Bücher-Frühling 2022

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FALTER

Nr. 11a/22

Bücher-Frühling 2022 84 Bücher auf 48 Seiten

ILLUSTRATION: SCHORSCH FEIERFEIL

Belletristik: Ein Interview mit dem russischen Schriftsteller Vladimir Sorokin +++ Bücher zum Thema Krieg und Rassismus +++ Neues aus Österreich +++ Ungarn, Polen, Kasachstan et al. +++ Kinderbuch: Das pralle Leben in Geschichten und Bildern +++ Sachbuch: Mensch und Natur, ein schwieriges Verhältnis +++ Reaktionäres Denken +++ Zeitgeschichte +++ Mehr Geld, aber nicht weniger Mangel +++ Sex im 21. Jahrhundert +++ Die Geburt der Mode

Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien, WZ 02Z033405 W Österreichische Post AG, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien, laufende Nummer 2842/2022


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INHALT

FALTER 11/22 Lucy Fricke

Klaus Nüchtern ist für die schöne Literatur zuständig

s wird dann oft als „aktuell“ oder „prophetisch“ E apostrophiert, aber die auffällig vielen Romane zum Thema Krieg wären so oder so erschienen. „Ras-

sismus“ bleibt leider ein Dauerthema, und die Konjunktur der Dystopien reißt nicht ab. Belletristischer Feelgood-Frühling wird das keiner mehr, tut mir leid.

Gerlinde Pölsler betreut das Sachbuch und das Kinderbuch

sich der Mensch innerhalb der Natur? Debatten regt Amia Srinivasan mit ihrem „Recht auf Sex“ an, und zeithistorische Bücher rücken manche Sage zurecht.

K INDER- UND JUGENDBUCH

AUFMACHER Die Britin Natasha Brown und Damon Galgut aus Südafrika befassen sich mit dem Thema Rassismus

Bilderbuch 4–5

PAR DON MY FR ENCH

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MAN SCHREIBT DEUTSCH „Rombo“, Esther Kinskys Erdbebenbuch Andrea Roedig: „Man kann Müttern nicht trauen“

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… AUCH IN ÖSTERREICH Sabine Scholl schreibt über Frauen im Krieg Evelyn Schlag: „In den Kriegen“ „Regenbogenweiß“ von Friederike Gösweiner „Zebra im Krieg“ von Vladimir Vertlib Verena Roßbacher: „Mon Chéri …“ Teresa Präauer erinnert sich an die Zeit als „Mädchen“ Mareike Fallwickel über „Die Wut, die bleibt“

11 12 12 13 13 14 14

IN ENGLISH, PLEASE

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BLICK NACH OSTEN

Auch Szczepan Twardoch erzählt vom Krieg Katerina Poljadan vernimmt „Zukunftsmusik“ „Wunderkind Erjan“ von Hamid Ismailov Andrea Tompa über Rumäniens „Omertà“ Erich Klein im Gespräch mit Vladimir Sorokin Orhan Pamuk über „Die Nächte der Pest“ Fertig: Die Georgien-Trilogie von Nino Haratischwili DYSTOPIEN

Marie Gamillscheg Friederike Gösweiner Vladimir Vertlib

Unglück, Mut, Glück – das wahre Leben halt

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Lebensstile, Haustiere und Märchen von E.T.A. Hoffmann

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Leben mit Asperger, Familiengeheimnisse und die Liebe

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Kinderbuch

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Sebastian Fasthuber über „Spyderling“, „Die Wölfe von Pripyat“ und „Zeitflucht“ – dystopische Romane von Sascha Macht, Cordula Simon und Georgi Gospodinov 24

SACHBUCH Ökologie „Stumme Erde“, „Das Schweigen der Frösche“

und „Von Okapi, Scharnierschildkröte und Schnilch“ Ökologie Wie der Mensch die Natur für immer verändert Ökologie Über den inneren Umweltschweinehund Kulturgeschichte Warum essen Menschen Tiere? Medizin Was dürfen wir von der Messenger-RNA erwarten? Philosophie Die lange Geschichte reaktionären Denkens Philosophie Voltaire, der widersprüchliche Aufklärer Philosophie Die Rehabilitation Friedrich Nietzsches Kulturgeschichte Die Medienrevolution zur Zeit Luthers Physik Auf dem Weg zum Innersten der Welt Biografie Der jüdische Rüstungsindustrielle Fritz Mandl Historie Michael Wildts „Zerborstene Zeit“ über deutsche Geschichte 1918–1945 Biografie Die Wandlungen des Theodor Herzl Historie Leni Riefenstahls Kameramann Hans Ertl: Eine deutsche Geschichte in Bolivien Mobilität Katja Diehl fordert eine gerechte Verkehrswende Volkswirtschaft Hans-Werner Sinn warnt vor Inflation Volkswirtschaft Immer mehr Geld, nicht weniger Mangel Kulturgeschichte Was im Bett schon alles geschah Feminismus Katja Kullmann über „Die Singuläre Frau“ Feminismus Amia Srinivasans „Das Recht auf Sex“ Rassismus Ex-Fußballstar Lilian Thuram entlarvt „weißes Denken“ Gesellschaft Karl-Markus Gauß und seine „Jahreszeiten der Ewigkeit“ Kulturgeschichte Die Geburtsstunde der Mode Lebenskunst Über die Kraft der Begegnung Garten Fünf schöne Bücher für den Garten-Gusto Kochen Armin Thurnher stellt neue Kochbücher vor

Daniel Wisser

Fiston Mwanza Mujila

Helena Adler

30 32 32 33 33 34 35 35 36 36 37 38 38 39 39 40 40 41 41 42 43 43 44 44 45 46

Harald Martin Monika Lesch Herrmann Helfer KarlMarkus Gauß Dacia Erich Maraini Heinz P. Hackl Wassermann

Michael Köhlmeier Barbara Vinken Florian Labitsch

Unru bewah he ren Markus Haller Trisha Radda

FOTOS: KATHARINA GOSSOW, REGINE SCHÖTTL

Ulrike Haidacher

Leidenschaft für Grant und Schmäh gut aufgehoben weiß. Dem FALTER ist er seit vielen Jahren zeichnerisch eng verbunden. Zudem ist er stolzer Besitzer einer eigenen Homepage: www.schorschfeierfeil.com IMPRESSUM Falter 11a/22 Herausgeber: Armin Thurnher Medieninhaber: Falter Zeitschriften Gesellschaft m.b.H., 1011 Wien, Marc-Aurel-Str. 9, T: 01/536 60-0, F: 01/536 60-912, E: wienzeit@falter.at Redaktion: Klaus Nüchtern, Gerlinde Pölsler Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.; Layout: Barbara Blaha, Reini Hackl, Andreas Rosenthal; Korrektur: Helmut Gutbrunner, Patrick Sabbagh, Rainer Sigl; Geschäftsführung: Siegmar Schlager; Anzeigenleitung: Sigrid Johler Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 MG ist unter www.falter.at/offenlegung/falter ständig abrufbar Bücher-Frühling ist eine entgeltliche Einschaltung aufgrund einer Subvention durch das Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport.

Aleš Šteger

Mario Schlembach

Egon Christian Leitner

Die Plattform

Kerstin Hatzi Boris Miedl

Kathrin Liess

David Sarah Samhaber Anna Fernbach Severin Agostini Klaus Lederwasch

Da Wastl

Mario Tomić

Julya Rabinowich

Lucia Valerie Leidenfrost Fritsch

Schorsch Feierfeil ist Illustrator, Grafiker und Animationsfilmemacher. Er lebt und arbeitet in Wien, wo er seine

Franz Nabl- Preis

Raphaela Edelbauer

Stefan Kutzenberger

Manfred Mixner

I L L U S T R AT I O N E N

Anna Baar

László Krasznahorkai

Christiane Rösinger

Jugendbuch

Fiston Mwanza Mujilas Roman „Der Tanz der Teufel“ Emmanuel Carrère meditiert und macht „Yoga“ „Serge“ von Yasmina Reza Delphine de Vigans Krimi „Die Kinder sind Könige“

Wieder zu entdecken: der Australier Gerald Murnane Fran Lebowitz, Kultkolumnistin

Alois Brandstetter

ein Zwitschern, kein Summen. Nichts rührt sich. K Das Verschwinden von Arten ist das große Thema dieses Frühlings – und die Frage: Wie positioniert

L I T E R AT U R

Kathrin Röggla

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Scienc mee e Poetrtys

Matthias Politycki

Benjamin Quaderer

Markus Köhle

Martin Puntigam

Frühjahr/Sommer 2022


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nerschrocken, originell und wahrhafU tig.“ „Ebenso schön wie niederschmetternd.“ „So atemberaubend anmutig wie schonungslos wahrhaftig.“ „Diamant-scharf, zeitgemäß und dringlich.“ Ein adjektivischer Platzregen des Lobes begleitete das Erscheinen von Natasha Browns „Assembly“, das in Großbritannien als bedeutendstes Debüt des Jahres 2021 gefeiert und wiederholt mit Virginia Woolfs Stream-of-Consciousness-Klassiker „Mrs. Dalloway“ verglichen wurde. Kein schlechtes Entrée für ein Debüt, das es im englischen Original gerade einmal auf 100 Seiten bringt. Aber selbst auf diesem knappen Raum, so konzedierte eine Kritikerin, gelänge es diesem „kraftvollen und präzisen“ Buch, mehr von der Last der kolonialen Hypothek des Vereinigten Königreiches zu vermitteln als so manch dreimal so dickes Buch. „Nein, ich meine ursprünglich. Also deine Eltern, wo die herkommen. Afrika, oder?“ Es ist die klassische „Wo kommst du eigentlich her?“-Frage, angesichts derer sich ein nur skizzenhaft charakterisierter Mann, der seit fünf Jahren im Land ist, seine Steuern zahlt und bei der Fußball-WM für England jubelt, entmutigt und alles andere als willkommen fühlt. Bevor sie als Schriftstellerin reüssierte, hat Na-

tasha Brown Mathematik in Cambridge studiert und danach zehn Jahre im Finanzdienstleistungssektor gearbeitet. Und auch ihre namenlose Protagonistin hat allem Anschein nach eine beeindruckende und einträgliche Karriere hingelegt. Das bewahrt sie freilich keineswegs vor plattem Alltagsrassismus, sexistischen Übergriffen oder dem Verdacht, dass sie als Person of Colour ihre Beförderung vielleicht doch nur der Diversitätspolitik des Arbeitgebers verdankt. Statt einer zusammenhängenden Erzählung wartet Browns Debüt mit einer Abfolge von Szenen, Kommentaren, Beobachtungen, Dialogen, Bildbeschreibungen und Zitat-Montagen auf. Das Fragmentarische und Kaleidoskopartige des Textes wird durch eine ganze Reihe typografischer, recht manieriert anmutender Eigenheiten – Zei-

LITERATUR

Vier Todesfälle und eine Hochzeit Natasha Brown und Damon Galgut verhandeln ethnische und Klassenkonflikte im London der Gegenwart beziehungsweise dem Südafrika der letzten 30 Jahre auf höchst unterschiedliche, aber beeindruckende Weise REZENSION: KLAUS NÜCHTERN ILLUSTRATION: GEORG FEIERFEIL

lenbruch und Leerzeilen, Kursivierungen, Fußnoten et cetera – noch betont. Warum all das einen Roman ergeben soll, weiß wohl nur der Suhrkamp Verlag, der das Buch mit dieser, im Original nicht vorhandenen Genrebezeichnung versehen hat. Der Titel wurde mit „Zusammenkunft“ übersetzt, wobei die Mehrdeutigkeit von „Assembly“ notwendig auf der Strecke bleibt, steht der Begriff im Englischen doch unter anderem auch noch für „Montage“. Und um den mehr oder weniger desperaten

Versuch, sich eine Identität zusammenzubasteln und einen Platz in der Gesellschaft zu erobern, geht es in Browns Buch ganz wesentlich. „Scheiß auf den Sexismus – mach ihn dir zu Nutze!“, meint etwa Rach, die als „klein, verzogen, energiegeladen“ beschriebene Freundin der Ich-Erzählerin, die Rachs Appetit auf „eine größere Wohnung, einen besseren Freund, mehr Geld“ gleichermaßen beängstigend und bewundernswert findet; und die ihrerseits die allerbesten Aussichten auf die genannten Dinge hat, stammt ihr Boyfriend doch aus einer Familie, die nicht bloß vermögend ist, sondern über altes Geld, Einfluss und den entsprechenden Habitus verfügt. Die Love Story, wenn man sie denn so nennen möchte, bildet auch den einzigen einigermaßen elaborierten Erzählfaden, der bis in die gemeinsame Studienzeit zurückführt: „Mein Stil, mein Auftreten, mein leicht affektierter City-Akzent, all das hat ihn angezogen. Er konnte die Person sehen, die ich da erschuf. Und er witterte eine Gelegenheit. […] Absichtlich-zufällig stieß er auf einem Dachterrassen-Barbecue in einem umgebauten Lagerhaus in Stepney mit mir zusammen. Dann kam die ganz dick aufgetragene Hugh-Grant-Charmeoffensive, während wir warmen, fruchtigen Pimm’s aus Einweckgläsern nippten. Hinter ihm erhob sich glitzernd und seufzend Canary Wharf, wunderschön.“ Klingt ein bisschen so, als hätte Pierre Bourdieu „Bright Lights, Big City“ geschrieben, und wenn es darum geht, die feinen und nicht ganz so feinen Unterschiede zwischen Menschen in Hinblick auf class, gen-


LITERATUR

der und race auf engstem Raum ebenso sinnlich wie sarkastisch zu erfassen, ist Natasha Brown nichts weniger als brillant. Wie die Schwiegermama in spe während der „Gartenparty“ – eine Anspielung auf Katherine Mansfields berühmte Short Story „The Garden Party“, in der Klassengegensätze ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen? – ihren Toast und Tee zu sich nimmt, ist ein Highlight von „Zusammenkunft“. Über ihre Protagonistin hat die Autorin freilich – spoiler alert! – nicht nur eine Krebserkrankung, sondern auch gleich noch die düstere Einsicht verhängt, dass dagegen anzukämpfen sich nicht lohnt, weil ohnedies alles aussichtslos, ein falsches Versprechen, ein sinistrer Trick eines Empire ist, in dem Menschen wie sie niemals einen Platz finden werden. Angesichts dieses Selbstentmächtigungsnarrativs ist man geneigt, dem zynischen Aufsteigerethos Rachs recht zu geben: „Die Opferrolle ist eine Entscheidung.“ Einen bösen Blick wird man auch Damon Gal-

guts Roman „Das Versprechen“ nicht absprechen können; politischen Nihilismus aber kann man ihm bei aller Illusionslosigkeit, mit der hier die in Südafrika herrschenden Verhältnisse über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten dargestellt werden, nicht nachsagen: Man kann die Veränderungen zum Positiven nicht einfach leugnen, aber auch nicht abstreiten, dass sie zäh genug erkämpft wurden. Anschaulich gemacht wird das mithilfe der altbewährten Methode, historische und soziale Auseinandersetzungen in den vermeintlich privaten und persönlichen Beziehungen widerzuspiegeln. Damon Galgut greift dabei auf das klassische Konzept des Familienromans zurück und kehrt dabei das Schema einer bekannten Romantic Comedy um: „Four Weddings and a Funeral“ verwandelt „The Promise“ in „A Wedding and Four Funerals“ – wobei die Hochzeit, ehrlich gesagt, vernachlässigenswert ist. Und weil dieser erfahrene Autor, der bereits zweimal für den Booker Prize nominiert war, ehe ihm dieser 2021 für „Das Versprechen“ endlich zugesprochen wurde,

auch ein Händchen fürs Satirische hat, verleiht er den tragischen Ereignissen – Krankheit, Unfall, Mord und Suizid – immer auch eine komische Seite. Diese manifestiert sich unter anderem in konfessionellen Kabalen: Sei’s das eine Mal, weil Rachel Swarts kurz vor dem Ableben ihr Judentum wiederentdeckt hat, was den niederländisch-reformierten Witwer ziemlich magerlt; sei’s das andere Mal, weil sich Gattin und Schwiegermutter über die spirituelle Entsorgung des Verblichenen uneins sind: „Maman selbst tendiert zu einem calvinistischen Begräbnis, damit kann man nichts falsch machen, und ein strenges Ritual hat immer etwas Endgültiges. Doch ihre Tochter sieht das anders, sie ist der Meinung, dass die Seele ihres Mannes von einem eher östlichen Ansatz stärker profitieren würde.“ Das pietöse Gerangel wird allerdings durch den letzten Willen des Verstorbenen unterlaufen, der festhält: „1. Keine religiöse Trauerfeier. Unter keinen Umständen Gebete. 2. Feuer- statt Erdbestattung. 3. Die Kapelle im Krematorium tut’s auch.“ Der sarkastisch-beschwingte Ton mancher Passagen kann freilich über die Ernsthaftigkeit des Romans nicht hinwegtäuschen. Dessen Titel verweist auf das Versprechen, das Rachel ihrem Mann Manie auf dem Totenbett abnimmt; dass nämlich das sogenannte „Lombard-Haus“ nach ihrem Ableben in den Besitz der schwarzen Dienstbotin Salome übergehen möge. Neben dem Ehepaar weiß nur die jüngste, gerade 13-jährige Tochter der Swarts’, Amor, von diesem Versprechen, von dem sie Salome auch erzählt. Ihr wird es, so der Running Gag des Romans, für die nächsten Jahrzehnte aufgetragen sein, dem wortbrüchigen Vater, ihren Geschwistern Astrid und Anton sowie dem Rest der Familie, die von dem Versprechen alle nichts wissen wollen, auf die Nerven zu fallen. Der Roman könnte auch den Titel „Der Niedergang des Hauses Swarts“ tragen. Darin ist Amor, die dem Reichtum ihrer Sippe entsagt und Pretoria verlässt, um als Schwester auf einer HIV-Station zu arbeiten, so ziemlich die einzige Sympathieträ-

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gerin und außerdem die Einzige, die Salome nicht als Domestiken behandelt, sondern ein emotionales Naheverhältnis zu dieser unterhält. Glücklich ist Amor so wenig wie alle in der Familie: Anton, der als blutjunger Soldat eine Schwarze erschossen hat, die einen Stein auf ihn warf, müht sich erfolglos mit seinem Roman, verfällt zusehends dem Alkohol und wird von seiner Frau betrogen; so wie auch Astrid zwischen dem Bett ihres Geliebten, dem (schwarzen) Geschäftspartner ihres vermögenden Gatten, und dem Beichtstuhl hin und her wechselt, in dem ihr der zusehends genervte Priester schließlich die Absolution verweigert. Im Unterschied zu Anton und Amor, denen

Natasha Brown: Zusammenkunft. Aus dem Englischen von Jackie Thomae. Suhrkamp, 114 S., € 24,60

Damon Galgut: Das Versprechen. Roman. Aus dem südafrikanischen Engl. von Thomas Mohr. Luchterhand, 366 S., € 24,95

durchaus tragische Tiefe zugestanden wird, bleibt die ehebrecherische und ängstliche Astrid trotz des ihr beschiedenen grausamen Schicksals eher zweidimensional; ja, das Figurenensemble bleibt insgesamt recht heterogen. Umso beeindruckender ist die Eleganz und Souveränität, mit der der Erzähler zwischen den einzelnen Personen hin und her driftet, in diese hineinschlüpft, um dann von der Innenperspektive wieder schlagartig in die Totale und den auktorialen Modus zu wechseln. Bestechend auch, wie der gesellschaftliche Wandel auf sparsame, aber eindringliche Weise in Szene gesetzt wird: etwa wenn die Familie Sorge tragen muss, dass das aktuell anstehende Begräbnis terminlich nicht mit dem Rugby-Finale kollidiert, in dem die südafrikanischen Springboks am 24. Juni 1995 die All Blacks aus Neuseeland schlagen. Der historische Moment, dem Clint Eastwood mit seinem Film „Invictus“ ein berührendes Denkmal gesetzt hat, hinterlässt auch auf der Farm der Swarts’, wo „eine sonderbare Atmosphäre, eine ungute Mischung aus Schwermut und Begeisterung“ herrscht, seine Spuren: „Aber dann wird es doch noch besser. Als Mandela im grünen Springbok-Trikot Francois Pienaar den Pokal überreicht, also, das ist der Wahnsinn. Das ist göttlich. Der bullige Boer und der alte Terrorist reichen sich die Hand. Nein, so was. Meine Herren.“ F


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LITERATUR

Die Bierzischer von Lubumbashi Fiston Mwanza Mujila zieht in seinem furios-surrealen Roman „Tanz der Teufel“ alle Sprachregister seines Könnens as Getümmel in brodelnden, rappelD vollen Musikbars hat es dem in Graz lebenden gebürtigen Kongolesen Fiston

Mwanza Mujila offenbar sehr angetan. „Tram 83“ hieß sein von der Kritik gefeierter Debütroman, der das ungebärdige, sexuell aufgeladene Treiben in einem fiktiven, gleichnamigen Jazzlokal in den Mittelpunkt des Geschehens rückte. In seinem neuen Werk mit dem Titel „Tanz der Teufel“ geben sich vergnügungssüchtige „Bierzischer“ zu den Klängen elektrisierender Rumba-Rhythmen in der kongolesischen Metropole Lubumbashi in einem Lokal namens Mambo de la Fête die Kante, als ob’s kein Morgen gäbe. Dort feiern Glückssucher, Tagediebe, Akrobaten, Verrückte und Diamantminenschürfer das – erst durch den Verkauf in Europa in vollem Ausmaß einlösbare – Versprechen von plötzlichem Reichtum so lange, bis von den Träumen des Lebens auf der Überholspur nicht viel mehr übrig ist als der Kater am nächsten Tag. Das Geld und das damit verbundene schnelle Leben im Rausch- und Partymodus locken auch die Klebstoff schnüffelnden Straßenkinder an, die versuchen, ihr Stück vom Kuchen oder zumindest ihren Spaß nach den anstrengenden Behauptungskämpfen gegen sich „Finanzinspektoren“ nennende, konkurrenzierende Kriminelle in der urbanen Wildnis abzubekommen. Dazu gesellen sich noch ein dubioser Geheim-

dienstagent, der Straßenkinder für seine dunklen Machenschaften zur Herrschaftssicherung der Regierung rekrutiert, ein österreichischer Schriftsteller namens Franz Baumgartner, der Stoff für ein Buch sucht und schon mal über Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ doziert, und eine rätselhafte Frau namens Tshiamuena, die sich all jenen zwischen Angola und Japan als göttliche Madonna präsentiert, die an ihre magischen Kräfte glauben wollen. Mujila beschreibt dieses aus Mythen und Wirklichkeit zusammengestellte, zwielichti-

ge Figurenarsenal aus verschiedenen Blickwinkeln. Er wechselt Tonlagen und Ich-Perspektiven. Oft erfreut er sich an der Kunst kreativer Beschimpfungen und Verwünschungen bis in die x-te Generation oder an der länglichen Aneinanderreihung geistesverwandter Ausdrücke. Dann finden sich wieder surreale Einschübe über eine schlussendlich wohl eh nur eingebildete Epidemie der verlorenen Geschlechtsorgane oder politische Revolutionsfantasien, die das Verschwinden des Rathauses durch magische Kräfte erörtern. In anderen Kapiteln fallen Sätze wie aus dem Nichts des plötzlich allwissenden Erzählerhimmels, die den Mann als „außergewöhnliche Lebensform“ beschreiben, denn: „Er ernährt sich von Traurigkeit, als wäre es Brot.“

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Glückssucher, Tagediebe, Akrobaten, Verrückte und Diamantminenschürfer geben sich im Mambo de la Fête die Kante, als gäbe es kein Morgen

„Tanz der Teufel“ steckt voller lustvoll darge-

botener Ungereimtheiten. Sie entsprechen einer komplexen, nicht ohne Widersprüche zu beschreibenden afrikanischen Realität, die kolonial geprägt ist, aber in der Kolonialgeschichte keineswegs aufgeht. In diesem urbanen, modernen Afrika, in dem – man weiß ja nie, wozu es gut ist – magisches Denken manchmal auch eine Option zur Absicherung der Zukunft zu sein scheint, treffen Straßenkinder auf Kindersoldaten. Nur „die Glücklichsten“ sind im Angola-Krieg mit dem Verlust bloß einer Gliedmaße davongekommen. Die Verhältnisse sind von alltäglicher, normalisierter Gewalt, aber auch von sozialen Aufstiegsfantasien und notorischen Prahlereien geprägt. Sie lassen sich nicht auf hoffnungslose Elendsgeschichten über das Leid der Deklassierten reduzieren. Dafür sorgt auch eine bewusst unreine Sprache mir ironischen Ambitionen, die sich nicht scheut, kongolesischen Straßenkindern deutschsprachige Stehsätze in den Mund zu legen: „Lubumbashi ist auch nicht mehr das, was es mal war.“ Der Romanautor im Roman, der weiße Österreicher Franz Baumgartner, den man in nonchalanter konfessioneller Anspielung

Fiston Mwanza Mujila: Tanz der Teufel. Roman. Aus dem Französischen von Katharina Meyer und Lena Müller. Zsolnay, 288 S., € 25,70

bei der Bierbestellung schon auch mal als „Franziskus“ tituliert, hat nicht nur Probleme damit, all den Selbstdarstellungswünschen seines ihm in der Stadt begegnenden, potenziellen Buchpersonals gerecht zu werden; dieses macht sich auch noch Gedanken über die Freiheit der Fiktion beziehungsweise darüber, ob der weiße Autor das Recht hätte, Figuren zu erschaffen, die nicht denselben Erfahrungshintergrund wie er selbst aufweisen. An anderer Stelle werden Weiße in einer Art

Inversion des exotisierenden Blicks auf „die Schwarzen“ mit einem schelmischen Lächeln zu aus dem Meer kommenden Tieren umgedeutet. Diese essen, so erzählt es die Hobbyethnologie aus dem Kongo, absurderweise mit „Metallstäben“ statt mit den Fingern und benehmen sich auch sonst sehr wunderlich, so man sie überhaupt einmal zu Gesicht bekommt. Angesiedelt ist der Roman um 1997, also in jener Zeit, als das berüchtigte Regime des Diktators Mobuto in den letzten Atemzügen lag. Damals hieß Kongo noch Zaire, die innerafrikanischen Wege der Migration folgten trotz des Bürgerkriegs im Nachbarland der Spur des schnellen Reichtums, das die Diamantenfunden in Angola versprachen. Das Geld, das hier keiner länger hat und das ständig durch die Finger rinnt, sorgt in „Tanz der Teufel“ dafür, dass ständig etwas los ist. Es bringt kongolesische Schürfer dazu, Diamanten zu schlucken und sich tagelang nicht zu erleichtern, obwohl angolanische Soldaten sie festnehmen, zwangsernähren und auf wertvolle Ausscheidungen hoffen. Obwohl es Leidenschaften und Energien an sich bindet, wirkt es altmodisch, weil es sich nicht recht zu Kapital verwandeln will, sondern stattdessen in langen Nächten voller Musik verschwendet wird. Darin liegt vielleicht die subversivste Pointe dieses so ungewöhnlichen wie kraftvollen Romans. THOMAS EDLINGER

Bücher

Besser lesen mit dem FALTER Alle zwei Wochen führt die Wiener Buchhändlerin Petra Hartlieb Gespräche mit Autorinnen und Autoren über das Lesen, das Schreiben und das Leben an sich. Alle Folgen auf falter.at/buchpodcast und überall dort, wo Sie Podcasts hören.


