiert oder zerfällt. Die Reste dienen nur noch als Filmset für eine Telenovela. Im Jahr 2020 reist dann noch ein europäischer Theaterregisseur nach Zentralargentinien. Weil er nämlich im Guardian einen Artikel über das kleine Welttheater gelesen hat und versuchen möchte, mit ehemaligen Mitstreitern des Simon Frank ein Theaterstück über das Theaterstück auf die Beine zu stellen. Wie schon bei „Diamante“ wird auch hier der weitere Verlauf der Geschichte so irrsinnig absurd, dass man keine Sekunde lang ihren Wahrheitsgehalt bezweifelt. Und natürlich ist besagter Guardian-Artikel auch nach längerer Suche nicht auffindbar. Man darf jedenfalls gespannt sein auf diese weitere fiktionale/nichtfiktionale Erzählung des Mariano Pensotti. Weltpremiere ist bei den WieF ner Festwochen. La Obra / Das Stück 2.–7.6., 20 Uhr Jugendstiltheater am Steinhof

FOTOS: CENTER FOR CIVIL LIBERTY, CATALINA BARTOLOME

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PORTRÄT: NICOLE SCHEYERER

ktopusse sind kuriose LebeweO sen. Die Intelligenz der klügsten Weichtiere steckt in ihren Fangarmen,

sie erfahren die Welt über Saugnäpfe. „Weiblich, Hauptwort. Schleimig, flüssig, formbar. 9 Gehirne, 8 Tentakel, hat 3 Herzen und blaues Blut. Elegant, kann Tinte ausstoßen, zum Kochen und Schreiben. Transparent. Graubraun. Sehr kräftig. Gehirn auf einem Präsentierteller“, so beschrieb Laure Prouvost Frau Tintenfisch, die in ihren Skulpturen schon mal Brüste bekommt. Mit allen Sinnen wahrnehmen, das fesselt die französische Künstlerin, die besonders das flüssige Element schätzt. Auf der Biennale in Venedig 2019 wurde Prouvosts Ausstellung „Deep See Blue Surrounding You“ zum Hit, für den das Publikum vor dem französischen Pavillon seine Beine in den Bauch stand. Die gefeierte Videoinstallation zeigte einen Roadtrip voller Flüstern, Tasten und Schmecken, der von Frankreich in die Lagunenstadt führte. Die 1978 in Croix geborene Künstlerin hat in London studiert und gelebt. Mittlerweile wohnt sie in Brüssel. In ihrer damaligen Wahlheimat Großbritannien erhielt sie 2013 den Turner Prize, einen der international renommiertesten Kunstpreise. Ausgezeichnet wurde Prouvosts Videoarbeit „Wantee“ (kurz für: „Want tea?“), eine skurril-versponnene Recherche über die Kreativität in ihrer Familie. Ihr Großvater sei ein Konzeptkünstler und Freund des Dadaisten Kurt Schwitters gewesen, so die Story des Videos. Als sein Lebenswerk wollte er einen Tunnel vom Atelier bis nach Afrika graben. Opa sei schon lange in seinem tiefen Loch verschollen; zurück blieb seine Frau, die derweil Tee kocht und das vom Grabungsdreck verschlammte Studio mit Keramiken dekoriert.

FOTO: GENE PITTMAN

Um die Figur der Großmutter dreht sich

nun auch die Ausstellung mit dem lautmalerischen Titel „Ohmmm age Oma je ohomma mama“, die Prouvost auf Einladung der Wiener Festwochen und der Kunsthalle Wien produziert hat. Die Schau in der Kunsthalle kreist einerseits um echte Vorfahrinnen, andererseits um Großmütter im weitesten Sinn. Die Hommagen („Ohmmm age“) der Schau huldigen unter anderem der prähistorischen Venus von Willendorf, der Barockmalerin Artemisia Gentileschi oder der afroamerikanischen Bürgerrechtlerin Rosa Parks. Prouvost startete ihre Laufbahn als Videokünstlerin, hat aber schon bald auch Skulpturen und Erlebnisräume zu den Projektionen gestaltet. Für Venedig mit seiner Glasbläserinsel Murano ließ sie niedliche Oktopusse herstellen. Die zerbrechlichen Tiere standen nicht auf einem Sockel, sondern lagen auch am Boden, zu-

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Sound ist der Herzschlag meiner Kunst LAURE PROUVOST

Masken und Fabeln sind ein integraler Teil von Laure Prouvosts künstlerischem Kosmos

Videokunst mit Saugnäpfen Die Künstlerin Laure Prouvost huldigt in der Kunsthalle Wien fiktiven Großmüttern sammen mit Plastik- und Elektromüll in transparentes Kunstharz eingegossen, so als wäre die Halle überschwemmt. „High & Low“, hohe Kunst und Alltagsschrott, bergen in Prouvosts Sichtweise dasselbe sinnliche Potenzial. Mal werden in ihren Filmen Himbeeren saftreich zerbissen, dann wieder Handydisplays abgeleckt. Prouvost ruft die unmittelbare Lust, die Welt wie ein Kleinkind mit Lippen und Zunge zu erkunden, wo es geht, zu betapschen und in jede Wasserlache zu hüpfen. Dabei verfällt Prouvosts Kunst aber in kein bloßes Abfeiern von Sensualismus, wie wir es aus Werbung oder Design kennen. Sie schafft

es vielmehr, feministisch-ökologische Gesellschaftskritik mit einer happy attitude darzureichen, wie es zuletzt der Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist in den 1990er-Jahren gelang. „Sound ist der Herzschlag meiner Kunst“, hat die musikaffine Französin in einem Interview betont. Zu ihrer Wiener Ausstellung steuert Elisabeth Schimana, eine österreichische Pionierin der elektronischen Musik, die 6-Kanal-Fixed-Media-Komposition „Zwiebelfäden“ bei. In dem Audiostück würdigt Schimana viel zu wenig bekannte Wegbereiterinnen wie die Komponistin Éliane Radigue, aber auch Mentorinnen wie Heidi Grundmann, die Erfinde-

rin der Ö1-Sendung „Kunstradio – Radiokunst“. „In dieser Ausstellung schweben Echos und Geister von vielen unterschiedlichen Großmüttern herum“, sagt die Festwochen-Kuratorin Caroline Nöbauer. Auch wenn Laure Prouvost Heldinnen der Vergangenheit Rosen streut, gehe es der Künstlerin doch vor allem um die Zukunft. Während die Künstlerin Louise Bourgeois die Mutter noch als bedrohliche Riesenspinne darstellte, treten Prouvosts Omas als wohlwollende Instanzen auf. Schließlich können Tentakel nicht nur hinunterziehen, sondern auch emportragen. F Kunsthalle Wien, 11.5.–1.10.


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WIENER FESTWOCHEN 23 gen Zeit heraus entstanden. Heute vermittelt er in schwierigen Zeiten Wärme und in unruhigen Zeiten Vertrauen. Apropos unruhig: Sie haben schon vier Festwochen-Intendanten miterlebt, demnächst kommt der fünfte. Wie geht man als Sponsor mit häufigen Veränderungen um? Goubran: (Lacht.) Es ist wie in der Politik: Die Regierungen wechseln, die Beamten bleiben. Es steht uns natürlich nicht zu, einzugreifen. Man muss das beobachten und hoffen, dass das System solche Rumpler übersteht. Das Haus unterstützt meine Grundhaltung, dass man in der Kunst und im Leben Dinge ausprobieren muss. Und das heißt, dass man auch scheitern kann. Daraus lernt man für die nächste Runde. Worauf freuen Sie sich bei der diesjährigen Festivalausgabe am meisten? Goubran: Was sage ich da am besten? Vielleicht „Verwandlung eines Wohnzimmers“ von Toshiki Okada? Aber ich gebe zu, die Antwort ist ein PR-Manöver, weil wir auch Hauptsponsor des Klangforums sind. Insgesamt habe ich mindestens 15 Karten bestellt.

„Ich lasse mich auf Experimente ein“ Ruth Goubran leitet „Vermehrt Schönes!“. Der Hauptsponsor der Festwochen wird zehn INTERVIEW: MARTIN PESL

er die Festwochen besucht, kennt W das Vogelgezwitscher vor Vorstellungsbeginn: Es gehört zu „Vermehrt Schönes!“, dem Sponsoringprogramm der Erste Bank, die das Festival seit 2013 maßgeblich unterstützt. Ruth Goubran hat das Programm, das auch viele andere Partner hat, etwa die Viennale, unter diesem Namen vor mittlerweile zehn Jahren ins Leben gerufen. Bis heute leitet sie es in einem Es werden kleinen Team mit ihrer Kollegin Theres Fi- nicht mehr schill. Ein Gespräch zur Feier des Tages. die bildungs-

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Falter: Frau Goubran, ich möchte mit einer Offenlegung beginnen: Als Kritiker kritzle ich begeistert die „Vermehrt Schönes!“Notizbücher voll. Die letzten Jahre habe ich sie bei den Festwochen aber vermisst. Ruth Goubran: Keine Sorge, die kommen wieder. Die haben wir nur wegen Corona nicht verteilt, aus hygienischen Gründen.

Sie kommen selbst aus dem Kulturbereich, haben früher bei den Festwochen gearbeitet, waren später Geschäftsführerin des Gartenbaukinos. Wieso haben Sie die Seite gewechselt? Goubran: Ich wurde gefragt! Es ist der

bürgerlichen Gewohnheiten der Eltern und Großeltern übernommen RUTH GOUBRAN

Unternehmung hoch anzurechnen, dass sie sich eine Expertin von draußen geholt hat. Ich hatte in dem neuen Bereich keinerlei Erfahrung, habe aber durch meinen Außenblick verstanden, dass es sinnvoll ist, vom Gießkannenprinzip wegzugehen und das Sponsoring zu strukturieren. So entstand das Erste Bank-Sponsoringprogramm „Vermehrt Schönes!“. Was macht dieses Programm aus? Goubran: Wir fördern keine Einzelprojekte, es sind immer Institutionen dazwischengeschaltet, auf deren kuratorischen Blick wir angewiesen sind. Wir machen auch keine kostenintensive Eigenwerbung, wie Werbespots oder Gewistawerbung, da wir die Kunst- und Kulturproduktionen unterstützen wollen. Die Werbepräsenzen, stellen uns unsere Partner, wie die Wiener Festwochen zur Verfügung. Dadurch sind wir sehr nahe beim jeweiligen Publikum. Hätten Sie gedacht, dass der Slogan so ein Eigenleben entwickelt? Goubran: So etwas kann man sich nur wünschen, jedoch nicht planen. Der Slogan ist Guerilla-Marketing-mäßig aus der damali-

Es wäre schön, wenn alle diesen Ansatz verfolgten. Goubran: Das geht aber nicht so leicht, wenn man 25 bis 45 Euro für eine Karte ausgegeben hat. Dafür habe ich großes Verständnis. Deshalb unterstützen Sie heuer die Aktion U30. Menschen unter 30 Jahren zahlen nur 15 Euro pro Karte. Goubran: Der Nachwuchs ist ein großes Thema im Kulturbereich: wie schaffen wir es die jungen Menschen für Kunstproduktionen zu interessieren. Die Technisierung hat unsere Wahrnehmung verändert, die Pandemie das Ihre dazugetan. Es werden nicht mehr die bildungsbürgerlichen Gewohnheiten der Eltern und Großeltern übernommen. Da müssen Zugänge geschaffen werden, und einer davon ist Leistbarkeit. Was ist anlässlich des zehnten Geburtstags noch geplant? Goubran: Dieses Jahr fragen wir alle unsere Partner: „Was ist für Sie Schönes?“. Christophe Slagmuylder hat zum Beispiel geantwortet: „Wochen, die mit Fest beginnen.“ Und was ist für Sie Schönes? Goubran: Als Sponsor ist für uns Schönes immer, Schönes zu vermehren. Ruth Goubran hat natürlich eine andere Antwort. Die wollte ich eigentlich hören. Goubran (nach einer Nachdenkpause): Schön ist das Leben. F

FOTO: VIENNALE/ALEXI PELEKANOS

Ruth Goubran leitet das Sponsoringprogramm der Erste Bank und ermöglicht vermehrt Schönes

Was machen Sie, wenn Sie mit dem Programm nicht zufrieden sind? Goubran: Ich habe das große Privileg, mir diese Vorstellungen ansehen zu dürfen. Also gehe ich mit der Haltung hinein, mich auf ein Experiment einzulassen. Wenn es aufgeht, beglückt mich das, und wenn nicht, ist das auch in Ordnung. Wahrscheinlich ein bisschen wie bei Ihnen als Theaterkritiker.


Festival für

Bezahlte Anzeige

Gegen warts kultur


Wiener Festwochen 23 

12.5. bis 21.6. www.festwochen.at

Eintritt frei Stücktitel 9.5., 19.00

11.5., 19.00

12.5., 21.20 13.5., 14.5., 3.6., 4.6., 17.00–19.30 (alle 30 min.)

13.5., 14.5., 18.00 15.5., 16.5., 20.00 13.–15.5., 20.30 13.5., 21.00

14.5., 18.00

14.– 18.5., 19.30

16. – 19.5., 20.30

Rede an Europa Eröffnung Ohmmm age Oma je ohomma mama

Eröffnung der Wiener Festwochen (Regie: Hyung-ki Joo, mit Beardyman, Anna-Maria Hefele, Mr. Leu, Marie Spaemann u.v.m.)

Close Encounters

31.5., 1.6., 18.30

Jugendstiltheater

(Anne -Cécile Vandalem / Das Fräulein (Kompanie))

Verwandlung eines Wohnzimmers

31.5., 18.30

MuseumsQuartier, Halle G

(Toshiki Okada / chelfitsch, Dai Fujikura, Klangforum Wien)

Elective Affinities (Moor Mother) 

1.–3.6., 20.30

anschließend Festival Opening Party

Porgy & Bess

Widerstand schreiben

2.–7.6., 20.00

(Lesung und Gespräch: Tsitsi Dangarembga)

Odeon 2.6., 21.00

Pieces of a Woman (Kornél Mundruczó, Kata Wéber, TR Warszawa)

Akademietheater

(Keyvan Sarreshteh)

Theater Nestroyhof Hamakom 4.6., 11.00, 14.00

Semperdepot

(Rugilė BarzdŽiukaitė, Vaiva Grainytė, Lina Lapelytė )

4.– 7.6., 20.30

MuseumsQuartier, Halle G

(Mette Ingvartsen)

5.6., 18.00

Elective Affinities (Dai Fujikura, Jan Bang, Eivind Aarset, Franz Hautzinger) 

anschließend Festival Lounge mit DJ Jürgen Drimal / Superfly

Club U hosted by: Rhinoplasty (20.5.), hosted by: Res. Radio (28.5.),hosted by: Sonic

Porgy & Bess

Territories (3.6.), hosted by: A party called Jack (10.6.), hosted by: Rhinoplasty (17.6.)

7.6., 18.00

Club U

Mémé Theater Nestroyhof Hamakom

(Sarah Vanhee)

8.6., 14.00, 16.00

Museum of Uncounted Voices Odeon

(Marina Davydova)

Theater Akzent

(Simon McBurney / Complicité)

24.–26.5., 20.30

25.5., 18.30

25.–27.5., 20.00

RaDeschnig, David Scheid, Stefanie Sourial, Toxische Pommes, Lea Blair Whitcher)

27.5., 29.5., 31.5., 2.6., 4.6., 6.6., 19.00

Guided by Artists: Maxime Pascal

Wohnung Alban Berg

(Stadttour auf den Spuren von Alban Berg)

Metropol

Stadtkino im Künstlerhaus

Theater Akzent

(Tomi JaneŽič)  Talk: Iris Fink, Angie Ott, Alexa Oetzlinger, Antonia Stabinger, Toxische Pommes

Jugendstiltheater

Talk Marina Davydova, Mikheil Charkviani und Bence György Pálinkás

Metropol

Singing Youth (Judit Böröcz, Bence György Pálinkás, Máté Szigeti)

Schauspielhaus

La Obra / Das Stück (Mariano Pensotti / Grupo Marea)

Jugendstiltheater

Elective Affinities 21.00: Agnes Hvizdalek (Solo), Jakob Schneidewind (Solo) 

22.30: Festival Lounge mit PNØ live, Inou Ki Endo

Porgy & Bess Volkstheater

 Guided by Artists: Böröcz, György Pálinkás und Szigeti

Allianz Stadion

Das Kind MuseumsQuartier, Halle G

(Afsaneh Mahian, Naghmeh Samini)

Widerstand schreiben (Vortrag: Naghmeh Samini)

MuseumsQuartier, Halle G

Widerstand schreiben (Performative Lesung: Christina Morales mit María Galindo)

Schauspielhaus

Donaupark, Sparefroh-Spielplatz

Guided by Artists: Doris Uhlich Kunsthistorisches Museum

(Ausstellung „Nackte Meister“)

A Day Is A Hundred Years (Jozef Wouterz)

Odeon

Exodus

9.6., 21.00

12.6., 13.6., 19.00

Canti di Prigionia / Gesänge aus der Gefangenschaft (Matija Ferlin, Goran Ferčec, PHACE, Cantando Admont)

brut nordwest

Dédé Vania

13.–15.6., 20.30

brut nordwest

Elective Affinities (Beatrice Dillon, Kuljit Bhamra) 

Film & Talk mit Sarah Vanhee

Porgy & Bess

anschließend Festival Lounge mit DJ Shantisan / Superfly

Extinction / Auslöschung (Julien Gosselin / Si vous pouviez lécher mon cæur, MuseumsQuartier, Halle E

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz)

Song of the Shank (Stan Douglas, George Lewis, MuseumsQuartier, Halle G

Jeffrey Renard Allen, Ensemble Modern)

Odeon

14.6., 18.30

Antigone im Amazonas

 Talk: Stan Douglas, George Lewis und Jeffery Renard Allen

Depot – Kunst und Diskussion

The Confessions

Burgtheater

14.– 17.6., 19.30

Stina Force (1.6., 22.00), KrÔÔt Juurak (4.6., 20.00), Eisa Jocson (8.6., 22.00), Danielle Pamp (11.6., 20.00), Luca Bonamore & Lau Lukkarila (15.6., 22.00), KDM Königin der Macht (18.6., 20.00) Franz Josefs Kai 3

14.–16.6., 20.30

Contes et légendes / Märchen und Legenden

15.6., 16.6., 19.00

Creation 2023 (Anne Teresa De Keersmaeker / Rosas, Meskerem Mees,

26.5., 21.00

Burgtheater

(Devonté Hynes, Big Island Orchestra)

9.–11.6., 20.00 (Mikheil Charkviani)

COMISH (mit Jean-Philippe Kindler, Malarina, Erin Markey, Maria Muhar,

(Milo Rau) 25.5., 28.5., 1.6., 4.6., 8.6., 11.6., 15.6., 18.6.

