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Eine Million Menschen lebt multilokal

In Österreich liegen die größten Unterschiede zwischen Stadt und Land in der Mobilität

Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts lebten weltweit mehr Menschen auf dem Land als in Städten. Seit 2008 ist das anders. Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge wohnen 57 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, 2030 soll der Anteil bei sechzig Prozent, 2050 bei knapp mehr als zwei Dritteln liegen. Dieser Anteil ist in Deutschland mit 77 Prozent bereits überschritten. In Österreich liegt er bei 58,75 Prozent und steigt seit 2010 (57,4 Prozent) stetig, aber sehr gemächlich an.

Das Phänomen der Landflucht konnte in vielen Landesteilen Österreichs in Grenzen gehalten werden. Martin Heintel vom Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien erklärt dies vor allem mit der kleinen Fläche des Landes und der damit in der Regel ganz guten Erreichbarkeit höherrangiger Zentren. Wobei er eine differenzierte Sicht des Phänomens „Land“ einfordert: „Es gibt den ländlichen Raum nicht. Ein stadtnaher ländlicher Raum sieht anders aus als ein peripherer oder ein wirtschaftlich monostrukturierter Raum, dessen Fläche primär agrarisch oder industriell genutzt wird. Nicht einmal die Grenzregionen performen gleich. Die Performance hängt von der Distanz sowie den Verkehrsanbindungen zu einem Zentrum oder der Landeshauptstadt ab. So sieht’s vermutlich im inneren Lungau schlechter aus als etwa im Weinviertel.“ Diese periphereren Gegenden scheinen sich nicht nur geografisch von den Städten zu entfernen.

Der Gegensatz zwischen Stadt und Land wird krasser

„Die in allen Lebensbereichen zunehmende Polarisierung der Gesellschaft äußert sich auch im Gegensatz zwischen Stadt und Land“, sagt Peter Zellmann, Leiter des Wiener Instituts für Freizeit und Tourismusforschung (IFT). „Wir bewegen uns diesbezüglich keineswegs aufeinander zu, wie das viele gern hätten, sondern werden immer unterschiedlicher.“ Am fehlenden Ausgleich sei die für die Rahmenbedingungen verantwortliche Politik schuld. „Wir haben schon vor zwanzig Jahren nicht nur aus touristischer Sicht gewarnt: Vergessen Sie den ländlichen Raum nicht! Doch ist er immer weiter ausgedünnt worden – bei Schulen, Apotheken, niedergelassenen Ärzten und öffentlichen Verkehrsanbindungen. Ein sträfliches Versäumnis, in diesem Fall, muss man wohl sagen, der Landespolitik, aber auch der Gemeindepolitik, dass man diesen Entwicklungen, die sich über Jahrzehnte abgezeichnet haben, kein Augenmerk geschenkt hat, weil man nur von Wahl zu Wahl denkt.“

Am augenfälligsten tritt der Unterschied zwischen Stadt und Land in der Mobilität zutage: Während in größeren Städten öffentliche Verkehrsnetze stetig verdichtet werden, kann man auf dem Land ohne Auto praktisch nicht existieren.

TEXT: BRUNO JASCHKE

„Es gibt den ländlichen Raum nicht. Die Performance ist überall anders“

MARTIN HEINTEL, REGIONALFORSCHER, UNIVERSITÄT WIEN

Peter Zellmann, Institut für Freizeit- und Tourismusforschung, Wien

Thomas Knoll, Landschaftökologe und Präsident der ÖGLA, Wien Der Ausbau des Radwegenetzes ist gerade auf dem Land nötig

„Der öffentliche Verkehr im ländlichen Raum kann noch deutlich besser werden. Besonders die Frequenz und Qualität an den Achsen sowie Angebote in den Ortschaften sind möglich und durchaus umsetzbar“, konstatiert Thomas Knoll, Landschaftsökologe und Präsident der Österreichische Gesellschaft für Landschaftsarchitektur (ÖGLA). Er räumt aber ein, dass eine geringe Siedlungsdichte der Angebotsvielfalt Grenzen auferlegt. Umso wichtiger findet Knoll den Ausbau des Radwegenetzes gerade auf dem Land, um Anschlüsse zum öffentlichen Verkehr herzustellen. „Auch Homeoffice wirkt sich auf den ländlichen Raum günstig aus, wo die Wohnflächen etwas größer als in Städten sind. Schon ein Tag weniger Pendeln pro Woche stellt einen hohen Beitrag zur Lebensqualität dar.“

Regionalforscher Heintel sagt dazu: „Wenn wir uns die nächsten zehn Jahre anschauen, wird sich sehr viel punktgenau entwickeln. Für einzelne Regionen werden relevante Mobilitätsangebote bereitgestellt, aber es wird nicht unbedingt der klassische öffentliche Anbieter sein, der jede Stunde fährt. Es wird zielgruppenspezifische Angebote geben, Abrufangebote, Angebote zu bestimmten Zeiten, und das Angebot wird wesentlich flexibler sein als jetzt.“