LITERATUR

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Meditieren heißt zu pinkeln und zu scheißen Emmanuel Carrères aufwühlender Roman „Yoga“ scheitert am eigenen Wahrhaftigkeitsanspruch – aber auf grandiose Weise lles ist wahr.“ Dieser Satz lieferte den A Titel zu Emmanuel Carrères Roman über den Tsunami in Thailand von 2004. Er

ist Programm. Seit über 20 Jahren fühlt sich der französische Autor auch in seinem fiktionalen Schreiben der Wahrheit verpflichtet und nichts als der Wahrheit. Damit liegt er in einem Trend, in dem etwa auch Annie Ernaux, Karl Ove Knausgård oder Rachel Cusk ein großes Publikum erreichen. Und wer fragt sich nicht heimlich bei jedem Roman, was er damit über den Autor oder die Autorin erfahren hat? Bei dezidiert autobiografischer Literatur erübrigt sich diese Frage, zurück bleiben die Wonnen des Blicks durch das Schlüsselloch. In seinem jüngsten Roman hat Carrère jedoch ein Problem. Er darf nicht alles erzählen, was er erzählen möchte, wie er bekennt: „Dieses Buch muss ich ,mit Falsch‘ schreiben, ich muss manches ein wenig verdrehen, umstellen oder aussparen“, kurz gesagt: „durch Auslassungen lügen“. Herausgekommen ist ein Buch, das zwar die gewohnte Wucht besitzt, dessen Erzählblöcke sich aber nicht zu einem Ganzen zusammenfügen. Das befremdet umso mehr, als es den knalligen Titel „Yoga“ trägt. Und Yoga bedeutet doch Einheit, oder?

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Was ich schreibe, mag narzisstisch und eitel sein, aber ich lüge nicht EMMANUEL CARRÈRE

Die Ursache für das Scheitern des erfolgreichs-

ten Buchs der französischen Herbstsaison 2021 ist die Ex-Frau des Autors, die Journalistin Hélène Devynck. Die Trennung von ihr, so erzählte Autorenfreund Frédéric Beigbeder in einer Radiosendung, sei der Auslöser für den Zusammenbruch Carrères, gewesen, der auch in „Yoga“ geschildert wird. Devynck warf Carrère in der Vanity Fair vor, sich nicht an die Vereinbarung gehalten zu haben, ab sofort nichts mehr über sie zu schreiben. Und, was noch schwerer wiegt: zu lügen. So sei er auf der griechischen Insel Leros nicht alleine gewesen, sondern mit ihr zusammen, und zwar vor seinem Klinikaufenthalt. Im Roman gibt Carrère lediglich zu, die Figur der Federica, einer Liebeskranken mit Helfersyndrom,

Emmanuel Carrère: Yoga. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz, 450 S., € 26,99

mit der er auf Leros Schreibkurse für geflüchtete Jugendliche gibt, nicht tatsachengerecht beschrieben, sondern fiktionalisiert zu haben. Und was hat das alles mit Yoga zu tun? Wer das

Wort Yoga hört, denkt an körperliche Verrenkungen, an Hatha-Yoga. Dieses betreibt Carrère ebenfalls, im Fokus seines Interesses aber steht die Meditation. Im ersten Teil des Buches, in dem der Autor in einem Vipassana-Retreat eincheckt, versucht er sich an mindestens 14 Definitionen. „Alles, was in der Zeit passiert, in der man reglos schweigend dasitzt, ist Meditation“, lautet eine davon. Konkret gehe es darum, eine Instanz in sich zu entwickeln, die den Strudel der eigenen Gedanken beobachtet, ohne ein Drama daraus zu machen. Der Ich-Erzähler Carrère befindet sich in einer bereits zehn Jahre währenden Hochphase seines Lebens und glaubt, dass ein „despotisches Ego“ sein größtes Problem darstellt. Während er auf seinem Meditationskissen sitzt, macht er sich im Kopf Notizen für ein „heiteres und feinsinniges Büchlein“ über Yoga, das auf seiner über 20-jährigen Erfahrung basieren soll. Was er und die 120 anderen Teilnehmer nicht wissen: Zur gleichen Zeit erlebt Frankreich einen der furchtbarsten Terroranschläge seiner Geschichte, das Attentat auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015. Unter den Toten befindet sich ein Freund Carrères, dessen Witwe ihn bittet, die Trauerrede zu halten. Zwei Jahre später, im zweiten Teil des Romans, findet sich der nun knapp 60-Jährige in einer Klinik wieder, in der bei ihm, der schon früher unter Depressionen gelitten hatte, erstmals eine bipolare Störung diagnostiziert wird. Elektroschocks und Psychopharmaka statt Einund Ausatmen. Selbstmordversuche statt Ruhe und Gelassenheit. „Yoga und Meditation steigern nicht nur das Wohlgefühl, sondern sie sind weit mehr als ein Hobby oder Übungen zur Gesundheitsförderung. Sie sind ein Bezug zur Welt,

ein Weg der Erkenntnis, ein Zugang zur Wirklichkeit, der es wert ist, einen zentralen Platz in unserem Leben einzunehmen.“ Aber können sie sich angesichts von Terror, Tod und Trennungen bewähren? Carrère zweifelt, doch dann trifft ihn die Erkenntnis, dass seine psychiatrische Autobiografie und sein Essay über Yoga ein und dasselbe Buch sind, „weil das Krankheitsbild, mit dem ich zu tun habe, die entsetzliche, verkorkste Parodie des großen Gesetzes der Verwandlung ist, dessen Harmonie ich vor etwa dreißig Seiten noch so aufrichtig gefeiert habe“. Ein laut Selbstdefinition „labiler Narzisst“,

der vor den Trümmern seines Lebens steht, scheint „keine besonders gute Werbung“ für Yoga zu sein. „Aber da liege ich falsch: Yoga hat damit nichts zu tun. Das Problem bin ich.“ Für den Gebeutelten bleibt Yoga, wenn auch keine Lösung, so doch ein Weg. Es hilft ihm zu überleben, indem er seine Yoga-Definitionen bei seinem Aufenthalt auf Leros noch einmal vereinfacht: „Meditation heißt, zu pinkeln und zu scheißen, wenn man pinkelt und scheißt, und nur das.“ Sein langjähriger Verleger, der dieses Buch nicht mehr lesen wird, weil er überraschend stirbt, hinterlässt ihm eine weitere Yoga-Aufgabe: zu lernen, nicht wie bisher nur mit einem, sondern mit zehn Fingern zu tippen. Eine neue, junge Liebe gibt dem Buch einen optimistischen Ausblick und nimmt ihm gleichzeitig auch etwas von seiner Glaubwürdigkeit. Denn am authentischsten wirkt Carrères Zerknirschung darüber, sein Ehe- und Familienleben selbst zerstört zu haben. Sein Buch lässt einen unbefriedigt zurück. Womöglich ist es gerade an dem Festhalten an Literatur als purer Wahrheit gescheitert. Daraus ließe sich schließen, dass die gute alte literarische Praxis, seine Lebenserfahrungen in Fiktion zu transformieren, ebenfalls eine Überlebenskunst darstellt. KIRSTIN BREITENFELLNER

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LITERATUR

Die Hölle, das sind die Influencer

Warum kein Ausflug nach Auschwitz?

Delphine de Vigan schickt ihre Ermittlerin in die grausame Welt der Social-Media-Kinderstars

In „Serge“ gelingt es Yasmina Reza einmal mehr, schweren Stoff leicht und witzig zu verarbeiten

ie junge Pariser Kripo-Beamtin D Clara Roussel hat sich ihren guten Ruf hart erarbeitet. An Tatorten

Atemzug über die GleiIübernse,einem die nach Auschwitz führen, und einen „Witwenbuckel“ zu schrei-

ist sie für die Spurensicherung verantwortlich, bei Autopsien bleibt sie anwesend. Körperflüssigkeiten und -teile aller Art bringen sie längst nicht mehr aus der Fassung. Doch nun ist die eigenwillige, toughe und brillante Kriminalistin in einen Fall verwickelt, bei dem sie an die Grenzen des Erträglichen stößt: eine Entführung im Kinder-Influencer-Milieu. „Es ist eine Welt, deren Existenz unsere Vorstellungskraft übersteigt“, stellt sie geschockt fest, nachdem sie sich die Videos einer entführten Sechsjährigen namens Kimmy angesehen hat. Deren Mutter Mélanie betreibt in Delphine de Vigans Roman „Die Kinder sind Könige“ einen millionenfach abonnierten Youtube-Kanal. Da gibt es live übertragene Shoppingtouren, bei denen die Abonnenten Kaufentscheidungen treffen dürfen, aufwendig zelebriertes Unboxing von Spielzeug sowie Challenges, bei denen Kimmy und ihr Bruder alles kaufen dürfen, was mit einem bestimmten Buchstaben beginnt. Mutter und Kinder sind stets quietschvergnügt und vergessen nie auf den freundlichen Hinweis, doch bitte ein Like zu hinterlassen, und leben dank lukrativem Product Placement in Saus und Braus. Nun ist Kimmy verschwunden, bald trudelt der erste Erpresserbrief ein. Ermittlerin Clara, die sich nie für soziale Medien interessiert hat und zunächst gar nicht versteht, warum dort immer alle vom „Teilen“ reden, macht sich aufs Schlimmste gefasst. Die kinderlose Kriminalistin ist das exakte Gegenteil der zur Gänze in ihrer Mutterrolle aufgegangenen Mélanie, die schon als junge Frau Reality-TV-Star werden wollte. Heute ist Mélanie stolz auf das Schlaraffenland voll Süßigkeiten, Spielzeug und Markenkleidung, das sie – dank einer gewissen innerfamiliären Disziplin – für ihre Kinder geschaffen hat. Delphine de Vigan hat sich in den letzten

20 Jahren einen Namen als Autorin für schwierige und tabuisierte Themen wie Magersucht oder bipolarer Störung gemacht. Ihre Wirkung entfalten Vigans preisgekrönte Romane, ohne dass die Erzählerin dafür den moralischen Zeigefinger auch nur einen Millimeter heben muss. Vielmehr schneidert sie ihren Figuren die genau zu ihnen passende Sprache auf den Leib, was tiefer blicken lässt als jeder erklärende Kommentar. So auch im Fall der Influencerin Mélanie: Diese offenbart in ihrer mit beinhartem Geschäftssinn gepaarten Naivität die ganze Widersprüchlichkeit und Unmenschlichkeit der So-

cial-Media-Scheinwelt, in der sie ihre Kinder aufzuwachsen zwingt. Dass man sich bei aller Gesellschaftskritik von „Die Kinder sind Könige“ auch hervorragend unterhalten fühlt, liegt am bitterbösen Humor der Erzählerin, an der gekonnt orchestrierten Spannung sowie an liebevoll gezeichneten Figuren, die mit allerlei sympathischen Schrullen, ungewöhnlichen Vorgeschichten und interessanten erotischen Vorlieben ausgestattet sind. „Was können sich Kinder wünschen, die

alles haben? Was sind das für Kinder, die so leben, begraben unter einer Lawine von Spielzeug, das sie sich mangels Zeit nicht einmal haben wünschen können? Welche Art von Erwachsenen wird aus ihnen?“ Die Erzählerin lässt ihre Ermittlerin nicht nur die richtigen Fragen stellen, sondern bemüht sich auch selbst, Antworten zu finden. Sie wirft im letzten Teil des Romans einen Blick

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Dass man sich bestens unterhalten fühlt, liegt am bitterbösen Humor und der gekonnt orchestrierten Spannung ins Jahr 2030. Dass diese recht nahe Zukunft, „in der es „nur deshalb ‚Kopf hoch‘ heißt, weil den Anforderungen der Gesichtserkennung Genüge getan werden soll“, als eher düster imaginiert wird, überrascht nicht. Immerhin eröffnet de Vigan ihren Figuren doch noch den einen oder anderen Ausweg. Nur Mélanie bleibt unerschütterlich bei dem, was sie am besten kann: „Sie tut den Leuten gut. So ist das einfach. Sie ist eine Fee geworden, eine moderne Fee, ja. Sie braucht keinen Zauberstab, nur ein paar Kameras und einen großen Vorrat Liebe, die sie schenken kann.“ Ob das für ein Happy End reicht, wird man sehen. GEORG RENÖCKL

Delphine de Vigan: Die Kinder sind Könige. Roman. Aus dem Französischen von Doris Heinemann. Dumont, 320 S., € 23,95

ben, das kann nur Yasmina Reza. Die französische Autorin, bekannt für ihre Theaterstücke, führt ihre Leserschaft in ihrem neuen Roman „Serge“ in die Welt der jüdischen Familie Popper ein. Wir lernen den titelgebenden Serge kennen, den ältesten Sohn, einen gescheiterten Aufschneider. Jean, der Erzähler, ist der Zweitgeborene – eingezwängt zwischen Bewunderung für seinen älteren Bruder und Liebe zu seiner kleinen Schwester Anne, Nana gerufen. Alle sind sie inzwischen um die 60, was unter anderem Nanas Nacken hat anschwellen lassen. Diese „kleine Fettansammlung, die Frauen oben einen runden Rücken macht und sie in ein anderes Alter katapultiert“, ist der „Witwenbuckel“, den Jean nicht aus dem Kopf kriegt, wenn er später an ihre gemeinsame Auschwitz-Reise denkt. In Erinnerung blieben ihm nicht die Gaskammern, nicht die Holocaust-Dokumentationen, sondern der Moment, in dem er seine geliebte kleine Schwester als alt gewordene Touristin erkennt, im Hintergrund die Gleise, die ins KZ führten. Nana, vom Vater einst so stolz wie ausfällig „Luxustussi“ gerufen, hat zwei Kinder und ist als Einzige in diesem ungleichen Trio noch verheiratet. Nicht mit einem jüdischen Großbürger, wie es sich ihr Vater wohl gewünscht hätte, sondern mit einem Spanier. Serge hat eine erwachsene Tochter namens Joséphine, die als Visagistin arbeitet. Jean ist kinderlos, kümmert sich aber rührend um seinen ehemaligen Stiefsohn Luc, der ein „besonderes“ Kind ist. Er hat eine Entwicklungsverzögerung. Josephine hatte die Idee mit dem Fa-

milienausflug nach Auschwitz. Sie will ihre Geschichte kennen lernen. Die Poppers stammen von ungarischen Juden ab, viele Verwandte sind von den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg ermordet worden. Das Judentum wurde in der Familie nur vom Großvater hochgehalten, der seine Solidarität zu Israel demonstrativ auslebte. Die Großmutter hätte ihre Herkunft und die damit verbundenen Erinnerungen und Leid am liebsten verdrängt. Beide Haltungen sind nicht untypisch für diese Generation. Reza, deren Familie selbst jüdisch-ungarische Wurzeln hat, kennt dieses Milieu bestens. Yasmina Reza kann die Paradoxien menschlicher Existenzen so humorvoll beschreiben, dass man zugleich erschrickt und lachen muss. Ihr Theaterstück „Gott des Gemetzels“ ist ein moderner Klassiker, nicht nur für El-

tern von heranwachsenden Kindern. „Drei Mal Leben“ erspart viel Zeit in der Paartherapie. „Serge“ nun reizt die Grenzen des Denk- und Sagbaren über den Holocaust aus. Aber im Grunde geht es ums Sterben in Würde – waren die Antidepressiva, die Jeans Lieblingscousin Maurice von der Pflegerin heimlich ins Joghurt gerührt wurden, tatsächlich notwendig? – und um die große Frage: Familie, was heißt das eigentlich? Die Gaskammern, die Gleise und der Holocaust sind letztlich nicht viel mehr als die Kulisse, vor der sich die großen und kleinen Dramen der Poppers abspielen. Angekommen am Gedenkort empfindet niemand von ihnen das, was man wohl empfinden sollte. Joséphine und ihre Tante Nana arbeiten beflissen jedes Ausstellungsstück ab, Jean wahrt innere Distanz und Serge trotzt. Das ist tragikomisch, aber nicht weiter schlimm. Könnte so einen Plot auch jemand

schreiben, der nicht jüdisch ist?, fragt man sich spätestens in dem Moment, in dem Jean sich über die „allgegenwärtigen Pappelreihen“ am Gedenkort Auschwitz auslässt. „Sauber ist diese Kaserne, gut gepflegte Planquadrate. Ein Museum. Eine Parzelle der Vorhalle, neu arrangiert für Zeitgenossen. Eine noble Geste, die einlullt“, denkt er. „Vor fünfundsiebzig Jahren wurden die Gaskammern abgestellt“, weiß Joséphine. „Könntest Du uns zwei Minuten in Ruhe lassen“, faucht Serge sie an. Bei der Rückreise sprechen Nana und Serge nicht mehr miteinander. Ganz zum Schluss des Romans sitzen die drei Geschwister dann doch wieder beisammen, so wie einst als Kinder, als sie sich gerne zu dritt in einen Schubkarren zwängten. Diesmal allerdings in der nuklearmedizinischen Abteilung im fensterlosen Untergeschoß eines Krankenhauses, wie in einem Bunker, in diesen unbequemen Schalensitzen. Die „drei Popper-Kinder“ sind wieder eine Bande. „Zum letzten Mal waren wir in Auschwitz zusammen und jetzt zum PET-CT im Madeleine-Brès. Wir könnten uns wirklich mal was Lustigeres vornehmen“, sagt Nana. BARBARA TÓTH

Yasmina Reza: Serge. Roman. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser, 208 S., € 22,70


LITERATUR

Kein Ende im Gelände Mit ihrem vielstimmigen Roman „Rombo“ erinnert Esther Kinsky an das Erdbeben im Friaul von 1976 s sitzt ein Ungeheuer im Berg und wenn es grollt, dann waE ckeln die Häuser der Menschen. So

erzählt es die Sage vom Erdbebenmonster Orcolato im Monte San Simeone, die Esther Kinsky in ihrem neuem Roman erwähnt. Dessen Titel lautet „Rombo“: So wird bis heute das Donnern genannt, das man im Friaul 1976 vor den vernichtenden Erdstößen vernahm. Kinsky war jahrzehntelang als Übersetzerin tätig, ehe 2009 ihr Romandebüt „Sommerfrische“ erschien. Vor fünf Jahre übersiedelte die heute 65-jährige Deutsche ins Friaul. Ihre Bewunderung für Pier Paolo Pasolini hat die Cineastin in diese raue Ecke Italiens geführt. Ein Jahr nach dem Tod des Regisseurs starben dort fast tausend Menschen in den Trümmern. Frühere Erkundungen von Land-

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Für Kinsky zählt ein poetisch-musikalischer Duktus der Sprache und deren Beschwörungsqualität schaften in den Romanen „Banatsko“ (2011), „Am Fluss“ (2014) und „Hain“ (2018) hatten Kinskys Literatur das Genrelabel Nature Writing eingetragen, was die Autorin in Interviews allerdings von sich wies: Es ginge ihr nicht primär um Natur, sondern vielmehr ums „Gelände“ und was in diesem als Spur und Text zu finden sei. „Die Erinnerung ist ein Tier, das aus vie-

len Mäulern bellt“, heißt es einmal zu Beginn des Romans. Kinsky verknüpft in „Rombo“ erstmals dramatische Erzählungen mehrerer Figuren miteinander. Sieben Personen schildern im Alter, wie sie die Erdbeben im Mai und September 1976 erlebt haben und was die Naturkatastrophe für ihr Leben bedeutet. Die naheliegende Annahme, Kinsky hätte dafür Zeitzeugen befragt, ist allerdings falsch. In einem schönen Radiofeature, für das der WDR die Schriftstellerin jüngst im Friaul besucht hat, stellt sie klar, dass alles Fiktion ist, auch wenn sie manche Episoden Leuten im Wirtshaus abgelauscht habe. An einer Stelle wird eine Musik-CD mit dem Titel „Le voci del terremoto“, also „Die Stimmen des Erdbebens“, erwähnt. Auch Kinskys sprachlich wenig voneinan-

der abgegrenzte Figuren klingen in ihren Erinnerungen wie ein Chor. Als Erster tritt der Gemeindearbeiter Anselmo auf, eine vom Leben gezeichnete Figur wie aus einem Film des Neorealismus. Der Alte kümmert sich um den Friedhof und weiß, „welcher Grabplatz im Falle eines Erdbebens am sichersten ist“. Rückblickend war vieles ungewöhnlich an jenem Abend im Mai, als die Region erschüttert wurde. So verhielten sich die Tiere, Vieh und Hunde ebenso wie Vögel, seltsam nervös und laut; eine tote Schlange auf der Dorfstraße wird rückblickend zum bösen Omen. In den kurzen Texten des Buches wech-

seln Erzählungen der Dorfbewohner mit Passagen über regionale Topografie, Geologie, Pflanzen oder auch Volksmythen. Für Kinsky zählt ein poetisch-musikalischer Duktus der Sprache, auch eine „Beschwörungsqualität“, die sie bei Friederike Mayröcker so bewundert. Mit erstaunlich wenig Pathos zeichnet sie das Verhängnis nach, das über dieser Landschaft liegt, die im 20. Jahrhundert ja nicht nur vom Erdbeben, sondern auch von den verheerenden Isonzo-Schlachten im Ersten Weltkrieg und von Emigration geprägt wurde. Aber was sind schon die Spuren der Menschen im Vergleich zur Reibung tektonischer Platten und jahrtausendealter Gesteinsschichten, die Leben in sich eingeschlossen haben? Kein Wunder, dass die Fantasien des Dorfvolks immer wieder idealisierend hinunter in die Ebenen und in Richtung Meer streben. Dass die Friulani dennoch am Berg bleiben, liegt nicht zuletzt an der Identität dieser Landschaft, wo Teufelssporn und Nieswurz wachsen und der Blick stets von Gesteinsmassiven begrenzt wird. Von der Struktur her holpert „Rombo“ am Anfang, findet dann aber seinen Rhythmus. Zu den vielen Details, die dieses Buch so besonders machen, zählt etwa ein halbes Dutzend „Fundstücke“ – sachliche Beschreibungen alter Fotografien. Die Abgebildeten sind unbekannt, aber nicht bedeutungslos. Sie stecken im Buch wie Lesezeichen, deren Entdeckung einen neugierig auf die Vergangenheit macht. NICOLE SCHEYERER

Esther Kinsky: Rombo. Suhrkamp, 264 S., € 24,70

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Beste Unterhaltung. Garantiert. Eine Geschichte von Erfolg und Liebe

ISBN 978-3-8392-0111-4

Frisch, tödlich, steirisch

ISBN 978-3-8392-0198-5

Garteln, lieben, morden ISBN 978-3-8392-0137-4 W W W.GMEINER-VERL AG .DE

Wir machen’s spannend

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Alles war Scham s ist ein Buch, das man erst wieder aus der Hand legt, nachdem man es E wie gebannt in einem einzigen Zug von

der ersten bis zur letzten Seite durchgelesen hat. Ein solcher Lektüre-Rush ist ein durchaus nicht alltäglicher Glücksfall und sagt schon einiges über die erstaunliche Sogkraft aus, die von Andrea Roedigs Erzähldebüt „Man kann Müttern nicht trauen“ ausgeht. In puncto Genre hat sich die Autorin damit zielsicher an einem Zwischenort eingefunden, der irgendwo zwischen literarischem Erzählen und autobiografischem Sachbuch angesiedelt ist. Dort geht es erfahrungsgemäß besonders oft besonders interessant zu; auch wenn sich der traditionelle Buchmarkt noch immer schwertut mit vielgestalten Bücher-Mischwesen, die sich nicht so einfach in Regalfachkategorien einordnen lassen und zu denen auch Roedigs Buch gehört. Andrea Roedig, Jahrgang 1962, deutsche Philosophin und Essayistin, freie Publizistin und Mitherausgeberin der Zeitschrift Wespennest, lebt seit 2007 in Wien und schreibt für Rundfunk und Printmedien. In „Man kann Müttern nicht trauen“ erzählt sie die Geschichte ihrer Mutter Lilo, die die Familie verließ, als Roedig zwölf Jahre alt war, und die fast drei Jahre lang verschwunden blieb. Sie erzählt von ihrer eigenen brüchigen Kindheit in einer ursprünglich wohlhabenden Düsseldorfer Metzgerfamilie; von Konkurs und plötzlicher Armut, von Ent-

wurzelung und pubertärer Vereinsamung und davon, wie sie unversehens von einem wohlbehüteten Kind zu einem herum- und abgeschobenen Teenager, zum gleichsam entrechteten Unterpfand der implodierten Ehe der Eltern wurde. Der Vater, ein „Draufgänger und gnadenlo-

ser Egoist“, erweist sich für seine Tochter Andrea und ihren drei Jahre jüngeren Bruder als ebenso unverlässliche Größe wie die Mutter. Bereits bevor es zum endgültigen Bruch und Sturz in die Armutsfalle kommt, werden die Kinder zwischen den elterlichen Fronten aufgerieben. Sie werden nachts aus dem Bett geholt und vorm Elterntribunal mit der Frage „Wen hast du lieber?“ drangsaliert, zu Besorgungsgängen nach immer mehr Alkohol und Tabletten vergattert oder zum Anschreibenlassen beim Kaufmann geschickt. „Im Grunde war alles Scham“, bringt es die Autorin auf den Punkt. Die Mutter bleibt Roedig immer fremd, auch nachdem diese wieder auftaucht und sie einander fortan selten und später dann als Erwachsene gegenübertreten. Mutter Lilo ist Täterin und Opfer in Personalunion, eine gekränkte Frau, die ihre Kinder vorwurfsvoll auf Distanz hält und als typische Vertreterin ihrer Frauengeneration ein ums andere Mal vergeblich Glück und Befreiung nur in Bezug auf einen Mann zu finden meint.