MuseumsQuartier, Halle G

Selected Classical Works

7.6., 20.00, 8.6., 9.00,  melancholic ground 9.6., 20.00, 10.6., 9.00 (Doris Uhlich)

8.–10.6., 20.30

24.5., 20.00

(Susanne Kennedy, Markus Selg)

3., 4.6., 17.00 Pinocchio 5.6., 10.00 (Wu Tsang / Moved By the Motion, ab 7 Jahren)

Timescape

Drive You Plow Over The Bones of the Dead 22.–26.5., 20.00 24.5., 31.5., 7.6., 20.00

ANGELA (a strange loop)

30.5.–1.6., 19.30 (Calixto Neto)

Parlament Österreich

Kingdom

Skatepark

22.5., 23.5., 24.5., 26.5., 27.5., 17.00, 21.00

30.5., 11.00, 14.00

Rathausplatz

Spielstätte

Feijoada

(Anna Rispoli)

19.5., 20.5., 20.00 21.5., 15.00

21. –23.5., 25.5., 20.00, 26.5., 18.00

29.5., 20.00

Kunsthalle Wien

Sun & Sea

20.5., 28.5., 3.6., 10.6., 17.6., ab 21.00

Judenplatz

(Laure Prouvost) Ausstellungsdauer: 12.5. – 1.10.

19.–23.5., 18.30, 19.30, 20.30

19.5., 21.00

28.5.–1.6., 20.00

(Oleksandra Matwijtschuk) 

Stücktitel

Spielstätte

Club Liaison Karo Preuschl (25.5., 22.00), Jen Rosenblit (28.5., 20.00),

Elective Affinities (Maurice Louka) 

anschließend Festival Lounge mit DJ Monsieur Smoab / Superfly

Porgy &Bess

Lulu (Marlene Monteiro Freitas, Maxime Pascal, ORF Radio-Symphonieorchester Wien)

Festwochen Service +43 1 589 22 22 service@festwochen.at

MuseumsQuartier, Halle E

Karten online & telefonisch + 43 1 589 22 11 www.festwochen.at

Bis 11. Mai: Mo–Fr, 10–17 Uhr. Ab 12. Mai: täglich 10–19 Uhr

16.6., 21.00 19.–21.6., 20.00

Volkstheater

(Alexander Zeldin)

Odeon

(Joël Pommerat)

Jean-Marie Aerts, Carlos Garbin)

Volksoper

Elective Affinities (serpentwithfeet) 

anschließend Festival Lounge mit Dj Jürgen Drimal / Superfly

Sibyl (William Kentridge)

Porgy & Bess MuseumsQuartier, Halle E

Tageskassen Tageskasse: Lehárgasse 3a, 1060 Wien: Mo-Sa, 10-18 Uhr Tageskasse MuseumsQuartier, Foyer Halle E+G: tägl. 10-18 Uhr Museumsplatz 1, 1070 Wien ABENDKASSE Ab einer Stunde vor Vorstellungsbeginn



WIENER FESTWOCHEN 23

FALTER

FOTOS: MARC BRENNER, BEA BORGERS

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Vorwort

Inhalt

illkommen zum Theatertreffen der W Welt: Von 12. Mai bis 21. Juni finden in diesem Jahr die Wiener Festwo-

Monströse Schönheit Die Choreografin Marlene Monteiro Freitas inszeniert Alban Bergs „Lulu“

chen statt, das Festival zeigt internationale Theaterproduktionen, Uraufführungen hier bekannter und noch unbekannter Künstler:innen, besondere Kompositionen. In diesem Falter-Special, das Sie gerade in den Händen halten, erfahren Sie alles, was Sie über das mehrwöchige Event wissen müssen. Besonders freuen wir uns über die Interviews, die wir führen konnten: Wu Tsang erklärt etwa, warum in ihrer Bühnenversion Pinocchio die Lektionen lehrt anstatt lernt, und Marina Davydova erzählt, was ihr Stück historisch und zugleich persönlich macht. Manchmal reicht die Erzählung eines einzelnen Lebens, um den Blick auf eine ganze Gesellschaft zu lenken. Biografien auf der Bühne ziehen sich in diesem Jahr wie ein roter Faden durch das Programm: Alexander Zeldin inszeniert ein Leben von Geburt bis zum Tod, das Musiktheater „Song of the Shank“ rückt die vergessene Vita des Schwarzen Pianisten Thomas Wiggins in den Blick, Sarah Vanhee erzählt von ihren Großmüttern und Mariano Pensotti schafft ein bizarres Erinnerungstheater. Traditionell sind die Festwochen ein spartenübergreifendes Festival: Die Schau „Ohmmm age Oma je ohomma mama“ ist die erste österreichische Einzelausstellung von Laure Prouvost. Auf Seite 21 finden Sie ein Porträt über die Künstlerin. Und warum es abenteuerlich ist, wenn sich die kapverdische Choreografin und Tänzerin Marlene Monteiro Freitas an die Inszenierung ihrer ersten Oper macht, lesen Sie auf Seite 4. Lassen Sie sich von den diesjährigen Wiener Festwochen überraschen. Die ein oder andere Produktion wird Sie bestimmt sogar beglücken. Versprochen! SARA SCHAUSBERGER

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Einsames Wandern, gemeinsames Marschieren Anne Teresa De Keersmaekers „Creation 2023“

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6 Wind, Eichenblätter, Zukunft William Kentridges „Sibyl“ über die gleichnamige Prophetin 6 Dev Hynes spielt Klassik im Burgtheater Ein seltenes Konzerterlebnis mit Devonté Hynes

Ein meisterhaftes Drama für Bühne und Netflix Kornél Mundruczós und Kata Wébers „Pieces of a Woman“ Aus aller Welt Neue Gesichter, neue Zugänge bei den Wiener Festwochen

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Spielplatz der Melancholie Doris Uhlich schickt ihre Performer:innen auf Spielgeräte

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Drei Mal Musik in Szene Neue Musik, neu inszeniert: Kompositionen zu brisanten Themen

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Seismografen unserer Gesellschaft Kritik und Perspektivenwechsel in Stücken der Wiener Festwochen Die Festnächte der Festwochen Das Partyprogramm des Festivals

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Kleinkunst als Tradition Die Veranstaltungsreihe „COMISH“ holt das Kabarett ins Festival zurück Wahlverwandtschaften im Porgy & Bess Die Konzertschiene „Elective Affinities“

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Das Menschliche in einem einzelnen Leben Alexander Zeldin erzählt in „The Confessions“ von seiner Mutter Das Leben ein Theater Biografien und Lebensgeschichten im Festwochen-Programm

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15 Anthropologe der Zukunft Joël Pommerats „Contes et légendes“ erzählt von Robotern und Teenagern 16 Einblicke in fremde Welten: Aug in Aug mit einem Teenager Anna Rispolis „Close Encounters“

16 „Du kannst Theater nie völlig kontrollieren“ Marina Davydova, Expertin für russisches Theater, im Gespräch 17 A bissl was Süßes geht immer Die Festwocheneröffnung am Rathausplatz 18 „Was ist denn ein echter Junge?“ Wu Tsang von Moved by the Motion im Interview über „Pinocchio“ 19 Mette Ingvartsen: Tanz und Rasanz in der Halfpipe Die Choreografin baut einen Skatepark ins Theater 19 Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk spricht in Wien „Rede an Europa“ am Judenplatz 20 G’schichtldrucker Mariano Pensotti und seine Grupo Marea erzählen eine abgefahrene Geschichte 20 Videokunst mit Saugnäpfen Die Künstlerin Laure Prouvost huldigt in der Kunsthalle fiktiven Großmüttern 21 „Ich lasse mich auf Experimente ein“ Ruth Goubran: Die „Vermehrt Schönes!“-Chefin im Interview 22 Planetarium einer neuen Zeitrechnung Jozef Wouters’ und Barry Ahmad Talibs „A Day Is a Hundred Years“

Impressum Falter 18a/23 Herausgeber: Armin Thurnher Medieninhaber: Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T: +43-1/536 60-0, E: wienzeit@falter.at, www.falter.at Redaktion: Sara Schausberger Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.; Layout: Raphael Moser; Lektorat: Helmut Gutbrunner; Geschäftsführung: Siegmar Schlager; Anzeigenleitung: Ramona Metzler Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau DVR: 047 69 86. Im Auftrag der Wiener Festwochen. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz ist unter www.falter.at/offenlegung/falter ständig abrufbar.


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FALTER

MONSTR Groteske Körper: Marlene Monteiro Freitas schafft überwältigende Bilder und faszinierende Details. Nun inszeniert die kapverdische Choreografin und Tänzerin für die Wiener Festwochen Alban Bergs „Lulu“ PORTRÄT: THERESA GINDLSTRASSER

um Beispiel tanzen die Pupillen mit mit ihren extravaganten Fehlleistungen die Z den Schultern um die Wette. Und vom Maschine am Laufen. Was Marlene Monteiro Freitas schafft, weit aufgerissenen Mund bis zu den rastlo-

Als Abgrund quasi unendlicher Wiederho-

lung setzt sich dieses skandalöse Verhältnis auch zwischen all den tragischen Clowns und magischen Automaten, zwischen all den zerstörten und zerstörenden Figuren auf der Bühne fort. Einzelne Körper brechen aus dem Club aus, es ist Chaos, das heißt: ein anderes Tableau, dann entpuppt sich ein neues Ordnungsprinzip als allerneuestes Unordnungsprinzip, die Zahnräder greifen nicht ineinander und halten

das sind überwältigende Bilder und faszinierende Details. Die Tänzerin und Choreografin wurde 1979 auf Kap Verde geboren. Nach ihrem Tanzstudium in Brüssel und Lissabon folgten Zusammenarbeiten mit Emmanuelle Huynh, Loïc Touzé, Tânia Carvalho, Boris Charmatz und anderen. In Lissabon, wo sie heute zuhause ist, gründete sie die Produktionsstruktur P.OR.K.. Freitas wurde 2017 vom Staat Kap Verde für ihre kulturelle Leistung geehrt und im Jahr 2018 bei der Biennale di Venezia mit dem Silbernen Löwen für Tanz ausgezeichnet. Mit ihrem ekstatischen Solo „Guintche“ gastierte Freitas 2014 zum ersten Mal bei den Wiener Festwochen. Seit 2019, als Christophe Slagmuylder sein erstes Programm vorstellte, ist die Choreografin zum alljährlichen Gast in Wien geworden. So lässt sie sich als eine prägende Künstlerin der mit der diesjährigen Festivalausgabe zu Ende gehenden Intendanz Slagmuylders verstehen. „Bacantes – Prelúdio para uma Purga“ (2019) konterkarierte den rauschhaften Mord der „Bakchen“ von Euripides mit

FOTOS: LAURENT PHILIPPE, PETER HOENNEMANN-KAMPNAGEL

sen Gliedmaßen steht alles unter Strom – alles ist beweglich. Die einzelnen Körperteile treiben es wild, fragmentiert schaut das aus, wie von keiner Kontrollinstanz reglementiert. Oder jedenfalls von keiner solchen, die als kühler Kopf einen schwitzigen Körper beherrscht. Vielmehr sind in den Choreografien von Marlene Monteiro Freitas eine unheimliche Körperspannung und die so isolierten, so konkreten, so vielfältigen Bewegungen in ein skandalöses Verhältnis gebracht. Wer? Was? Wie? Oder mindestens: Grotesk! Die Körper entziehen sich dem Verstehen. Und strecken dabei fratzenhaftfröhlich die Zungen heraus.

Die Choreografin und Tänzerin Marlene Monteiro Freitas wurde 1979 auf Kap Verde geboren


FOTOS: INES BACHER, CHARLOTTE HAFKE

ÖSE einer Geburtsszene aus einem avantgardistischen Dokumentarfilm von Kazuo Hara aus den 70er-Jahren. Gartenschläuche mit Mundstücken und Trichtern verwandelten sich in Trompeten, Springschnüre und Stethoskope und der Abend gipfelte im unendlichen „Boléro“ von Maurice Ravel, währenddessen sich das Ensemble unendlich uneindeutig in Rausch und Wiederholung, Manie und Freiheit erging. Mit „Mal – Embriaguez Divina“ zelebrierte Freitas mitten in einem peniblen Gerichtssetting und frei nach den Schriften Georges Batailles die Überschreitung der ethischen Ordnung hin zum Üblen, Schmerzhaften und Bösen. 2021 bearbeitete sie auf Einladung der Wiener Festwochen und gemeinsam mit dem Dirigenten und Schönberg-Experten Ingo Metzmacher und der experimentellen Vokalistin Sofia Jernberg zum ersten Mal ein Werk des musikalischen Standardrepertoires: „Pierrot lunaire“ von Arnold Schönberg. In einem Interview für den Festwochen-Podcast charakterisierte Freitas damals die titelgebende Commedia-dell’ArteFigur als gleichzeitig tragisch, entzückend, unschuldig und sadistisch – und genau so ambivalent gestaltet sie in ihren Bühnenwerken alle Figuren, voll wahnsinniger Lebendigkeit.

Marlene Monteiro Freitas war schon öfters bei den Wiener Festwochen: 2019 etwa mit der „Bakchen“Konterkarierung „Bacantes – Prelúdio para uma Purga“ (oben links), 2022 mit dem intimen Solo „idiota“ (oben) und 2020 mit dem Tanztheater „Mal – Embriaguez Divina“ (oben rechts)

Lulu 27., 29. und 31.5., 2., 4. und 6.6., 19 Uhr, Museumsquartier, Halle E

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S C H Ö N H E I T

Das intime Solo „idiota“, bei dem Freitas 2022 ausgestellt in einer Vitrine im Museum für angewandte Kunst performte, verwies als Gegenstück bereits auf das diesjährige Großprojekt voraus. 2023 inszeniert Freitas als Koproduktion von Wiener Festwochen und Musiktheater an der Wien zum ersten Mal eine Oper. Ein abenteuerliches Unterfangen. Unter der musikalischen Leitung von Maxime Pascal wird „Lulu“, Alban Bergs erste nach der Zwölftontechnik komponierte und unvollendet gebliebene Oper, um Teile der „Lulu-Suite“ ergänzt und durch das ORF Radio-Symphonieorchester auf die Bühne gebracht. Frank Wedekinds „Lulu“-Tragödien handeln vom sozialen Aufstieg einer jungen Frau entlang der sie begehrenden Männer. Elf Sänger:innen und acht Tänzer:innen begeben sich für diese Premiere in mäandernde Assoziationen des groteskschillernden, animalischen Universums der Marlene Monteiro Freitas. Im Fokus steht nicht die soziologische Analyse der Figur, sondern die pure Emotion. Liebe, Hass und Eifersucht. Ungewöhnlich die szenische Position des

Orchesters: Die Musiker:innen sitzen auf der Bühne erhöht dem Publikum gegen-

über. Dazwischen der klaustrophobische und wandlungsfähige Raum, den Freitas aus den beiden Wedekind-Werken destilliert. An die hundert Musiker:innen, Sänger:innen und Tänzer:innen performen gemeinsam, alles ist Bewegung und keine Kunst isoliert von den anderen Künsten. In diesem musikalisch-tänzerischen Kosmos, den Freitas in ihrer Funktion als Kostümbildnerin in Schwarz und Weiß fasst, flirren Elemente aus Sportarena, Anatomiesaal, Zirkus und Stummfilm durcheinander. Letzteres kommt bereits bei Berg vor. Der

sieht nämlich für den Wendepunkt zwischen den beiden Szenen des zweiten Aktes einen Stummfilm vor, um die zwischenzeitlichen Ereignisse zu erzählen. Die Musik dazu ist als ein Palindrom komponiert und wiederholt den spiegelbildlichen Verlauf von Aufstieg und Abstieg Lulus. In Schleifen und wie unter Wiederholungszwang stehend, werden auch bei Freitas die Körper nicht fertig mit den Bewegungen. In einer Traumarbeit von Verschiebung und Verdichtung gebiert diese Choreografin bewegte Bilder der monströsen Schönheit. Alles ist unrein. Alles ist intensiv. Und alles bleibt: Überraschend. F


FALTER

WIENER FESTWOCHEN 23

Einsames Wandern, gemeinsames Marschieren

Dev Hynes spielt Klassik im Burgtheater

TEXT:

PORTRÄT:

DITTA RUDLE

KATHARINA SEIDLER

nne Teresa De Keersmaekers A neueste Choreografie handelt vom einsamen Wandern und ge-

evonté Hynes hat in seinem Leben schon viele Musikstile D ausprobiert. Zu Beginn seiner Kar-

meinsamen Marschieren: „I woke up this morning, feeling round for my shoes / You know by that, people, I must have got the walking blues.“ Son House hat den Song 1930 komponiert und gesungen, durch Robert Johnson ist der „Walkin’ Blues“ 1936 bekannt geworden. Muddy Waters hat auch gesungen und sich inspirieren lassen, um seinen eigenen Walking-Song aufzunehmen: „I Feel Like Going Home“. Vom Gehen erzählt auch Anne Teresa De Keersmaeker in „Creation 2023“, denn „das Gehen ist mein Tanzen“, wie die belgische Choreografin und Tänzerin oft betont hat.

riere vor etwa 20 Jahren hatte der heute 37-jährige ausgebildete Pianist und Cellist mit der Band Test Icicles ein paar kleinere Dance-PunkHits, ab 2007 wandte er sich mit seinem ersten Soloprojekt Lightspeed Champion dem verschroben-verspielten Indiefolk zu. Der große Durchbruch erfolgte für Dev Hynes dann als Blood Orange. Unter diesem Namen produzierte der Londoner ein paar wegweisende Soloalben an der Schnittstelle von R’n’B und Bedroom Pop und war des Weiteren maßgeblich an der Produktion von Pophits anderer Artists wie etwa Solange, Sky Ferreira oder Kylie Minogue beteiligt. Als Blood Orange konnte er seine Vision von stilistischer Offenheit mit politischen Inhalten vollständig realisieren; Alben wie „Freetown Sound“ (2016) oder „Negro Swan“ (2018) zeugen davon. Die Musik darauf blieb gerne ver-