Entscheidend für die Mobilitätsversorgung am Land sei eine gesamthafte Verknüpfung von den ÖBB bis zum SharingAngebot auf der letzten Meile. „Es geht ja weniger darum, wie ich nach St. Pölten komme, sondern wie ich von St. Pölten nach Kochholz oder Annaberg komme. In diese Richtung werden neue Angebote entwickelt werden. Einige Regionen werden es besser machen, andere nicht so gut und wieder andere gar nicht. Das Ganze hängt stark von Ideen, Personen und Gemeinden ab. Wer gute Ideen hat, wird sich entwickeln können. Je mehr in kooperativen Verbünden erarbeitet wird, umso besser wird es gelingen.“ Heintel sieht in der bislang gesetzlich noch nicht verfassten Einheit „Region“ großes Zukunftspotenzial.

Regionen als ländliche Einheiten der Zukunft

In einigen Regionen Österreichs sinkt die Einwohnerzahl. Landschaftsökologe Knoll nennt das nördliche Waldviertel als Beispiel, relativiert aber: „Es gibt jedoch auch ermutigende Zeichen der erhöhten Nachfrage nach Wohnobjekten in diesen Regionen. Interessanterweise kommt es in extrem erfolgreichen Tourismusgemeinden wie Serfaus zu Einwohnerverlusten. Hier führen auch die hohen Lebenshaltungskosten zur Abwanderung.“ Eine breite Entvölkerung hat bisher nicht stattgefunden. Knoll schreibt dies auch der von Peter Zellmann gescholtenen Regionalpolitik zu: „Zumindest ist es klarer politischer Wille, die Besiedlung aller Dauersiedlungsräume im Land zu erhalten. Der Prozess ist jedoch eine Volksabstimmung mit den Füßen. Richtung Zentralräume. Das muss aber nicht die Landeshauptstadt sein. Oft gelingt es, die Abwanderung im nächsten größeren Bezirksort zu stoppen. So kommt es zu einem Wachstum in Orten wie Horn oder Amstetten.“

Der Trend läuft in Richtung ländlichem Raum – was bedeutet das?

Momentan zeige der Trend laut Knoll in Richtung ländlichem Raum: „Die Möglichkeiten der Eigentumsbildung sind hier etwas besser als in der Stadt.“ Regionalforscher Heintel ergänzt, nicht zuletzt die Pandemie habe ländliche Räume aufgewertet, vor allem aber ein Phänomen, das er „Multilokalität“ nennt. „In Österreich lebt schon über eine Million Menschen multilokal, also an unterschiedlichen Orten. Fragmentierte Familienverhältnisse, neue Arbeitszeitmodelle, nicht zuletzt die Digitalisierung und letztendlich neue Lebensstile führen dazu, dass mehrere Standorte gleichzeitig genutzt werden – sowohl in der Stadt als auch am Land. Das wurde auch durch die Pandemie forciert. Jeder, der sich’s leisten kann, nutzt mehrere Möglichkeiten. Aber auch viele, die gezwungen sind, weil sie sich das Wohnen in Wien nicht mehr leisten können, wohnen am Land, arbeiten aber in Wien.“

Peter Zellmann kann dieser Entwicklung wenig abgewinnen: „Ich sehe das SUV vor mir in der Draschestraße im 23. Bezirk. Die Türen öffnen sich, zwei Kinder steigen aus und gehen in die Schule, das SUV fährt weiter und bringt den Papa ins Büro. Und dann werden sie wieder abgeholt. Kinder aus Baden oder Mödling, die in Wien in die Schule gehen, nicht in Mödling, wo es ja auch Gymnasien gibt. Weil Vater und Mutter in Wien arbeiten, nehmen sie die Kinder gleich mit – und mit einer Pendlerfahrt ist alles erledigt. Das ist nicht die Ausnahme, das ist in den Randbezirken die Regel: Fünfzig Prozent der Schulkinder kommen nicht aus dem Sprengel. Menschen, die dort wohnen, empfinden das als grobe Ungerechtigkeit: Mehr Verkehr, und der Parkplatz wird ihnen weggenommen.“

Um Ressentiments nicht weiter wachsen zu lassen, empfiehlt er: „Wir sollten in Umweltfragen Stadt und Land verknüpfen. So sehen wir, dass wir alle in derselben Welt leben. Es ist ein langer Prozess, bis ich erkenne: Eigentlich hat der Städter nicht wesentlich andere Bedürfnisse als der Landbewohner. Allerdings ist die Entwicklung der letzten zwei Generationen dahin gegangen, dass sich ihre Lebenslagen immer weiter voneinander entfernt haben. Wir brauchen den Bauern, und wir brachen den AppEntwickler. Ohne den einen wie den andern kann die Gesellschaft nicht funktionieren. Aber wir spielen zunehmend die einen gegen die anderen aus.“