Andrea Roedig: Man kann Müttern nicht trauen. Dtv, 240 S., € 20,60

Langsam entrollt Andrea Roedig den Lebensweg ihrer Mutter, rekapituliert die raren Treffen mit ihr, berichtet von ihren eigenen Wünschen, Hoffnungen und Erwartungen im Lichte der ebenso mächtigen wie zwiespältigen und weit entfernten Symbolfigur. Man folgt mit zunehmender Verblüffung Roedigs kluger, zurückhaltender Erzählung, bewundert die spezifische Rhythmik ihrer nüchternen, glasklaren Sätze und die Disziplin, mit der sich ihr ebenso unsentimentales wie empathisches Doppel-Frauenporträt nach und nach aus Einzelszenen, Erinnerungsbildern und Selbstbefragungen entfaltet. Vorangetrieben wird die Geschichte von einer mitreißenden narrativen Dringlichkeit, die Roedig kunstvoll durch stetige Introspektion ausbalanciert. Es ist eine dunkle Geschichte, die sich Eindeutigkeiten verbittet. Nicht die literarische Abrechnung mit einer an allen Fronten scheiternden Mutter ist ihr Ziel, sondern die Annäherung an eine klaffende, folgenreiche Leerstelle im eigenen Leben sowie die Nachzeichnung eines Nachkriegsfrauenlebens. Am Ende weiß man nicht, was man mehr bewundern soll: den Mut, den es gebraucht hat, um ein derart intimes Buch zu schreiben, oder die wie selbstverständlich wirkende poetisch-literarische Form, die Andrea Roedig für diesen Hochseilakt gefunden hat. Ein wirklich großer Wurf. JULIA KOSPACH

ILLUSTRATION: GEORG FEIERFEIL

Andrea Roedigs „Man kann Müttern nicht trauen“ ist eines der beeindruckendsten Erzähldebüts des Frühjahrs


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Endlich deutsch sein in Grieskirchen! In ihrem episodischen Roman „Die im Schatten, die im Licht“ erzählt Sabine Scholl von Frauen im NS-Regime ber stolz sind sie alle schon, dass ein A Mann aus Oberösterreich der Allerwichtigste ist bei den Deutschen draußen“,

denkt Traudi, bevor der Pfarrer sie dazu zwingt, ihren Vergewaltiger zu heiraten, weil der sie geschwängert hat. Die Schneiderin Gretel wiederum wird am Tag des „Anschlusses“ von Euphorie ergriffen. „Endlich deutsch sein, sogar wir, hier in Grieskirchen, ohne was dafür zu tun.“ Es folgt ein harter Cut nach Paris: Die lebenslustige Francine kommt 1938 als Schauspielerin nach Babelsberg. Alle Juden werden vom Filmset entfernt, was sie vordergründig nervt, weil sie jetzt den nächsten Beleuchter für sich gewinnen muss. Die tiefer liegenden, widerständigen Motive des an die historische Figur der Arletty angelehnten Starlets entbergen sich erst im Lauf der Erzählung. Über den Zweiten Weltkrieg ist auch literarisch schon viel gesagt worden. Scholls episodisch erzählter Roman lohnt die Lektüre nicht nur aus ästhetischen Gründen, sondern aufgrund seines Umgangs mit dem historischen Material. In vier Kapiteln legt die gebürtige Grieskirchnerin den Fokus auf neun Frauen, die zwischen 1938 und 1946 in den Mahlstrom der Geschichte geraten.

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Die Männer sind seitdem völlig rabiat. Als wären sie plötzlich noch wichtiger als sonst. Gibt’s jetzt mehr Freibier?“, fragt sich Traudi

Jede kann es treffen, auch die Schlossherrin

Bei allem Bekenntnis zum Feminismus geht sie

dabei aber nicht so weit, ihre Protagonistinnen allesamt als Opfer darzustellen. So lässt sich etwa Huberta, eine angeheiratete Prinzessin, vom Gröfaz das Schloss Leopoldskron andienen, das man Max Reinhardt geraubt hat. Bei der Begegnung mit Hitler ist sie immerhin Snob genug, sich vor dessen schlechtem Deutsch, schlechtem Atem und schlechter Frisur zu ekeln. „Die im Schatten, die im Licht“ ist inspiriert von wahren Vorkommnissen und nahe an der historischen Realität, die Ausgestaltung verbleibt Fiktion. Dank akribischer Recherche kann Scholl bei der Zeichnung der Figuren und der Zeitumstände

aber aus dem Vollen schöpfen. Die Episoden verbindet sie nach allen Regeln ihrer Kunst, etwa über die schmalzigen Filme und Schlager, die in immer härterem Kontrast zur Realität stehen. Atmosphärisch dicht, mit gutem Blick für die Details, illustriert Scholl in den kurzen Texten die Lebensumstände der jeweiligen Erzählerin, und zwar stets im Präsens, denn keine ahnt, was kommt – auch nicht das verwöhnte, geliebte Kind Lotte, das noch gar nicht begriffen hat, warum es plötzlich rechtens ist, dass die Linzer Nachbarn ihr nach dem Leben trachten, und in Shanghai mit knapper Not die Kämpfe zwischen Japanern und Amerikanern überlebt.

Sabine Scholl: Die im Schatten, die im Licht. Roman. Weissbooks, 352 S., € 24,95

und Goldhaubenfrau Vera, deren Mann in die Fänge der Gestapo gerät. Scholl erzählt von Opfern und Mitläuferinnen zwischen Grieskirchen, Texas und Shanghai, vom Schrecken und den Attraktionen des NS-Regimes. Wobei der „Anschluss“ auch das Verhältnis der Geschlechter neu definieren wird: „Die Männer sind seitdem völlig rabiat. Als wären sie plötzlich noch wichtiger als sonst. Gibt’s jetzt mehr Freibier?“, fragt sich Traudi. Gretel lässt sich zur KZ-Aufseherin ausbilden, weil im Krieg niemand mehr Geld für Näharbeiten ausgibt. „Aufpassen muss sie eh nur auf Frauen.“ Im KZ lernt sie die richtige Atemtechnik für das Brüllen von Befehlen, damit ist sie zuhause wieder wer. Anders die konvertierte Jüdin und Pastorenfrau Elsa, die ihren Selbstmord vorschützen muss, damit die Familie unbehelligt in Aussee leben kann – es ist nicht die Gestapo, die sie bedroht, es sind die Nachbarn. Nach dem Krieg versuchen die Männer, ihr ramponiertes Selbstwertgefühl wiederzuerlangen, indem sie die Frauen demütigen. „So leben wir eben dahin mit Mördern“, stellt die Ausseer Widerstands-

kämpferin Rosi resigniert fest. Alle wollen im Widerstand gewesen sein, geredet wird nur über die Partisanen, die sich im Toten Gebirge versteckt haben, nicht aber über jene, die sie – oft in weitaus größerer Gefahr – vom Tal aus versorgt hatten. „So sind wir Frauen nach und nach zu Schatten worden.“ Niemand hat etwas gewusst, jeder seine Pflicht getan, so wie Gretel, die zu Protokoll gibt: „Bei uns war oft die gute Laune zu Haus.“ Scholl, die nach vielen Jahren in den USA, Ja-

pan, Portugal und Deutschland wieder in Wien lebt, ist eine Autorin, die Kunst und Engagement nicht trennen mag. Sie schreibt darüber, dass die Täter ungeschoren blieben, während man den von ihnen Ermordeten sogar noch das Andenken verweigert. Sie selbst ist Jahrgang 1959 und hat die eigene Wut über die Verschweigenszusammenhänge in ihre Programmatik einfließen lassen und unter dem Titel „Lebendiges Erinnern. Wie Geschichte in Literatur verwandelt wird“ in Form von Essays und Werkstattgesprächen vorgelegt. Der Band empfiehlt sich als ergänzende Lektüre zum Roman. Wie es gelingt, Ethik und Ästhetik zusammenzubringen, erläutert Scholl anhand von 14 belletristischen Beispielen; etwa als Hommage an den großen Heimrad Bäcker, der sich als einer der Ersten poetisch mit der Tätersprache auseinandersetzte. Oder im Gespräch mit zeitgenössischen Autorinnen, die darüber Auskunft geben, wie sie mit dem historischen Material umgehen. Die Essays sind in klarer Sprache gehalten, das Fachpublikum hat davon wohl am meisten. Anders „Die im Schatten, die im Licht“: Es ist ein Buch, das man sich als Schullektüre im besten Sinne vorstellen möchte und am dringlichsten jenen empfohlen sei, die sich nicht zu deppert sind, sich gelbe „Ungeimpft“-Sterne an die Brust zu heften. DOMINIKA MEINDL

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Eine Wallfahrt gegen den Krieg

Fast wie im richtigen Leben

Evelyn Schlags Roman „In den Kriegen“ spielt irgendwie in der Ukraine und verliert sich in rätselhaften Bilder

In Friederike Gösweiners Roman „Regenbogenweiß“ muss sich eine Familie nach einem Todesfall neu finden

wei Männer sprechen über den Z Krieg. Die beiden Deutschen Jens und Iwo sitzen irgendwo in der Uk-

ie sah das Auto noch in der EinS fahrt stehen, die Heckklappe geöffnet, sah ihren Mann eine Bierkiste

raine und erinnern sich an die Kämpfe im „Osten“, an denen sie als Freiwillige teilgenommen haben, aufseiten der Ukraine gegen die Separatisten. Zwar denkt man dabei sofort an den bewaffneten Konflikt im Donbass, der nach der russischen Invasion auf der Halbinsel Krim im März 2014 ausgebrochen ist, doch es könnte auch ein fiktiver Krieg sein. Die aus Niederösterreich stammende Schriftstellerin Evelyn Schlag nennt keine Orte. Sie zeichnet Umrisse, wirft ein paar Skizzen hin. Die Handlung bleibt den ganzen Roman hindurch wenig konkret. Offenbar geht es der Autorin darum, den Krieg als Phänomen zu erfassen. Für Leid, Elend und Zerstörung findet sie Bilder, die bisweilen eindrücklich sind, manchmal aber auch unverständlich bleiben. Der Krieg, der gerade zu Ende gegangen ist, verschwimmt im Laufe der Zeit immer mehr mit dem Zweiten Weltkrieg, als die deutsche Wehrmacht 1941 die Ukraine überfiel. Jens fragt sich, ob sein Urgroßvater, „der olle Krüger“, an Kriegsverbrechen beteiligt war. Der Großteil des Romans handelt von einer „Wallfahrt“, wie es die Protagonisten nennen. Tanja, die Partnerin von Andrij, einem Freund, der mit Iwo und Jens gekämpft hat und gestorben ist, bringt sie auf die Idee. „Sie sagte, sie müsse ihre Trauer so weit weg wie möglich tragen, durch dieses unglückliche Land. Wie sollte sie sonst begreifen, dass Andrij für immer aus der Welt war.“ Zu viert – Vitalij, ein Dichter und Abenteurer, ist ebenfalls mit dabei – machen sie sich auf den Weg zur „Halbinsel“, die ebenfalls nicht näher lokalisiert oder beschrieben wird. Es soll „eine Wallfahrt für Andrij und gegen die Kriege“ sein. Was nun folgt, gleicht dem Gang durch

eine Gemäldegalerie. Von Station zu Station folgen die Leserinnen und Leser den vieren auf deren Weg, den sie im Übrigen zu Fuß zurücklegen. Für jede Situation, in die Tanja, Jens, Iwo und Vitalij geraten, findet die Autorin ein anderes Bild. Selten wird ein klarer Handlungsablauf ersichtlich, vielmehr überlagern sich Wortspiele, die wie abstrakte Malerei anmuten. Die Ereignisse, mit denen das Quartett konfrontiert wird, lassen viel Deutungsspielraum zu – etwa als die vier bei minus 50 Grad an einem Teich stehen und für Sekunden in einem Eiszapfen eine Berehynia, eine weibliche Figur aus der slawischen Mythologie, erkennen, die auch das Symbol der unabhängigen Ukraine ist – oder sind so überzeich-

net, dass sie einfach nur skurril wirken. Etwa wenn Vitalij und Jens in einem Hinterzimmer aus einem Stapel von Decken eine rote hervorziehen und sich fragen, ob es Infrarot sein könnte. „Ich habe keinen Schimmer, wie das funktioniert. Kann man das Ende des Sommers einwecken? Mit einer dünnen Scheibe Rum darüber?“ Vom Infrarot zur Scheibe Rum geht es weiter zu Tanja, die wie eine Wölfin heult und dann meint, dass das ganze Dorf dazu gezwungen werde, unter einer Decke zu schlafen, um das Individuum auszulöschen. Hinweise auf die Geschichte der Sowjetunion und die Zwangskollektivierung aller Lebensbereiche? Vielleicht, viel-

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Vier Freunde marschieren durch eine menschenleere, aber symbolisch hochaufgeladene Landschaft leicht auch nicht. Das Bild der roten Decke ist jedenfalls nicht stark genug, um abseits symbolischer Bedeutsamkeit bestehen zu können. Die Welt, durch die die vier Wallfah-

rer ziehen, ist nahezu menschenleer. Wenn doch einmal jemand auftaucht, ist es nicht selten eine Stimme aus der Vergangenheit. Jens fühlt sich immer mehr von seinem Urgroßvater verfolgt. Und er hört Jüdinnen und Juden schreien, die in einem Viehwaggon eingesperrt sind und deportiert werden sollen. Tote des Holodomor, der von Stalin gesteuerten Hungersnot Anfang der 1930er-Jahre, melden sich zu Wort. Dann sagt Tanja einen der Schlüsselsätze des Romans: „Wir müssen hier weg. Hier vergeht die Vergangenheit nicht.“ Doch leider driftet der Roman immer mehr ins Diffuse ab. „In den Kriegen“ ist ambitioniert, sprachlich wie thematisch, am Ende bleibt aber vor allem Ratlosigkeit. STEFANIE PANZENBÖCK

Evelyn Schlag: In den Kriegen. Roman. Hollitzer, 244 S., € 22,–

in den Kofferraum des Wagens heben. Gut, dachte sie, dann kann ich ihn an die Milch noch erinnern. Und sie war dabei, das Fenster zu öffnen, als sie ihn zu Boden gehen sah, dann hinter dem Auto liegen sah, auf dem Asphalt. Sie erschrak. So sah kein Sturz aus.“ Es beginnt mit einem Alltagsmoment, nach dem plötzlich alles anders ist. Marlene, Anfang 60 und frisch pensionierte Deutschlehrerin, kann ihrem Hermann nach seinem Herzinfarkt nicht mehr helfen. Auch die Versuche der Rettung, ihn zu reanimieren, scheitern. Wenige Stunden später steht die Frau am Totenbett des Mannes, mit dem sie den Großteil ihres Lebens verbracht hat. Die Kinder eilen herbei. Tochter Filippa aus Paris, wo sie versucht, sich als Germanistin zu habilitieren; Sohn Bob von irgendwo, vielleicht aus Holland, wo er seinen Doktor in Physik gemacht hat, oder von einer der Touren als Reiseleiter, mit denen er sein Leben finanziert. Am Abend des Begräbnistages stehen die Geschwister und Marlene draußen beisammen, schnaufen einmal kurz durch: „Und alle sahen in dieselbe Richtung, sahen zu dem Fluss, standen zusammen, jeder für sich.“ Gemeinsam und doch getrennt: In diesem Bild ist das Wesen dieser Familie, ja vielleicht von Familie überhaupt, auf den Punkt gebracht. Friederike Gösweiner verfügt über eine sehr gute Beobachtungsgabe und ein feines Sprachgefühl. Die große Geste liegt ihr fern. Hinter vorgehaltener Hand bejammern Verlagsmenschen ja oft, dass Autorinnen und Autoren heute schiefe Bilder am laufenden Band produzierten. Insofern stellt die Tirolerin, die für „Traurige Freiheit“ (2016) den Österreichischen Buchpreis in der Kategorie Debüt gewann, wohl eine Ausnahme dar. Ihrem zweiten Roman „Regenbogenweiß“ ist anzumerken, dass sie jahrelang daran gearbeitet hat. Von der Figurenzeichnung über die Dialoge bis zum Handlungsbogen ist hier alles präzise gearbeitet, ohne ins KlinischSterile zu verfallen. Der Roman folgt den Wegen der Fa-

milienmitglieder vom 18. November 2014, Hermanns Todestag, über genau eineinhalb Jahre. Die Mutter trauert allein im viel zu großen Haus um die Liebe ihres Lebens, weiß wenig mit sich anzufangen. Das ändert sich, als 2015 der große Flüchtlingsstrom kommt. Marlene wird gebraucht, sie gibt Deutschkurse und bringt die Burschen zum Fußballtraining.

Bob ist mit seinem Vater oft im Clinch gelegen, auch die letzte Begegnung der beiden endete im Streit. Sie waren sich sehr ähnlich, beide Physiker, allerdings mit unterschiedlichen Fachrichtungen. Der Vater hätte Bob gern in seiner Forschungsgruppe gehabt. Doch der Sohn erwies sich als ebenso stur wie er selbst. Das Trauern fällt ihm nun schwer. Er zieht sich zum Nachdenken in ein Dorf auf Kreta zurück. Filippa wiederum will es immer allen recht machen und bleibt dabei selber auf der Strecke. Beruflich weit von einer Festanstellung entfernt, privat in einer Fernbeziehung und obendrein der Puffer zwischen Mutter und Bruder, verspürt sie darüber hinaus mit 35 auch bereits „Fortpflanzungsdruck“. Sie weiß zwar, dass das alles Luxusprobleme sind, aber es zu wissen, macht sie nicht weniger traurig. Apropos First World Problems: Göswei-

ner gelingt es immer wieder geschickt, das Politische im Privaten aufzuzeigen. Als Bob auf Kreta die Frage nach seiner Herkunft lässig mit dem Hinweis beantwortet, dass das doch keine Rolle spielte, repliziert ein Grieche: “Let me tell you, my friend! You are wrong. Your are not citizen of planet earth. You have a passport. This passport decides your fate.” Auch die Geschlechterverhältnisse sind ein Thema. Gösweiner stößt einen zwar nicht mit der Nase darauf, aber es ist irgendwann nicht mehr zu übersehen, dass die Rollenverteilung in der sich als progressiv begreifenden Familie absolut traditionell ist. Die Männer leisten als naturwissenschaftliche Genies die total wichtige Arbeit, bei der man sie auf keinen Fall stören darf. Und die Frauen dürfen, solange sie den Laden am Laufen halten, sich in den weichen Geisteswissenschaften verwirklichen. Die Figuren, allen voran Bob, buhlen nicht um Sympathie. Weil sie mit Stärken und Schwächen glaubwürdig gezeichnet sind, gehen sie einem trotzdem nahe. „Regenbogenweiß“ eröffnet thematisch gewiss keine neuen Welten, grast bekanntes Territorium ab. Und doch bringt dieser Roman etwas zum Klingen. Er kommt dem echten Leben, Erleben und Fühlen verdammt nah. SEBASTIAN FASTHUBER

Friederike Gösweiner: Regenbogenweiß. Literaturverlag Droschl, 344 S., € 24,–


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Ein Troll im anschwellenden Sirenengesang Vladimir Vertlibs Roman „Zebra im Krieg“ spielt irgendwo im Osten Europas und erzählt von einer Radikalisierung im Netz ie konnte es nur so weit komW men?“ Eine Frage, die, wenn tatsächlich Krieg ausbricht, Verzweif-

lung und Ohnmacht ausdrückt. Selten kommt es vor, dass ein aktueller Roman von den gegenwärtigen Kriegsnachrichten der außerliterarischen Wirklichkeit derart schnell eingeholt und überholt wird wie im Fall von „Zebra im Krieg“. Es ist das auf einer wahren Begebenheit beruhende jüngste Werk Vladimir Vertlibs über einen Bürgerkrieg in einer fiktiven Stadt im Osten Europas. Wir begegnen der Hauptfigur Paul Sarianidis und seiner zwölfjährigen Tochter Lena, an die er während eines nächtlichen auf- und abschwellenden Sirenenalarms („Ein Krieg im Stimmbruch“) die eingangs formulierte Frage stellt. In der Ferne schlagen Raketen ein, es

herrschen Angst und Verdunkelungspflicht. Pauls Frau hat als Ärztin Dienst im Krankenhaus und steht dem Krieg, der von den Behörden verharmlosend als „erweiterte Polizeiaktion“ bezeichnet wird, zunächst noch abgebrühter gegenüber. Doch am nächsten Morgen wird Paul verhaftet. Niemand weiß, warum. Erst als er dem Rebellenführer Boris Lupowitsch gegenübersitzt, ahnt Paul die Gründe für sein Verhör. Er ist nämlich nicht nur ein (aufgrund der Kampfhandlungen am Flughafen arbeitsloser) Flugzeugingenieur, sondern auch eine nicht ganz unbekannte Figur in den sozialen Netzwerken. Pauls anfängliche Leidenschaft, dies und jenes zu kommentieren, artete in Empörung, Wut und Hass aus. Der tragikomische Held, zugleich liebevoller Vater und Hate-Speech-

Troll, gerät aus der Bahn. Das Wort Abschaum kommt häufig vor. Lupowitsch will sich nun für Beleidigungen und Drohungen gegen ihn rächen und filmt Paul, während sich der in die Hose macht. Das Video geht viral, Paul ist gedemütigt und hinfort für jedes Kind als der „Pisser“ identifizierbar. Ob ihm Abdul und Abdullah aus der Patsche helfen können? Die beiden InternetHalunken, die plötzlich als „Helfer“

Wenn die auktoriale Erzählinstanz in „Zebra im Krieg“ darüber sinniert, wie in früheren Zeiten gelacht und gescherzt worden war, wohingegen heute alle nur mehr „verbissen“ und wie Zombies auf die Displays ihrer Smartphones starren würden, dann ergeht sie sich auch in Gemeinplätzen. Zugleich sind es die wesentlichen Fragen, die der Roman stellt. Ist die in den sozialen Medien um sich greifende Aggression das Vorspiel zu einem echten Krieg? Welche Konsequenzen hat es, wenn dort regelmäßig „rote Linien“ überschritten werden? Wohin führt der Hass?