Begleitet wird sie nicht nur vom fast

hundertjährigen „Walkin’ Blues“. Songs über die Fortbewegung zu Fuß gibt es in vielen Varianten: weggehen und heimkommen, das Wandern im Regen und im Sonnenschein, in Memphis und auf jeden Fall in den eigenen Schuhen, die sind schließlich zum Gehen gemacht. Nicht erst die Popmusik hat Walking Songs entdeckt, besonders in der Romantik huldigten Dichter:innen und Komponist:innen dem Gehen. Deshalb wandert De Keersmaeker auch dahin zurück, bindet Klänge von Franz Schubert in die Soundchoreografie ein. Die junge belgische Sängerin Meskerem Mees hat für das Gruppenstück gemeinsam mit dem Gitarristen Jean-Marie Aerts und dem Tänzer und Gitarristen Carlos Garbin eine Reihe von Variationen und Adaptionen von Walking Songs komponiert, die sie live performen. Die Tänzer:innen erzählen vom einsamen Wandern und gemeinsamen Marschieren, vom Individuum und dem Kollektiv und von der Spannung zwischen der LiF nie und dem Kreis. Creation 2023 15. und 16.6., 19 Uhr, Volksoper

Anne Teresa De Keersmaeker betont oft: „Das Gehen ist mein Tanzen“

Ein seltenes Konzerterlebnis: Popstar Dev Hynes alias Blood Orange mit Orchester

Devonté Hynes hat in seinem Leben schon viele Musikstile ausprobiert

waschen. Verhatschte, scheppernde Beats aus der Drummachine trafen auf scheinbar verträumten Gesang, der es inhaltlich allerdings faustdick hinter den Ohren hatte. „My father was a young man, my mother off the boat“, so beginnt etwa die Single „Augustine“, die Geschichte von Dev Hynes’ Vater, der als Geflüchteter mit dem Boot aus Sierra Leone nach Großbritannien kam. An anderer Stelle geht es um Alltagsrassismus und Polizeigewalt in seiner Wahlheimatstadt New York. Seit einiger Zeit nun tritt Hynes vermehrt als klassischer Komponist

in Erscheinung. Er hat eine Handvoll Film- und Serien-Soundtracks geschrieben, darunter für Luca Guadagninos TV-Serie „We Are Who We Are“, und mit seinem ersten instrumentalen Percussion-Album „Fields“ gleich zwei Grammy-Nominierungen eingeheimst. Nun kommt man auch in Wien in den Genuss eines seiner seltenen Konzerte in dieser aktuellen Komponisten-Inkarnation. Impressionistisch anmutende, perlende Solo-Klavier-Stücke, durchbrochen von plötzlichen harscheren Ausbrüchen, treffen auf große, dramatische Orchesterwerke, die Hynes in Wien gemeinsam mit dem Big Island Orchestra unter Martin Gellner mit dem Pianisten Adam Tendler und der Wiener Cellistin Marie Spaemann aufführen wird. Wer sich vorbereiten will, dem sei die PodcastReihe „BBC Composed“ empfohlen, die Hynes’ klassischen Musikeinflüssen derzeit zwölf einstündige Folgen widmet. F Selected Classical Works 29.5., 20 Uhr, Burgtheater

Wind, Eichenblätter, Zukunft William Kentridge macht aus Kohlezeichnungen Theater. Dieses Mal über eine Prophetin AUFZEICHNUNG: MARTINA GIMPLINGER

er 1955 in Johannesburg geborene William Kentridge ist D für seine ausdrucksstarken Trickfilm-Zeichnungen in Kohle und Tusche bekannt. Die im fortwährenden Auslöschen und Neuzeichnen aufflackernden Bilder verwebt der Zeichner und Theatermacher eindrucksvoll mit Projektionen, Live-Performances, Musik und Schattenbildern – dieses Mal, um von einer Prophetin zu erzählen. Das Schicksal derjenigen, die sie um Auskunft bitten, hält die Prophetin Sibylle auf einem Eichenblatt fest – Blatt für Blatt stapeln sich am Eingang ihrer Felsenhöhle die Schicksale vieler. Wollte man sein weissagendes Blatt abholen, wirbelte ein Wind die Blätter durcheinander, sodass man nicht wusste, ob man sein eigenes Schicksal oder das von anderen erfuhr. „Es ist dieser wirbelnde Wind, der mich in der Geschichte hält“, sagt Kentridge. Die poetische Vorstellung davon verdient Aufmerksamkeit – vor allem in einer Welt,

In der Kammeroper „Sibyl“ hält die Prophetin Sibylle Schicksale fest

in der das kolonial basierte autonome Subjekt des Westens vergessen macht, wie sehr wir voneinander abhängige und verletzliche Lebewesen sind. Sie erinnert ganz konkret daran, wie sehr wir von einer intakten Umwelt abhängig sind – von der Luft, die wir atmen. Ein Atmen, das an vielen Orten schwerfällt – an manchen mehr als an anderen, für manche Körper mehr als für andere. Das Element Luft bettet uns in kosmische und atmosphärische Zusammenhänge ein und stellt eine respiratorische Allianz zwischen Mensch und Natur her.

In Wien ist Kentridge mit einem zweiteiligen Abend zu Gast: dem Film mit Live-Musik „The Moment Has Gone“ und der Kammeroper „Waiting for the Sibyl“. Kyle Shepherd am Klavier und ein männlicher Chor unter der Leitung von Nhlanhla Mahlangu begleiten die filmischen Bilder. Die Kammeroper entfaltet sich in einer Reihe von nichtlinearen Szenen, die durch das Fallen und Heben des Vorhangs unterbrochen und enthüllt werden. „Das Bild von im Universum verstreuten und im Buch der Sibylle gesammelten Blättern ist ein zentrales Bild dieser Arbeit“, so Kentridge. Eine Arbeit, die fragt, was es bedeutet, im gegenwärtigen Moment unserer Geschichte am Leben zu sein und der Ungewissheit der Zukunft zu begegnen: Enthält der Wind unser Schicksal? Die ein- und ausgeatmete Luft – ohne die es kein Denken, kein Sprechen, keine Musik, keinen Tanz, keine Geschichte, schlichtweg kein Leben gäbe? F Sibyl 19.–21.6., 20 Uhr, MuseumsQuartier, Halle E

FOTOS: JOHAN JACOBS, BADMANDENIRO, STELLA OLIVIER

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Die Verwandtschaft weiß es besser: Sie mischt sich nach dem Kindstod in den Trauerprozess ein

Ein meisterhaftes Drama für Bühne und Netflix Kornél Mundruczós und Kata Wébers preisgekröntes Stück „Pieces of a Woman“ kommt nun endlich auch nach Wien EINBLICK: THERESA GINDLSTRASSER

aja liegt in der Badewanne und verM sucht zwischen den Wehen vom Schmerz zu entspannen. Die Kamera fixiert in einer Nahaufnahme das Gesicht der Schauspielerin Justyna Wasilewska, wie sie vorsichtig atmet, das Zucken der Muskulatur, die Erschöpfung des Körpers, wie ihr Blick ins Leere geht. Dumpfes Licht und ätherische Klänge markieren eine Ruhepause, doch die Hausgeburt verläuft alles andere als friedlich. Anstelle der erwarteten Hebamme Barbara betritt eine junge Vertretung die Einzimmerwohnung. Maja und ihr Mann Lars begegnen dieser Ewa mit Misstrauen, immerhin soll es das erste Mal sein, dass sie eine Geburt begleitet. Nervös verfolgt die Kamera die hektischen Vorbereitungen. Maja weint vor Schmerz. Plötzlich ist da Blut in der Badewanne, kurz darauf tut das Neugeborene erste Schreie, doch dann wird es still, das Kind ist tot.

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Das Schreiben wurde für mich zu einem therapeutischen Akt. Es hat mir geholfen, herauszufinden, wer ich nach dem Verlust war KATA WÉBER

festspielen in Venedig auch eine NetflixAdaption des Stoffes. Geschrieben wurde beides, der im katholischen Warschau situierte, humorvollere Stücktext und das ein jüdisches Boston imaginierende Drehbuch, von Kata Wéber. Das Paar, regelmäßig bei den Wiener Festwochen zu Gast, verhandelt mit „Pieces of a Woman“ auch die eigene Geschichte einer Fehlgeburt. „Das Schreiben wurde für mich zu einem therapeutischen Akt. Es hat mir geholfen, meine Erfahrung besser zu verstehen und herauszufinden, wer ich nach dem Verlust war. Es wurde zur einzigen Möglichkeit, das Schweigen zu brechen und mit den Menschen, die ich liebe, offen über dieses Thema zu sprechen“, so Wéber 2021 in einem Interview mit der Los Angeles Times. Auch die Schauspieler:innen brachten viel Persönliches in die Entwicklung der Charaktere mit ein. Justyna Wasilewska etwa erhielt gleich mehrere Auszeichnungen für ihre schauspielerische Leistung in der Rolle der Maja. Wesentlich für die Arbeit an „Pieces of a Wo-

FOTO: NATALIA KABANOW

Nach der 30-minütigen Eröffnungsszene geht

es in einem detailliert zur Familienwohnung eingerichteten Bühnenbild weiter. Die ganze Verwandtschaft Majas kommt sechs Monate nach dem traumatisierenden Ereignis am Esstisch zusammen und hört nicht auf, es besser wissen zu wollen. 2018 als Theaterproduktion am TR Warszawa realisiert, präsentierte der viel- Pieces of a Woman fach ausgezeichnete ungarische Regisseur 14.–18.5., 19.30 Uhr Kornél Mundruczó 2020 bei den Film- Akademietheater

man“ war auch die Auseinandersetzung mit dem Gerichtsprozess gegen die Hebamme Agnes Geréb. Nach dem Tod eines Neugeborenen wurde diese 2010 wegen Totschlags verurteilt. Internationale Unterstützerinnen und Unterstützer beklagten eine schleichende Kriminalisierung von Hausgeburten in Ungarn. Der einerseits persönliche, andererseits gesellschaftskritische Zugang zum Thema ist „Pieces of a Woman“ anzumerken.

Wéber hat ihre Figuren so plastisch entworfen und lässt sie so unprätentiös miteinander kreuz über quer in Kontakt treten, dass sich das Gefühl einstellt, mitten drin zu sein im Geschehen. Wie Magdalena ihre Tochter Maja dafür gewinnen will, die Hebamme Ewa zu verklagen und dabei die eigenen Motive zu verschleiern versucht, das zeigt die beiden Frauen in einer gewachsenen und komplexen Beziehung. Immer organisch, nie thesenhaft erschließen sich auch die Biografien der einzelnen Figuren. So wird Majas Partner Lars ganz beiläufig als Nicht-Muttersprachler ausgewiesen: Er verwechselt zwei Zeitformen ähnlichen Klanges, weil er aus Norwegen stammt. Auch bei Mundruczós Inszenierung „Schein-

leben“, uraufgeführt bei den Wiener Festwochen 2016, zeichnete Wéber verantwortlich für den Text. Gewalt gegen Roma und Lebensrealitäten in Ungarn wurden durch die Verwüstung einer Wohnung als Drehung des Bühnenraumes um seine horizontale Achse ausgedrückt. Das Beieinander von behutsam psychologischem Spiel und unvermittelten Wendungen ins poetisch Surreale, respektiv Horrende, macht auch die Spannung von „Pieces of a Woman“ aus. Das Licht und die Klänge scheinen einer eigenen Dramaturgie des Entsetzens zu folgen. Gleichzeitig verkörpert Maja auch die Selbstermächtigung einer Frau, wenn sie im Trauerprozess entscheidet, ihren eigenen Weg zu gehen. F


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AUS ALLER

W E LT

Neue Gesichter aus Ländern von Brasilien bis Georgien bringen Sprechtheater mit prägenden Zugängen nach Wien nternationales Sprechtheater nach panie und der Berliner Volksbühne, wo der IHauptaufgabe Wien zu holen – das wird gerne als die 36-Jährige bereits eine radikale Auseinander Festwochen beschrie- dersetzung mit der deutschen Literaturgeben, auch wenn diese traditionell ein spartenübergreifendes Festival sind. Tatsächlich gastiert hier 2023 eine ganze Reihe von internationalen Theaterstars, die dem Wiener Publikum bisher noch kein Begriff waren. In ihren Ländern – Belgien, Frankreich, Slowenien, Georgien, Ungarn und Brasilien – sind sie längst etabliert und werden wegen ihrer distinkten Zugänge und Ästhetiken geschätzt. Fünf komplett neue Gäste und einen Wiederkehrer möchten wir hier vorstellen. Hätte es die Pandemie nicht gegeben, wäre

Anne-Cécile Vandalem in Wien keine Unbekannte. Bereits 2020 sollte sie mit dem Ensemble des Burgtheaters ihr eigenes Stück „Tristesses“ auf Deutsch neu inszenieren. In diesem ersten Teil einer Trilogie über das Scheitern der westlichen Zivilisation geht es um einen Schlachthof auf einer fiktiven dänischen Insel. Während wir diese Produktion vermutlich nie sehen werden, zeigen die 44-jährige Belgierin und ihre Kompanie Das Fräulein im Jugendstiltheater nun Teil drei im französischen Original: „Kingdom“ ist inspiriert von einem semidokumentarischen Film des Regisseurs Clément Cogitore, der in Sibirien eine Gruppe von Aussteigern begleitete. In Vandalems Theaterfassung, die neben dem Film auch auf andere Quellen zurückgreift, sieht man das Filmteam auf der Bühne. Es interviewt den Gründer des „Kingdoms“, seinen Sohn und dessen nach einem Bärenangriff entstellte Frau, vor allem aber die nächste Generation. Der Jugendliche leidet an der Einöde, seine Schwester hat sich à la Romeo und Julia in den Junior der verfeindeten Nachbarn verliebt. Vandalem erzählt eindringlich die düstere Geschichte der gescheiterten Flucht aus der Zivilisation, ohne dabei in Hyperrealismus zu verfallen. Besonders beeindruckt hat bei der Premiere beim Festival in Avignon ihre Arbeit mit den vier für die Produktion gecasteten Kindern. Der Franzose Julien Gosselin hat seine Theatergruppe in der nordfranzösischen Hafen- und Arbeiterstadt Calais etabliert. Schon seine 2016 herausgekommene Adaption des Romans „Elementarteilchen“ von Michel Houellebecq erregte großes Aufsehen und schon damals zeigten die Wiener Festwochen Interesse. Jetzt bei „Extinction“ agiert das Festival als Koproduzent gemeinsam mit Gosselins Kom-

STARSTRUCK: MARTIN PESL

schichte inszeniert hat. Auch in Frankreich traute man ihm trotz seiner jungen Jahre schon früh die großen Bühnen zu. Kleiner geht es bei ihm wegen seines wuchtig-radikalen Ansatzes auch nicht: „Extinction“ wird in der Halle E des Museumsquartiers laufen. In Wien ist Gosselin mit dieser Uraufführung am richtigen Ort, ist doch sein Ankerpunkt kein geringerer als Thomas Bernhards Roman „Auslöschung“, den er anderen Werken der österreichischen Literatur, vor allem Arthur Schnitzlers, gegenüberstellt. Gosselin möchte aus der Vergangenheit in die Zukunft blicken, er möchte zerstören, um Neues zu schaffen. Zu diesem Zweck beginnt er seinen Abend weder mit Bernhard noch mit Schnitzler, sondern mit einer 45-minütigen DJ-Line, für die das Publikum auch auf die Bühne darf. Dann ist es bereit für den Sprung zurück ins Fin de Siècle und die anschließenden Kommentare des berühmtesten Nestbeschmutzers des Landes. Der mit 50 Jahren älteste der Neo-Theater-

stars ist streng genommen gar nicht neu. 2010 gastierte Tomi Janežič mit dem Belgrader Theater Atelje 212 im Rahmen der Wiener Festwochen im Schauspielhaus. Auch damals durfte das Publikum auf die Bühne – und nur dorthin, denn gespielt wurde das Stück „Šuma blista (Der Wald leuchtet)“ im Zuschauerraum. Janežičs Inszenierung schaffte es, mit kalkulierter Zähigkeit die schrägen, heruntergekommenen Figuren auf der Bühne zu gewinnen. Beste Voraussetzungen für die Arbeit an einem Autor, bei dem Zähigkeit Programm ist: Anton Tschechow. Nach einigen Jahren Pause vom Theater präsentiert der gebürtige Slowene Janežič mit dem State Small Theatre of Vilnius einen „Onkel Wanja“ („Dėdė Vania“ auf Litauisch). Text und Handlung der Tragikomödie aus dem Jahr 1899 verändert er dabei nicht. Gespielt wird auf Litauisch, während auf den Übertiteln die deutschen Worte von Angela Schanelec zu lesen sind, die diese für die Inszenierung des großen Regisseurs Jürgen Gosch 2008 in Berlin anfertigte. Die Ansammlung lümmelnder Loser verspricht große Komik im Theater Akzent: Sonja, Wanja und die anderen hängen auf dem von ihnen zu verwaltenden Landgut ab wie eine Rockband, die zum Proben zu faul ist. Aber es darf auch ernst werden: Der georgische Theatermacher Mikheil Charkviani beschäftigt sich in „Exodus“ mit dem

„Kingdom“ 13.–14.5., 18 Uhr, 15.–16.5., 20 Uhr Jugendstiltheater „Extinction“ 12.–13.6., 19 Uhr, MuseumsQuartier, Halle E „Dėdė Vania“ 31.5.–1.6., 18.30 Uhr, Theater Akzent „Singing Youth“ 1.–3.6., 20.30 Uhr, Schauspielhaus „Exodus“ 9.–11.6., 20 Uhr, brut nordwest „Feijoada“ 30.5.–1.6., 19.40 Uhr, brut nordwest