Pauls Leidenschaft, alles zu kommentieren, artete in Hass aus. Der tragikomische Held, zugleich liebevoller Vater und Hate-Speech-Troll, gerät aus der Bahn

Vladimir Vertlib, 1966 im heutigen Sankt Petersburg geboren, hat seine fiktive Kleinstadt an der „Peripherie Europas“ situiert, ihr aber keinen Namen gegeben, wohl um Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu erheben. Eine verwinkelte Altstadt fällt zum Meer hin ab, die andere Seite des Hügels heißt „La-alot“ und ist ein altes jüdisches Viertel. Einst war die Hafenstadt Anziehungspunkt und Schmelztiegel verschiedener Kulturen, heute ist sie wirtschaftlich und kulturell heruntergekommen. Seit 1981 lebt Vertlib in Österreich, zehn Jahre zuvor war er mit seiner Familie nach Israel emigriert, hatte dazwischen in Italien, den Niederlanden und in den USA gelebt. Wer so viel von der Welt gesehen hat, vermag auch den Blick auf diese zu schärfen, was sich in „Zebra im Krieg“ in detailreichen und realistischen Schilderungen eindrucksvoll manifestiert. Zum Beispiel in jener Szene der „rituellen Entsorgung“, in der eine skandalumwitterte Theaterregisseurin (die sich den sozialen Netzwerken verwei-

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auftauchen, wollen Paul mit manipulativen Youtube-Gegenvideos rächen und eine neue Identität verpassen: „Im Netz werden Sie zum Widerling und zum besten Schwiegersohn der Welt – je nachdem.“ Pauls Geschichte ist die Geschichte einer Radikalisierung in einer empathielosen (digitalen) Welt. Schon in seiner Schulzeit war Paul verprügelt und gequält worden. Nun, als Erwachsener, findet er auf Facebook ein Ventil für seine früheren Demütigungen und teilt selbst aus. „Am liebsten würde er sein Handy zücken, auf Facebook gehen und jemanden demütigen.“ Aber er hat Abdul und Abdullah, und vor allem seiner Familie, versprochen, nichts mehr zu posten.

gert) von Fanatikern in eine Biomülltonne voller Wespen geschmissen wird. Paul, der zufällig vorbeikommt, landet ebenfalls in dieser, weil er wieder einmal als „Pisser“ identifiziert worden ist. So überzeugend der beschreibende, kurzweilige Berichtstil ist, die Dialoge sind es nicht. Die Figuren sprechen trotz widriger Umstände eine umständliche, gestelzte Sprache. Paul spricht nicht nur die Regisseurin mit „Gnädige Frau“ an. Das Bemühen, den Schrecken des Krieges mit Humor zu begegnen, sozusagen leichtfüßig vom Schweren zu erzählen, geht nicht auf. Der Schmerz, den Paul, seine Familie und andere Stadtbewohner im Angesicht des Krieges angeblich empfinden, wird nicht spürbar, bleibt vielfach bloße Behauptung, und Vertlib gelingt es nicht, an die sprachliche Kraft seiner großen Erzählungen „Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur“ (2001) oder „Am Morgen des zwölften Tages“ (2009) anzuschließen. Und welche Rolle spielt das titelgebende Zebra? Dem ausgebombten Zoo entflohen, steht es in der Stadt herum, und: „Niemand fotografiert das Tier mit dem Handy!“ So weit konnte es also kommen. SEBASTIAN GILLI

Vladimir Vertlib: Zebra im Krieg. Roman. Residenz, 288 S., € 24,–

Familie, Freundschaft, Frauenzeitschrift Verena Roßbachers Roman „Mon Chéri und unsere demolierten Seelen“ erzählt etwas gespreizt über Freundschaft er seinen Roman mit einer AnW spielung auf Peter Handke beginnen lässt, ist entweder größen-

wahnsinnig oder hat Humor. Die 1979 in Bludenz geborene Autorin Verena Roßbacher gehört in die zweite Kategorie. Über Sexualität gäbe es wenig zu schreiben, beruft sich die Autorin auf den Nobelpreisträger, der angeblich behauptet, im Kino bei Sexszenen immer wegzuschauen. „Handke und ich sind weiß Gott nicht immer einer Meinung, aber in dieser Sache muss ich ihm auf die Schulter klopfen“, schreibt Roßbacher flapsig. Den Angesprochenen wird das vermutlich eher kalt lassen, aber eine gute Pointe – spoiler alert! – hat Roßbachers Roman „Mon Chéri und unsere demolierten Seelen“ immerhin: Am Ende wird ihre ebenso verpeilte wie neurotische Hauptfigur Charly Benz,

42, ein Kind bekommen haben und drei mögliche Väter um sich scharen, die mit der komplexen Situation beeindruckend gelassen umgehen. Sex hat also zweifelsohne stattgefunden, breit ausgeführt wird er zum Glück nicht. Immer, wenn Charly Musik hört, verliebt sie sich. Eine Familienaufstellung, die sie von ihrer Schwester geschenkt bekommen hat, erweist sich diesbezüglich als Erweckungserlebnis. Unter anderem trifft Charly dort auf einen ehemaligen Schwarm aus ihrer Schulzeit, der nicht, wie erwartet, eine blendende Karriere hingelegt hat, sondern Phasen des Alkoholismus durchgemacht hat. Und dann gibt es auch noch Herrn Schabowski, einen älteren Mann, den Charly regelmäßig besucht, um ihm all ihre Probleme zu erzählen, den sie aber eigentlich engagiert hat, damit er

ihre Post öffnet, weil sie diesbezüglich eine Phobie hat. Klingt alles etwas angestrengt? Ist es auch, denn der Roman ist streckenweise genau so gespreizt wie sein Titel, leidet unter seiner Pseudo-Originalität ebenso wie unter dem bemüht flockigen Stil. Im besten Falle klingt das wie ein Kinderbuch für Erwachsene, oft aber einfach auch nur so, als hätte die Autorin zu viele Zeitschriften gelesen: Da wird Yoga und Esoterik abgehandelt, Karl Lagerfelds Jogginghosen-Saga ironisch kommentiert, über die Werber-Blase geätzt. Das ist ermüdend und lenkt vom Wesentlichen ab. Im Kern und gegen Ende zu durchaus überzeugend, geht es in Roßbachers viertem Roman nämlich um ungewöhnliche Freundschaften und Wahlverwandtschaften, die kei-

nem gängigen Muster folgen – und darum, welche Überraschungen die eigene Familiengeschichte, die man zu kennen glaubte, noch bereithält. Der mondäne Kurort Bad Gastein ist die letzte Station, die Hipster-Dichte aber hält sich zum Glück in Grenzen. Obwohl der Wes-Anderson-Vergleich natürlich nicht fehlen darf. Peter Handke wäre damit vermutlich nicht glücklich. KARIN CERNY

Verena Roßbacher: Mon Chéri und unsere demolierten Seelen. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 512 S., € 24,95


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Weil ich ein Mädchen bin Teresa Präauer macht sich auf die Suche nach den Anfängen. Wie war das damals als Teenager? anchmal entsteht Kunst aus einem M Ärgernis. Die 1979 in Linz geborene Autorin Teresa Präauer hat neben Germa-

nistik auch Malerei am Mozarteum Salzburg studiert. Ein poppiges Bild von damals zeigte kurze, dicke Beine mit klobigen Stiefeln, und zwar in den Farben Rot, Beige, Orange und Rosa. Ein alternder Assistent des Professors nannte es süffisant: Jungmädchenfarben. Aus Trotz zeichnete Präauer später eine ganze Serie mit dem Titel „Jungmädchenfarben“. In ihrem Buch „Mädchen“ geht es aber nicht vordergründig um persönliche Erinnerungen, die sind der Autorin ohnehin ein wenig suspekt. „Der Stoff der Erinnerung, der Stoff des Erzählens, ist kunstseiden, und in jeder Autobiografie steckt ein Gutteil Fiktion, Interpretation, Bewertung, Zuspitzung, Form“, schreibt sie. „Mädchen“ ist halb Erzählung, halb Reflexion über Rollenbilder von Heranwachsenden in der Literatur, im Film und in der Kunst. Musik als herausragendes Medium der Selbstermächtigung interessiert Präauer erstaunlicherweise gar nicht. „Mädchen“ ist aber auch ein Buch, das sich am eher klassischen Bildungskanon abarbeitet: Virginia Woolf, Irmgard Keun, Annie Ernaux, Françoise Sagan, Cindy Sherman und Pipilotti Rist kommen vor – und Tavi Gevinsons Blog „The Style Rookie“,

das in Internetjahren gerechnet aber auch schon eine Ewigkeit her ist. Mit aktuellen Teenies hat Präauer wenig am Hut, die bleiben eine fremde Welt: „Wo sind die Mädchen eigentlich heute? Sprechen sie laut, flüstern sie, kichern sie? Halten sie die Hand vor den Mund beim Lachen? Fahren sie Skateboard? Schicken sich gegenseitig ein paar Herzen und Likes?“

chen oder ein Junge war, am wenigsten Rolle spielte es vielleicht gar beim Lesen und bei der Identifikation mit literarischen Figuren. Aber vielleicht gehört auch das retrospektiv zum Wunschdenken?“ „Mädchen“ ist also eine kritische Selbstbefragung und zugleich eine lockere Wanderung durch Mädchenbilder in der Kunst: von Goethes Gedicht „Heidenröslein“ bis zu Nabokovs umstrittenem Roman „Lolita“, zu dem Präauer aber recht wenig einfällt, außer, dass er über eine „hohe Ambivalenz“ verfüge. Spannender ist, wenn sie über Irmgard Keuns Flapper-Roman „Das kunstseidene Mädchen“ schreibt oder über die vielen Ratgeberbücher für Mädchen, die in den 1980er- und 1990er-Jahre noch immer klingen, als ob sie in der Nachkriegszeit geschrieben worden wären.

Obwohl das etwas altbacken wirkt, liest man

gern, was Präauer über die jeweiligen Kunstwerke zu sagen hat. Bei Sagan geht es um Daddy’s Girls, wie unbeschwert und schalkhaft sie sind, wenn sie mit ihrem Vater allein sein dürfen. Weibliche Role Models kommen kaum vor, jedenfalls nicht in der Biografie der Autorin selbst: „Die größten Kämpfe hatte ich als junge Frau mit älteren Frauen auszufechten.“ „Wer über das Mädchen nachdenkt, denkt über Anfänge nach“, lautet der wiederholt aufgegriffene erzählerische Leitfaden. Die zentrale Aufgabe bestünde freilich darin, den eigenen Erinnerungen zu misstrauen. So viel ist dennoch klar: Es ist eine wohlbehütete Kindheit und Jugend ohne Tragödien. Gerade diese Unaufgeregtheit erlaubt es aber auch, die erstaunlich großen Spielräume eines Teenagerlebens zu thematisieren: „In meiner Erinnerung ist die Kindheit eine Zeit, in der es oft gerade keine Rolle spielte, ob man denn ein Mäd-

Misslungen ist allerdings das Setting der Er-

Teresa Präauer: Mädchen. Wallstein, 78 S., € 16,95

zählung. Ein neunjähriger Junge, den sie ihren „liebenswürdigen Quälgeist“ nennt, hat sie bei Abenteuerspielen auf dem Teppich gefesselt, jetzt habe sie das „Privileg mich zu fragen, an welchem Ort ich gestrandet bin“. Das klingt schon arg gekünstelt, um übers Patriarchat zu reflektieren. „Die größte Erfindung dieses Textes hier ist, dass ich mich so einfach festbinden oder festlegen ließe.“ Ironie macht das schiefe Bild allerdings auch nicht besser. KARIN CERNY

Durch den Filter internalisierter Misogynie Um von der Krise der Frauen in der Pandemie zu erzählen, trägt Mareike Fallwickl in „Die Wut, die bleibt“ ziemlich dick auf as machen Mütter, wenn sie nicht W mehr können? Helene steht während des Abendessens auf, öffnet die Bal-

kontür, macht zwei Schritte und stürzt sich hinunter. „Meine Mutter hat sich umgebracht und ich glaube, sie ist nicht am Muttersein gescheitert. Sondern am System“, meint Helenes Tochter Lola in „Die Wut, die bleibt“. Immer wieder wurde die Pandemie als Krise der Frauen bezeichnet: Schon zuvor lastete die Sorgearbeit überwiegend auf dem weiblichen Teil der Gesellschaft, Corona hat die Situation bekanntlich noch verschärft. In Mareike Fallwickls Roman hat das drastische Konsequenzen: Helene verliert ihren schlecht bezahlten Teilzeitjob und kümmert sich fortan Vollzeit um die drei Kinder und die Hemden ihres Mannes. Helenes beste Freundin Sarah, die sich im Lockdown mit ihrem „Gspusi“ Leon in einen „behaglichen Kokon“ zurückzieht, erkennt tragischerweise erst nach Helenes Suizid die dramatischen Folgen der Kombination Mutterschaft plus Pandemiepolitik. Fallwickl arbeitet sich in ihrem jüngsten Ro-

man akribisch an der Last der Frauen ab und erzählt abwechselnd aus Sicht der beiden Hinterbliebenen Sarah und Lola. Sarah, die erfolgreiche Krimi-Autorin, steckt in alten Rollenmustern fest: Sie denkt über Kalorien nach, schminkt sich erst ab, wenn

Helenes Körper unversehrt, dann nicht mehr. Dann sind Männer gekommen und Kinder, die ganze verschissene Welt, sie haben ihn kaputt gemacht, und ja, vielleicht hat Helene ihn am Ende selbst zerschmettert, aber eigentlich nicht.“

Leon schläft, und kümmert sich um den Haushalt. Falls es die Leserin nicht selbst kapieren sollte, leistet die Autorin Verständnishilfe: „Auch kinderlose Frauen tragen den Großteil der Care-Arbeit.“ Die enervierende Angewohnheit, Fachvokabular und politische Messages einzuflechten, zieht sich durch den gesamten Roman und lässt vermuten, dass die Autorin ihrer eigenen Erzählung nicht vertraut, die just dort am überzeugendsten ist, wo Begriffe wie „Mental Load“, „Body-Shaming“ oder „Heteronormativität“ weggelassen werden. Wenn sich stattdessen etwas tut, gleichzeitig das Wasser am Herd kocht, ein Glas zerspringt und das Kind auf den Boden kotzt, dann blitzt fast so etwas wie Humor durch.

Letztendlich scheitert die Salzburger Au-

Lola ist die woke 15-Jährige, die im Lock-

down durch Instagram und Lektüre vom Mädchen zur Feministin heranreift. Über Sarahs Krimis, in denen ausschließlich Frauen Opfer von Gewalt sind, äußert die 15-Jährige allen Ernstes Sätze wie: „Deine Bücher tragen zu einem gesellschaftlichen Klima bei, in dem ein Femizid stets im Bereich des Möglichen liegt“, oder: „Du schaust durch den Filter deiner internalisierten Misogynie.“ Dabei werden Frauen in Fallwickls Roman erst recht als Opfer vorgeführt, etwa wenn es heißt: „Fünfzehn Jahre lang war

Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Roman. Rowohlt (Hundert Augen), 384 S., € 22,95

torin an dem Versuch, mit „Die Wut, die bleibt“ gegen die Viktimisierung der Frau anzuschreiben. Man nimmt ihr Lolas Geschichte einfach nicht ab: Nach dem Selbstmord der Mutter erkrankt die Teenagerin erst an Magersucht, um dann überraschend schnell davon zu genesen. Nach dem körperlichen Übergriff durch drei Burschen entdeckt sie den Kampfsport für sich. Gemeinsam mit Freundinnen gründet sie die Untergrund-Organisation „#wearekarma“: Aus dem Hinterhalt schlagen die vier Mädchen Männer zusammen, die Frauen Gewalt angetan haben. Die Methode, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, war selten eine gute Idee. Dass sich die Selbstmordrate unter Müttern belegtermaßen in Grenzen hält, wäre kein Argument gegen eine Romanfigur, die anders handelt. Aber Helenes Suizid als Aufhänger für Fallwickls Rundumschlag gegen das Patriarchat ist einfach zu dick aufgetragen und bloßes Exempel in einem literarisch plakativ inszenierten Geschlechterkampf. SARA SCHAUSBERGER


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Die Ekstasen der Ebene Der Australier Gerald Murnane ist als literarischer Solitär zwischen Kafka und Borges neu zu entdecken in Mann sitzt in der Bibliothek eines E Herrenhauses und schreibt. Die Bücher, die ihn umgeben, hat er nie gelesen. Viel-

leicht schlägt er sie irgendwo auf und findet einen Satz, der vorüberzieht wie die Wolken am Himmel. Oder er sucht die Buchrücken an den Wänden nach farbigen Mustern ab, die sich im Zusammenspiel ergeben. Wenn er aufsteht, um aus einem Fenster zu schauen, blickt er auf Pappelreihen, Brunnen, Stangen und eine weite, unendliche Ebene. Die Leere, die ihn umgibt, nennt er „Alföld“, wie die Große Ungarische Tiefebene. Sein Dorf liegt dort in der Nähe von Kunmadaras im Komitat Szolnok. Diese Namen lassen sich auf Landkarten finden. Landkarten liest der Mann lieber als Bücher, um sie nach den Ebenen und Prärien dieser Welt abzusuchen. Tatsächlich befindet sich der Schreibtisch des Autors Gerald Murnane im Südosten Australiens, im Melbourne County.

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Von Geburt an fehlt Murnane der Geruchssinn. Blumen sind für ihn nur Form und Farbe. Durch das Sinnliche hindurch ist der Autor auf der Suche nach Transzendenz

Das Grasland dort ist längst bebaut, doch sei-

ne Kindheit wurde von der Landschaft geprägt, die es jetzt nur noch in seiner Erinnerung gibt. Murnane, inzwischen 81 Jahre alt, hat diesen Distrikt in seinem ganzen Leben nie verlassen. All seine Bücher sind hier angesiedelt, in den „Ebenen“, den „Grenzbezirken“ – so die Titel der seit 2017 auf Deutsch erschienenen Romane, mit denen dieser seltsame, irgendwo zwischen Borges und Kafka anzusiedelnde Solitär der australischen Literatur hierzulande endlich zu entdecken ist. Der Suhrkamp Verlag, der sich mit den kristallklaren Übersetzungen von Rainer G. Schmidt um Murnane verdient macht, hat für diesen das Adjektiv „murnanesk“ erfunden und bezeichnet „Inland“ als dessen „murnaneskesten“ Roman. Als er 1986 „Inland“ schrieb, war Gerald Murnane 47 Jahre alt, genau wie der Schreibende in seinem Buch, der sich den ungarischen Landedelmann bloß ausgedacht hat, so wie dieser

«Markus Gasser erzählt uns die bittere Wahrheit mit größtmöglicher Spannung und bösem Humor.» Julian Schütt, St. Galler Tagblatt «Ein wortgewaltiger, atemberaubender Ritt durch das puritanische Zeitalter, ein grandioser Historienfilm zwischen zwei Buchdeckeln» Susanne Rikl, gute-buecher-lesen.de

Gerald Murnane: Inland. Roman. Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt. Bibliothek Suhrkamp, 272 S., € 22, 95

wiederum sich eine Lektorin als Adressatin seiner Aufzeichnungen herbeifantasiert, die im Städtchen Ideal im US-Bundesstaat South Dakota auf sein Geschriebenes wartet. Diese ideale Leserin sitzt dort im „Institute of Prairie Studies“, wo die Zeitschrift „Hinterland“ ediert wird, die aber wohl deswegen nie erscheint, weil es Streit um die Besetzung der Chefredaktion gibt. Alles, was Murnane zu Papier bringt, ist Vor-

stellung oder Erinnerung. Das „Inland“ bezeichnet nicht nur die Ebenen, die es ihm angetan haben, sondern mehr noch das Land im eigenen Inneren. Die Vorstellung führt hinaus in die Weite und in Welten, die der eigenen ähneln. Murnane entwirft ein Spiegelkabinett der Bilder und Landschaften, sodass man bei der Lektüre bald nicht mehr weiß, wer sich wen ausgedacht hat. Der immer wieder direkt angesprochene Leser – bzw. die Leserin in den USA – ist genauso Imagination wie das eigene Ich, das am Tisch sitzt und schreibt oder auch nur davon träumt, wie es schreibt. Nach und nach bekommt dieses schreibende, träumende, sich erinnernde Ich aber immer deutlichere Konturen. Der Landedelmann und seine Lektorin gehen schließlich verloren, während sich die australischen Erinnerungen in den Vordergrund drängen. Es geht um erste Liebesversuche mit zwölf, zahlreiche Umzüge, Goldfische in einem Wasserglas, eine Hündin, die vom Vater mit dem Hammer erschlagen wurde, Gottesdienste, baltische Flüchtlinge im Jahr 1951 und um Wettschulden, die der Vater bei Pferderennen anhäufte – eine Leidenschaft, die Murnane mit ihm teilt, so wie sich diese Erinnerungen überhaupt lesen, als wären sie autobiografische Bruchstücke einer herben, verlorenen Kindheit. Das Erwachsenwerden beginnt mit der Erkenntnis, dass nichts auf der Welt einfach das ist, als was es erscheint.

Ernst Peter Fischer erzählt so anekdotenreich wie wissenschaftlich anschaulich und versiert vom großen Jahrzehnt der Physik zwischen 1922 und 1932, seinen genialen Protagonisten und von den ungeheuren Folgen, die der damals vollzogene Wandel mit sich bringen sollte.

Murnane schreibt sinnlich, und das bedeutet hier vor allem: visuell. Seine Prosa ist voller Farben, überall finden sich Fenster, tun sich Durchsichten auf. Das hat auch damit zu tun, dass der Autor, so wie auch sein Ich-Erzähler, über keinen Geruchssinn verfügt: Blumen sind für ihn bloß Form und Farbe. Dieses Defizit beschert ihm allerdings auch die Gewissheit, dass wir nie alle Dimensionen der Welt erfassen können. Durch das Sinnliche hindurch ist Murnane auf der Suche nach Transzendenz. Die Bibliothek inmitten der Ebene, in der sein Schreibender sitzt, ist dafür der symbolische Ort. Zentral ist deshalb ein Satz von Paul Éluard, den er in einem seiner ungelesenen Bücher findet: „Es gibt eine andere Welt, aber sie ist in dieser hier.“ Murnanes Prosa steckt voller Rätsel, Absurditäten und Leerstellen. Und vielleicht sind es gerade die Pausen, die – so wie auch in der Musik – eine besondere Bedeutung haben, weil sie es erlauben, innezuhalten und die durchgespielten Themen nachwirken zu lassen. Mit einer ebensolchen Zäsur endet „Inland“: einem Spaziergang über den Friedhof, auf dem der Blick auf die Ebenen auch in der Gegenwart noch möglich ist. Hier will Murnane, will sein Erzähler einmal be-

graben sein. Die Stille, die sich nach dem Gesang der Vögel einstellt, hört er schon. Und er schließt, indem er das Ende von Emily Brontës „Sturmhöhe“ zitiert, einen Satz, der in seiner Schönheit von Murnane selbst stammen könnte: „Ich verweilte ein wenig bei ihnen unter diesem sanften Himmel, sah die Nachtfalter zwischen Heidekraut und Glockenblumen umherfliegen, lauschte, wie der Wind leicht durch das Gras strich, und wunderte mich darüber, dass jemand sich einbilden könne, es gäbe etwas in der Welt, was den letzten Schlummer der Schläfer in diesem stillen Stückchen Erde stören könnte.“ JÖRG MAGENAU


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Zigaretten rauchen und auf Rache sinnen Ein Band mit frühen Kolumnen macht klar, warum die einst von Andy Warhol entdeckte Kolumnistin Fran Lebowitz Kult ist

ry Finn“, als an jenen Twain, der – ähnlich seinem auf der europäischen Seite des Atlantiks in einem völlig anderen Metier wirkenden Pendant Winston Churchill – mit seinen bissigen Bemerkungen und geistreichen Seitenhieben ganze Humor-Anthologien im Alleingang hätte füllen können. Einen hoffnungsvollen Jungdichter, der ihn um einen Kommentar zu einem Zweizeiler gebeten hatte, ließ Mark Twain etwa wissen: „Sehr nett trotz einiger langatmiger Passagen.“ Jede Zeit und jeder Ort hat seine klugen Clowns und seine glühend verehrten Schandmäuler. Die USA des 19. Jahrhunderts hatten Mark Twain. Das New York der Gegenwart (und des halben Jahrhunderts davor) hat Fran Lebowitz. Stößt man auf ihren Namen, dann meist in Kombination mit den Attributen „Kult“ oder „Ikone“. Es gibt Anlass zur Vermutung, dass man das Zeug zur Ikone von vornherein in die Wiege gelegt bekommt und es sich nicht erst mühsam aneignen muss. Bei Fran Lebowitz, New Yorker Schriftstellerin, Humoristin, Schauspielerin und heiß begehrter Talkshow-Gast, dürfte das jedenfalls der Fall gewesen sein, wiewohl ihre Wiege bei ihrer Geburt im Jahr 1950 in der eher bescheidenen Umgebung einer jüdischen Möbelhändlerfamilie in New Jersey gestanden hatte. Ihr Stern ging auf, als sie, gerade erst der

High School entwachsen und in New York als Putzfrau und Taxifahrerin zugange, begann, Kolumnen für Andy Warhols legendäre Zeitschrift Interview zu schreiben. Seither strahlt dieser Stern über New York und leuchtet aufs Unterhaltsamste aus, was es im Big Apple zu kommentieren gibt. Wer Lebowitz heutzutage zuhören will, schaut sich am besten Martin Scorseses wunderbare Netflix-Doku-Serie „Pretend It’s a City“

aus dem Jahr 2021 an, in der Scorseses langjährige Busenfreundin die meinungsstarke Hauptrolle spielt und im Gespräch mit anderen New Yorker Größen – Scorsese selbst, Alec Baldwin oder Regisseur Spike Lee – ihre Ansichten zu allem und jedem kundtut: ebenso selbstbewusst wie stets ikonisch todschick in breitschultrige Blazer und Cowboystiefel aller Art gewandet. Wie sich umgekehrt die junge Fran Lebowitz

anhört, lässt sich trefflich anhand des Bandes „New York und der Rest der Welt“ nachvollziehen. Er versammelt Kolumnen, die sie im Alter zwischen Anfang 20 und Anfang 30 verfasst hat, sprich in den 1970erund frühen 1980er-Jahren. Üppige Zeiten in New York, voller Raubrittertum und exzessiver Lebensentwürfe. Als Chronistin mittendrin: Fran Lebowitz, die inbrünstig ihren beiden größten Leidenschaften frönt – „Zigaretten rauchen und auf Rache sinnen“. Ungestört Zigaretten zu rauchen ist in New York mittlerweile genauso schwierig geworden wie überall sonst auch. In Lebowitz’ alten Kolumnen hingegen wird allenthalben getschikt und ausgiebig bis weit in den Nachmittag hinein geschlafen. Es wird über die Natur und Pflanzen gelästert, wie man es von einer kunstaffinen, jüdischen Großstadtpflanze erwarten darf. New Yorker Schriftsteller, Agenten oder Presseleute kriegen ihr Fett ab, während sich Fran Lebowitz selbst zu einer Art schreibendem Oblomov stilisiert, dessen Hauptattribute gepflegte Untätigkeit, Lektüre und spätabendliches Ausgehen sind. Kinder sind in dieser Peergroup naturgemäß selten, obwohl sich selbst „innerhalb der bohemistischen Kreise hartnäckig kleine Inseln der Häuslichkeit halten“, die Lebowitz dazu anregen, auch Teenager, Kinder und Eltern mit ihren Ratschlägen zu versorgen. Haustiere? Fehlanzeige. Anstelle eines Haustiers rät Lebowitz zu einer Entourage. „Eine Entourage müssen Sie nicht

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In Martin Scorseses NetflixDoku-Serie „Pretend It’s a City“ spielt Lebowitz die Hauptrolle und tut ihre Meinung zu allem und jedem kund

spazierenführen, im Gegenteil, eine der wesentlichen Funktionen einer Entourage besteht darin, dass sie Sie spazieren führt.“ Die Unerschwinglichkeit von Wohnungen in Manhattan ist ebenso Dauerthema wie konstantes LA-Bashing. Warum steht vegetarische Ernährung in Los Angeles so hoch im Kurs? „Ursächlich dafür scheint der Glaube zu sein, dass Obst und Gemüse aus biologischem Anbau Kokain schneller wirken lassen.“ Was die Themenauswahl anbelangt, geht es bei Fran Lebowitz also genauso zu, wie man es erwarten darf und wie es das Handbuch für rechthaberischen, fein beobachtenden Witz in der hochgebildeten, hardboiled New-York-Variante erwarten lässt. Wenn es um die Machart ihrer Texte geht, erweist sich Stilikone Lebowitz als Freundin von Punktelisten und kleinen Zusammenstellungen mit wohlformulierten Ratschlägen für alle Lebenslagen: Von „Mit ärmeren Personen warm werden“ über „Tipps für Teenager“ bis hin zu „Jeder hat das Recht zu tun und zu lassen, was ich für richtig halte“; wobei für Letzteres noch drei Kriterien schlagend werden: „Ist es attraktiv?“, „Ist es amüsant?“ und „Weiß es, wo es hingehört?“. Der klassische Lebowitz-Ductus sieht eine

Fran Lebowitz: New York und der Rest der Welt. Deutsch von Sabine Hedinger und Wili Winkler. Rowohlt Berlin, 347 S., € 23,30

geistreiche Einleitung aus einer Reihe von Bonmots, scharfen Beobachtungen und spitzen Anmerkungen vor, die schließlich in einen prototypischen Satz wie diesen münden: „Angesichts all dessen habe ich eine kleine Liste erstellt ...“ Die Oberlehrerin als Humoristin! Dabei ist Lebowitz extrem kurzweilig und, wie man nostalgisch feststellen möchte, politisch erfrischend unkorrekt, gegen den Strich gebürstet, selbstironisch und so geistreich, dass man einzelne ihrer Sätze am liebsten in Schönschrift abmalen, rahmen lassen und sich an die Wand hängen würde. JULIA KOSPACH

ILLUSTRATION: GEORG FEIERFEIL

rinnern wir uns an den guten alten E Mark Twain. Und zwar weniger an den Autor von „Tom Sawyer und Huckleber-


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Obdachlos in Europa In Roman „Demut“ erzählt Szczepan Twardoch eindrücklich von einem Mann, der ins Räderwerk der Geschichte gerät er Mond scheint hell über Flandern, D als der Offizier Alois Pokora einigen Männern des schlesischen Pionier-Batail-

lons Nr. 6 bedeutet, noch zu warten. Wenig später gibt er den Befehl zum Angriff auf die britischen Soldaten auf der gegnerischen Seite. Ende Oktober 1918 ist der Große Krieg fast vorbei. Pokora wird schwer verwundet und erwacht 19 Tage später in einem Berliner Krankenhaus. „Sie haben das Ende der Welt verschlafen, Herr Leutnant“, sagt die Diakonissin, die sich um ihn kümmert. Der deutsche Kaiser, auf den Pokora seinen Eid geschworen hat, ist in die Niederlande geflohen. Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann hat die Republik ausgerufen. Kurz danach betrat der Kommunist Karl Liebknecht den Balkon des Berliner Schlosses und proklamierte ebenfalls eine Republik, allerdings eine sozialistische. Wir befinden uns in einer Zwischenzeit, die für einen weiteren rauschhaften Roman von Szczepan Twardoch, einem der bekanntesten Schriftsteller Polens, wie geschaffen ist. Eine alte Ordnung bricht zusammen, niemand weiß, was kommen wird. Ideologen jeglicher Ausrichtung sind auf Menschenfang. Schon in seinem Roman „Morphin“ (Rowohlt, 2014), der Twardoch zum Durchbruch verholfen hat, stolpert der Protagonist unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf Polen im Jahr 1939 durch ein Gebiet, das nach mehreren Teilungen und Tilgungen von der Landkarte einer unbekannten Zukunft gegenübersteht.

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Der Konflikt, der Schlesien nach dem Ersten Weltkrieg zerreißt, spiegelt sich in der Sprache wider: Spricht man nun Wasserpolnisch, Polnisch oder Deutsch?

Auf Polnisch trägt das neue Buch den Titel „Po-

kora“, den Nachnamen des Ich-Erzählers, der auf Deutsch eben „Demut“ bedeutet. Das Kriegsende, die Versuche, eine Revolution in Deutschland nach russischem Vorbild durchzuführen und die ersten Anzeichen von sexueller Befreiung schaffen einen Rahmen, um die eigentliche Geschichte zu erzählen, die von unaufhörlicher Gewalt

Szczepan Twardoch: Demut. Roman. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt, 464 S., € 25,70

und ständigen Demütigungen handelt. Agnes, eine Bürgerstochter und Pokoras große Liebe, benutzt diesen nur für ihre perfiden Machtspiele und Erniedrigungen. Seine Abhängigkeit von ihr und seine Gedanken an sie tragen den Roman; der Wunsch, eines Tages für Agnes mehr als nur ein Objekt der Verachtung zu sein, treibt ihn an. Alois Pokora kommt 1891 als Sohn eines ar-

men Bergmanns in Schlesien, damals Teil Preußens, zur Welt. Wie schon alle seine Brüder soll auch er eines Tages im Kohlebergwerk schuften. Doch der Pfarrer bewahrt ihn davor und kommt für die Ausbildung am Gymnasium auf. Ein zweifelhaftes Glück. Der eigenen Familie entfremdet, wird Alois zugleich von seinen wohlhabenderen Schulkollegen verachtet und gedemütigt. Vor allem der „Rüpel“ quält Alois Tag für Tag, indem er ihn verprügelt, ihn auf alle Viere zwingt und ihm befiehlt, wie ein Hund zu bellen. „Einmal hielt es der Rüpel, wütend, dass ihm das Vergnügen am Vortag entgangen war, für angebracht, auf mich, der ich aus Lippen und Nase blutend auf dem Boden lag, zu pinkeln.“ Pokora fühlt sich nirgends zugehörig. Er hat zwar einen Ort zum Wohnen, doch „damals und bis heute bin ich obdachlos geblieben“. Diese Empfindung betrifft auch den Ort seiner Herkunft, Schlesien. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs existiert Polen schon seit über 140 Jahren nicht mehr. Schlesien ist Teil Preußens. 1918 wird Polen wiedererrichtet, was zu einer Zerreißprobe des Gebietes zwischen dem neuerstandenen Staat und Deutschland führt. Dieser Konflikt betrifft ganz wesentlich auch die Sprache. Verständigt man sich nun auf Wasserpolnisch – dem schlesischen Dialekt mit alter polnischer Grammatik und vielen Germanismen –, auf Polnisch oder auf Deutsch? Twardoch hat sich zu dieser Frage immer wieder öffentlich geäußert. Er selbst deklariert sich nicht als Pole, sondern als

Schlesier. Die Handlung seines Romans, die die Jahre 1918 bis 1921 umfasst, endet also nicht zufällig mit der Volksabstimmung über jenen Landesteil, der schließlich zwischen Deutschland und Polen aufgeteilt wird. Alois Pokora ist zu schwach, um sich festzulegen. Bei seinem Studium in Breslau wendet er sich zuerst „polnischen Agitatoren“ zu, meldet sich dann aber 1914 bei der deutschen Armee. Nach 1918 schließt er sich den Revolutionären um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht an und wird gefangengenommen. Nirgends fühlt er sich tatsächlich daheim, die Frage „Wer bin ich?“ kann er nicht beantworten. Auch nicht, als er wieder nachhause zurückkehrt, aus beruflichen Gründen Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei wird und sich an einem kleinbürgerlichen Leben mit Frau und Kind versucht. Pokora scheitert. Krieg, Gewalt und Demütigungen holen ihn immer wieder ein, machen ihn unfähig, Entscheidungen zu treffen; lassen ihn um Gnade flehen, wenn ihm der Tod droht. Szczepan Twardoch hat mit „Demut“ einen wei-

teren großartigen Roman geschrieben. Die anschaulich dargelegten historischen Ereignisse dienen ihm dabei als Hintergrund. Doch noch mehr interessieren ihn die Zwischentöne in der Zwischenzeit, die nicht selten zu einem angsteinflößenden Donnergrollen anschwellen. Dabei scheut sich Twardoch nicht, überwältigende Bilder zu zeichnen; er arbeitet mit Wiederholungen, die für einen mitreißenden sprachlichen Rhythmus sorgen. Wohin verirrt sich einer, der nirgends hingehört? Kann er aus seinem Taumel ausbrechen und wieder Tritt fassen? Der Autor gibt darauf keine Antworten. Er tut das, was er am besten kann: einem Menschen in den Wirrnissen der Geschichte ein wenn auch oft entstelltes Gesicht zu geben. STEFANIE PANZENBÖCK


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Ein Tag im Leben von Kroschka & Co

Geigenspiel und Weichenstellung

Katarina Poladjans Roman „Zukunftsmusik“ erzählt meisterlich knapp von einem Kipppunkt der Geschichte

In „Wunderkind Erjan“ evoziert Hamid Ismailov die kasachische Steppe als magischen Raum

ach der Oktoberrevolution und N dem Ende des Bürgerkriegs war der Wohnraumbedarf in den gro-

Vom Kaspischen Meer im Westen bis zur Mongolei im Osten breitet sich die kasachische Steppe als gespenstische Leere aus. Auf Satellitenbildern erkennt man Eisenbahnstrecken als feine graue Linien. In einem dieser Züge sitzt ein paar Tage schon ein Mann, als ein Kind durch den Waggon geht, das auf seiner Geige atemberaubend einen Ungarischen Tanz von Johannes Brahms spielt. Er will mit dem Jungen ins Gespräch kommen, doch die Antworten kommen patzig. Zuallererst will er einmal klarstellen, dass er Erjan heißt, kein Kind mehr ist, sondern 27 Jahre alt – was er mit seinen Papieren beweisen kann. Und dann erzählt er einen Tag und eine Nacht und noch einen Tag lang seine Geschichte.

ßen Städten der jungen Sowjetunion groß. Also verwandelte man die oftmals stattlichen Altbauwohnungen der enteigneten Bourgeoisie in Kommunalkas. Solche Gemeinschaftswohnungen beherbergten zuweilen mehr als 50 Menschen. Herrschaftliche Räumlichkeiten wurden durch Trennwände zu Zimmerchen zurechtgestutzt. Bad, Klo und Küche mussten sich die einquartierten Bewohner und Familien teilen. Noch bis zum Ende der Sowjetunion und darüber hinaus gab es diese Kommunalkas, in denen – wie der Historiker Karl Schlögel einmal schrieb – der Ausnahmezustand zum Alltag geworden war. Etliche sowjetische Romane und Kinofilme haben sich die Kommunalwohnungen als Szenerie erwählt; der Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky schrieb über seine Jugend in einer Leningrader Gemeinschaftsunterkunft, und der Künstler Ilja Kabakow widmete ihr eine monumentale Installation. In einem solchen Laboratorium sozialen Verhaltens spielt auch der neue, vierte Roman der 1971 in Moskau geborenen und in Berlin lebenden Autorin Katerina Poladjan. Wir schreiben das Jahr 1985 und befinden uns irgendwo tausende Kilometer östlich der Hauptstadt. Eine Glühbirnenfabrik gibt es dort, ein Institut, das sich mit Fragen der Schwerkraft beschäftigt, ein Krankenhaus und ein Museum für Natur- und Völkerkunde. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Kommunalka, die uns Poladjan nach und nach vorstellt, arbeiten an diesen Orten – aber die zentrale Bühne bildet die Gemeinschaftswohnung, in der sich die alltäglichen Dramen abspielen: Wie lange blockiert jemand das Bad? Ist der nachbarliche Küchentisch größer als der eigene? Und wie nur verheimlicht man unter diesen Umstände eine Affäre? Hinter diesen Fragen verbirgt sich jene

nach dem persönlichen Glück unter den gegebenen Verhältnissen. Findet man lediglich in Tagträumen Zuflucht, um das Leben dann letztendlich zu akzeptieren, so wie es ist? Poladjan exerziert diese existenzielle Dimension anhand ihrer Figuren durch. Da sind etwa Warwara, Maria, Janka und Kroschka; Urgroßmutter, Großmutter, Tochter und Enkelkind – eine Notgemeinschaft aus vier Generationen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Hoffnungen, die sich wenige Quadratmeter teilen. Alle vier schwanken zwischen Desillusionierung, Pragmatismus und Träumerei. Warwara hat ein Verhältnis mit dem verheirateten Mitbewohner, Maria

denkt viel über ihr Leben nach und wird das Gefühl nicht los, es zu vergeuden. Janka arbeitet nachts in der Fabrik und ist tagsüber eine talentierte Sängerin mit wütender Zukunftshoffnung. Für die Liebe hat sie keine Zeit, obwohl es zwei Männer gibt, die nicht von ihrer Seite weichen. Und dann ist da noch der Ingenieur Matwej Alexandrowitsch, der zumindest nach außen hin an der „großen Idee“ festhält: Inbrünstig schmettert er die Lieder der Partei, versucht er die Zweifel an seinem Tun auch dann noch zu unterdrücken, als ein junger Student, der sich an seinem Institut für ein Experiment zur Verfügung gestellt hatte, ums Leben kommt. Die kleinen, pointierten Szenen und

Dialoge, in denen Katerina Poladjan dieses vom Schicksal und der Geschichte zusammengewürfelte Ensemble auftreten lässt, wirken wie nebenbei hingeworfen. Und doch werden die Figuren in ihren lakonischen, filmisch wirkenden Auftritten zu äußerst prägnanten und bestechend lebendigen Charakteren. Es ist nur ein kurzer Zeitraum, den Poladjan in ihrem schmalen, meisterhaft erzählten Roman in den Blick nimmt: der 11. März 1985. Morgens schallt an diesem Tag Chopins Trauermarsch aus dem Transistorradio, und jeder Hörer weiß, was das bedeutet: ein ZK-Mitglied ist gestorben. In diesem Falle: Generalsekretär Konstantin Tschernenko. Noch ahnen die Bewohner der Kommunalka nicht, welche Konsequenzen dieser Tod hat und dass mit dessen Nachfolger Michail Gorbatschow ein neuer Wind durch die Sowjetrepubliken wehen wird, dass also tatsächlich schon Zukunftsmusik in der Luft liegt. Katerina Poladjan macht durch ihren verknappten Stil und durch einige magische Elemente, die sie dezent in ihren Text einschmuggelt, das Transitorische des Moments und die Zerrissenheit ihrer Figuren spürbar. Es ist wie ein kurzes Atemholen, bevor die Welt gänzlich durcheinandergewirbelt wird. „Eine Geschichte ging zu Ende“, denkt sich Matwej, als er am Radio vom Tod Tschernenkos hört, „eine andere begann.“ Und was für eine! ULRICH RÜDENAUER

Katerina Poladjan: Zukunftsmusik. Roman. Fischer, 187 S., € 22,95

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Der Roman öffnet Fenster in eine Welt, deren Archaik auf faszinierende Weise unheimlich erscheint Die beginnt in Qara-Shagan, zwei Häusern, die mitten in die Steppe gesetzt wurden – an der Stelle, wo es auf der eingleisigen Fernstrecke ein Ausweichgleis gibt, auf dem Schnellzüge Güterzüge überholen können. Erjans Großvater bediente die Weichen, in seinem Haus wuchs er auf, zusammen mit einer Handvoll Verwandten. Im anderen Gebäude wohnte eine Kollege des Großvaters sowie dessen Enkelin Aysulu. Der Großvater spielt die Dombira, eine Langhalslaute. Erjan, der schon in jungen Jahren als sein hoch begabter Schüler auffällt, hält sich damit aber nicht lange auf und sattelt auf die Geige um – unter Anleitung eines Bulgaren, der in der nahe gelegenen „Zona“ arbeitet. In atemberaubendem Tempo erlernt er internationales Konzertrepertoire, man nennt ihn fortan, und zwar auf Deutsch, das „Wunderkind“. Als frühreif erweist sich Erjan aber nicht

nur als Musiker, sondern auch in seiner Beziehung zu besagter Aysulu. Schon als Kinder kommen sich die beiden auf eine Weise nahe wie andere erst in den Jahren der Pubertät. Die beiden könnten als märchenhaftes Paar auch in den kasachischen Sagen vorkommen, die ihre Großmütter erzählen. Ihre Geschichte aber nimmt ein schlimmes Ende. Als Erjan zwölf

Jahre alt ist, unternimmt die Schulklasse einen Ausflug in die „Zona“, in der wirklichen Welt das Atomwaffentestgelände von Semipalatinsk, wo zu Sowjetzeiten 468 Kernexplosionen stattfanden. In einem unbeobachteten Moment stürzt er sich in den „Toten See“, der angefüllt ist mit Schwerem Wasser, einem Rückstand der Atomexplosionen. Nach Monaten zeigen sich die Folgen: Er hat aufgehört, zu wachsen; Aysulu wird ihn bald um einen Kopf überragen. Das einst gefeierte Wunderkind ist jetzt ein Außenseiter, der sich in Fernzügen ein paar Rubel zusammenbetteln muss. Hamid Ismailov, der seit langem in Lon-

don lebt, wuchs selbst in Kasachstan auf und kennt die Welt dieses Wiedergängers von Oskar Matzerath, der seinen Mitreisenden auf einer endlosen Eisenbahnreise mit seiner Lebensgeschichte unterhält wie einst schon Posdyschew in Tolstois „Kreuzersonate“. Er verwandelt die Leere der kasachischen Steppe in einen magischen Raum der Ungleichzeitigkeiten, wo die Großmutter ihrem Enkel die Welt mit Sagen zu erklären versucht, während der Großvater als Agent der Moderne die Weichen stellt. Die Tiere sind den Menschen ganz nahe, spielen ihre feste Rolle in diversen Ritualen und verfügen über ein eigenes Wissen von der Welt, das sie freilich nicht preisgeben. Und aus der fernen DDR schickt immer mal wieder Dean Reed, Elvis Presleys Stellvertreter in den Staaten des Warschauer Pakts, Grüße in Erjans Kinderzimmer. Über die Monotonie der Steppe legt sich ein vielgestaltiges kulturelles Patchwork, das Andreas Tretner in seiner für den Leipziger Preis nominierten Übersetzung geschickt und mutig nachbildet. Der Text selbst ist auf Russisch verfasst, aber in Gedichten, Eigennamen und Begriffen finden sich viele kasachische Einsprengsel, die er nur transkribiert (in einem Glossar findet sich dann die Übersetzung). So öffnet dieser Roman immer wieder Fenster in eine Welt, deren Archaik einer westeuropäischen Leserschaft auf faszinierende Weise unheimlich erscheinen mag – und weckt nun, da die Geister der UdSSR aus ihren Gräbern steigen, aber auch beklemmende Gefühle. TOBIAS HEYL

Hamid Ismailov: Wunderkind Erjan. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Friedenauer Presse, 150 S., € 20,95


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Das Schweigen der Rose Mit „Omertà“ hat Andrea Tompa einen fetten und vielstimmigen Roman über das kommunistische Rumänien geschrieben ie Rose hat es nicht leicht im KomD munismus, die rote Rose schon gar nicht: zu edel, zu luxuriös, zu feudal oder

zu bürgerlich. Neue Zeiten fordern neue Blumen. Als offizielle Arbeiterbewegungsblume firmiert bekanntlich die rote Nelke, Emblem des Fortschritts und der proletarischen Schlichtheit. Ganz Rumänien verlange jetzt nach Nelken, seufzt Vilmos, der Rosenzüchter, weil die jetzt eine „progressive Blume“ sei. „Aber eine Nelke ist nicht ewig. Die Rose ist ewig, und die Nelke ist nur eine Blume. Das kann man nicht erklären.“ Jedenfalls keinem Parteifunktionär. Eigentlich hat Vilmos Décsi, die Zentralfigur aus Andrea Tompas Roman „Omertà“, für die neuen rumänischen Verhältnisse einen unmöglichen Beruf. Er züchtet in der Nähe von Klausenburg (oder Cluj-Napoca) mit autodidaktischer Akribie Rosen, die landesweit und sogar im Ausland für Aufsehen sorgen. Natürlich passen Tätigkeiten wie Rosenzüchtung oder gar -veredlung nicht in die neue politische Landschaft, noch weniger die Mendel’sche Vererbungslehre, der Vilmos folgt. Nun soll die rumänische Landwirtschaft auf Basis der „mitschurinschen Wissenschaft“ sowjetisiert werden und Vilmos fügt sich widerwillig, aber anpassungsbereit den neuen Imperativen. Tompas Roman öffnet die Tür in eine für die hiesige Leserschaft zu wenig bekannte Welt. Klausenburg, Cluj oder Koloszvár, einst zu Ungarn gehörend, nach dem Vertrag von Trianon Rumänien zugeschlagen, im Nachkriegskommunismus dann zeitweise Hauptstadt der Ungarischen Autonomen Region, erlebt, wie das ganze Land, in der erzählten Zeit des Romans eine gewaltige Umwälzung. Man verfolgt es im Roman exemplarisch am Stadtrand von Cluj, wo die Lebenswelt der Hóstáter, einer ungarischreformierten Bevölkerungsgruppe, die sich in ihrer kleinteiligen, aber höchst ertragreichen Landwirtschaft dem neuen Diktat nicht beugen will, systematisch von neuen Plattenvorstädten verdrängt wird.