Thema Flucht, zu dem er zahlreiche Menschen in Wien interviewt hat. Einige sind selbst geflüchtet, andere haben Flüchtende empfangen und willkommen geheißen. Vorbild für die Wiener Version ist Charkvianis Stück über Krieg – in seiner Heimat Georgien leider Dauerthema. Das Besondere an dieser Form des Dokumentartheaters: Charkviani studiert mit seinen Expert:innen des Alltags keine Details ein. Auf der Bühne sprechen diese einen ungeschliffenen Monolog, durch den sie zum Kern ihrer Zeitzeug:innenschaft vordringen, oft mithilfe von Requisiten. Es kann sich übrigens auch lohnen, zwei oder alle drei der Abende im brut nordwest zu besuchen, denn jedes Mal sprechen fünf andere Personen auf der Bühne. Innerhalb einer Aufführung spannt sich anhand der Auswahl der Mitwirkenden ein Bogen: von der Entscheidung zur Flucht über die beschwerliche Reise selbst bis zur Ankunft. Die Skulptur eines ehemaligen Geflüchteten, des Griechen Memos Makris, dient als Ausgangspunkt für das A-capella-Stück „Singing Youth“ von Judit Böröcz, Bence György Pálinkás und Máté Szigeti. Das Budapester Kollektiv entwickelt eine Collage von Zitaten aus politischen Reden des beginnenden Kommunismus in Ungarn, aktuellen Reden Orbáns sowie Songs aus beiden Zeiten, vorgetragen von sechs Sänger:innen. Diese handeln allesamt von Propaganda mittels Sport und Kultur und zeigen verblüffende Verbindungen auf. Letztes Jahr beschäftigten sich gleich zwei Formate mit Essen, heuer ist für die Kulinarik vor allem eine Produktion zuständig: „Feijoada“ von Calixto Neto, die obendrein auch Tanz, Musik und Storytelling bietet. Das Publikum kommt hier zu einer Roda de Samba zusammen. Während das titelgebende Gericht aus Bohnen, Fleisch und zahlreichen weiteren Zutaten zubereitet wird und immer köstlicher duftet, erzählen die Performenden mit Körper und Sprache dessen Geschichte. Obwohl diese viel mit Kolonialismus zu tun hat – die Feijoada stammt ursprünglich aus Portugal, gilt in Brasilien aber als Nationalgericht –, muss man kein dröge anklagendes Diskurstheater fürchten. Im Gegenteil: Am Ende tanzen alle Samba. Wir fassen zusammen: Ein belgisches Stück

nach einem französischen Film über Menschen in Sibirien, französische Zertrümmerung österreichischer Literatur, ein Georgier führt Gespräche in Wien, ein Slowene, der in Litauen einen Russen inszeniert, singende Ungar:innen und brasilianisches Essen samt Samba. Die Weltreise kann beginnen. F


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F OTO S : C H R I S TO P H E E N G E L S , T I K U K O B I A S H V I L I , R AO U L G I L I B E R T , S I M O N G O S S E L I N , D. M AT V E J E V

Produktionsfotos im Uhrzeigersinn, links oben beginnend: „Kingdom“ von Anne-Cécile Vandalem, „Exodus“ von Mikheil Charkviani, „Extinction“ von Julien Gosselin, „Dėdė Vania“ von Tomi Janežič und „Feijoada“ von Calixto Neto

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2023 gastieren eine ganze Reihe von internationalen Theaterstars, die dem Wiener Publikum bisher noch kein Begriff waren

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WIENER FESTWOCHEN 23 „Song of the Shank“ rückt die unbekannte Vita des Pianisten Thomas Wiggins in den Blick

Spielplatz der Melancholie: Wer spielt mit wem? PARKBESUCH: SARA SCHAUSBERGER

ns Altgriechische rückübersetzt Igalligkeit. bedeutet Melancholie: SchwarzEinst wurde sie patholo-

Canti di Prigionia 24.–26.5., 20.30 Uhr Jugendstiltheater Song of the Shank 13.–15.6., 20.30 Uhr MuseumsQuartier, Halle G

Drei Mal Musik in Szene Kompositionen zu brisanten Themen zeigen, wie inhaltlich relevant heutige Musik sein kann EINFÜHRUNG:

Als Künstlerin schaut die gebürtige

Oberösterreicherin gerne dahin, wo andere wegschauen, etwa auf Menschen, die sich am Rande der Gesellschaft bewegen: „Ich glaube, diese sagen viel über das Zentrum aus.“ In „melancholic ground“ spielen Performer:innen unterschiedlichster Generationen mit. Uhlich hat darauf geachtet, ein diverses Ensemble zusammenzustellen: im Alter und in den Abilities. Auch eine Performerin im Rollstuhl ist dabei: „Jemand im Rollstuhl ist auf dem Spielplatz ein Fremdkörper“, stellt die Choreografin fest. Der Spielplatz stimme sie manchmal melancholisch, so Uhlich: Er ist ein Ort der Leichtigkeit und des Experiments, aber gleichzeitig auch des Wettbewerbs und Vergleichs. Kinder spielen auf Geräten, die Erwachsene sich für sie ausgedacht haben. Im übertragenen Sinn setze sich der Spielplatz im eigenen Leben fort: Wer spielt mit wem welche Spiele?F melancholic ground 7. und 9.6., 20 Uhr, 8. und 10.6., 9 Uhr, Donaupark, Sparefroh-Spielplatz (Eintritt frei)

Choreografin Doris Uhlich schaut regelmäßig da hin, wo andere wegschauen

MARIE-THERESE RUDOLPH

drei Produktionen setzen die Ile nWiener Festwochen heuer aktuelund weniger bekannte Musik in szenische Kontexte. Der Clou dabei: Themen wie Rassismus, Faschismus und Dystopie werden in vielfältigen künstlerischen Zugängen emotional erfahrbar gemacht. „Song of the Shank“ beruht auf einer tragischen Geschichte: 1849 in den Südstaaten der USA geboren, sollte Thomas Wiggins ein Leben als Sklave vorgegeben sein – wäre er nicht von Geburt an blind gewesen, was ihm das Privileg bescherte, am Klavier der Herrschaftsfamilie spielen zu dürfen. Diese sahen das Potenzial und versuchten aus dem Wunderkind, das nach einmaligem Hören alles nachspielen konnte, mehr zu machen. Sein Renommee brachte „Blind Tom“ sogar eine Konzerteinladung ins Weiße Haus, was ihn dennoch nicht vor rassistischen Angriffen schützte. Diese Geschichte hat der US-amerikanische Autor Jeffery Renard Allen in einem Roman erzählt, den er für „Song of the Shank“ als Monodrama für die Bühne adaptierte. Ein Countertenor und ein Pianist sind die tragenden Protagonisten in der szenischen Fassung mit Musik von George Lewis, beauftragt vom Frankfurter Ensemble Modern. Mit seiner Komposition versucht Lewis, Wiggins äußeren und inneren musikalischen Klangkosmos ins Heute zu übertragen. Verbunden durch eine langjähri-

ge Zusammenarbeit, geht das Konzept des Videokünstlers Stan Douglas in eine ähnliche Richtung. Er will „eine Sprache und Bilder finden, die ihn in seiner ganzen Komplexität zeigen. Seine innere Welt, die vor allem eine Klangwelt war, sichtbar machen.“ Gleichzeitig stellt sich das künstlerische Team der aktuellen Frage, was „Blind Toms“ Lebensgeschichte heute bedeutet, wie sich Rassismus im Alltag und speziell im Musikbetrieb zeigt. Vor zwei Jahren war der kroatische

Choreograf und Regisseur Matija Ferlin mit „Sad Sam Matthäus“, seiner szenischen Auseinandersetzung mit Johann Sebastian Bach, erstmals bei den Wiener Festwochen zu Gast. Nun widmet er sich einem weniger bekannten Komponisten mit einem umso tragischeren Lebensschicksal. Der Italiener Luigi Dallapiccola saß während des Ersten Weltkriegs in Graz in Haft, studierte später Klavier und Komposition und brachte die damals revolutionäre Zwölftonmethode Arnold Schönbergs nach Italien. Dallapiccola schrieb vor allem Vokalmusik, darunter auch einige Opern. Mit seinen „Canti di Prigionia“, den „Gesängen aus der Gefangenschaft“, hat er während des Zweiten Weltkriegs auf ein Gebet aus Stefan Zweigs „Maria Stuart“, Teilen von Boethius’ „Der Trost der Philosophie“ und dem Psalm „In Te Domine Speravi“ von Girolamo Savonarola aus tiefster Überzeugung versucht, dem faschistischen Regime Mussolinis eine vielstimmige Antwort entgegenzusetzen.

Matija Ferlin schafft dafür drei inszenatorische Ebenen: mit den Musiker:innen des Wiener Ensembles Phace, den Sänger:innen von Cantando Admont und Schauspieler:innen. Er selbst agiert ebenfalls auf der Bühne, kommentiert und reflektiert den Prozess, in den die Biografie Dallapiccolas eingewoben ist, dem zentralen Wegbereiter von politisch gleichgesinnten Komponisten wie Luigi Nono und Luciano Berio. Ganz im Heute siedeln die beiden aus Japan gebürtigen Künstler, der Regisseur Toshiki Okada und der Komponist Dai Fujikura, ihre erste Zusammenarbeit an. Darin soll die Musik nicht, wie oftmals erlebt, Emotionen illustrieren, sondern als weitere Akteurin besonderen Stellenwert erhalten. Die beiden international erfolgreich agierenden Künstler sprechen sogar von einer neuen Art des Musiktheaters. Ihre Kollaboration beruht seit Beginn an auf einem intensiven Austausch und Abgleich, einem künstlerischen Ping-PongSpiel, bei dem Setting und Einfälle fortgesponnen werden. So gewöhnlich die Geschichte von

„Verwandlung eines Wohnzimmers“ beginnt, in der Musiker:innen des Klangforum Wien und sechs Schauspieler:innen aus Okadas Theaterkompanie mit der fiktiven Situation der Delogierung einer Familie konfrontiert sind, so unvorhersehbar verläuft diese weiter. In dieser Produktion geschehen Dinge, für die unser herkömmliches Vokabular nicht mehr ausreicht. Steht gar das Ende unserer anthropozentrischen Welt bevor? F

FOTOS: KATARINA SOSKIC, NATIONAL MUSEUM OF AFRICAN AMERICAN HISTORY & CULTURE

gisiert; in der Romantik gönnte man sie den Schriftsteller:innen und Maler:innen hingegen total. Es hieß, sie schaffe Genies. Nun widmet sich Doris Uhlich in einer Trilogie dem Gefühlszustand. Die Performance „melancholic ground“, die bei den Festwochen ihre Uraufführung feiert, bildet den Auftakt. Die Choreografin und Tänzerin findet, die Melancholie sei eine spannende Gemütslage: „Sie ist keine Depression, sondern oft ein selbstgewählter Zustand, in den man eintaucht.“ Wer melancholisch ist, klinke sich aus der Geschwindigkeit und den Regelwerken der Gesellschaft aus. „Ein widerständiger Akt!“, so Uhlich und schickt ihre Performer:innen auf den Spielplatz.

Verwandlung eines Wohnzimmers 13.–15.5., 20.30 Uhr MuseumsQuartier, Halle G


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Seismografen unserer Gesellschaft Klimawandel, Kapitalismus und Kolonialismus: Kritik und Perspektivenwechsel bei den Wiener Festwochen ERFORSCHUNG: LINA WÖLFEL

as Problem ist nicht, dass ihr nicht D wisst, dass unsere Wälder brennen und unsere Völker sterben. Das Problem

ist, dass ihr euch an dieses Wissen gewöhnt habt.“ Mit diesen Worten hätte die brasilianische Schauspielerin und Aktivistin Kay Sara 2020 die Wiener Festwochen im Burgtheater eröffnet. Als erste indigene Frau hätte sie dort eine Rede gehalten. Die Pandemie kam dazwischen und wurde zum Brennglas und Kompressor ihres Anliegens: die Abholzung der amazonischen Regenwälder, der Genozid an der indigenen Bevölkerung Brasiliens, die Austrocknung der Nebenflüsse des Amazonas verwoben mit Kapitalismus- und Kolonialismuskritik. Als letzter Teil seiner „Antiken-Trilogie“, die mit „Orest in Mossul“ (2019 bei den Wiener Festwochen) begann, erzählt Milo Rau, der ab Juli 2023 die Intendanz des Kultur-Festivals übernehmen wird, gemeinsam mit Kay Sara und der Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (MST) in „Antigone im Amazonas“ die Geschichte von Recht und Unrecht als Aufeinandertreffen von traditioneller Weisheit und Turbokapitalismus nach. Antigones Aufbegehren gegen Kreons Tyrannei wird darin zur umfassenden Anklage: Mit Zitat auf die Sophokles-Tragödie beobachtet und kommentiert das Ensemble als Chor der Landlosen das Bühnengeschehen von einer riesigen Videowand herab. Zentral darin ist die radikale Forderung nach einer Landreform.

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Wenn Rechtlosigkeit Gesetz wird, wird Widerstand zur Pflicht KAY SARA

FOTO: MICHIEL DEVIJVER

Parallel zum Stück wird es eine Anti-Green-

washing-Kampagne geben, die Milo Rau zeitgleich mit der Premiere in Gent am 13. Mai launchen wird. Es ist das Anliegen des Regisseurs, viele Menschen zu erreichen und nicht im Theater stecken zu bleiben. Was das Theater aber wie kein zweites Medium kann, ist einen Perspektivenwechsel zu ermöglichen. Diese Kulturtechnik macht sich auch die Produktion „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead“ (dt. Titel: „Gesang der Fledermäuse“) zu Nutze. Der Plot: In einer abgelegenen Sommerhaussiedlung sterben mitten im Winter Männer durch mysteriöse Umstände. Die ortsansässige Janina Duszejko, eine ehemalige Brückeningenieurin, Lehrerin und Astrologin, verdächtigt Waldtiere, Rache an jenen Menschen zu nehmen, die das Leben der Tiere nicht achten. Der 2009 von der polnischen Autorin und Literatur-Nobelpreisträgerin des Jahres 2018 Olga Tokarczuk veröffentlichte Kriminalroman erhält vor dem Hintergrund aktuellen Öko-Aktivismus eine besondere Brisanz. Der britische Theatermacher Simon McBurney, der zuletzt 2016 mit „The Encounter“ bei den Wiener Festwochen zu Gast war, greift die zentralen Fragen des Romans mit einem zehnköpfigen Ensemble auf. So kommt das Publikum ganz nah

Der Chor der Landlosen fordert in Milo Raus „Antigone im Amazonas“ eine Landreform

Sun & Sea 19. bis 22.5, 18.30, 19.30 und 20.30 Uhr, 23.5., 19.30 und 20.30 Uhr Semperdepot Drive Your Plow Over the Bones of the Dead 22. bis 26.5., 20 Uhr Theater Akzent Antigone im Amazonas 25. bis 27.5., 20 Uhr Burgtheater

an die zentralen Figuren heran, versteht ihr Anliegen, fühlt sich in ihre Motive ein. Theater macht erfahrbar. Auch im Fall der Indoor-Beach-Oper „Sun & Sea“ von Rugilė Barzdžiukaitė, Vaiva Grainytė und Lina Lapelytė. An einem Sandstrand versammeln sich reiche Urlauber:innen. Um sie herum verteilt: Plastikschaufeln, Handtücher, Wasserbälle, Cocktailgläser. Das Publikum blickt in Vogelperspektive auf die Performer:innen und Sänger:innen hinab. „Es flattern rosafarbene Kleider, Quallen tanzen pärchenweise. Mit Tüten und Flaschen grün wie Smaragde und roten Kronkorken. So viele Farben gab’s im Meer noch nie!“, heißt es im Libretto der Oper, die 2019 bei der Biennale in Venedig mit einem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Barzdžiukaitė, Grainytė

und Lapelytė thematisieren darin Kapitalismus und Klimawandel, Tourismus und Privilegien, vielleicht mit der Erkenntnis: Die Gesellschaft, die da porträtiert wird, zu der gehöre ich auch. In Kay Saras Rede hieß es am Ende: „Seien

wir wie Antigone. Denn wenn Rechtlosigkeit Gesetz wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Und der fängt bekanntermaßen bei sich selbst an. Theater, und vor allem Künstler:innen, können – wenn wir es erlauben – Seismografen unserer Gesellschaft sein, die vorfühlen, welche Themen sich aufdrängen oder anbahnen. Bei „Sun & Sea“, „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead“ und „Antigone im Amazonas“ sollten wir zuhören. Auch wenn wir glauben zu wissen, was sie uns erzählen wollen. Auch wenn es schmerzt. F


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Die Festnächte der Festwochen: Das Partyprogramm

Kleinkunst als Tradition

PARTY-HOPPING:

ANKÜNDIGUNG:

KATHARINA SEIDLER

LINA PAULITSCH

icht nur bei der großen EröffN nung am Rathausplatz am 12. Mai wird bei den Wiener Festwochen

der Kleinkunst stecke „klein“ Eine widersinnige Abwertung, Iso ndrin. die Ausgangsthese von COMISH.

gefeiert. Gleich ab dem Folgetag verwandelt sich der Jazzclub Porgy & Bess regelmäßig in die sogenannte Festival Lounge, etwa am 13. Mai ab 22 Uhr im Anschluss an das Konzert der US-Jazz-Punk-Ikone Moor Mother. Danach kann man dort an jedem Festwochen-Freitag (also am 19. und 26. Mai und am 2., 9. und 16. Juni) bei DJs und Drinks den Abend ausklingen lassen. Aber auch in der Galerie Franz Josefs Kai 3, die ihre Adresse praktischerweise im Namen trägt, werden Musik, Tanz, Getränke, Performance und bildende Kunst zu einem großen Ganzen. Die Latex-, Epoxidharz-, Palmenblätter- und Stahlskulpturen der in Wien lebenden Bildhauerin Liesl Raff, die derzeit dort die Einzelausstellung „Liaison“ präsentiert, werden zwischen 25.5. und 18.6. jeweils donnerstags und sonntags zur Bühne.

Warum gilt etwa das Theater als Hochkultur, nicht aber das Kabarett? Diese Frage versucht Maria Muhar, selbst Kabarettistin und nunmehrige Kuratorin, an drei Abenden im Wiener Metropol künstlerisch beantworten zu lassen. Am 24. Mai startet die Veranstaltungsreihe als Themenabend zum „komischen Resonanzkörper“. Vier Künstlerinnen treten auf, die Humor mit Musik in Verbindung bringen. Die Kärntner Zwillingsschwestern Birgit und Nicole Radeschnig steuern eigens für COMISH geschriebene Lieder bei. Die Österreicherin Stefanie Sourial liefert eine Slapstick-Performance, die Amerikanerin Erin Markey ein Musical-Stand-up.