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In der virtuosen Übersetzung Térezia Moras aus dem Ungarischen liegt ,Omertà‘ als ein deutschsprachiges Sprachkunstwerk eigenen Ranges vor

Vier lange, aufeinander bezogene Erzäh-

lungen oder vielleicht eher Selbstgespräche von ebenso vielen Figuren versammelt Tompas fast tausendseitiger Roman. „Omertà“, der Titel, meint hier zunächst ein ganz spezifisches Schweigegelübde, nämlich das der franziskanischen Rosenkranzschwestern. Eleonora, Erzählerin im letzten Teil, und ihre Mitschwestern haben sich bei ihrer Entlassung aus langjähriger Haft zum Schweigen verpflichten müssen: „Dass wir über nichts reden, was im Gefängnis mit uns geschehen ist. Nichts. Omertà. Schweigebefehl.“ Aber nicht diese „Omertà“ allein meint der Roman, sondern ein gesamtgesellschaftlich wirksames Schweige- oder Verschwei-

Andrea Tompa: Omertà. Roman. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp, 950 S., € 35,–

gegebot. Nicht was die Figuren zueinander sagen, teilt der Roman hauptsächlich mit (es wäre nicht sehr viel), sondern vor allem, was sie einander verschweigen. Es wird viel verschwiegen und dennoch viel geredet. Man muss nur vermeiden, sich im Reden zu offenbaren. Kali etwa, Erzählerin im Anfangsteil, die Dienstmagd und zeitweilige Geliebte des Rosenzüchters, versteht sich trefflich aufs Märchenerzählen, wie sie es daheim bei den ungarischen „Szeklern“ gelernt hat. Was sich tatsächlich über fast 20 Jahre hinweg zwischen den vier Figuren, also Kali, Vilmos, Annuska (einer jungen Halbwaisin, die dann Vilmos’ zweite Geliebte wird) und deren Schwester, der Nonne Eleonora, ereignet hat, erschließt sich am ehesten aus den Ungereimtheiten und Euphemismen der Figurenreden selbst. Ein wie großer Opportunist und Mitläufer ist etwa Vilmos, der Rosen-„Zauberer von Békás“ wirklich gewesen? Von den zwei Frauen, die ihm nahestanden, wird man es nicht erfahren, denn er hat ihnen den Einblick in sein politisches Dasein verwehrt. Aus den gegebenen Perspektiven will einem Vilmos, diese vergrübelte, eher zartbesaitete Tüftler-Existenz, beinahe eher als ein Opfer der Umstände erscheinen. Seine Liebe zur Rosenzucht, ist man geneigt zu denken, lässt ihm keine andere Wahl als Zugeständnisse an die Staatsgewalt zu machen. Tatsächlich gelingt es Vilmos, seine Rosenfarm, nunmehr ausgebaut zu einer Versuchsstation der mitschurinschen Wissenschaft, auf höherer Ebene fortzuführen. Am Ende wird ihm sogar ein Golddiplom der internationalen Rosenschau in Paris zuteil. Die Umstände dieser ruhmreichen Auslandsreise eines verdienten rumänischen Rosenzüchters, bei der Vilmos von der „Securitate“ auf Schritt und Tritt überwacht und kujoniert wird, sind dann so beschaffen, dass wir uns Vilmos eher als armes Schwein vorstellen denn als Günstling des Systems. Wissen können wir es nicht, denn wir haben ja nur ihm zugehört in seinem zunehmend verzweifelten Monolog. Vielleicht will ja der Roman in seiner Konstruktion darauf hinaus, dass vier Mal „Omertà“ in ihren jeweiligen und komplementären Ein- und Auslassungen doch so etwas wie die Wahrheit über das Rumänien der Jahre 1948 bis 1968 offenbart, ohne dass diese regelrecht ausgesprochen würde, schon gar nicht von der Autorin selbst. Falls der Roman also doch so etwas sein soll wie der gebrochene Spiegel einer objektiven Situation, dann muss man konstatieren: Wir sind nicht allzu überrascht. So ähnlich hat man sich, auch dank anderer Quellen, den rumänischen Kommunismus mit seiner brutalen Transformation eines spätfeudalen Agrarlandes in ein kommu-

nistisches Musterkombinat (und eine Musterkolchose) vorgestellt. Tompa lenkt den Blick allerdings auf interessante Einzelheiten: etwa darauf, was es heißt, als Magd in einer Gesellschaft zu dienen, die diese Existenzform eigentlich abgeschafft hat. Es könnte also sein, dass „Omertà“ auch heute noch einen wichtigen Beitrag zur politischen Selbstverständigung Rumäniens, besonders auch in seinem Verhältnis zur ungarischen Minderheit, leistet, dass der fast tausendseitige Roman außerhalb dieses lokalen Aufklärungs- und Kommunikationsangebots aber sein ästhetisches Ziel verfehlt und seine Leser aus den Augen verliert. Dass Tompas Roman gelegentlich zur zähen

Lektüre gerät, hat zwei Gründe: Erstens ist er in seiner bestimmt gut recherchierten Faktografie oft zu dicht. Vilmos’ tagtäglicher und minuziös erzählter Hader mit den Parteifunktionären etwa quälen auf die Länge nicht nur ihn, sondern auch die Leser. Und zweitens kommen Zweifel auf an dem heute ja sehr beliebten Formkonzept des „Romans in Stimmen“. Aus der Addition beschränkter Perspektiven ergibt sich nicht zwangsläufig eine finale unbeschränkte Perspektive. Man wünscht dem Roman manchmal doch eine „richtige“ Erzählerin, mit eigener Stimme und Imagination, statt einer, die von ihr erfundene Figuren mit erfundenen Stimmen ausstattet. Terézia Mora hat „Omertà“ ins Deutsche übersetzt und dabei die komplexe Sprachlage im Ausgangstext (ungarisch, rumänisch, ländliche und städtische, nach Klassen geschichtete Sprechweisen) in einen deutschen Text verwandelt, der alle Register zieht, die möglich sind, wenn das Gleiten zwischen den Kontaktsprachen nicht infrage kommt. So lässt Mora immer wieder auch Originaltext stehen, erklärt manches in Fußnoten und schöpft ansonsten aus dem Repertoire der deutschen Umgangssprache mit ihren sozialen und regionalen Differenzierungen. Der Roman der Dienstmagd Kali bekommt so sprachlich eine ganz andere Gestalt als jener des Rosenzüchters Vilmos oder der halbwüchsigen Annuska. In Moras virtuoser Übersetzung liegt damit ein deutschsprachiges Sprachkunstwerk eigenen Ranges vor. Die Kartoffeln heißen hier zwar manchmal österreichisch „Krumpirn“ und der Teufel niederdeutsch „Deiwel“, aber man ist geneigt anzunehmen, dass solche Ungereimtheiten beabsichtigt sind. So klingt dann Kali auf Deutsch, auf der ersten Seite „ihres“ Buchs: „In die ganzen Hügel hinein, da muss man gehen, das Auge sieht sie nicht, weil die Erde noch den Himmel berührt. Wie schön sie sich von weitem berühren.“ CHRISTOPH BARTMANN

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„Wir sind alle Geiseln von Putins Kränkung“ Für Vladimir Sorokin, den Star der russischen Gegenwartsliteratur, ist die Sowjetunion als Zombie auferstanden. Ein Gespräch über die bösartige Strahlung der Macht und die Stärke der Literatur nukowo, 30 Kilometer außerhalb W von Moskau. Anfang Februar 2022. Auf dem Wegweiser steht tatsächlich „Dat-

schensiedlung der Schriftsteller“. Tiefverschneiter Wald, schmucke Holzhäuser. Vladimir Sorokin (Jg. 1955), der einstige Bad Boy der russischen Literatur, lebt heute bürgerlich. „Ich bin in einem Moskauer Vorort aufgewachsen und halte diese Monsterstadt einfach nicht mehr aus.“ Sorokins Aufstieg zum Star der russischen Gegenwartsliteratur war nicht vorgezeichnet. Nach dem Studium der Chemie am Gubkin-Öl-Institut begann er Ende der 70er-Jahre als Buchdesigner zu arbeiten. Bald folgten eigene Texte, die direkt in den literarischen Underground führten. Anstatt sich offiziös den Problemen des spätsowjetischen Alltags zu widmen, wurde bei Sorokin gefurzt, gevögelt und vor allem geflucht. Sein erster Roman „Die Schlange“ (1983, dt. 1990) über die Absurdität, stundenlang vor einem Geschäft anzustehen, kam der Realität ohnedies näher als jede politische Kritik. Autorenkollegen warfen Sorokin „Stillosigkeit“, „Konzeptualismus“ oder „Postmodernismus“ vor – in Zeiten von Perestrojka und Glasnost eine Auszeichnung. Sorokins Bücher wurden zu Beginn des neuen Jahrtausends von der Putin-Jugend öffentlich angeprangert, wenig später stand eine Oper nach seinem Libretto auf dem Spielplan des BolschoiTheaters. Nach einem Dutzend Romanen, ebenso vielen Theaterstücken, Drehbüchern und Verfilmungen gilt das einstige Enfant terrible heute als lebender Klassiker. Der soeben erschienene Band „Die rote Pyramide“ enthält eine vom Autor selbst getroffene Auswahl von Erzählungen aus den letzten 20 Jahren. Die Fragen zum Krieg in der Ukraine wurden letzte Woche per Mail nachgereicht und beantwortet.

Falter: Sie haben einen Aufruf zur Beendigung des Krieges unterzeichnet, in dem alle des Russischen mächtige Menschen aufgefordert werden, die Wahrheit über diesen kundzutun. Was erhoffen Sie sich? Vladimir Sorokin: Dass es jene, die von Putins Propaganda zu Zombies gemacht wurden, zum Denken bringt. Worte haben im Moment eine besonders große Bedeutung, sie können die Kanonen stoppen.

Angeblich gibt es eine breite Unterstützung des Krieges durch die Bevölkerung. Sorokin: Das glaube ich nicht. Die Leute wurden durch die massive Unterdrückung aller Proteste in Angst und Schrecken versetzt. Was halten Sie von den ukrainischen Aufforderungen, russische Künstler und Schriftsteller zu boykottieren?

Sorokin: Ich halte das für einen Fehler, eine

Folge des Krieges. Wenn ich nicht irre, hat während des Zweiten Weltkriegs niemand dazu aufgerufen, Thomas Mann zu boykottieren, nur weil er auf Deutsch schrieb.

Sie sind jetzt in Deutschland. Können Sie später wieder nach Russland zurückkehren? Haben Sie Angst vor Verhaftung und Repression? Sorokin: Ich denke heute nur an eines: wann wird dieser sinnlose und verbrecherische Krieg endlich beendet! Warum tut Russland alles, um dem Bild des verrückt gewordenen Ostens zu entsprechen? Sorokin: Das ist die Folge eines mittlerweile schon 20 Jahre andauernden Kurses, mit dem Westen zu brechen und in die sowjetische Vergangenheit zurückzukehren. Als die Sowjetunion zerfallen ist, hätte man den Leichnam des Imperiums verscharren müssen, wie das Deutschland seinerzeit getan hat. Jelzin und seine Demokraten meinten aber, dass das gar nicht nötig sei, weil er von selbst verrotten würde. Allerdings ist diese Leiche mittlerweile als Zombie auferstanden, hat eigentlich keine Kraft mehr, aber noch immer die alte Impertinenz und den Wunsch, der Welt Schrecken einzujagen. Aber wozu? Moskau ist heute eine moderne Stadt, die Leute sind freundlicher als früher. Sorokin: Die letzten 30 Jahre mit freiem Markt und offenen Grenzen, das erzieht. Viele meinen sogar, dass das Service in russischen Restaurants, Hotels und Geschäften oft besser ist als in Europa. Aber leider gibt es in Russland ein ernsthaftes Problem. Nämlich welches? Sorokin: Davon handelt mein neues Buch „Die Rote Pyramide“. Gemeint ist die Pyramide der Macht, die seit dem 16. Jahrhundert nicht mehr modernisiert wurde, als Iwan der Schreckliche seine „Opritschniki“ [Angehörige der Leibgarde, Red.] schuf. Diese Konstruktion hat sich bis heute nicht geändert: An der Spitze der Pyramide steht eine Person, und von der hängt alles ab. Das war zu Zeiten von Iwan dem Schrecklichen so, von Nikolai I., Nikolai II., Stalin, Breschnew und Andropow bis zu Putin. Eine Person, die alle Rechte hat, entscheidet alles. Von der Pyramide gehen mysteriöse Strahlen aus … Sorokin: Es ist wie im „Herr der Ringe“: Einer steckt sich den magischen Ring an und mutiert in die übelste Richtung. Genau das ist mit Putin passiert. Schauen Sie sich sein Gesicht an, wie es vor 20 Jahren ausgesehen hat und wie es heute aussieht. Das ist ein völlig anderer Mensch – die Folge der Strahlung dieser Pyramide.

INTERVIEW: ERICH KLEIN ILLUSTRATION: GEORG FEIERFEIL

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Im Grunde genommen ist Russland noch immer eine Monarchie: Es gibt einen Zaren mit seiner Garde, und der Rest sind Untergebene. Und jeder dieser Untergebenen kann verhaftet, ins Gefängnis geworfen, erniedrigt und vernichtet werden VLADIMIR SOROKIN

Vladimir Sorokin wurde 1955 in Bykowo bei Moskau geboren. Mit seinen Erzählungen, Theaterstücken und Romanen wie „Die Schlange“, „Der himmelblaue Speck“ oder „Der Tag des Opritschniks“ zählt er zu den Hauptvertretern der russischen Postmoderne, aber auch zu den dezidiertesten Regimekritikern

Worin besteht eigentlich Russlands Problem mit der Ukraine? Sorokin: Putin sieht es als persönliche Beleidigung durch die Ukraine an, dass sie einen anderen Weg eingeschlagen hat. Das kam für ihn unerwartet. Was noch unangenehmer war: es geschah während der Olympiade 2014 in Sotschi. Und das kann er der Ukraine nicht verzeihen. Wir alle sind Geiseln seiner Kränkung. Der Protagonist der Titelerzählung steht für die Abrechnung mit den russischen „Sechzigern“, die einst für Reformen standen. Jetzt hat er massive Herzprobleme. Sorokin: Es ist ein gewöhnlicher Sowjetmensch aus den Jahren 1961/1962. Er war zuerst Student einer angesehenen Hochschule, dann Journalist und schließlich Chefredakteur einer bekannten Zeitung. Knapp vor seinem Tod sieht er diese rote Pyramide, die den Sowjetmenschen bis auf die biologische Ebene deformiert hat. Sie nehmen sich selbst davon aus? Sorokin: Mir hat geholfen, dass ich im Alter von 20 Jahren in den Kreis des Moskauer Undergrounds geraten bin. Diese Szene war ein Schutzschild gegen diese Vibrationen, durch die meine ehemaligen Studienkollegen deformiert wurden. Sie hatten diesen Schutzschild nicht. Darum geht es in dieser Erzählung. Die Modernisierung, auf die Moskau so stolz ist, hat offenbar wenig gebracht.


LITERATUR

Sorokin: Im Grunde genommen leben wir

Sorokin: Als mein noch im Underground ge-

immer noch in einer Monarchie: Es gibt einen Zaren mit seiner Garde, und der Rest sind Untergebene. Und jeder dieser Untergebenen kann verhaftet, ins Gefängnis geworfen, erniedrigt und vernichtet werden. Wenn im Westen ein Polizist Helfer oder Beschützer sein kann, ist er in Russland im besten Fall ein Aufseher und im schlimmsten Fall ein Bandit, der dich bestiehlt und auch noch ins Gefängnis bringen kann.

In Ihren Erzählungen geht es oft um Sex und Gewalt, was in der russischen Literatur offenbar noch immer irritiert. Sorokin: Mich irritiert es nicht, aber ich bin natürlich ein verdorbener Leser. (Lacht.) Wenn wir über zeitgenössische Literatur in Russland sprechen, so ist ein Faktor besonders wichtig: Das Fernsehen ist ziemlich heruntergekommen und dient nur noch der Propaganda. Viele haben überhaupt aufgehört fernzusehen, vor allem die jungen Leute, die ihre Informationen aus dem Internet beziehen. Sie schauen Serien und lesen viel. Meine alten Romane wurden jetzt wieder aufgelegt und die Auflagen steigen. In diesen wirren Zeiten steigt der Bedarf an ernsthafter Literatur. Das freut mich natürlich. Haben Sie für Serien geschrieben? Sorokin: Es wurde mir mehrfach angeboten, und ich habe abgelehnt. Ihre bisherige Karriere war ziemlich ungewöhnlich. Wundert Sie all das manchmal?

schriebener Roman „Die Schlange“ 1985 in Paris erschien, wurde er gleich in mehrere Sprachen übersetzt. Dann kam die Perestroika und plötzlich gab es keinen Untergrund mehr. Der Topf, in dem wir uns befanden, explodierte und alles flog durch die Gegend. Nach 1991 habe ich acht Jahre lang keinen einzigen Roman geschrieben. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Es war damals die Zeit des Fernsehens. Das Fernsehen war hervorragend. In unserem neuen Jahrhundert, in dem sich die Pyramide wieder gefestigt hat, ist es wieder einfacher zu schreiben. Gedichte haben Sie nie geschrieben? Sorokin: Klar, wie üblich – so mit achtzehn.

Vladimir Sorokin: Die rote Pyramide. Erzählungen. Aus dem Russischen von Andreas Tretner und Dorothea Trottenberg. Kiepenheuer & Witsch, 192 S., € 22,95

Für die Mädchen? Sorokin: Ja, die Mädchen haben sie gelesen, aber es war wohl nicht für sie geschrieben, sondern für die Ewigkeit. Ich habe diese Gedichte dann in „Norma“ verwendet. Ich mache das gelegentlich im Rahmen eines Romans: Wenn mein Protagonist Lyrik schreibt, dann verfasse ich die selbst, ganz ehrlich mit der Hand und auf Papier. Aber Poesie und Prosa sind natürlich ganz verschiedene Tiere. Die Poeten sind arabische Hengste, wir hingegen sind Kaltblutpferde, die langsam schwere Metaphysik hinter sich herziehen. Wie wichtig ist Ihnen die Tradition der russischen Literatur?

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Sorokin: Wir haben diese große Tradition,

die eigentlich auch das ist, womit Russland Eingang in die Weltliteratur gefunden hat: die Literatur, die russische Avantgarde in der bildenden Kunst und die Musik. Ich stand in Asien einmal auf einem kleinen Flughafen vor einem Zeitungskiosk, und was sehe ich zwischen den verschiedenen Zeitungen und einem Regal mit Krimis? Tolstojs „Anna Karenina“ und Dostojewskijs „Die Brüder Karamasow“! Eine russische Marke wie Wodka. Wer Prosa auf Russisch schreibt, verfügt über den Bonus unserer bärtigen Klassiker. In meinem Arbeitszimmer stehen sie hinter dem Schreibtisch und manchmal lehne ich mich zu ihnen zurück und spüre ihre Kraft. Russland ist nach wie vor ein Land der Leser. Es wird noch immer viel gelesen. Sie leben teilweise in Deutschland, teilweise in Russland. Finden Sie auch, dass der Westen für einen Schriftsteller zu langweilig ist? Sorokin: Wenn du über das Leben in Russland schreibst, ist es wichtig, eine gewisse Distanz zu haben. Ich lebe seit 1988 abwechselnd in Europa und in Russland, das hilft. Es sind zwei verschiedene Welten, eine Welt der Vorhersagbarkeit und Ordnung und eine Welt der Unordnung. Einmal ermüdet einen die Ordnung, dann wiederum die Abwesenheit aller Ordnung. Ich weiß nicht mehr, wer das gesagt hat: Die Welt wird von zwei Gefahren bedroht: von der Ordnung und der Unordnung. F


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Sherlock Holmes auf Rohypnol Orhan Pamuk arrangiert historische Fakten und Fiktionen, um die politische Dimension einer Pestpandemie zu erörtern it Adjektiven wie „brandaktuell“ oder M „visionär“ ist die Kritik schnell bei der Hand, wenn sich in der Literatur dargestell-

te Ereignisse triftig mit realer Gegenwart in Beziehung setzen lassen. Nachdem Orhan Pamuk seinen jüngsten Roman bereits 2016 begonnen hatte, scheidet Corona als Anlass und Inspirationsquelle für „Die Nächte der Pest“ allerdings aus. Die Pandemie, die der Literaturnobelpreisträger von 2006 darin beschreibt, ist historisch und geografisch präzise verortet: Sie bricht im April des Jahres 1901 auf der Mittelmeerinsel Minger aus, die zu diesem Zeitpunkt (noch) Teil des Osmanischen Reiches ist und gerade hohen Besuch hat. Prinzessin Pakize Sultan, Nichte des über 30 Jahre regierenden Abdülhamit II., ist mit ihrem frisch angetrauten Gatten, einem erfolgreichen Quarantänearzt, eigentlich unterwegs nach China; durch den zunächst vertuschten, bald aber nicht mehr zu leugnenden Ausbruch der Pest, der die Dienste ihres Ehemannes erforderlich macht, wird sie allerdings zu einem längeren Zwischenstopp auf Minger genötigt. Für „Die Nächte der Pest“ ist Pakize vor allem als Quelle von Bedeutung, denn das meiste, was in diesem Hybrid aus historischem Roman und Geschichtsbuch von einer zunächst obskuren, im Laufe der Erzählung aber klare biografische Konturen gewinnenden Historikerin – spoiler alert: es handelt sich um die Urenkelin von Pakize – referiert wird, basiert auf den offenbar sehr detailfreudigen Briefen, die diese über viele Jahre an ihre ältere Schwester Hadice geschrieben hat. Wer an dieser Stelle stutzig wird – als letz-

te Pestepidemie Europas galt bislang jene, die 1771 in Moskau ausbrach – liegt nicht falsch. Das historische Setting um das Dahinsiechen des „Kranken Mannes am Bosporus“, als welcher das Osmanische Reich von Zar Nikolaus I. apostrophiert wurde, bildet den authentischen historischen Rahmen. In diesen hat der Autor freilich auch zahlreiche fiktive Figuren gesetzt. So ist etwa Pakize – im Unterschied zu Hadice – frei erfunden, und auch die Insel Minger mit ihrer Hafenstadt Arkaz, deren Topografie akribisch beschrieben und sogar mit einer liebevoll gezeichneten Karte belegt wird, existieren nur in Pamuks Roman. Sie liegt in etwa dort, wo sich in der wirklichen Welt die Insel Karpathos befindet.

Wiederum verbürgt ist, dass Sultan Abdülhamit, ein Vertreter dessen, „was wir heute den ,politischen Islam‘ nennen“, ein großer Krimi-Fan und Verehrer von Conan Doyle war. Und dessen Sherlock Holmes steht im Roman, der dank der baldigen Ermordung des Generalinspektors für Gesundheitswesen auch über einen Crime-Plot verfügt, für eine moderne, deduktive und auf Indizien beruhende Beweisführung, die Abdülhamit im genannten Fall statt Prügel und Folter angewandt wissen möchte. Weit wird man ohne die berüchtigte Bastonade freilich nicht kommen, denn wie der Gouverneur von Minger anmerkt: „Europäische Methoden schlagen bei uns nicht immer an!“ In Daniel Defoes fingiertem Tagebuch eines Sattlers, „Die Pest in London“, das 1722 erscheint und als authentischer Bericht über „The Great Plague“ von 1665 ausgegeben wird, findet sich ein Seitenhieb auf den „türkischen Prädestinarismus“; Muslimen wurde nachsagt, die Pest als von Gott verhängtes Fatum hinzunehmen – eine Mentalität, die die Durchsetzung obrigkeitlich verfügter Quarantäne naturgemäß nicht eben erleichtert. 1901 ist man nach der bahnbrechenden Entdeckung des pestverursachenden Bakteriums und der Infektionskette Ratte-Floh-Mensch durch den Schweizer Arzt Alexandre Yersin im Jahr 1894 zwar einen bedeutenden Schritt weitergekommen, hat aber – vor der Entwicklung von Antibiotika – in der Bekämpfung der Krankheit kaum andere Mittel an der Hand als Separierung, Wegsperrung und Isolation. Auf Minger, wo die Pest durch Mekka-Pilger eingeschleppt worden sein soll, finden sich Maßnahmengegner vor allem, aber nicht nur, auf muslimischer Seite; auch unter den griechischen Geschäftsleuten gibt es solche, die sich den Anordnungen zu entziehen trachten. Gut die Hälfte der Bevölkerung und vor allem die ärmere und weniger gebildete Schicht ist muslimisch. Wie diese Gegensätze und die Machtansprüche diverser imperialer, religiöser, lokaler Instanzen und eines blühenden Bandenwesens die Pandemiepolitik beeinflussen, unterlaufen oder als Vorwand für ganz andere Ziele nutzen, ist ein ebenso komplexes wie aufregendes Thema. Leider wird es auf den knapp 700 Seiten einigermaßen grandios vergurkt. Das liegt nicht nur daran, dass der Roman

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Dass Pamuk wegen Verunglimpfung Atatürks angezeigt wurde, ist das eine; dass man oft nicht weiß, wo die Ironie aufhört und die unfreiwillige Selbstparodie anfängt, das andere

„seine Längen“ hat, wie selbst wohlgesonnene Rezensenten einräumen mussten – tatsächlich entspricht das Tempo etwa jenem einer altersschwachen Schildkröte auf einer frischgeteerten Straße –, sondern dass an diesem eigentlich so gut wie gar nichts funktioniert. Fraglich ist einmal schon, was genau die De-

legation der Erzählung an die Historikerin/ Urenkelin leistet, die sich auf den letzten 50 Seiten aus der Gegenwart des Jahres 2016 in eigener Sache zu Wort meldet, davor aber immer wieder mit betulichen, banalen oder unsinnigen Zwischenbemerkungen — „So lässt sich mit geradezu historischer Exaktheit behaupten, dass die beiden glückselig miteinander schliefen“ – nervt. Ein klassischer auktorialer Erzähler hätte nicht nur den Widerspruch bereinigt, dass ständig von Dingen berichtet wird, die die Doktorandin aus Cambridge unmöglich wissen kann, er hätte auch verhindert, dass die nötige historische Basisinformationen in zugleich langatmige und hölzerne Dialoge gepackt werden, die nach schlechtem Kinderuni-Feature klingen: „,Hinter Krankheiten wie Cholera, Gelbfieber oder Lepra stecken natürlich Keime und Bakterien‘, sagte er. ,Zur Eindämmung einer Seuche genügt allerdings nicht die Bakteriologie allein, sondern die Briten haben eine eigene Seuchenkunde erfunden, die sogenannte Epidemiologie.‘“ Zwischen schwülstigem Orientalismuskitsch mit viel Mondenschein und Duft nach Orangen, Geißblatt, Rosenwasser und Lysoform und einer zum Teil haltlos überzogenen Politsatire mag sich der Roman nicht entscheiden. Dass Pamuk wegen der Passagen, in denen – einsamer Höhepunkt seines Romans – General Kâmil unter bizarr-blutigen Umständen die Unabhängigkeit der Insel deklariert („Minger den Mingerern!“) in Erdoğan-Land wegen Verunglimpfung Atatürks angezeigt wurde, ist das eine; dass man in vielen Fällen nicht weiß, wo die Ironie aufhört und die unfreiwillige Selbstparodie anfängt, das andere. Die in der SZ als „glänzend“ ausgewiesene Übersetzung trübt das ohnedies begrenzte Lektürevergnügen noch zusätzlich. Sie strotzt vor falschen Tempora, Modi, Präpositionen und Pronomen, erratischen Wortstellungen und schiefen Bildern. Wenn Menschen von einem Gewitter „erfasst“

Orhan Pamuk: Die Nächte der Pest. Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser, 694 S., € 30,90

werden, jemand unter „enger Beobachtung“ steht oder sich „missliebig“ macht; wenn Läden „aufstanden“, „seltsame Stimmungen im Umlauf sind“, in den Gefängniszellen „lose Zustände“ herrschen, der Staat „die Lage in der Hand“ hat, „Zerrbilder an der Geschichte mitschmieden“ oder von der „aktuellen Verbreitung des Osmanischen Reiches“ (statt von dessen „Ausdehnung“) die Rede ist, fragt man sich schon, in welche Zielsprache hier aus dem Türkischen übersetzt wurde. Nicht allen Unfug wird man indes der Übelsetzung allein anlasten können: „Er war ständig darauf gefasst, jemandem zu begegnen, doch die Nacht schien ein dunkler zweidimensionaler Raum zu sein.“ Ja, gute Nacht auch! KLAUS NÜCHTERN


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Musketierinnen im Museum der Fehler Mit „Das mangelnde Licht“ beschließt Nino Haratischwili ihre georgische Trilogie und erweckt die 1990er-Jahre zum Leben rüssel 2019: Euro-Schickeria drängt B sich auf einer Vernissage. Die Ausstellung präsentiert das Werk der jung verstor-

benen erfolgreichsten Fotografin Georgiens. Im Publikum befinden sich auch die drei Jugendfreundinnen der Künstlerin, eine davon ist Keto, die Erzählerin. Der Bewusstseinsstrom, den die Bilder in ihr auslösen, bildet, unterbrochen vom Austausch der Erinnerungen mit ihren einstigen Gefährtinnen, das Gerüst des Romans. Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tbilissi, damals noch Hauptstadt der georgischen SSR, und mit zwölf Jahren nach Deutschland gekommen, schließt mit „Das mangelnde Licht“ eine Trilogie ab. Diese begann mit der großartigen, drei Generationen umfassenden Familienchronik georgischer Frauen („Das achte Leben“) und setzte sich im etwas reißerischen Politthriller „Die Katze und der General“ fort, der die Kriminalgeschichte des postsowjetischen Verfalls zum Thema hatte. Nun zoomt die Autorin auf die 90erJahre: Chaos, Anarchie und Aggression von außen finden im Abchasien-Konflikt ihren Höhepunkt. In einem Kontinuum der Illegalität zwischen korrupten Politikern, faschistoiden Paramilitärs und jugendlichen Drogendealern versuchen sich vier Mädchen aus dieser Welt von Machismus und Gewalt mit ihren je eigenen Mitteln zu emanzipieren: mit dem kämpferischen Bildjournalismus der Fotografin Dina, dem Engagement für Freiheit und Menschenrechte Iras, die zur amerikanischen Staranwältin aufsteigen wird, und Nenes Manipulation der Männerwelt mit den Waffen einer Femme fatale.