Die Veranstaltungsreihe COMISH holt das Kabarett zurück auf die Festwochen-Bühne

Für die Wiener Festwochen sei es wich-

tig gewesen, lokale und internationale Kunstschaffende zusammenzubringen, erzählt Maria Muhar, die

„Gerade bewegt sich sehr viel in der Kabarettszene“, so Muhar. „Eine junge Generation bringt neue Themen, Perspektiven und Spielarten von Stand-up bis Sample-Kunst auf die Bühne.“ Muhars Debüt „Storno“ war eine der

Lea Blair Whitcher beschäftigt sich humoristisch mit Mutterschaft

die acht Acts eingeladen hat. Mit der Kleinkunst knüpfe das Festival wieder an eine Tradition an: „Bis in die 90er-Jahre hinein wurde immer wieder Kabarett gezeigt. Erst ab den 2000ern hat das aufgehört.“ Am zweiten Abend, am 31. Mai, liegt der Fokus auf Politkabarett. Kunstfigur Malarina – eine derbe Austroserbin – widmet sich der „Völkerverständigung zwischen Schwabos und Tschuschen“. Auch die Beiträge von David Scheid an den Turntables und des deutschen Poetry Slammers Jean-Philippe Kindler nehmen Gesellschaftskritik in den Blick.

bemerkenswertesten Kabarett-Produktionen des vergangenen Jahres. 2022 erschien auch der Debütroman der gelernten Köchin: „Lento Violento“. Mit pointiert-lässiger Sprachkunst ist Muhar sowohl in ihren Bühnenauftritten als auch in der Literatur nah dran an den Achs und Wehs der Millennial-Generation. Am dritten COMISH-Abend, am 7. Juni, ist die Kuratorin selbst Teil des Line-ups rund um feministischen Humor. Tiktokerin Toxische Pommes steuert Videos zu Alltagsrassismus bei. Lea Blair Whitcher, US-Schweizerin, fokussiert auf Care-Arbeit und Mutterschaft. Themen, die auch den Berufsalltag von Kabarettistinnen stark bestimmen. F COMISH 24.5., 31.5., 7.6., 20 Uhr, Wiener Metropol

„Club Liaison“ nennt sich die Schiene,

Jeden Festwochen-Freitag gibt es im Porgy & Bess DJs, Drinks und Tanz

Wahlverwandtschaften im Porgy & Bess Konzertschiene „Elective Affinities“: An der Schnittstelle von Klangkunst, Jazz und Noise HÖRPROBE: KATHARINA SEIDLER

ie Vereinbarkeit von WissenD schaft und Poesie, das ist sehr grob gesagt das Grundthema hinter Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“. Auch in der Chemie stand dieser Begriff früher für eine Anziehung zwischen verschiedenen Stoffen; es ist daher alles andere als Zufall, dass die neue Konzertschiene der Wiener Festwochen, „Elective Affinities“, sich diesen Ausdruck auf die Fahnen schreibt. Im Jazzclub Porgy & Bess finden unter diesem Motto an sechs Abenden Konzerte statt, bei denen Virtuosität auf kreative Entfesselung trifft. Zum Auftakt am 13. Mai betritt dort die US-amerikanische Poetin, Aktivistin und Musikerin Camae Ayewa alias Moor Mother die Bühne. In ihrer Kunst bringt Moor Mother politische Dichtung, Noise, Theorien des Afrofuturismus und Free Jazz zusammen. „Slaveship Punk“ oder „Blk Girl Blues“, das ist die Eigenbeschreibung, die die Künstlerin für ihre Musik wählt.

Poetin, Aktivistin und Musikerin Camae Ayewa alias Moor Mother

Am 19. Mai treffen dann die minimalistischen Kompositionen von Dai Fujikura aus Japan auf die elektronischen Klanglandschaften des Norwegers Jan Bang. Sie tun sich mit dem norwegischen Gitarristen Eivind Aarset und dem österreichischen Trompeter Franz Hautzinger unter dem Projekttitel „The Bow Maker“ zusammen. Am 26. Mai ist bei „Elective Affinities“ dann der ägyptische Experimentalmusik-Star Maurice Louca zu Gast, und am 2. Juni präsentiert das Wiener Duo PNØ, bestehend aus der Experimental-Stimmkünst-

lerin Agnes Hvizdalek und dem Bass- und Klangkasterl-Zauberer Jakob Schneidewind, ihre radikalen Soundentwürfe. Der britische Komponist und Tabla-Virtuose Kuljit Bhamra kennt zwischen Soundtrackmusik („Bend it like Beckham“), Musical-Auftritten (Andrew Lloyd Webbers „Bombay Dreams“) und der stürmischen Tanzmusik Bhangra aus der Punjabi-Diaspora keine stilistischen Berührungsängste. Er trifft am 9. Juni auf die UK-Bass-Produzentin und Rhythmus-Enthusiastin Beatrice Dillon. Und zum krönenden Abschluss am 16. Juni lädt der New Yorker Musiker Josiah Wise unter dem Namen serpentwithfeet R’n’B und elektronischen Gospel mit Sinn und Sinnlichkeit auf. In der Vergangenheit hat serpentwithfeet bereits die Herzen von Kollaborations-Partner:innen wie Björk oder Moby erweicht: queere Lovesongs für ein besseres Morgen. F Elective Affinities 13., 19., 26.5., 2., 9., 16. 6., 21 Uhr, Porgy & Bess

FOTOS: INÉS BACHER, PIA GRIMBUEHLE, SAM LEE

bei der etwa die Wiener Musikerin Karo Preuschl alias Coco Béchamel furchtlose Vokal-Soli improvisiert (25. Mai) oder die Göteborger Schlagzeugerin und Performerin Stina Fors eine „One-Woman-PunkShow“ verspricht (1. Juni). Zum schillernden Abschluss ruft am 18. Mai am Franz Josefs Kai 3 die Wiener Theoretikerin und Rapperin KDM Königin der Macht unter dem Motto „Royal rage against toxic masculinity!“ über brodelnde Bässe zum queer-feministischen „Matryarkhat“: „Egal ob du willst oder nicht, ich verbiete getrieben die männliche Ordnung / KDM am Thron / queere Positionen.“ Im Club U, stilecht im und unter dem Otto-Wagner-Pavillon in der Künstlerhauspassage, können Nachtschwärmer:innen des Weiteren jede Samstagnacht zum Tag machen: „Tanzen bis zum Sonnenaufgang“ lautet dort das Motto der Festwochen Nights. F


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Autor und Regisseur Alexander Zeldin, 38, Sohn einer Australierin und eines Russen

Das Menschliche in einem einzelnen Leben Alexander Zeldin kehrt mit einer Uraufführung zurück. „The Confessions“ behandelt nichts weniger als ein ganzes Leben PORTRÄT: MARTIN PESL

lexander Zeldin is back! 2021 raubte A der bescheidene Theaterstar aus England dem Festwochen-Publikum den Atem mit „LOVE“ und „Faith, Hope and Charity“, den zwei letzten Teilen seiner Trilogie „The Inequalities“ über das echte Leben echter Menschen. Dieses Jahr wird zwar nicht der coronabedingt damals ausgelassene Teil eins nachgeholt, dafür gibt es die Weltpremiere einer völlig neuen Arbeit zu sehen. „The Confessions – Die Bekenntnisse“. Im Falter-Gespräch wird der 38-Jährige mit der weichen Stimme schnell grundsätzlich: „Ein Stück ist immer auf drei Zeitebenen angesiedelt: in der Gegenwart des Zuschauerraums, in der Zeit der Ereignisse auf der Bühne und in der Zeit, in der es geschrieben wurde. Die Schauspieler:innen sollen etwas verkörpern, das sie wirklich betrifft. Dadurch bekommt ihr Spiel eine gewisse Transparenz, eine Fragilität, sodass es uns dem Gefühl des Lebens näherbringt.“

F OTO : A LY S S A S C H U K A R

„The Confessions“ soll die recht gewöhnliche

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Das Theater ist ein Schlachtross. Es wird immer seinen Platz in der Welt finden

fiktionale Aspekt trage zur künstlerischen Intention bei: „Theater soll uns näher ans Leben heranführen.“ Seit seiner Jugend reist Zeldin um die Welt und sucht nach Orten, „wo Theater eine Notwendigkeit ist“. Nachdem seine erste Inszenierung, noch als Schüler, beim Edinburgh Festival zur schlechtesten der Saison gewählt worden war, las er sich alle großen Schauspieltheoretiker an – unter anderem Peter Brook, dem er später auch assistierte –, fuhr nach Ägypten und wandte das Erlernte dort an. Unter anderem stellte er einen professionellen Exorzisten auf die Bühne. „Ich sage nicht, dass es gut war. Aber es war auf jeden Fall anders als alles, was 19-Jährige in England damals gemacht haben“, erinnert er sich. Mit Mitte 20 entdeckte ihn einerseits das

ALEXANDER ZELDIN

Biografie einer 1943 geborenen Frau bis zu ihrem Tod etwa 80 Jahre später komplett abbilden. Die Figur, sie heißt Alice, beruht auf Gesprächen Zeldins mit seiner eigenen Mutter. Trotzdem betont er: „Es ist kein Stück The Confessions über meine Mutter, sondern ein Stück über 14.–17.6., 19.30 Uhr ein Leben im Laufe der Zeit.“ Der auto- Volkstheater

Londoner National Theatre, andererseits erkannte er seine Berufung in der Arbeit an der Schauspielschule East 15. Dort gab es kein Geld, keine Struktur und keinen Druck. Zeldin hatte Zeit, den Lernenden Stücke auf den Leib zu schreiben. Der „soziale“ Aspekt von Zeldins Arbeit hat mit seiner Herkunft zu tun. Zwar in England geboren, fühlte er sich dort als jüdischer Sohn eines Russen und einer Australierin, der im intellektuell abgehobenen Oxford auch noch auf eine französische Schule ging, nie heimisch. Für sein Stück „Beyond Caring“, in dem es um Zeitarbeiter:innen ging, jobbte Zeldin selbst als solcher. Noch heute be-

kommt er SMS-Anfragen, nachts irgendwo zu putzen. Anfangs wollte den ersten Teil der heute berühmten Trilogie niemand sehen, heute gilt er als sein größter Erfolg. 2022 inszenierte Zeldin „Beyond Caring“ an der Berliner Schaubühne neu, mit deren Ensemble, in der Fremdsprache Deutsch und ohne den Mix von Laien und Profis, für den man ihn so bewundert. „Das war erfrischend“, sagt er über diese Erfahrung, aber auch: „Ein Theatermacher braucht halt ein Publikum – und eine Gage.“ Auch in „The Confessions“ agieren ausschließlich erfahrene Schauspielprofis, diesmal auch aus Australien, weil Zeldins Mutter dort herkam. Wie bei der „Inequalities“-Trilogie geht der Autor und Regisseur dabei von der Wirklichkeit aus, denn: „Scheinwelten interessieren mich nicht.“ Die Pandemie, in der „gewöhnliche“ Leute vor allem in Zahlen aufschienen – Zahlen Erkrankter, Genesener, Gestorbener –, habe dem Thema noch mehr Dringlichkeit verliehen. „,The Confessions‘ ist der Versuch, das Menschliche in einem einzelnen Leben anzuerkennen, in jedem Leben.“ Apropos Pandemie: Sie hatte in Zeldins Augen auch etwas Gutes. „Diese Phase hat uns geholfen, die Essenz des Theaters wiederzufinden.“ Dementsprechend ist er auch zuversichtlich, was die Zukunft des Genres angeht: „Das Theater ist ein Schlachtross, das Seuchen, Kriege und technologische Revolutionen überlebt. Es wird immer seinen Platz in der Welt finden.“ F


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DAS

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LEBEN

E I N T H E AT E R

Das Private ist politisch: Biografien ziehen sich in diesem Jahr wie ein roter Faden durch das Programm der Wiener Festwochen Widerstand schreiben 14.5., 18 Uhr, Odeon 5.6., 18 Uhr, MuseumsQuartier, Halle G 7.6., 18 Uhr, Schauspielhaus Timescape 16.-19.5., 20.30 Uhr, Theater Nestroyhof Hamakom Mémé 21.–23.5., 25.5., 20 Uhr, 26.5., 18 Uhr, Theater Nestroyhof Hamakom ANGELA (a strange loop) 28.5.–1.6., 20 Uhr, MuseumsQuartier, Halle G

Grenzsituationen in „Das Kind“ (oben); Susanne Kennedy: die Regisseurin von „ANGELA (a strange loop)“ (rechts); Sarah Vanhee erinnert sich im Solo „Mémé“ an ihre Großmütter (unten); die Autorin Naghmeh Samini (links) spricht im Rahmen der Reihe „Widerstand schreiben“

FOTOS: AKHTAR TAJIK, NUSHIN JAFFARY, FRANZISKA SINN, SARAH VANHEE

Das Kind 4.–7.6., 20.30 Uhr, MuseumsQuartier, Halle G


WIENER FESTWOCHEN 23 SARA SCHAUSBERGER

ie erzählt man die Geschichte W eines Lebens auf der Bühne? Gleich mehrere Projekte der diesjährigen Wiener Festwochen beschäftigen sich mit Biografien. Der britische Regisseur Alexander Zeldin etwa probt ein Stück über das gesamte Leben seiner Mutter (s. auch S. 13); das Musiktheater „Song of the Shank“ (s. auch S. 10) arbeitet sich stark an der Vita des Pianisten Thomas Wiggins ab. Es erzählt sehr direkt von diesem realen Leben, mit Dokumenten und Musikstücken, und rückt es in unseren Blick. Weil er Schwarz war, habe seine Geschichte keine Öffentlichkeit erreicht, meinen die Macher des Stücks, Autor Jeffery Renard Allen, der bildende Künstler Stan Douglas sowie der Komponist George Lewis. Das Theater ist ein Raum der Fiktionen, wie frei kann man auf der Bühne Lebensgeschichten erzählen? Was davon ist echt? Der Argentinier Mariano Pensotti beispielsweise geht der fiktiven Biografie eines vermeintlichen Juden nach, der sein Leben nachstellen lässt, und verpackt es als Dokumentartheater (s. auch S. 20). Das Private ist politisch: Die Inszenierung eines einzigen Lebens, ob real oder erfunden, kann den Blick auf gesellschaftliche und politische Gegebenheiten öffnen. Auch Sarah Vanhees Performance „Mémé“ lenkt den Blick vom persönlichen Schicksal aufs größere Ganze. So wie Zeldin stellt auch die belgische Künstlerin kein außergewöhnliches Leben auf die Bühne. Im Gegenteil: Sie schöpft aus dem realen, gewöhnlichen Sein. Vanhee erzählt von ihren beiden Großmüttern. Zwei Biografien, die in den Geschichtsbüchern nicht vorkommen. Die eine Oma hatte sieben Kinder, die andere neun. Beide arbeiteten hart: auf dem Feld und zuhause. Heute spricht man von Care-Arbeit, damals war dies das Leben von Frauen, das unhinterfragt anzunehmen war: „Da war kein Platz für so etwas wie Wünsche oder Selbstverwirklichung“, stellt Vanhee fest. Ein einziges Hobby pflegten ihre bei-

den Vorfahrinnen: Als die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, trat die eine Großmutter – „Mémé“ genannt – einer Amateurtheatergruppe bei. Die andere – „Oma“ – war Amateurmalerin. In ihrem Stück fragt die 1980 Geborene: Was hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert? Vanhees Lebensumstände unterscheiden sich fundamental von den Lebensumständen ihrer beiden Großmütter, sie lebt als international erfolgreiche Künstlerin in Brüssel. Selbst ihre Sprache ist anders: Sie spricht nicht mehr den westflämischen Dialekt ihrer Kindheit. Wessen Arbeitskraft wird heute ausgebeutet, damit

Menschen wie sie sich selbstverwirklichen können? 2019 war Vanhee mit „Oblivion“ zu Gast bei den Wiener Festwochen. Was hinterlassen wir, fragte sie in der großartigen Performance. Ein ganzes Jahr lang sammelte sie ihren eigenen Müll, den realen und den virtuellen, um ihn dann in mehreren Stunden auf der Bühne auszubreiten. Sie hob Zeitungen auf und Spam-E-Mails. Eintrittskarten und Plastikflaschen. Welchen Wert haben die Dinge? Ab wann ist Mist kein Mist mehr? „Oblivion“ war Vanhees bislang persönlichste Arbeit und hatte einen großen Effekt auf sie: „Mir wurde klar, dass ich mich mit meiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzen muss, um in der Zukunft handeln zu können.“ „Mémé“ entstand. Uraufführung feiert das Solo im Mai beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel, bevor es nach Wien kommt. Die mexikanische Künstlerin Toztli Abril de Dios schuf lebensgroße Puppen, die Vanhees Großmütter darstellen: Sie sind weich wie Pölster,

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Ich musste mich mit meiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, um in der Zukunft handeln zu können SARAH VANHEE

man kann sich richtig in sie hineinlegen. Die ganze Familie von Mémé ist in Objekten auf der Bühne anwesend: alle neun Kinder, 20 Enkelkinder und 34 Urenkel. Die Geschichte von Oma ist düsterer und Vanhee weiß weniger über sie: „Deshalb habe ich beschlossen, in der dritten Person von ihr zu erzählen“, so die Performerin. „Ich mache ein Schattentheater mit den Figuren ihrer Familie.“ Vanhee sagt aber auch: „Für mich ist das Biografische der Performance gar nicht so wichtig. Es ist eine Geschichte über das Frausein in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, in einem bestimmten Körper, in der sich viele Leute wiedererkennen werden.“ Eine Frau steht auch in „ANGELA (a

strange loop)“ im Mittelpunkt. Die deutsche Regisseurin Susanne Kennedy und der Multimediakünstler Markus Selg erzählen von einer Figur, die sich aus vielen Frauen und ihren Erfahrungen zusammensetzt. Das Stück befindet sich noch im Pro-

benprozess. Angela, eine ganz normale Person, leidet an einer Krankheit, die nicht näher spezifiziert wird. Festwochen-Stammgast Kennedy sagt in einem Interview mit dem Festival d’Avignon, sie untersuche in der Arbeit, ob man ein Leben unter dem Mikroskop betrachten könne. Auf der Bühne Angelas Schlafzimmer: „Es könnte aber auch der Schauplatz einer Reality-TV-Folge oder eines Films sein“, meint die Regisseurin. „Dieser Raum hat etwas sehr Alltägliches an sich. Er ist gleichzeitig persönlich und unpersönlich. Sehen wir hier das tägliche Leben, die Realität der Figur? Oder eine inszenierte Version ihrer Realität?“ Das Spiel mit der Inszenierung kommt auch im Stück von Keyvan Sarreshteh vor. Der iranische Schriftsteller, Theatermacher und Geschichtenerzähler bringt in seiner neuesten Arbeit „Timescape“ sein eigenes Leben mit der Figur eines Zeitreisenden ins Gespräch. Dafür verwendet er persönliche, aber unvollständige Objekte auf der Bühne: Filmnegative, leere Seiten alter Tagebücher oder unbenutzte Kindersachen.

Einblicke in fremde Welten: Aug in Aug mit einem Teenager BEGEGNUNG: WOLFGANG KRALICEK

ie kleinste Produktion der letztD jährigen Festwochen war auch eine der besten: In „Close Encounters“ von Anna Rispoli sitzt man allein einem Teenager gegenüber und unterhält sich mit ihm. Das Projekt, das die italienisch-belgische Künstlerin ursprünglich 2019 für das Kunstenfestivaldesarts in Brüssel realisiert hatte, wurde 2022 für Wien vollkommen neu produziert – und wird heuer wiederaufgenommen. Spielort ist in diesem Jahr das frisch renovierte Parlament. Um das Stück zu entwickeln, brachte Rispoli Oberstufenschüler:innen des Gymnasiums Schopenhauerstraße und Lehrlinge aus der „Spar“-Akademie zusammen; die insgesamt 15 Jugendlichen unterhielten sich über Lebensentwürfe und Zukunftsvorstellungen, Ängste und Träume. Das so gewonnene Textmaterial komprimierte Rispoli dann zu einem 30 Minuten langen „Musterdialog“ zwischen einer Gymnasiastin und einem Lehrling.

Was definiert eine Biografie von An-

fang an? Welche Startbedingungen hat ein Mensch abhängig davon, wo er geboren wurde? Diese Frage stellt „Das Kind“. In der reduzierten Inszenierung der iranischen Regisseurin Afsaneh Mahian – sie war zuletzt 2016 mit „Die Anpassung“ bei den Festwochen zu Gast – verlassen drei Frauen aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimat und werden an der Grenze zu Europa verhört. Bei sich haben sie ein Neugeborenes: Keine der Frauen bekennt sich zu dem Kind, um ihm im Falle einer Abschiebung den Aufenthalt in Europa zu sichern. Den Text zum Stück hat Naghmeh Samini geschrieben. Im Rahmen von „Widerstand schreiben“ spricht die iranische Autorin über 100 Jahre weiblichen Widerstand im Iran. Auch bei der dreiteiligen Reihe zieht sich das Thema der Biografie wie ein roter Faden durchs Programm: Neben Samini treten die britisch-simbabwische Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga und die spanische Anarcho-Autorin Cristina Morales auf. Dangarembgas autobiografische Romantrilogie erzählt vom Ringen einer Schwarzen Frau in Simbabwe um Selbstbestimmung. Ihr Essay „Schwarz und Frau“ erschien erst kürzlich auf Deutsch. Morales nimmt in ihrem Buch „Leichte Sprache“ die Perspektive von vier Frauen ein, die mit unterschiedlichen Graden von Behinderungen leben, und schreibt wütend gegen deren Bevormundung an. Schon Shakespeare sagte: „All the World’s a Stage.“ Das Leben ist Erzählung, die Bühne ist der konzentrierte Blick darauf. F

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In der Aufführung wird dieser Dialog

dann re-enacted: Je ein:e Besucher:in und ein Teenager werden zusammen in ein Zimmer gesetzt, via Knopf im Ohr bekommt jede:r von ihnen eine der beiden Rollen eingespielt und spricht den Text nach. Bestechend an dem Projekt ist, dass es auf zwei Ebenen gleichzeitig Einblicke in fremde Lebenswelten ermöglicht: einerseits zwischen den Jugendlichen und den Theaterbesucher:innen, andererseits aber auch zwischen den Schüler:innen und den Lehrlingen. Dass etwa die Gymnasiastin weitere drei Jahre Schule vor sich hat und dann auch noch studieren will, kann ihr Gesprächspartner gar nicht fassen: „Da bist du ja nicht mehr jung, wenn du fertig bist! Ich möchte mit 23 schon eine Frau und zwei F Kinder haben.“ Close Encounters 13. und 14.5., 3. und 4.6., 17–19.30 Uhr (im Halbstundentakt), Parlament Österreich

FOTO: NURITH WAGNER-STR AUSS

BIOGRAFIN:

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Eins-zu-eins-Begegnungen zwischen Theaterpublikum und Jugendlichen


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Anthropologe der Zukunft Was passiert, wenn Roboter Erziehungsaufgaben übernehmen? Joël Pommerats Theaterabend erzählt spielerisch davon ENTWURF: KARIN CERNY

ind wir nicht alle Konstrukte? Spätestens in der Pubertät suchen wir verS stärkt nach unserer Identität. Täglich erfinden wir neue Bilder von uns, probieren unterschiedliche Lebensentwürfe aus. Eigentlich ein sehr theatralischer Vorgang, findet auch der französische Dramatiker und Regisseur Joël Pommerat, geboren 1963. „Ausgangspunkt dieses Projekts war die Kindheit. Genauer gesagt, die Kindheit als Zeit des Aufbauens und Selbstmachens“, sagt er über seine jüngste Arbeit „Contes et légendes / Märchen und Legenden“. Der Clou dieser Produktion: Sie spielt in einer

Humanoide Roboter und Jugendliche: Jede Szene beginnt harmlos, spitzt sich aber schnell zu

futuristischen Gesellschaft, in der humanoide Roboter in unser tägliches Leben integriert sind. „Es ging mir aber nicht darum, eine weitere Revolte der Maschinen zu inszenieren“, stellt Pommerat klar. „Ich habe versucht, eine mögliche Kopräsenz zwischen einer sogenannten natürlichen Menschheit und einer rekonstruierten zu erforschen, zu schauen, inwieweit sich die- Contes et légendes se unterscheiden. So ist eine Reihe kleiner 14. bis 16.6., 20.30 Uhr, Geschichten entstanden, in denen sich Kin- Odeon

der und Roboter begegnen.“ Während die meist abwesenden Eltern ihren Jobs nachgehen, machen erzieherische Androide die Hausaufgaben mit den Kindern, unterstützen sie im Lernalltag. Wie ein Anthropologe der Zukunft beobachtet Pommerat diese Beziehungen. Joël Pommerat ist berühmt für diese frag-

mentierte Form, in leichtfüßigen, aber visuell starken Szenen erzählt er scheinbar banale Dinge. Er denkt im Kleinen über größere gesellschaftliche Zusammenhänge

nach. Bei den Wiener Festwochen war von ihm 2015 „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ zu sehen, das Publikum saß auf gegenüberliegenden Tribünen, dazwischen trafen und verloren sich Paare durchaus tänzerisch wie auf einem Laufsteg. Pommerats Texte entstehen gemeinsam mit seinen Akteur:innen, in diesem Fall eine beeindruckende Gruppe an Schauspielerinnen und Schauspielern im Alter von 26 bis 32 Jahren, die aber höchstens wie 14 aussehen. Jede Szene beginnt harmlos, spitzt sich aber schnell zu. Viele haben einen doppelten Boden, hinterfragen gängige Konzepte von Authentizität und Lüge. Gruppenzwang und Mobbing, Privilegien und Benachteiligung, aber auch Geschlechterrollen, in die man gezwängt wird, sind zentrale Themen. Erstaunlich spielerisch und mit viel Humor packt „Märchen und Legenden“ diese heißen Eisen an. Die französische Zeitung Libération nannte den Abend „eine kraftvolle Reflexion über die Konstruktion von Identität“ und lobte das starke Ensemble, das auch die Androiden spielt. „Durch diese künstlichen Wesen können wir herausfinden, woraus die lebende Menschheit gemacht ist“, sagt der Regisseur. Und lässt offen, ob wir F dabei gut oder schlecht abschneiden.

Planetarium einer neuen Zeitrechnung Wir brauchen mehr Zeit: Jozef Wouters und Barry Ahmad Talib lassen einen 100 Jahre währenden Tag anbrechen

HELMUT PLOEBST

as tun, wenn die Miete steigt, wähW rend das Haus brennt? Erst einmal Eiswürfel langsam auf der Zunge zergehen lassen? In Zeiten von Inflation und Erderhitzung, wankender Krankenversorgung, überschnappenden Social Media und Kaltem Krieg 2.0 neigen Geist und Körper zu Panikattacken oder allergischen Reaktionen. Dafür muss sich niemand schämen. Aber vielleicht ist es keine schlechte Idee, mit der Einnahme von handelsüblichen Zerstreumitteln oder Sedativa zu pausieren und stattdessen im Theater wieder zu sich zu kommen. Der Titel „A Day Is a Hundred Years“ zum Beispiel klingt vielversprechend – wenn außen alles hetzt, wird innerlich ein anderes Zeitsystem aktiviert. Dabei hilft der belgische Bühnenbildner und

Performancekonstrukteur Jozef Wouters auf exemplarische Art, wie er bereits im Vorjahr bei den Festwochen mit dem ausgedehnten Abend „Infini 1–18“ bewiesen hat. Nun wird aus dem „endlosen“ Bühnenprospekt ein sehr langer Tag. Das ist der Punkt: In unserer neoliberalen Nor-

Szenografen: der Theatermacher Jozef Wouters und der Künstler Barry Ahmad Talib

A Day Is a Hundred Years 8.–10.6., 20.30 Uhr, Odeon

mativität mit ihrer Treibjagd in die KI-gesteuerte digitale Selbstverbrennung ist das Dehnen von Zeiträumen pure Anarchie. Für „Infini“ hatte Wouters eine ganze Reihe von Kunstschaffenden eingeladen, ihr ganz persönliches Werk für einen Theaterraum ohne Darstellende zu erarbeiten. In „A Day Is a Hundred Years“ gibt er nun einem speziellen Gast die Bühne: dem bildenden Künstler Barry Ahmad Talib aus Guinea, Artist in Residence bei Wouters’ Decoratelier. Diese Formation ist eine Allianz von Techniker-, Musiker-, Performer-

Im Mittelpunkt steht Talibs Arbeit. Und die zeichnet sich durch eine Leidenschaft für Nachhaltigkeit aus. Überflusskonditionierte Europäer:innen können davon viel lernen. „Ich arbeite nie mit einem Lineal oder einem vorläufigen Entwurf auf Papier, sondern lasse mich von dem Material und den Werkzeugen leiten, die mir zur Verfügung stehen“, erklärt Barry Ahmad Talib. Unternehmergeist, Neugierde und Unabhängigkeit bilden den Kompass für seine Kunst. Darin werden Geduld und Sparsamkeit zum Prinzip, etwa in dem Ehrgeiz, tausende Blütenblätter aus einer Teppichrolle zu schneiden, ohne auch nur einen Zentimeter Stoff zu verschwenden. So entsteht aus Zurückhaltung ein neuer Reichtum. F

FOTOS: ELISABETH CARECCHIO, ENZO SMITS

und Poet:innen mit ihren Materialien und Fertigkeiten. Das neue Stück kommt gleich nach seiner Antwerpener Uraufführung ins Wiener Odeon. Aus der Idee der gemalten Kulisse bei „Infini“ wird jetzt der Traum von einer Art Planetarium, das auf einer Drehbühne um sich selbst zirkuliert und, so Wouters, „eine Welt zwischen Nacht und Tag, Zeitlichkeit und Zukunft, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit“ generiert.

AUFZEICHNUNG:


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Marina Davydova schreibt über Theater, kuratiert es und inszeniert bei den Festwochen

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Ich verließ Russland mit nur einem Koffer und ohne Job. Es war das zweite Mal, dass ich ins Exil gehen musste MARINA DAVYDOVA

„Du kannst Theater nie völlig kontrollieren“ Marina Davydova ist Expertin für russisches Theater. Ein Gespräch über Autoritäten, Vertreibung und ihr lebendiges Museum INTERVIEW: KARIN CERNY

arina Davydova ist keine Unbekannte Marina Davydova M in Wien. 2016 war die Theaterwissenschaftlerin, Theaterkritikerin und Kulturmanagerin für das Schauspielprogramm der Wiener Festwochen verantwortlich. Nun wird ihre Arbeit „Museum of Uncounted Voices“ beim Festival uraufgeführt.

FOTO: VERA MARTYNOV

Falter: Was erwartet die Zuschauer:innen im „Museum of Uncounted Voices“? Marina Davydova: Es ist ein Theaterstück, das im Museum spielt. Immer wenn ich ins Museum gehe, stelle ich mir vor, dass die Objekte zum Leben erwachen. Dass Stimmen aus der Vergangenheit plötzlich beginnen, mit mir zu sprechen. Ich male mir aber auch aus, dass diese Stimmen anfangen, miteinander zu streiten. Darüber, wie es wirklich gewesen ist. Und die Besucher:innen in diese Gespräche verwickelt werden.

Geschichte wird also lebendig? Davydova: Ja, und die Zuschauenden werden Teil der Show. Das Museum verändert sich ständig, sie werden Zeugen von historischen Ereignissen, die gerade stattfinden. Ich möchte nicht allzu viel spoilern, aber es wird Musik geben, Livesounds, viele Stimmen, die etwas erzählen, aber auch die Objekte werden zu Darsteller:innen. Und es gibt eine Schauspielerin in der Aufführung, ihr letzter Monolog wird einige Geheimnisse dieses Museums enthüllen.

wurde 1966 in Baku, Aserbaidschan, geboren. Sie leitete das Moskauer NET-Festival (Neues Europäisches Theater) und war Chefredakteurin des Magazins Teatr. 2016 war sie für das Schauspielprogramm der Festwochen verantwortlich, ab Oktober 2023 ist sie Schauspielchefin der Salzburger Festspiele

Museum of Uncounted Voices 22.–24.5., 26. und 27.5., 17 und 21 Uhr, Odeon

Worum geht es inhaltlich? Davydova: 2022 jährte sich der 100. Geburtstag der UdSSR. Wenn ich mit Europäer:innen spreche, merke ich oft, dass dieses riesige Gebiet der Sowjetunion mit seinen unzähligen Republiken noch immer für viele Terra incognita ist. Die wenigsten können die ehemaligen 15 Republiken aufzählen, wissen nicht, wie sich die Kultur in Belarus von der in Armenien unterscheidet. Mir war wichtig, dass man all die unterschiedlichen Sprachen in meiner Performance hört. Ich erkläre, wie bestimmte Grenzen von der Sowjetmacht gezogen wurden. Warum viele Grenzen Zeitbomben waren, die gerade in die Luft gehen. Es interessiert mich aber auch die komplexe Beziehung der Teilstaaten untereinander. Es gibt nicht eine Wahrheit, sondern viele Perspektiven darauf. Das ist die oberflächlichste Ebene der Performance. Die Grundidee ist, dass die persönliche Erfahrung einer Person niemals in einen historischen Diskurs passt. Und deshalb lügen im Großen und Ganzen alle historischen Museen. Sie sind selbst im aserbaidschanischen Baku geboren, das damals noch zur Sowjetunion gehörte. Wie sehr spielen persönliche Erfahrungen eine Rolle? Davydova: Meine Arbeit ist historisch, aber zugleich auch sehr persönlich, das zeigt sich vor allem im finalen Monolog. Ich musste im März 2022 aus Moskau fliehen. Nachdem ich eine Petition gegen den Krieg in der Ukraine unterschrieben hatte, wurde ich anonym bedroht über E-Mail

und Telefon, meine Wohnungstür wurde beschmiert. Ich verließ das Land mit nur einem Koffer und ohne Job. Es war das zweite Mal, dass ich ins Exil gehen musste, und vielleicht auch deshalb ein wenig einfacher, weil ich in Europa bereits ein Netzwerk habe. Als ich Ende der 1980erJahre aus Baku nach Moskau übersiedelte, kurz bevor es eine Welle von Attentaten gab, hatte ich keine Berufserfahrung, meine Eltern waren früh gestorben. Warum haben die russischen Autoritäten vor allem das Theater im Visier, wenn es um Restriktionen geht? Davydova: Auch für mich stellt sich diese Frage immer wieder, Theater ist in Russland gerade eines der Hauptopfer der restriktiven Politik. Es wurde fast alles zerstört, die Wissenschaft, die Ausbildung, die Kultur. Aber Theater ist mit Abstand am meisten betroffen. Wenn alle Medien gleichgeschaltet sind, ist es doch ohnehin nicht so wichtig, was in einem Theater passiert. Da sitzen maximal 1000 Menschen an einem Abend, das ist doch nichts. Aber ich denke, Theater hat in Russland eine große symbolische Macht. Sogar in Sowjetzeiten hatten die Autoritäten Angst vor Theater, vielleicht, weil es so schwierig zu zensurieren ist. Es ist immer live, man weiß nicht genau, was passieren wird. Während man im Kino oder in der Literatur eine zensurierte Fassung hat, kann im Theater jede Vorstellung anders sein. Du kannst Theater nie völlig kontrollieren. Das macht es aber auch so spannend. F


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A bissl was Süßes geht immer Hyung-ki Joo plant zur Eröffnung der Wiener Festwochen eine musikalische Party für alle – mit ganz vielen Pralinenschachteln Und weiter: „Jede Darbietung für sich ist, wie in einer gut sortierten Pralinenschachtel, ein kleines Kunstwerk.“ Da kann man nur hoffen, dass es nicht zu einem Zuckerschock und kompletten SchokoOverkill kommen wird. Das Schöne an der langen Liste der auftretenden Künstlerinnen und Künstler ist: Sie besteht nicht nur aus bekannten Marken und Geschmacksrichtungen.