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Wie aus sich öffnenden Schubladen zaubert die Autorin das Personal ihres Romans hervor – Handwerker, Mitgliedern der Intelligenzija und der alten Nomenklatura

Auch der Blick der Erzählerin ist von ihrem Be-

rufsweg als Restauratorin geprägt: Schichten aufdeckend schweift er in der Ausstellung von Bild zu Bild, die Erinnerungen füllen die Zeiträume des Davor und Danach. So verdichten sich Dinas fotografische Momentaufnahmen – von lyrischen Stimmungsbildern bis zu schockierenden Kriegsszenarien – im Text langsam zu einem Panorama von historischer Tiefenschärfe. Wobei sich Keto darüber im Klaren ist, wie sehr die Wirkung, die ein Bild entfaltet, vom Augenblick der Betrachtung abhängt: „Kein historisches Ereignis, kein historischer Moment, keine Zeit ist wiederholbar, und dementsprechend muss man jede Restaurierung als die Erhaltung von einem Stück Gegenwart begreifen, das die Vergangenheit umklammert hält.“ Haratischwilis Thema ist das Verhältnis von Augenblick und Zeitfluss, stockendem Erinnern und plastischer Vergegenwärtigung. Es bestimmt die im Vergleich mit ihren früheren Büchern anspruchsvollere Erzählstruktur aus einer Perspektive der Vorzukunft: Bei Betrachtung eines Bildes enthüllt sich ein Teil dessen, was erst später verstandesmäßig zur Gänze erfasst wird. Der Kontrast zwischen dem klug konstruierten Aufbau und der Rollenprosa einer wenig kontrollierten Erzählerin macht den Reiz des Gesamtentwurfs aus: Zwei Ausbrüche, die eigentlich Einbrüche sind, bilden den zeitlichen Rahmen des 22 Jahre umfassenden Geschehens. Im Tbilissi der

Nino Haratischwili: Das mangelnde Licht. Roman. Frankfurter Verlags anstalt, 832 S., € 35,–

späten 80er-Jahre dringen die sich als Viererbande verstehenden Mädchen in den nächtlichen Botanischen Garten ein und entfliehen so der belastenden Umwelt. Hier entsteht auch das erstes Foto, dem Keto in der Ausstellung wieder begegnet. Und im Morgengrauen Brüssels werden die nicht mehr ganz so jungen Damen, wieder um allein zu sein, die Barriere eines Parks übersteigen. Sie sehen sich nun, ohne Dina, als ihres d’Artagnans beraubte Musketiere. In einer weiteren Eingangsszene wird der

Hauptschauplatz skizziert: ein Konglomerat von Holz- und Steinbauten, verbunden durch Treppenaufgänge und Lauben. Wie aus sich öffnenden Schubladen zaubert die Autorin das den verschiedensten Gesellschaftsschichten entstammende Personal ihres Romans hervor – lebendig gestaltete Einzelporträts von Handwerkern, Mitgliedern der Intelligenzija und der alten Nomenklatura. Dort wohnen die Familien der Mädchen, auch die beiden beeindruckenden Großmütter der Erzählerin: literaturaffine ältere Damen, die sich als Übersetzerinnen und Sprachlehrerinnen durchs Leben schlagen. Ihr Dauerstreit ist ein Lichtblick in der sonst düsteren Atmosphäre des Buches. Und dann spricht die Erinnerung, stotternd und stockend, so manches verdrängend, evoziert eindrucksvolle Tableaus.

Stromausfälle spielen dabei eine große Rolle: Die Mädchen bleiben in einem Riesenrad stecken und sehen in der Ferne, wie erste Feuer des Bürgerkriegs über der Stadt aufflammen; Menschenmassen strömen aus blockierten Metros in die dunklen Schächte. Dazwischen lebensfrohe Bilder blühender Landschaften vor dem Panorama des Kaukasus, voll Wein und Tafelfreuden, ganz so, wie man sich Georgien vorstellt. Manchmal, vor allem wenn „Eros das frühlingliche Vorspiel“ unterbricht, kippt der Überschwang ins Pathos und in den Kitsch, was aber damit zu erklären ist, dass man es mit der Gedankenwelt eines leicht überspannten Teenagers, gespiegelt in den Reflexionen einer verunsicherten Migrantin, zu tun hat. Einen Vorwurf kann man der Autorin bezie-

hungsweise dem Lektorat trotzdem nicht ersparen: Wäre man mit Adjektiven etwas behutsamer umgegangen, hätte man einige der 830 Seiten einsparen können. Nino Haratischwilis erzählerische Kraft hilft über diese Längen hinweg, die so den Lesefluss nicht hemmen: „So schreiten wir durch dieses Museum der Fehler und geben uns der Illusion hin, wenigstens für ein paar Stunden die Toten wieder zum Leben zu erwecken.“ THOMAS LEITNER


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Flucht in die Vergangenheit

ILLUSTRATION: GEORG FEIERFEIL

Dystopien haben noch immer Saison: Georgi Gospodinov, Sascha Macht und Cordula Simon entwerfen in ihren Romanen Welten, die von Eskapismus und lückenloser Überwachung beherrscht werden


LITERATUR Zeiten der Krise und des Umbruchs haIdesnbenKlimawandels, Dystopien Hochsaison. Angesichts der Macht der Konzer-

ne und einer zunehmenden Aushöhlung der Demokratie wurden in den letzten Jahren nicht nur Aldous Huxleys und George Orwells Klassiker dieses Genres wieder ausgepackt. Es entstanden auch zahlreiche neue Romane, darunter allerdings nur wenig wirklich gute, etwa Raphaela Edelbauers Künstliche-Intelligenz-Roman „Dave“. Ihr Verfasser Georgi Gospodinov hat sich mit einem Œuvre aus drei Romanen, zwei Short-Story-Sammlungen und ein paar Gedichtbänden den Status eines Geheimtipps aus Osteuropa erschrieben. Inzwischen wird der Bulgare zur Riege der großen europäischen Autoren gezählt. Das neue Werk wird diesen Status zementieren. Als „experimenteller Humorist der Verzweiflung“ wurde Gospodinov einmal apostrophiert, und das gilt bis heute. Seine Literatur ist mit allen Wassern der Moderne und Postmoderne gewaschen und dementsprechend verspielt, aber nicht gespreizt. Und sie ist von einem dunklen, schwermütigen Witz durchzogen. Wie in fast allen seinen Büchern tritt Georgi Gospodinov darin auch selbst auf. Man könnte sogar behaupten: in einer Doppelrolle, denn der rätselhafte zweite Protagonist Gaustín lässt sich als Alter ego des Autors verstehen. Mehr Idee als handelnde Figur, existiert er vor allem in den Nachrichten, die er (G.) dem Autor (G.G.) von Zeit zu Zeit zukommen lässt. Gaustín ist ein Flaneur, für den die Örtlichkeiten seiner Streifzüge zweitrangig sind. Er reist nämlich durch die Zeit. Für eine Dystopie völlig untypisch, interessiert er sich nicht für die Zukunft – welche Zukunft? –, ihm hat es die Vergangenheit angetan. Ja, er scheint regelrecht von ihr besessen. Und er ist nicht allein, sondern nur die Avantgarde der Retromanie, die im Buch langsam ganze Staaten erfasst und extreme Formen annimmt. Es beginnt mit der Eröffnung einer „Klinik für

die Vergangenheit“. Gaustín ist überzeugt, dass Demenzkranke aufleben, wenn man sie mit Eindrücken, Dingen oder Gerüchen aus ihrer Kindheit konfrontiert. Jedes Stockwerk in dem Haus ahmt eine Wohnungseinrichtung aus einem bestimmten Jahrzehnt bis ins Detail nach. Die Methode hat Erfolg, ähnliche Einrichtungen schießen bald allerorten aus dem Boden. Und es melden sich auch völlig Gesunde an, die offenbar lieber in vorangegangenen Dekaden leben würden. Die Figur Gospodinov zeigt sich ebenfalls fasziniert: „Du öffnest die Tür und gerätst sofort ins 20. Jahrhundert, in die Mitte der 60er. Eine Diele mit Garderobenständer, dunkelgrün, Kunstleder mit Rautenmuster. Wir hatten so einen zu Hause. […] Am Garderobenständer hing ein kurzer, blassgrüner Mantel mit zweireihigen Holzknöpfen. […] Das war der Mantel meiner Mutter. […] Willkommen in den 60ern, sagte Gaustín, der mein Erstarren im Vorraum des Jahrzehnts mit kaum verhohlenem Lächeln betrachtete.“ Das Heute ist unwirtlich, das Morgen fraglich, also nehmen immer mehr Menschen das Angebot, sich in die Vergangenheit zurückzuziehen, dankbar an. Aber in welche? Die Europäische Union will in einem eigenen Referendum klären, wohin die Reise gehen soll. Aber natürlich kann man sich nicht auf ein Jahr oder auch nur ein Jahrzehnt einigen. Schließlich sucht sich

Georgi Gospodinov: Zeitflucht. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Aufbau, 342 S., € 24,70

Sascha Macht: Spyderling. Dumont, 480 S., € 25,70

jeder Mitgliedsstaat selbst die bevorzugte Ära des Reenactments aus. In den meisten von ihnen gewinnen die 80er-Jahre knapp – „das Jahrzehnt, das am meisten Langeweile und Disco hervorgebracht hat“. Am „disparatesten und unklarsten“ ist das österreichische Votum ausgefallen: „Hier gab es die größte Anzahl Nichtwähler, und von den Wählern erhielten gleich mehrere Bewegungen, die selbst ziemlich anämisch waren, einen fast identischen Prozentsatz an Stimmen.“ Und: „Das Österreich des Anschlusses vereinte einen beunruhigenden Prozentsatz auf sich“. Gospodinov unternimmt derweil eine Reise nach Sofia, wo sich die Wiederkehr des Kommunismus abzeichnet. Aus dem Spiel wird schnell Ernst. Ihm gelingt gerade noch die Ausreise, zwei Tage bevor die Grenzen dichtgemacht werden: „Schön ist es, seine Heimat gut genug zu kennen, um sie ein wenig früher zu verlassen, bevor die Falle zuschnappt. Ich hatte jenes, was kommen sollte, bereits gelebt.“ „Zeitzuflucht“ gelingt es, einen bei der Lektüre unablässig zu überraschen, zu erheitern und zu erschrecken. Auch in den düsteren Passagen hat Gospodinovs Prosa in der gelungenen Übersetzung Alexander Sitzmanns etwas angenehm Tänzelndes an sich. Den Nullpunkt dieses glänzenden Romans bildet der Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939. Angesichts der aktuellen Weltlage hat das etwas Prophetisches, scheinen wir doch gerade wieder in die Vergangenheit abzubiegen. In die Kategorie „WTF did I just read“ fällt der

Cordula Simon: Die Wölfe von Pripyat. Residenz, 400 S., € 25,–

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Roman „Spyderling“ des deutschen Autors Sascha Macht. Während die Welt am Abgrund steht, trifft sich die Elite der Brettspielentwickler auf einem Weingut in der Republik Moldau zum informellen Austausch. Heißt konkret: Es wird ziemlich viel gesoffen, Unsinn geredet, rumgemacht. Außerdem probiert man die gut ausgestattete Ludothek des Hauses durch. Macht versteht sich auf die Schilderung absurder Situationen und Verhältnisse. Viel mehr Positives lässt sich über seinen fast 500 Seiten starken Roman leider nicht sagen. Mit ihren Macken und Schrullen sind die Figuren grotesk überzeichnet (das jugendliche Genie, die Lebefrau, der Deutsche et al.) und wirken dennoch völlig farblos. Von dem offenbar selbst gelangweilten Erfinder werden diese langweiligen Pappkameraden auf dem Anwesen herumgeschoben, wo sie großteils bedeutungsloses Blabla von sich geben. Die Ich-Erzählerin, Daytona Sepulveda mit Namen, hat in ihrer Vergangenheit schlimme Dinge erlebt, aber auch sie bleibt erschreckend blass. Und die Titelfigur „Spyderling“, eine mysteriöse Größe in der Welt der Brettspiele und immerhin der Gastgeber, zeigt sich bis zuletzt nicht, sondern raunt Daytona übers Telefon lediglich unverständliches Zeugs zu. Daytona ihrer-

Im Roman von Cordula Simon haben die Menschen die Kontrolle über ihre Leben an den „Log“ übergeben, einem subkutanen Chip. Fast alle sind „gelogged“ und „gecrispert“, Kinder kommen maßgeschneidert zu Welt

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seits muss mitten in der Handlung immer wieder innehalten und die Gedankenfrüchte des Autors servieren: „Ein Brettspiel – was ist das überhaupt? Ich bin der Meinung: so etwas wie komprimierte Wirklichkeit. Oder anders ausgedrückt: eine Rückschau in die Vergangenheit, ein Umgang mit der Gegenwart, ein Blick in die Zukunft. […] Es bietet uns Mittel und Wege. Nur wofür? Das ist die Frage.“ Man soll Bücher angeblich nicht danach befragen, was der Autor mit ihnen sagen wollte. Im konkreten Fall drängt es sich aber auf. Bleibt uns angesichts der Weltlage nur mehr die Flucht ins Spiel? Ist das Leben ein Spiel? Die Welt ein Spielbrett? Naja. Das Lektorat hat allem Anschein nach frühzeitig kapituliert, anders lässt sich vieles in diesem Buch einfach nicht erklären. Die Österreicherin Cordula Simon hat eini-

ge Jahre in der Ukraine gelebt, was sich in ihrem Schreiben bis heute bemerkbar macht. Mit „Die Wölfe von Pripyat“ legt sie eine vergleichsweise klassische Dystopie vor, die bedrohliche Entwicklungen unserer Zeit weiterdenkt und in die nahe Zukunft transferiert. Handlungsort des Romans ist die sogenannte „Toleranzunion“, die wohl das Gebiet dessen miteinschließt, was heute noch Ukraine heißt: Die Geisterstadt Pripyat war die dem Kernkraftwerk Tschernobyl nächstgelegene Siedlung. Simon betreibt großen Aufwand, um glaubwürdig eine schöne neue Welt zu errichten, in der die Auswüchse moderner Technologien oder auch der Cancel Culture sichtbar werden. Die Menschen haben die Kontrolle über ihre Leben längst an den „Log“ übergeben, einem unter die Haut implantierten Chip. Fast alle sind „gelogged“ und „gecrispert“, Kinder kommen maßgeschneidert zur Welt. Wer keinen „Log“ will, macht sich verdächtig. Und verdächtig möchte man in dieser Welt, in der alle nur Gutes, jedenfalls ja nichts Böses oder Falsches sagen wollen, auf keinen Fall sein. Hier wird nichts toleriert, der Begriff „Toleranzunion“ für die nicht greifbare politische Elite ist natürlich ein böser Witz. Es braucht eine gewisse Anlaufzeit, bis man bei der Handlung und in Hinblick auf die einzelnen Figuren den Durchblick hat. Aber dann schafft es die Autorin überzeugend, ihr sorgsam aufgebautes Zukunftstableau auch mit Leben zu füllen. Da ist TV-Moderator Sandor, der als Wettermann in Ungnade fällt, weil er sich angesichts einer gigantischen Aschewolke eines Tages weigert, den ihm vorgelegten Beschwichtigungs-Wetterbericht abzulesen. Er spürt, dass etwas schief läuft und zieht sich immer mehr zurück. Auch von seiner Frau, die als Märchentante im Fernsehen reüssiert. Stattdessen verbringt er seine Zeit im „Virtuali“, einer süchtig machenden Computerspielewelt. Viel später wird man Sandor in ganz anderer Rolle wieder begegnen. Derweil macht sich eine Gruppe zorniger Jugendlicher, die sich wegen kleiner oder mittelgroßer Vergehen in einem Besserungscamp befinden, in Richtung „Goldene Stadt“ auf. Dort, in der mythischen „Gelehrtenrepublik“, soll alles besser und ein freies Leben möglich sein. Das ist keine erfreuliche Lektüre, aber es ist auch nicht die Aufgabe von Literatur, uns von der Realität abzulenken. Cordula Simons Vision eines Überwachungsstaates wirkt bedrohlich realistisch und nah. SEBASTIAN FASTHUBER


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„Du hast ein starkes und tapferes Herz. Du wirst Wenn Bilderbücher auf das wirkliche Leben vorbereiten wollen, dürfen sie auch schwierige Themen nicht aussparen. Da gehören Flucht, Unfälle und Unglück genauso dazu wie Mut, Zuversicht und das Glück

lles wird wieder gut! Das sagt man zu Kindern gerne, denn das will jede und A jeder gerne hoffen. Aber was, wenn es nicht

mehr ganz gut wird? Damit müssen oft schon die Kleinsten zurechtkommen, und dabei hilft diese Mutmachgeschichte von Brigitte Weninger, die 20 Jahre lang als Kindergartenpädagogin arbeitete und von deren 60 Büchern einige auch verfilmt wurden. Dem Tyrolia Verlag erschien das Buch so wichtig, dass er es wieder auflegen und von Anna Zeh neu illustrieren ließ. Es geht um einen kleinen Spatzen, der im Sturm einen Unfall hat, bei dem seine Flügel verletzt werden. Im Krankenbett, gepflegt vom Raben und der Maus, träumt er davon, was er alles tun wird, wenn er wieder gesund wird. Auf die Warnungen des Raben gibt er dabei nicht acht. Als der Verband abgenommen wird, hängen die Flügel traurig herunter. Der kleine Spatz wird nie mehr fliegen können. „Viele Dinge können wieder heil gemacht werden“, sagt der alte Rabe, „aber leider nicht alle. Doch du hast ein starkes und tapferes Herz. Du wirst es schaffen, etwas Neues anzufangen.“ Seine Freunde helfen dem Spatzen dabei, seine Beine zu trainieren – und sich trotzdem wie ein richtiger Vogel zu fühlen. KIRSTIN BREITENFELLNER

Brigitte Weninger, Anna Zeh (Illustrationen): Lauf, kleiner Spatz! Tyrolia, 26 S., € 16,95 (ab 4)

in Bilderbuch, von einem Mann geE schrieben und von einem Mann illustriert – das ist eher ungewöhnlich, aber in

Tier hat ein anderes Fell bzw. eine J edes andere Haut. In ihrem ersten Bilderbuch

stellt Lea Johanna Becker diese mit Collagen dar. Die Schwäne sind aus zerknittertem Papier, die Hyäne hat die Textur einer abgeblätterten Hauswand, der Pandabär ein Gesicht aus Strickstoff. Protagonist ist ein so gewaltiger wie rührender blauer Wal, der vom Meer ans Land geworfen wird und von den Tieren nur mit vereinten Kräften zurückgeschoben werden kann Diese einfache, universale Geschichte lebt von den flächigen Bildern liebenswürdiger Tiere, die an Celestino Piatti und Leo Lionni erinnern. Sophie Schoenwald erzählt sie in Reimen, die sich ja bei Kindern bleibender Beliebtheit erfreuen. Auch deswegen hat dieses sympathische Buch das Zeug zum Klassiker. K B

Sophie Schoenwald, Lea Johanna Becker (Illustrationen): Schieb den Wal zurück ins Meer. Boje, 26 S., € 10, 95 (ab 3)

diesem Bilderbuchfrühling häufig zu sehen. Schön, dass auch die Autorenschaft diverser wird. Wenn in der dazugehörigen Geschichte ein Vater alleine mit seinen Kindern Urlaub macht, überrascht das schon nicht mehr. Vater Bär, Tochter Ziege und Sohn Fuchs, der Ich-Erzähler, packen eigentlich schon wieder zusammen. Bevor sie heimfahren, nimmt Papa Bär eine Schüssel, sie klettern unter einem Zaun durch und beenden die Ferien mit Brombeerpflücken. Ein unspektakulärer Plot, dessen Bilder aber die ganze Fülle des Augenblicks zu vermitteln vermögen: altmeisterliche französische Illustrationskunst, ausgeführt in klassischer Ölmalerei – ein Augenschmaus! K B

Olivier de Solminihac, Stéphane Poulin (Illustrationen): Ein Sommer voller Brombeeren. Atlantis, 36 S., € 17,95 (ab 4)


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es schaffen, etwas Neues anzufangen“

Daniel Fehr, Raphael Kolly: Wird schon schiefgehen, Ente! Thienemann, 32 S., € 14,95 (ab 4)

Michael Hammerschmid, María José Tellería: wer als erster. Jungbrunnen, 32 S., € 16,– (ab 4)

Nikolaus Heidelbach: Marina. Beltz & Gelberg, 38 S., € 15,95 (ab 6)

Beatrice Alemagna: Der kleine große Augenblick. Bohem, 40 S., € 18,95 (ab 5)

chon wieder ein männliches Duo ie Kindergedichte des österreias kleine Mädchen auf dem Coas Glück ist ein Vogerl, sagt ein S von Autor und Illustrator, diesD chischen Autors Michael HamD ver steht am Strand und trägt D Wiener Sprichwort. Auch in diemal aus der Schweiz. Allein das merschmid haben kurze Zeilen und eine Schwimmweste. Diese ist zwar sem philosophischen Bilderbuch der sind durchgehend gereimt. Wie schlanke Säulen stehen sie neben den Illustrationen der Argentinierin María José Tellería, die Gedichte mit so einfachen wie farbenfrohen Bildern untermalen. „wer als erster / beim kühlschrank ist / wer als erster isst / wer als erster die türe berührt / wer als erster sich selber berührt / wer als erster / einen vogel hört / wer als erster /den andern / nicht stört / wer als erster / als erster / wer als erster?“ – lautet der Text des titelgebenden Gedichts. Daneben sind weiße Hasen zu sehen, deren Beine lang und immer länger werden, während sie zu einem Kühlschrank voller Karotten sprinten. Sprachspielerisch, philosophisch, kinderlebenspraktisch – für alle ist etwas dabei. Da wogt das Meer und da erfährt man, dass auch „ein mensch ohne / eine uhr / einer ohne auto / ohne / computer / und ohne handy“, ja, ironisch und auch ganz in echt: ein Mensch ist! K B

nicht orange, trotzdem lautet die Assoziation: Flucht. „Marina“ heißt das Buch von Nikolaus Heidelbach, und so nennen die beiden Brüder auch das Mädchen, das sie am Strand aufgegabelt haben. Es trägt einen hohen Dutt, isst gerne Fisch und schweigt. Marina versteht die Sprache ihrer neuen Umgebung und Familie nicht. Als sie auf dem Spielplatz beleidigt wird, versteht Marina das aber sehr wohl. Kurz darauf beginnt sie zu sprechen und erzählt von ihrer Mama, der Meerkönigin, ihrem Papa, dem Meerkönig, und ihren Schwestern, von Unterwasser-Shoppingmalls und Autos mit Flossen. Heidelbach nimmt das Mädchen ernst und illustriert ihre magische Unterwasserwelt – im Gegensatz zu dem größeren Bruder, der denkt, dass Marina lügt. Das Ende der Geschichte soll nicht verraten werden, hingegen schon, dass es genug Raum zum Nachdenken über schwierige Themen schafft. K B

Italienerin Beatrice Alemagna lässt es sich nicht so einfach einfangen. Alemagna zeigt auf jeder Doppelseite eine Situation, in der es auftaucht – und wieder vorbeischwimmt, -geht oder -fliegt. Es befindet sich in einer Wasserlache zu Füßen eines Jungen, es lässt eine Dame mit einem Krokodil monatelang warten, es rieselt einem Mädchen in den Ferien am Strand durch die Finger. „Ein alter Herr fand es im Inneren einer Schneeflocke, eiskalt und von weit her. Diesen winzigen Augenblick lang war er wieder ein kleiner Junge.“ Mit Poesie und Ideenreichtum spürt Alemagna Glücksmomente auf und vermag die Betrachter in sie hineinzuzaubern. Sie zeigt aber auch Hinderungsgründe auf für „dieses gewisse unsichtbare Etwas“, etwa, sich aus Angst einzumauern. Auf jeden Fall glücklich macht dieses Kleinod von einem Bilderbuch, und zwar unabhängig vom Lebensalter. K B

BEWE GUNG ALLE KINDER, FERTIG, LOS! Sophia Bolzano | Daniel Winkler D e r E lte rn -Kin d-Sp aß in 8 Stu fe n . M i t 33 B e w e g un gs ide e n fü r Kin de r zimme r, Wo h nu n g , B a lko n un d drau ße n an d er f ri s c h e n Lu f t .