VORSCHAU: SEBASTIAN FASTHUBER

ngesagte Apokalypsen sind bislang zum Glück stets ausgeblieben – A und auch Utopien zumeist solche geblieben. Eine letzte Nacht auf Erden rief der Autor und Regisseur David Schalko als Verschränkung von pessimistischer und positiver Zukunftsvision im Vorjahr zur Festwochen-Eröffnung am Rathausplatz aus. „Last Night on Earth“ war ein audiovisuelles Gesamtkunstwerk mit Kruder & Dorfmeister an den Reglern, das vor allem durch die Bühnenpräsenz von Bilderbuch (positiv) und Yung Hurn (ja, darf denn der da auftreten?!) in Erinnerung blieb.

kultivierten – Volksfest hat. Die Auftaktveranstaltung ist traditionell das Alien im Programm. Bei freiem Eintritt soll sie niederschwellig ein breites Publikum ansprechen. Heuer zeichnet Hyung-ki Joo für die Party am Rathausplatz verantwortlich. Der Eröffnung koreanisch-britische Pianist könnte eigent- 12.5., 21.20 Uhr lich auch selbst auftreten, ist er doch ein Rathausplatz

verdammt guter Entertainer. In den letzten Jahren hat er den Klassikbetrieb ordentlich aufgemischt, vor allem seine Shows zusammen mit dem Geiger Aleksey Igudesman als Duo Igudesman & Joo haben etwas von Konzerthaus meets Comedy. Joo möchte das Publikum überraschen. Das Programm ist breit aufgestellt und soll etwas für jede und jeden bieten. In der Ankündigung heißt es: „Akrobatik trifft auf Klassik, Vivaldi auf Screamin’ Jay Hawkins, Streichquintett auf Breakdance, Poesie auf Flamenco, Beat Boxing auf Chanson.“

geschummelt, die einem noch nicht selbstverständlich über die Lippen gehen. Wer im Internet öfter was mit Humor anklickt, wird vielleicht Beardyman kennen. Der britische Musiker, Vokalist und Komiker ist Urheber einiger viral gegangener Videos und arbeitet stimmlich mit allen Mitteln: Beatboxing, Singen, Rappen, Scatten und noch mehr, viel mehr. Auf die Kraft ihrer Stimme setzt auch die deutsche Obertonsängerin Anna-Maria Hefele. Ein Multitalent ist der Italiener Patrizio Ratto, er wechselt fließend zwischen Klavierspiel und Tanz. Aus Wien mit dabei sind u.a. der stilistisch breit aufgestellte Gitarrist und Komponist Wolfgang Muthspiel, die Cellistin und Sängerin Marie Spaemann, für die das ebenfalls gilt, oder die Chanteuse Valerie Sajdik. F

AK Wiener Stadtgespräch mit Wochenzeitung Falter: Spannende Gäste diskutieren zu aktuellen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, demokratieund medienpolitischen Themen. Schauen Sie auf unsere Website! www.wienerstadtgespraech.at

FOTO: INES BACHER

Der FestwochenAuftakt: Garant Eröffnung der Wiener Festwochen vorm für einen vollen Rathaus ein bisschen was von einem – Rathausplatz Worauf man sich verlassen kann: Dass die

Hyung-ki Joo hat einige Namen auf die Liste


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„Was ist denn ein echter Junge?“ Festwochen heuer auch für Kinder: „Pinocchio“ von Wu Tsang und Moved by the Motion

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Mette Ingvartsen: Tanz und Rasanz in der Halfpipe

INTERVIEW:

SHOWING-OFF:

SARA SCHAUSBERGER

HELMUT PLOEBST

inocchio war nicht nur ein Stück P Holz, Pinocchio war einmal ein Baum. In der Bühnenversion von Wu

er in den Sixties nicht mit so ambivalenter Lektüre wie MiW cky Maus sozialisiert wurde, kann

Tsang und ihrem Kollektiv Moved by the Motion am Zürcher Schauspielhaus entstammt die kleine Holzpuppe einer Pinie mit Augen. Warum Pinocchio als ehemaliger Baum den Menschen viel lehren kann, erklärt Wu Tsang im Gespräch.

sich vielleicht kaum vorstellen, dass es in den wöchentlichen Heften auch einmal eine Geschichte über das Skateboard als Verkehrsmittel gab. Es war der große Brettrausch: So wie heute viele gern mit dem E-Scooter fahren, tuckerten alle Entenhausner – Omi, Papa und die Kleinen – mit motorisierten Skateboards inklusive kleinen Auspuffen durch die Straßen: verbretterte Verbrennerzeit. Nach Österreich kam das Skateboard erst in den 70ern. Im Gegensatz zum sportmuffligen Verfasser dieses Wörterslaloms hatte Mette Ingvartsen eine aktive Skaterjugend. Und so kamen bei der bekannten dänischen Choreografin einschlägige Erinnerungen hoch, als sie in Europas belgischer Hauptstadt die rasanten und riskanten Aktivitäten in einem Skatepark sah.

Falter: Zu Beginn Ihrer „Pinocchio“Inszenierung heißt es: „Seid ihr zu alt, um an Wunder zu glauben?“. Ihr Stück ist für Kinder ab sieben Jahren, appellieren Sie mit diesem Satz an die Erwachsenen im Publikum, sich ebenfalls auf die Reise einzulassen? Wu Tsang: Wir haben uns viel damit befasst, was einen mit sieben, acht Jahren beschäftigt. Es ist eine magische Phase im Leben: Du nimmst alles aus der Umgebung auf, aber lebst gleichzeitig viel in deiner eigenen Fantasie. Wir bitten das Publikum, es auszuhalten, wenn sich nicht alles logisch erklären lässt, was auf der Bühne passiert. Wir wünschen uns eine Offenheit, sich auf das sinnliche Erleben einzulassen.

„Pinocchio“ ist das erste Stück von Moved by the Motion für Kinder. War der Arbeitsprozess sehr anders? Tsang: Es fühlte sich überraschend natürlich an für uns, weil wir mit denselben Mitteln arbeiteten wie sonst auch. Wir sind außerdem in einem Alter angelangt, in dem einige von uns und viele in unserem Umfeld Kinder haben. Wir beschäftigten uns mit unserer Rolle als Erwachsene und überlegten, was Kinder uns beibringen. In diesem Sinne dachten wir auch über Pinocchio nach.

FOTOS: DIANA PFAMMATTER, BEA BORGERS

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In der klassischen Erzählung ist es Pinocchio, der Lektionen lernen muss, um in der Gesellschaft aufgenommen zu werden. Warum ist das in Ihrer Inszenierung anders? Tsang: Nachdem er als ein Stück Holz beginnt, muss er ja einmal ein Baum gewesen sein. Und wir überlegten uns, welche Erfahrungen Bäume mitbringen und uns Menschen beibringen können. Also machten wir uns schlau und erfuhren faszinierende Dinge: Sie leben etwa gesellschaftlich strukturiert. Bäume einer Baumgruppe stellen sicher, dass alle überleben. Kannten Sie „Pinnocchio“ schon als Kind? Tsang: „Pinocchio“ war einer meiner ersten Disney-Filme: Ich fand ihn beängstigend. Im Buch, das ich

Der Spaß, den Ingvartsen dort beobach-

In der Version von Moved by the Motion war Pinocchio einmal eine Pinie

erst jetzt im Zuge der Recherche gelesen habe, finde ich die Geschichte noch unheimlicher: Wirklich schlimme Dinge passieren ihm. Fürs Stück haben wir ein bisschen ummodelliert. Wir dachten, es geschieht genug Schreckliches auf dieser Welt, deshalb konzentrieren wir uns eher auf den Humor, die Schönheit und den Aspekt der Lektionen in der Erzählung. Denn diese beängstigenden Sachen in der Geschichte hatten wahrscheinlich auch die Funktion, den Kindern beizubringen, wie sie sich richtig zu benehmen haben. Warum dann ausgerechnet „Pinocchio“? Tsang: Pinocchio versucht die ganze Zeit, ein „echter Junge“ zu werden. Ich fühlte mich angezogen von der Frage, was denn ein „echter Junge“ ist. Vor allem geht es um moralische Benimmregeln, die ihn am Menschsein hindern. Viele der Lektionen handeln davon, wie er als individueller Mensch an der Gesellschaft teilnehmen kann. Aber der Individualismus ist nicht die einzige Art, in dieser Welt zu sein, es gibt auch andere Arten des Zusammenlebens. Davon erzählen wir.

Auch Sie arbeiten bevorzugt mit ihrem Kollektiv Moved by the Motion, mit dem Sie als Hausregisseurin ans Schauspielhaus Zürich gegangen sind. Wie haben Sie sich als Gruppe gefunden? Tsang: Wir alle begegneten uns mehr oder weniger übers queere Nachtleben in L.A. Wir begannen als Freunde und entwickelten darüber hinaus eine Arbeitsbeziehung. Man liest über Sie, Sie seien nicht nur Künstlerin, sondern auch Aktivistin. Tsang: Es passiert leicht, dass man als trans Künstlerin in eine gewisse Ecke geschoben wird. Ich würde mich aber nicht als Aktivistin identifizieren, weil es so viele großartige Aktivist:innen gibt, die wichtige Arbeit machen. Ich verdiene den Titel nicht. Dennoch fühle ich als trans Künstlerin und PoC eine gewisse Verantwortung. Ich mag es jedoch mehr, dem Publikum meine Botschaften nicht aufzudrücken, sondern es eigene Erfahrungen machen zu lassen und daraus Rückschlüsse zu ziehen. F Pinocchio (ab 7 J.) 3.6., 4.6., 17 Uhr, 5.6., 10 Uhr Volkstheater

tete, war: „… sowohl ein Raum für virtuoses physisches Experimentieren als auch ein öffentlicher Ort für kulturübergreifende Begegnungen zwischen Gemeinschaften“. Was sich die Youngsters heute in den Halfpipes selbst beibringen und bei Wettbewerben aufführen, ist echt beeindruckend. Kein Wunder also, dass Mette Ingvartsen den Drang verspürte, zu zeigen, wie verwandt Skaten und Tanzen miteinander sind. In ihrem auf die Theaterbühne transferierten „Skatepark“ arbeiten sich ein Dutzend Performer:innen und Skater:innen an der Lust auf Showing-off ab, sogar mit Einbindung der lokalen Szene. Hier wird erweiterter Tanz als soziales Phänomen jenseits von Clubs und Ballrooms gezeigt, mit Leuten ganz verschiedener Herkünfte, die ansonsten vielleicht nicht so einfach zusammengefunden hätten. F Skatepark 19. und 20.5., 20 Uhr, 21.5., 15 Uhr MuseumsQuartier, Halle G

Mette Ingvartsen bringt den virtuosen Spaß eines Skateparks ins Theater


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Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk spricht in Wien

Gschichtldrucker Das Kollektiv Grupo Marea liebt gutes Storytelling. Das neue Stück ist echt abgefahren Bühnenbildnerin Mariana Tirantte, der Musiker Diego Vainer, der Lichtdesigner David Seldes und die Produzentin Florencia Wasser, also wieder nach Wien. Wieder mit einer abgefahrenen Fiktion und neuen Schauspieler:innen. Oder auch einer wahren Geschichte, wer weiß. Auch in „La Obra/Das Stück“ geht es um eine Ortschaft. Die hat sich ein gewisser Simon Frank, ein polnischer Jude, seit den 1960er-Jahren in Zentralargentinien geschaffen. Offenbar hatte er vor den Nazis nach Südamerika fliehen können. Über Jahrzehnte hat der Mann in seiner neuen Heimat La Pampa, so die Geschichte, die Häuser, Wohnungen und Straßen seines Lebens im Warschau vor dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut. Als fixe Kulisse in seinem Garten, um dort – mithilfe immer mehr Beteiligter – bei einem jährlich stattfindenden Festival sein eigenes Leben und das seiner Familie und Freund:innen nachzuspielen. Schließlich nimmt die komplette Ortschaft La Pampa an diesen privaten Passionsspielen teil, mehr und mehr identifizieren sich die Laiendarsteller:innen auch unabhängig vom eigentlichen Theaterevent in ihrem eigenen Leben mit den Menschen im Warschau der Vorkriegszeit.

TEXT: MATTHIAS DUSINI

ie Rede ist von der ukrainischen Menschenrechtsanwältin OlekD sandra Matwijtschuk. Sie tritt am 9. Mai auf dem Judenplatz auf, um an Europa zu appellieren. Unter dem Titel „Ohne Freiheit kein Frieden, ohne Recht keine Gerechtigkeit“ wird sie daran erinnern, wie wichtig Solidarität und der Widerstand gegen Unrecht sind. Platz und Termin sind gut gewählt, denn der 9. Mai wird als Europatag begangen und das Mahnmal am Judenplatz erinnert an die Verbrechen des Holocaust. Matwijtschuk leitet in Kiew die Menschenrechtsorganisation Center for Civil Liberties, die 2022 den Friedensnobelpreis bekam. Die Organisation wurde gegründet, um die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine zu fördern. Die Juristin erlebte die Niederschlagung der Euromaidan-Proteste 2013, wo Menschen getötet und entführt wurden. Tausende Freiwillige engagierten sich ehrenamtlich für die Opfer und ihre Angehörigen. 2014 annektierte die Russische Föderation die Krim und begann im Donbas einen Krieg. Das Center for Civil Liberties dokumentiert die Kriegsverbrechen der Besatzungsmacht. Das Engagement beschränkt sich nicht auf die Ukraine. Matwijtschuk setzt sich auch für die Rechte politischer Gefangener in Putins Diktatur ein. Die Aktivistin wollte zivilisierten Frieden, geriet nach dem Überfall des Nachbarstaates auf die Ukraine im Februar 2022 jedoch immer mehr in die Abgründe des Krieges. Ihre Nobelpreisrede schrieb Matwijtschuk bei Kerzenlicht, russische Raketeneinschläge hatten die Energieversorgung in Kiew unterbrochen. Nun fordert sie vehement die Schaffung eines internationalen Sondergerichts: „Wir müssen Putin, Lukaschenko und andere russische Kriegsverbrecher zur Verantwortung ziehen – und wir dürfen nicht mehr damit warten.“ Hör her, Europa! F Eine Rede an Europa 9.5., 19 Uhr, Judenplatz

Die Anwältin Oleksandra Matwijtschuk setzt sich für Menschenrechte ein

Irgendwann jedoch nimmt das Ganze

Der argentinische Theatermacher und Autor Mariano Pensotti

SPURENSUCHE: CHRISTOPHER WURMDOBLER

an kann das Ganze natürlich M auch so herum sehen. „Fiktionen schaffen uns überhaupt erst“, sagt der argentinische Theatermacher und Autor Mariano Pensotti in einem Interview mit den Berliner Festspielen und erklärt: „Wir verhalten uns so, wie wir es von den großen Erzählungen gelernt haben. Wir sind genau so, wie uns die Filme, die Bücher, das Fernsehen gemacht haben.“ Und neuerdings schaffe auch noch Social Media konstant Fiktionen unserer Realität, mache uns vor, wie wir zu sein haben. „Aber“, so Pensotti weiter, „ich glaube, dass das Schaffen von Fiktionen auch eine starke Hoffnung beinhaltet, die Idee einer möglichen anderen Utopie, dass ein anderes Leben möglich ist. Geschichten schaffen neue Perspektiven, die zuvor nicht da waren.“ Wie kaum ein anderer vermag der 50-jährige Regisseur, der Film, bildende Kunst und Theater studierte, sich Geschichten auszudenken und mit eher filmischen Mitteln des

Theaters zu erzählen. Nämlich so, dass man die Storys fix für wahr hält. 2019, in seinem ersten FestivalJahr, hatte Intendant Christophe Slagmuylder den Argentinier mit seiner Company Grupo Marea zuletzt zu den Wiener Festwochen geholt, um in der riesigen Eishalle Kagran das Kaff „Diamante“ aufzubauen: eine private Stadt für die Arbeiter:innen und Angestellten einer Mine mitten im argentinischen Dschungel. Sechs Stunden lang spazierte damals

das staunende Publikum zwischen Holzhäusern mit komplett eingerichteten Wohnungen, einer Kneipe oder einem Parkplatz mit Autos umher und ließ sich von den Schauspielerinnen und Schauspielern die großen und kleinen privaten Geschichte(n) dieser bizarren Reißbrettstadt mitten im Dschungel Argentiniens erzählen. Beeindruckendes Storytelling war das, eine Art immersive Roman-Erzählung, auch wenn dem Publikum nur eine Beobachter:innenposition zugewiesen wurde. Nun kommt das Kollektiv Grupo Marea, neben Pensotti sind das die

dann eine völlig überraschende Wendung, die an dieser Stelle nicht gespoilert werden soll. Jedenfalls endet das bizarre Erinnerungstheater des geflüchteten Juden Simon Frank jäh und die polnische Kulissenstadt in der argentinischen Provinz wird demontiert oder zerfällt. Die Reste dienen nur noch als Filmset für eine Telenovela. Im Jahr 2020 reist dann noch ein europäischer Theaterregisseur nach Zentralargentinien. Weil er nämlich im Guardian einen Artikel über das kleine Welttheater gelesen hat und versuchen möchte, mit ehemaligen Mitstreitern des Simon Frank ein Theaterstück über das Theaterstück auf die Beine zu stellen. Wie schon bei „Diamante“ wird auch hier der weitere Verlauf der Geschichte so irrsinnig absurd, dass man keine Sekunde lang ihren Wahrheitsgehalt bezweifelt. Und natürlich ist besagter Guardian-Artikel auch nach längerer Suche nicht auffindbar. Man darf jedenfalls gespannt sein auf diese weitere fiktionale/nichtfiktionale Erzählung des Mariano Pensotti. Weltpremiere ist bei den WieF ner Festwochen. La Obra / Das Stück 2.–7.6., 20 Uhr Jugendstiltheater am Steinhof

FOTOS: CENTER FOR CIVIL LIBERTY, CATALINA BARTOLOME

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PORTRÄT: NICOLE SCHEYERER

ktopusse sind kuriose LebeweO sen. Die Intelligenz der klügsten Weichtiere steckt in ihren Fangarmen,

sie erfahren die Welt über Saugnäpfe. „Weiblich, Hauptwort. Schleimig, flüssig, formbar. 9 Gehirne, 8 Tentakel, hat 3 Herzen und blaues Blut. Elegant, kann Tinte ausstoßen, zum Kochen und Schreiben. Transparent. Graubraun. Sehr kräftig. Gehirn auf einem Präsentierteller“, so beschrieb Laure Prouvost Frau Tintenfisch, die in ihren Skulpturen schon mal Brüste bekommt. Mit allen Sinnen wahrnehmen, das fesselt die französische Künstlerin, die besonders das flüssige Element schätzt. Auf der Biennale in Venedig 2019 wurde Prouvosts Ausstellung „Deep See Blue Surrounding You“ zum Hit, für den das Publikum vor dem französischen Pavillon seine Beine in den Bauch stand. Die gefeierte Videoinstallation zeigte einen Roadtrip voller Flüstern, Tasten und Schmecken, der von Frankreich in die Lagunenstadt führte. Die 1978 in Croix geborene Künstlerin hat in London studiert und gelebt. Mittlerweile wohnt sie in Brüssel. In ihrer damaligen Wahlheimat Großbritannien erhielt sie 2013 den Turner Prize, einen der international renommiertesten Kunstpreise. Ausgezeichnet wurde Prouvosts Videoarbeit „Wantee“ (kurz für: „Want tea?“), eine skurril-versponnene Recherche über die Kreativität in ihrer Familie. Ihr Großvater sei ein Konzeptkünstler und Freund des Dadaisten Kurt Schwitters gewesen, so die Story des Videos. Als sein Lebenswerk wollte er einen Tunnel vom Atelier bis nach Afrika graben. Opa sei schon lange in seinem tiefen Loch verschollen; zurück blieb seine Frau, die derweil Tee kocht und das vom Grabungsdreck verschlammte Studio mit Keramiken dekoriert.

FOTO: GENE PITTMAN

Um die Figur der Großmutter dreht sich

nun auch die Ausstellung mit dem lautmalerischen Titel „Ohmmm age Oma je ohomma mama“, die Prouvost auf Einladung der Wiener Festwochen und der Kunsthalle Wien produziert hat. Die Schau in der Kunsthalle kreist einerseits um echte Vorfahrinnen, andererseits um Großmütter im weitesten Sinn. Die Hommagen („Ohmmm age“) der Schau huldigen unter anderem der prähistorischen Venus von Willendorf, der Barockmalerin Artemisia Gentileschi oder der afroamerikanischen Bürgerrechtlerin Rosa Parks. Prouvost startete ihre Laufbahn als Videokünstlerin, hat aber schon bald auch Skulpturen und Erlebnisräume zu den Projektionen gestaltet. Für Venedig mit seiner Glasbläserinsel Murano ließ sie niedliche Oktopusse herstellen. Die zerbrechlichen Tiere standen nicht auf einem Sockel, sondern lagen auch am Boden, zu-

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Sound ist der Herzschlag meiner Kunst LAURE PROUVOST

Masken und Fabeln sind ein integraler Teil von Laure Prouvosts künstlerischem Kosmos

Videokunst mit Saugnäpfen Die Künstlerin Laure Prouvost huldigt in der Kunsthalle Wien fiktiven Großmüttern sammen mit Plastik- und Elektromüll in transparentes Kunstharz eingegossen, so als wäre die Halle überschwemmt. „High & Low“, hohe Kunst und Alltagsschrott, bergen in Prouvosts Sichtweise dasselbe sinnliche Potenzial. Mal werden in ihren Filmen Himbeeren saftreich zerbissen, dann wieder Handydisplays abgeleckt. Prouvost ruft die unmittelbare Lust, die Welt wie ein Kleinkind mit Lippen und Zunge zu erkunden, wo es geht, zu betapschen und in jede Wasserlache zu hüpfen. Dabei verfällt Prouvosts Kunst aber in kein bloßes Abfeiern von Sensualismus, wie wir es aus Werbung oder Design kennen. Sie schafft

es vielmehr, feministisch-ökologische Gesellschaftskritik mit einer happy attitude darzureichen, wie es zuletzt der Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist in den 1990er-Jahren gelang. „Sound ist der Herzschlag meiner Kunst“, hat die musikaffine Französin in einem Interview betont. Zu ihrer Wiener Ausstellung steuert Elisabeth Schimana, eine österreichische Pionierin der elektronischen Musik, die 6-Kanal-Fixed-Media-Komposition „Zwiebelfäden“ bei. In dem Audiostück würdigt Schimana viel zu wenig bekannte Wegbereiterinnen wie die Komponistin Éliane Radigue, aber auch Mentorinnen wie Heidi Grundmann, die Erfinde-

rin der Ö1-Sendung „Kunstradio – Radiokunst“. „In dieser Ausstellung schweben Echos und Geister von vielen unterschiedlichen Großmüttern herum“, sagt die Festwochen-Kuratorin Caroline Nöbauer. Auch wenn Laure Prouvost Heldinnen der Vergangenheit Rosen streut, gehe es der Künstlerin doch vor allem um die Zukunft. Während die Künstlerin Louise Bourgeois die Mutter noch als bedrohliche Riesenspinne darstellte, treten Prouvosts Omas als wohlwollende Instanzen auf. Schließlich können Tentakel nicht nur hinunterziehen, sondern auch emportragen. F Kunsthalle Wien, 11.5.–1.10.


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WIENER FESTWOCHEN 23 gen Zeit heraus entstanden. Heute vermittelt er in schwierigen Zeiten Wärme und in unruhigen Zeiten Vertrauen. Apropos unruhig: Sie haben schon vier Festwochen-Intendanten miterlebt, demnächst kommt der fünfte. Wie geht man als Sponsor mit häufigen Veränderungen um? Goubran: (Lacht.) Es ist wie in der Politik: Die Regierungen wechseln, die Beamten bleiben. Es steht uns natürlich nicht zu, einzugreifen. Man muss das beobachten und hoffen, dass das System solche Rumpler übersteht. Das Haus unterstützt meine Grundhaltung, dass man in der Kunst und im Leben Dinge ausprobieren muss. Und das heißt, dass man auch scheitern kann. Daraus lernt man für die nächste Runde. Worauf freuen Sie sich bei der diesjährigen Festivalausgabe am meisten? Goubran: Was sage ich da am besten? Vielleicht „Verwandlung eines Wohnzimmers“ von Toshiki Okada? Aber ich gebe zu, die Antwort ist ein PR-Manöver, weil wir auch Hauptsponsor des Klangforums sind. Insgesamt habe ich mindestens 15 Karten bestellt.

„Ich lasse mich auf Experimente ein“ Ruth Goubran leitet „Vermehrt Schönes!“. Der Hauptsponsor der Festwochen wird zehn INTERVIEW: MARTIN PESL

er die Festwochen besucht, kennt W das Vogelgezwitscher vor Vorstellungsbeginn: Es gehört zu „Vermehrt Schönes!“, dem Sponsoringprogramm der Erste Bank, die das Festival seit 2013 maßgeblich unterstützt. Ruth Goubran hat das Programm, das auch viele andere Partner hat, etwa die Viennale, unter diesem Namen vor mittlerweile zehn Jahren ins Leben gerufen. Bis heute leitet sie es in einem Es werden kleinen Team mit ihrer Kollegin Theres Fi- nicht mehr schill. Ein Gespräch zur Feier des Tages. die bildungs-

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Falter: Frau Goubran, ich möchte mit einer Offenlegung beginnen: Als Kritiker kritzle ich begeistert die „Vermehrt Schönes!“Notizbücher voll. Die letzten Jahre habe ich sie bei den Festwochen aber vermisst. Ruth Goubran: Keine Sorge, die kommen wieder. Die haben wir nur wegen Corona nicht verteilt, aus hygienischen Gründen.

Sie kommen selbst aus dem Kulturbereich, haben früher bei den Festwochen gearbeitet, waren später Geschäftsführerin des Gartenbaukinos. Wieso haben Sie die Seite gewechselt? Goubran: Ich wurde gefragt! Es ist der

bürgerlichen Gewohnheiten der Eltern und Großeltern übernommen RUTH GOUBRAN

Unternehmung hoch anzurechnen, dass sie sich eine Expertin von draußen geholt hat. Ich hatte in dem neuen Bereich keinerlei Erfahrung, habe aber durch meinen Außenblick verstanden, dass es sinnvoll ist, vom Gießkannenprinzip wegzugehen und das Sponsoring zu strukturieren. So entstand das Erste Bank-Sponsoringprogramm „Vermehrt Schönes!“. Was macht dieses Programm aus? Goubran: Wir fördern keine Einzelprojekte, es sind immer Institutionen dazwischengeschaltet, auf deren kuratorischen Blick wir angewiesen sind. Wir machen auch keine kostenintensive Eigenwerbung, wie Werbespots oder Gewistawerbung, da wir die Kunst- und Kulturproduktionen unterstützen wollen. Die Werbepräsenzen, stellen uns unsere Partner, wie die Wiener Festwochen zur Verfügung. Dadurch sind wir sehr nahe beim jeweiligen Publikum. Hätten Sie gedacht, dass der Slogan so ein Eigenleben entwickelt? Goubran: So etwas kann man sich nur wünschen, jedoch nicht planen. Der Slogan ist Guerilla-Marketing-mäßig aus der damali-

Es wäre schön, wenn alle diesen Ansatz verfolgten. Goubran: Das geht aber nicht so leicht, wenn man 25 bis 45 Euro für eine Karte ausgegeben hat. Dafür habe ich großes Verständnis. Deshalb unterstützen Sie heuer die Aktion U30. Menschen unter 30 Jahren zahlen nur 15 Euro pro Karte. Goubran: Der Nachwuchs ist ein großes Thema im Kulturbereich: wie schaffen wir es die jungen Menschen für Kunstproduktionen zu interessieren. Die Technisierung hat unsere Wahrnehmung verändert, die Pandemie das Ihre dazugetan. Es werden nicht mehr die bildungsbürgerlichen Gewohnheiten der Eltern und Großeltern übernommen. Da müssen Zugänge geschaffen werden, und einer davon ist Leistbarkeit. Was ist anlässlich des zehnten Geburtstags noch geplant? Goubran: Dieses Jahr fragen wir alle unsere Partner: „Was ist für Sie Schönes?“. Christophe Slagmuylder hat zum Beispiel geantwortet: „Wochen, die mit Fest beginnen.“ Und was ist für Sie Schönes? Goubran: Als Sponsor ist für uns Schönes immer, Schönes zu vermehren. Ruth Goubran hat natürlich eine andere Antwort. Die wollte ich eigentlich hören. Goubran (nach einer Nachdenkpause): Schön ist das Leben. F

FOTO: VIENNALE/ALEXI PELEKANOS

Ruth Goubran leitet das Sponsoringprogramm der Erste Bank und ermöglicht vermehrt Schönes

Was machen Sie, wenn Sie mit dem Programm nicht zufrieden sind? Goubran: Ich habe das große Privileg, mir diese Vorstellungen ansehen zu dürfen. Also gehe ich mit der Haltung hinein, mich auf ein Experiment einzulassen. Wenn es aufgeht, beglückt mich das, und wenn nicht, ist das auch in Ordnung. Wahrscheinlich ein bisschen wie bei Ihnen als Theaterkritiker.


Festival für

Bezahlte Anzeige

Gegen warts kultur


Wiener Festwochen 23 

12.5. bis 21.6. www.festwochen.at

Eintritt frei Stücktitel 9.5., 19.00

11.5., 19.00

12.5., 21.20 13.5., 14.5., 3.6., 4.6., 17.00–19.30 (alle 30 min.)

13.5., 14.5., 18.00 15.5., 16.5., 20.00 13.–15.5., 20.30 13.5., 21.00

14.5., 18.00

14.– 18.5., 19.30

16. – 19.5., 20.30

Rede an Europa Eröffnung Ohmmm age Oma je ohomma mama

Eröffnung der Wiener Festwochen (Regie: Hyung-ki Joo, mit Beardyman, Anna-Maria Hefele, Mr. Leu, Marie Spaemann u.v.m.)

Close Encounters

31.5., 1.6., 18.30

Jugendstiltheater

(Anne -Cécile Vandalem / Das Fräulein (Kompanie))

Verwandlung eines Wohnzimmers

31.5., 18.30

MuseumsQuartier, Halle G

(Toshiki Okada / chelfitsch, Dai Fujikura, Klangforum Wien)

Elective Affinities (Moor Mother) 

1.–3.6., 20.30

anschließend Festival Opening Party

Porgy & Bess

Widerstand schreiben

2.–7.6., 20.00

(Lesung und Gespräch: Tsitsi Dangarembga)

Odeon 2.6., 21.00

Pieces of a Woman (Kornél Mundruczó, Kata Wéber, TR Warszawa)

Akademietheater

(Keyvan Sarreshteh)

Theater Nestroyhof Hamakom 4.6., 11.00, 14.00

Semperdepot

(Rugilė BarzdŽiukaitė, Vaiva Grainytė, Lina Lapelytė )

4.– 7.6., 20.30

MuseumsQuartier, Halle G

(Mette Ingvartsen)

5.6., 18.00

Elective Affinities (Dai Fujikura, Jan Bang, Eivind Aarset, Franz Hautzinger) 

anschließend Festival Lounge mit DJ Jürgen Drimal / Superfly

Club U hosted by: Rhinoplasty (20.5.), hosted by: Res. Radio (28.5.),hosted by: Sonic

Porgy & Bess

Territories (3.6.), hosted by: A party called Jack (10.6.), hosted by: Rhinoplasty (17.6.)

7.6., 18.00

Club U

Mémé Theater Nestroyhof Hamakom

(Sarah Vanhee)

8.6., 14.00, 16.00

Museum of Uncounted Voices Odeon

(Marina Davydova)

Theater Akzent

(Simon McBurney / Complicité)

24.–26.5., 20.30

25.5., 18.30

25.–27.5., 20.00

RaDeschnig, David Scheid, Stefanie Sourial, Toxische Pommes, Lea Blair Whitcher)

27.5., 29.5., 31.5., 2.6., 4.6., 6.6., 19.00

Guided by Artists: Maxime Pascal

Wohnung Alban Berg

(Stadttour auf den Spuren von Alban Berg)

Metropol

Stadtkino im Künstlerhaus

Theater Akzent

(Tomi JaneŽič)  Talk: Iris Fink, Angie Ott, Alexa Oetzlinger, Antonia Stabinger, Toxische Pommes

Jugendstiltheater

Talk Marina Davydova, Mikheil Charkviani und Bence György Pálinkás

Metropol

Singing Youth (Judit Böröcz, Bence György Pálinkás, Máté Szigeti)

Schauspielhaus

La Obra / Das Stück (Mariano Pensotti / Grupo Marea)

Jugendstiltheater

Elective Affinities 21.00: Agnes Hvizdalek (Solo), Jakob Schneidewind (Solo) 

22.30: Festival Lounge mit PNØ live, Inou Ki Endo

Porgy & Bess Volkstheater

 Guided by Artists: Böröcz, György Pálinkás und Szigeti

Allianz Stadion

Das Kind MuseumsQuartier, Halle G

(Afsaneh Mahian, Naghmeh Samini)

Widerstand schreiben (Vortrag: Naghmeh Samini)

MuseumsQuartier, Halle G

Widerstand schreiben (Performative Lesung: Christina Morales mit María Galindo)

Schauspielhaus

Donaupark, Sparefroh-Spielplatz

Guided by Artists: Doris Uhlich Kunsthistorisches Museum

(Ausstellung „Nackte Meister“)

A Day Is A Hundred Years (Jozef Wouterz)

Odeon

Exodus

9.6., 21.00

12.6., 13.6., 19.00

Canti di Prigionia / Gesänge aus der Gefangenschaft (Matija Ferlin, Goran Ferčec, PHACE, Cantando Admont)

brut nordwest

Dédé Vania

13.–15.6., 20.30

brut nordwest

Elective Affinities (Beatrice Dillon, Kuljit Bhamra) 

Film & Talk mit Sarah Vanhee

Porgy & Bess

anschließend Festival Lounge mit DJ Shantisan / Superfly

Extinction / Auslöschung (Julien Gosselin / Si vous pouviez lécher mon cæur, MuseumsQuartier, Halle E

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz)

Song of the Shank (Stan Douglas, George Lewis, MuseumsQuartier, Halle G

Jeffrey Renard Allen, Ensemble Modern)

Odeon

14.6., 18.30

Antigone im Amazonas

 Talk: Stan Douglas, George Lewis und Jeffery Renard Allen

Depot – Kunst und Diskussion

The Confessions

Burgtheater

14.– 17.6., 19.30

Stina Force (1.6., 22.00), KrÔÔt Juurak (4.6., 20.00), Eisa Jocson (8.6., 22.00), Danielle Pamp (11.6., 20.00), Luca Bonamore & Lau Lukkarila (15.6., 22.00), KDM Königin der Macht (18.6., 20.00) Franz Josefs Kai 3

14.–16.6., 20.30

Contes et légendes / Märchen und Legenden

15.6., 16.6., 19.00

Creation 2023 (Anne Teresa De Keersmaeker / Rosas, Meskerem Mees,

26.5., 21.00

Burgtheater

(Devonté Hynes, Big Island Orchestra)

9.–11.6., 20.00 (Mikheil Charkviani)

COMISH (mit Jean-Philippe Kindler, Malarina, Erin Markey, Maria Muhar,

(Milo Rau) 25.5., 28.5., 1.6., 4.6., 8.6., 11.6., 15.6., 18.6.

MuseumsQuartier, Halle G

Selected Classical Works

7.6., 20.00, 8.6., 9.00,  melancholic ground 9.6., 20.00, 10.6., 9.00 (Doris Uhlich)

8.–10.6., 20.30

24.5., 20.00

(Susanne Kennedy, Markus Selg)

3., 4.6., 17.00 Pinocchio 5.6., 10.00 (Wu Tsang / Moved By the Motion, ab 7 Jahren)

Timescape

Drive You Plow Over The Bones of the Dead 22.–26.5., 20.00 24.5., 31.5., 7.6., 20.00

ANGELA (a strange loop)

30.5.–1.6., 19.30 (Calixto Neto)

Parlament Österreich

Kingdom

Skatepark

22.5., 23.5., 24.5., 26.5., 27.5., 17.00, 21.00

30.5., 11.00, 14.00

Rathausplatz

Spielstätte

Feijoada

(Anna Rispoli)

19.5., 20.5., 20.00 21.5., 15.00

21. –23.5., 25.5., 20.00, 26.5., 18.00

29.5., 20.00

Kunsthalle Wien

Sun & Sea

20.5., 28.5., 3.6., 10.6., 17.6., ab 21.00

Judenplatz

(Laure Prouvost) Ausstellungsdauer: 12.5. – 1.10.

19.–23.5., 18.30, 19.30, 20.30

19.5., 21.00

28.5.–1.6., 20.00

(Oleksandra Matwijtschuk) 

Stücktitel

Spielstätte

Club Liaison Karo Preuschl (25.5., 22.00), Jen Rosenblit (28.5., 20.00),

Elective Affinities (Maurice Louka) 

anschließend Festival Lounge mit DJ Monsieur Smoab / Superfly

Porgy &Bess

Lulu (Marlene Monteiro Freitas, Maxime Pascal, ORF Radio-Symphonieorchester Wien)

Festwochen Service +43 1 589 22 22 service@festwochen.at

MuseumsQuartier, Halle E

Karten online & telefonisch + 43 1 589 22 11 www.festwochen.at

Bis 11. Mai: Mo–Fr, 10–17 Uhr. Ab 12. Mai: täglich 10–19 Uhr

16.6., 21.00 19.–21.6., 20.00

Volkstheater

(Alexander Zeldin)

Odeon

(Joël Pommerat)

Jean-Marie Aerts, Carlos Garbin)

Volksoper

Elective Affinities (serpentwithfeet) 

anschließend Festival Lounge mit Dj Jürgen Drimal / Superfly

Sibyl (William Kentridge)

Porgy & Bess MuseumsQuartier, Halle E

Tageskassen Tageskasse: Lehárgasse 3a, 1060 Wien: Mo-Sa, 10-18 Uhr Tageskasse MuseumsQuartier, Foyer Halle E+G: tägl. 10-18 Uhr Museumsplatz 1, 1070 Wien ABENDKASSE Ab einer Stunde vor Vorstellungsbeginn


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