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macht Hoffnung – zumindest für die Zukunft des Bilderbuchs. Eigentlich wird es ja dem Hasen zugeschrieben, ängstlich zu sein. In dieser Geschichte ist der Angsthase aber eine Ente. Sie will mit dem Hasen den Biber besuchen, aber Zuversicht ist nicht ihre Sache. Sie ist eine notorische Schwarzmalerin und Nörglerin. „Das war keine gute Idee. Wir werden uns fürchterlich verlaufen“, befürchtet sie schon zu Beginn des Wegs. „Wir hätten mehr frühstücken sollen. Bestimmt werden wir verhungern“, geht das Geunke weiter, das in Sätzen kulminiert wie: „Wir schaffen es nie.“ Doch dann sind sie plötzlich da. Der Hase und die Ente schmausen mit dem Biber an dessen Damm, bevor sie sich auf den Rückweg machen. Ob das Erlebnis der Ente einer Lehre sein wird? Das ist nicht so sicher. Aber ein Anfang war diese positive Erfahrung bestimmt. Und wie heißt es so schön: Der Weg ist das Ziel! K B


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Kralle und Kumpels, unfreiwillig fies

Das Beste aus zwei Lebenswelten

Eine Tiergang soll Kindern die Lust auf Haustiere verderben

In „Kaiserschmarrn“ raufen sich zwei Familien zusammen

as waren sie doch für ein trauW riger Trupp: Miss Mjuu, eine mausgraue Katze mit nur noch fünf

Schachtelhaus von Arthurs FaIin mmilie steht, liegt und hängt alles Reih und Glied. Schließlich ist

Zähnen. Pantoffel, ein ängstliches Kaninchen, das schielende Meerschweinchen Doktor Fritten und Kralle, ein alter Hund mit struppigem Fell und Ohren so groß wie Bratpfannen. „Er war der lächerlichste Hund auf der ganzen Welt“, dachte Kralle. „Und genau deshalb wollte ihn niemand haben.“ Das denkt auch Peter Bockschneider, das Lama am anderen Ende des Tierheims: „Niemals werdet ihr hier rauskommen.“ Wobei auch Peter noch niemand rausgeholt hat, weil er dann und wann immer so böse pupst, dass alle fast ohnmächtig werden. Am Anfang ist Anna Lotts Kinderroman so realistisch, dass es wehtut. Doch dann überkommt die Tiere der Mut der Verzweiflung: Sie brechen aus. Aber wovon sollen sie jetzt leben? Dem arbeitslosen Bademeister, der immerhin noch das verfallene Schwimmbad als Bleibe hat, kommt eine Idee: Wer wenn nicht dieses Quintett kann Kindern den Wunsch nach einem Haustier austreiben? All die Eltern, denen ihre Gschrappen ständig mit etwas Flauschigem in den Ohren liegen, zahlen gern und gut dafür. Also legt die „Agentur der fiesen Viecher“ los. Sie knurren und kratzen, schielen und stinken. Die Kin-

der sind verschreckt, die Eltern begeistert. Bis Kralle den neunjährigen Louis verschrecken soll. Aber ach, dieses unerschrockene Kind träumt sein Leben lang von genau so einem Hund wie ihm, Kralle! Louis mag ihn, und Kralle mag Louis. Auch für die anderen Tiere wird gesorgt. Ganz aus der Sicht der Tiere geschrieben, witzig und optimistisch, wird Anna Lott sicher viele Kinder abholen. Auch die Zeichnungen von Thomas M. Müller sind so herzzerreißend wie lustig. Nur die Eltern seien gewarnt: Dieses Buch wird Kindern den Wunsch nach einem Haustier sicher nicht verderben. GERLINDE PÖLSLER

Anna Lott: Kralle & Co. – Agentur der fiesen Viecher. dtv, 176 S., € 14,40 (ab 8)

der Papa Architekt und hat es selbst geplant. Das Zuhause von Arthurs neuen Freunden Fanny und Freddy dagegen ist ein Kramasuri mit Messie-artigen Auswüchsen: Hinter dem Haus wuchert ein Schrotthaufen. Findet zumindest Fannys Mutter. Ihr Papa nennt das „Protest gegen die Wegwerfgesellschaft“. Irgendwann wird er das alles reparieren! Hauptberuflich ist er Schamane, er führt seine Klienten in den Wald, auf dass diese sich Bäume umarmend von ihren Problemen lösen. Dass der neue Nachbar, Arthurs Papa, nun in diesem Wald ein stylisches Baumhaus bauen und dafür einen alten Baumriesen umhacken will, packt er gar nicht. Außer mit ihren zankenden Vätern müssen sich Arthur und seine Freunde noch mit der Ziege herumschlagen, die nach Verzehr schamanischer Kräuter zu sprechen anhob: Sie hält sich für „Kaiser Cäsar Napoleon Alexander den Größeren“. Und beansprucht sogar Arthurs Bett für sich. Leonora Leitls Kinderliteratur füllt bereits ein ganzes Bücherregal, sie ist Trägerin des Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreises. Und weil sie auch die Meisterklasse für Grafik- und Kommunikationsdesign in Linz absolviert hat, illustriert sie

ihre Bücher gleich selbst. Die Sache mit der Voodoopuppe, die mutmaßlich Fannys Papa dem Arthur-Papa samt Nadeln im Kopf vor die Haustür legt, ist ein bisserl dick aufgetragen. In Summe aber hat Leonora Leitl liebevoll zwei Arten zu leben porträtiert – und lässt die ungleichen Neo-Nachbarn am Ende einander doch näherkommen. Man muss einander ja nicht den ganzen Tag abbusseln und kann doch Gemeinsames finden, so die Botschaft. „Geht es Ihnen eigentlich auch so, dass Sie der Restlfresser der Familie sind“, fragt der eine Vater den anderen. „Ja“, erwidert der: „Nach mir kommt nur der Komposthaufen.“ Na bitte, geht doch! GP

Leonora Leitl: Kaiserschmarrn: Mein grandioser Sommer mit Ziege. Kunstanstifter, 208 S., € 22,60 (ab 6)

Gemeines Gemüse und eine Fliege als Lehrer Sophie Reyer hat zwei fantastische Märchen des großen Romantikers E.T.A. Hoffmann neu erzählt

agister Tinte ist ein UnsymM path, nennt er doch geliebte Märchenbücher ‚Firlefanz‘. Aber

dass er eine Fliege ist!“ So schreibt die Lyrikerin und Performerin Nora Gomringer in ihrem Vorwort, und es ist ein würdiger Auftakt zu dem, was in diesem Buch noch alles kreuchen, fleuchen und aus der Erde steigen wird. Sophie Reyer nämlich, Wiener Philosophin und Autorin (zuletzt erschien ihr Roman „1431“), hat E.T.A. Hoffmanns Märchen „Die Königsbraut“ und „Das fremde Kind“ neu erzählt. Anlass ist der heuer 200. Todestag des deutschen Romantik-Schriftstellers, der auch Karikaturist, Jurist und Kapellmeister war und seine Zeitgenossen überforderte. So fand einer der Brüder Grimm, Wilhelm, zwar an Hoffmanns Erzählung „Nußknacker und Mausekönig“ Gefallen, erklärte aber: „Dieser Hoffmann ist mir widerwärtig mit all seinem Geist und Witz von Anfang bis zu Ende.“ Wenn das kein Versprechen ist!

In beiden Erzählungen stellt Reyer uns liebevolle Eltern vor, doch Unheil dräut von außen. Man stelle sich das mal vor: Der neue Hauslehrer drückt den Geschwistern zur Begrüßung die Hände – und die durchzuckt ein greller Schmerz! „Doch Magister Tinte kicherte nur – und zeigte ihnen dann eine kleine Nadel, die er heimlich in seiner Hand versteckt hatte.“ Auffällig auch, dass er immer die Süßigkeiten beschnuppert und eigenartig summt und brummt. Illustriert hat die schrägen Geschichten Poul Dohle, der sich mit seinen fantastischen Geschöpfen einen Namen gemacht hat. Da wird ihm auch die zweite Geschichte sehr recht gekommen sein. Darin ignoriert das Ännchen, eine leidenschaftliche Gärtnerin, die Anzeichen nahender Gefahr. Oder ist es normal, dass es aus der Erde kichert? Mit feinem Humor treibt Reyer das Drama voran. Das Ännchen, wie es hin- und hergerissen ist, als ein angeblicher Baron kommt und es mit

„Geliebteste Braut!“ begrüßt. „Zugegeben: Besonders edel sah er nicht aus. Er war keine drei Fuß hoch, sein Kopf war viel zu groß und sehr dick und die Nase lang und krumm.“ Dem Ännchen graut davor, den Zwerg zu heiraten – bis er offenbart, dass er in Wahrheit der Gemüsekönig ist und das Ännchen somit Königin würde. „Und mit einem Mal kam ihr der Gnom mit dem großen Kopf auch gar nicht mehr so hässlich vor!“ In Scharen steigt hier das illustre Personal aus dem Gemüsegarten und versucht die Menschen mit sich unter die Erde zu ziehen. Am Ende aber gelingt es, dem Bösen die Tür zu weisen. In Ännchens Fall hilft ihr Verlobter, ein Dichter, der sich endlich vom Schreibpult losreißen kann. Auch in das Leben des Geschwisterpaars ist nicht nur der schauderhafte Schulmeister getreten, sondern auch das Mädchen mit dem Rosenkleid. Oder war es ein Junge in Laubhosen? Ein Schatz an Geist und Witz, damit hatte Grimm recht. GP

Sophie Reyer, E.T.A. Hoffmann: Die Königsbraut und Das fremde Kind. Herder, 112 S., € 16,50 (ab 6)


KINDERBÜCHER

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„Wer bin ich, und wenn ja, wem sage ich es?“

„Manches einfach so lassen, wie es ist“

Ein fiktives Tagebuch einer 16-Jährigen, die die Diagnose Asperger-Syndrom erhält

Ein Jugendroman über eine spröde Jugendliche, Familiengeheimnisse und die Liebe

elbstfindung in der Jugend ist eine S schwere Aufgabe, auch wenn man sich ganz „normal“ entwickelt. Umso

nicek für ihre Heldin gefunden hat: unsicher und rotzfrech, tastend und treffsicher, ironisch und voller Ernst. Dass Fabi nicht Asperger genannt werden will, liegt zum einem an dessen Namensgeber, dem Kinderarzt Hans Asperger (1906–1980), der in der Nazi-Zeit junge Patienten in die Euthanasieanstalt Am Spiegelgrund überwies. Asperger wird auch gerne „hochfunktionaler Autismus“ genannt, aber dieser hat keinen guten Leumund. Dabei gibt es viele bekannte Persönlichkeiten, die zu dem Spektrum zählen, von Albert Einstein über Anthony Hopkins und Elon Musk bis zu Greta Thunberg. Mädchen und Frauen können ihre Symptome übrigens besser verbergen und werden weniger oft diagnostiziert.

enn ein Mädchen Maserati W heißt, scheint es naheliegend, es mit bösen Spitznamen zu beden-

Fabi will aber auch einfach in keine

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mehr Anforderungen bestehen für jene, die sich deutlich von ihren Altersgenossen unterscheiden. Fabienne, genannt Fabi, ist so eine. Nicht nur ihre Familie findet, dass sie komisch ist, gerne übertreibt und wegen Kleinigkeiten ein Drama macht. Auch sie selbst merkt es. Sie mag keine Menschenmengen, vermeidet Blickkontakt und macht sich ständig Sorgen. Sie schläft schlecht, kann sich schwer konzentrieren und lächelt wenig. Für sie ist oft etwas falsch: zu heiß, zu weich, zu leise, zu laut. Cornelia Travnicek macht in „Harte Schale, Weichtierkern“ die Innenwelt der 16-Jährigen plastisch, indem sie Fabi selbst zu Wort kommen lässt. Der Psychiater, bei dem die Jugendliche ohne Wissen ihrer Familie einge-

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„Du sollst nicht Asperger sagen“ „FABI“ BEI CORNELIA TRAVNICEK

checkt hat, hat ihr mit der Diagnose „Asperger“ diverse Aufgaben aufgetragen: Mindmaps zu zeichnen, Listen über Vorlieben und Abneigungen zu verfassen und ein Tagebuch zu schreiben. Ein Tagebuch zu führen scheint ihr zwar

„superberuhigend“, ihrem überkritischen Auge hält aber schon die Handschrift kaum stand. Nach und nach findet sie aber hinein in die Reflexion über ihr Leben und ihren Charakter. Einen festen Handlungsfaden gibt es nicht, dafür aber Beziehungen: zu ihrem Freund Marco, der sich zu Beginn des Buchs von Fabi trennt, oder ihrer besten Freundin Walli, deren Zuneigung Fabi sich nicht sicher ist – wie es ihr überhaupt schwerfällt, Menschen und die Bande zwischen ihnen einzuschätzen. Dass aus dem Ganzen keine schwere Kost entsteht, dafür sorgen – für ein Jugendbuch ungewöhnlich – die durchgängigen Illustrationen von Michael Szyszka. In diesen spielt der titelgebende Oktopus eine Hauptrolle, bei dem das Gehirn – wie bei der hypersensiblen Fabi – über den gesamten Körper verteilt ist. Der Hauptgrund für das Gelingen liegt aber in dem Sound, den Trav-

Schublade gesteckt werden: „Ich will nicht, dass die Leute hinter meinem Rücken sagen, ich wäre irgendwie gestört. Da sollen sie lieber weiterhin denken, ich wäre eingebildet, unhöflich, berechnend, krankhaft ehrgeizig, überängstlich, schlecht gelaunt.“ Asperger ist keine Krankheit, sondern ein Syndrom. Und dieses hindert Fabi nicht daran, zu lernen, zu sich selbst zu stehen und an der Welt teilzunehmen. Sie fährt zu einem Musikfestival und reklamiert sich in eine von ihrer Freundin Walli geplante Reise hinein, beginnt eine Freundschaft mit ihrem Exfreund und lernt bei den Meetings von Asperger-Teenies einen jungen Mann kennen, der Meeresbiologe werden will. Travniceks schmales und kluges Buch über ein noch zu wenig bekanntes Persönlichkeitsprofil schafft nicht nur den Spagat zwischen Literatur und Sachbuch, es vermag auch viel zwischen den Zeilen zu transportieren. Da in vielen Menschen eine hochsensible Person steckt, wird den allermeisten Leserinnen und Lesern die Innenwelt von Fabienne gar nicht so fremd sein. KIRSTIN BREITENFELLNER

ken. Caspar probiert alle Automarken durch, um die Aufmerksamkeit des Mädchens zu ergattern. Ferrari, Volkswagen, Toyota, Trabi et cetera. Der Jugendroman von Alina Bronsky unter dem Titel „Schallplattensommer“ spielt in einer Gegend, in der nicht viel los ist, wo es Birken ohne Ende gibt, im Herbst Pilze und im Winter Schnee und an den vielen Seen im Sommer eine Menge Sommergäste. Maseratis Oma betreibt ein Gasthaus, das für seine gefüllten Teigtaschen bekannt ist. Da es so viel Arbeit gibt, verzichtet Maserati darauf, weiter in die Schule zu gehen. In die bis dahin verfallene Villa nebenan zieht eine Familie mit zwei Burschen in Maseratis Alter. Einer

Wie immer, wenn ihr zum Heulen zumute war, musste Maserati lachen ALINA BRONSKY

der Burschen, Caspar, blond, gutaussehend und frech, schmeißt sich an die knapp 17-Jährige heran, der andere, Theo, dunkelhaarig und verdüstert, „eine nur auf den zweiten Blick hübsche traurige Mischung aus Dracula und Professor Snape“, interessiert sich ebenfalls für sie. Er trägt ein Geheimnis, das merkwürdigerweise etwas mit Maserati zu tun hat. Und dann gibt es da noch Georg, einen taubstummen ehemaligen Klassenkameraden, der zupacken kann und mit dem sie angenehmerweise nicht viel reden muss.

Die Autorin versteht es dabei meisterhaft, ihre Leser mit Andeutungen bei der Stange zu halten. Dass am Schluss nicht alle Geheimnisse aufgelöst werden, gehört zu den Stärken des Buchs. „Keiner muss irgendwas klären“, sagt Maserati zu Caspar. „Manches muss man einfach so lassen, wie es ist. Ungeklärt, mit Lücken. Was ist das für eine nervige Angewohnheit, alle Geheimnisse aufdecken zu müssen?“ Eines der Rätsel hängt mit der titelge-

benden Schallplatte zusammen, auf deren Cover Theo Maserati zu erkennen meint. Aber wie kann das sein? Die beiden begeben sich unabhängig voneinander ins Internet und entdecken eine Verbindung zu Maseratis Mutter. Maserati sieht aus wie Lenchen, die in der Klatschpresse an den Pranger gestellt wurde. Seitdem ist Oma krank im Kopf. Und Maserati gibt vor, kein Handy und keinen Internetanschluss zu haben. Alina Bronsky, geboren 1978 in Swerdlowsk (heute: Jekaterinburg) in der damaligen Sowjetunion, legte bereits mit ihrem Erstling ein Jugendbuch vor, das die Kunst beherrscht, leicht über schwere Themen zu schreiben. „Scherbenpark“, erschienen 2008, wurde bereits 2010 für die Bühne adaptiert und 2011 auch verfilmt. Inzwischen gehört das Buch über die russischstämmige Sascha, deren Mutter von ihrem Stiefvater getötet wurde und die diesen schon im ersten Satz des Romans ebenfalls umbringen möchte, zur Schullektüre. Auch in „Schallplattensommer“ gelingt es ihr, über Themen wie Selbstmord, Medien, Mobbing, Demenz und soziale Ausgrenzung nonchalant und ohne Larmoyanz oder moralischen Zeigefinger zu schreiben. Bronsky tritt damit einmal mehr den Beweis an, dass Unterhaltung nicht seicht sein muss. KIRSTIN BREITENFELLNER

Maserati ist eine typische Heldin der Au-

Cornelia Travnicek: Harte Schale, Weichtierkern. Beltz & Gelberg, 126 S., € 15,95 (ab 14)

torin Alina Bronsky: spröde, unangepasst und schwer zu beeinflussen. „Wie immer, wenn ihr zum Heulen zumute war, musste Maserati lachen“, heißt es an einer Stelle. Auch ihr Gesicht fällt auf. „Sie war schon mit einer Elfe, einem Raubtier und einer Außerirdischen verglichen worden. Als sie noch mit Oma in der Stadt gelebt hatte, war sie dreimal in zwei Jahren auf der Straße zu Castings eingeladen worden.“ Familiengeheimnisse spielen die zweite tragende Rolle in Bronskys fein hingetupftem, spannendem Roman.

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Alina Bronsky: Schallplattensommer. Roman. dtv, 190 S., € 15,95 (ab 14)


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Über das Verschwinden Ökologie: Kein Quaken, kein Brummen, kein Flügelschlag. Drei Bücher zeigen auf, was wir mit dem Aussterben so vieler Tierarten verlieren – und was jetzt zu tun ist


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in Vogel mit faltig-runzligem Kopf und E einem Schnabel wie ein verdorrter Knochen. Dazu schwarze Federn, „als wäre er

gerade Opfer einer heftigen Explosion geworden … – wem beim Anblick eines Waldrapps nicht umgehend das Herz aufgeht, der hat vermutlich keines.“ Doch so strubbelig er daherkommt, so gut hat er den Menschen geschmeckt: Schon im 17. Jahrhundert war der Waldrapp großteils weggeknurpselt. Nur noch um die 500 freilebende Exemplare gab es zwischenzeitlich. In „Von Okapi, Scharnierschildkröte und Schnilch. Ein prekäres Bestiarium“ stellen Heiko Werning und Ulrike Sterblich knapp 50 Tierarten vor, deren Überleben akut bedroht ist. Es ist eines von mehreren neuen Büchern, die das Artensterben thematisieren. So wie Rachel Carson 1963 mit ihrem einflussreich gewordenen Buch „Der stumme Frühling“ vor dem Auslöschen von Arten warnte, so mahnt nun der britische Naturschützer Dave Goulson in „Stumme Erde“ vor dem Insektenschwund. Vom Warten auf ein Quaken oder Tschilpen erzählt Pauline de Bok in „Das Schweigen der Frösche oder Die Kunst die Natur zu belauschen“. Alle drei Bücher gehen auf ganz unterschiedliche Art an das Thema heran, jedes funktioniert auf seine Weise.

RARITÄTENSCHAU: GERLINDE PÖLSLER

ILLUSTRATION: GEORG FEIERFEIL

Zhous Scharnierschildkröte zieht sich in

ihren Panzer zurück, wann immer ihr „etwas nicht behagt: schlechtes Wetter, doofe Leute, so was halt“. Dann klappt sie den Bauchpanzer hoch und – zack! – ist Ruhe. Ganz anders der Tasmanische Beutelteufel, der Wutbürger unter den Tieren: Wenn er sich aufregt, springt er stinkend, schreiend und mit roten Ohren durch die Gegend. Und er regt sich oft auf. Heiko Wernings und Ulrike Sterblichs Buch über so sonderbare wie seltene Spezies ist voller Witz geschrieben – und hat damit das Zeug, möglichst vielen Menschen ihre Botschaft nahezubringen: dass man etwas dagegen tun kann, und zwar nicht nur allgemein, etwa indem man den Klimawandel aufzuhalten versucht. Für viele Arten gebe es in ihrem angestammten Lebensraum nämlich keine Hoffnung mehr: Der „Bremsweg“ sei viel zu lang. Als Beispiel nennen die Autoren den Vaquita, einen Delfin, der im Golf von Kalifornien lebt, doch in großer Zahl in Netzen ertrunken ist, mit denen Fischer einer anderen Fischart nachstellten. Obwohl schon 1978 formal unter Schutz gestellt, ging die Ausbeutung weiter. 2020 existierten nur noch neun Exemplare. Kaum jemand glaubt noch an das Überleben des kleinen Delfins. „Die einzige Rettung für viele Arten wird deshalb darin bestehen, ihnen Asyl in menschlicher Obhut zu gewähren“, so die Autoren. Beide arbeiten bei Citizen Conservation, einem Verbund aus Zoos und privaten Züchtern. Diese halten und vermehren seltene Tiere, um die Nachkommenschaft irgendwann wieder in ihren natürlichen Lebensraum auszuwildern. Gerade private Tierhalter widmen sich hingebungsvoll der Haltung auch weniger populärer Arten wie kleinen Fröschen, Fischen oder Spinnen. Aber – Eisbären im Zoo halten? Die Skepsis ist groß: Was nützt es denn, wenn eine Art nicht mehr in der Natur, sondern nur noch „hinter Glas“ lebt? Die Autoren begegnen dem mit überzeugenden Argumenten. „Wir antworten darauf stets, dass es darum geht, Optionen für die Zukunft zu erhalten.“ Etwa, die Tiere in wiederhergestellten Lebensräumen neu anzusiedeln.

Dave Goulson: Stumme Erde. Warum wir die Insekten retten müssen. Hanser, 368 S., € 25,70

Pauline de Bok: Das Schweigen der Frösche oder Die Kunst, die Natur zu belauschen. C.H. Beck, 320 S., € 24,70

Heiko Werning, Ulrike Sterblich: Von Okapi, Scharnierschildkröte und Schnilch. Ein prekäres Bestiarium. Galiani, 240 S., € 22,70

Ob das möglich ist, werde man sehen: „Ist die Art erst einmal verschwunden, gibt es diese Option jedenfalls nicht mehr.“ Pauline de Bok ist zu Beginn ihres Buchs unterwegs zu ihrem Zweitwohnsitz in Mecklenburg. Seit 20 Jahren bewohnt sie dort einen ehemaligen Kuhstall. „Die ganze Fahrt von Amsterdam hierher war ich unruhig, […] wollte wissen, in welchem Zustand ich das Land und das Grundstück vorfinden würde – und den Tümpel.“ Die Frage, ob Wasser im Tümpel steht und das Quaken von Fröschen zu hören sei, zieht sich durch das Buch. „Ich fühle nichts Weiches, nichts Schlickiges […] Der Tümpel ist trocken, knochentrocken.“ Kein Leben darin. Über 18 Monate lässt die Schriftstellerin uns am Leben auf ihrem Stück Land teilhaben. Sie beobachtet Geburt und Paarung, Leben und Sterben, Fressen und Gefressenwerden, sie dokumentiert, wie sich die Landschaft verändert: durch Trockenheit, invasive Arten und die Landwirtschaft. Maismonokulturen breiten sich aus, um Futter für die Autotanks zu liefern. Der Text entwickelt einen Sog, man spürt, dass de Bok über Monate völlig allein mit der Natur war. Beim Einschlafen gleiten Fledermäuse über ihren Kopf, in der Morgendämmerung ruft vom Froschteich eine Rohrdommel. Immer wieder hält die Autorin Zwiesprache mit dem Laubfrosch, der hartnäckig auf sich warten lässt. Sich selbst sieht de Bok als Teil des Bio-

tops, als „Menschentier“ unter Tieren, das gar nicht anders kann, als sich am Töten und Fressen zu beteiligen. Und sei es, dass sie den Gemüsegarten umgräbt und dabei Kleintiere umbringt. Sie legt künstliche Tümpel für Schwalben und Insekten an, doch wovon es „zu viel“ gibt, das tötet sie: Waschbären zum Beispiel, weil diese als invasive Spezies gelten. Sie fladern Vögeln die Eier, fressen Küken, Frösche und Hasen. Als Jägerin weiß sie, was zu tun ist. Und so wird der Waschbär zu Gulasch, einmal schmurgelt ein Wildschweinkopf im Rohr. Das Buch ist anregend, weil de Bok heikle Fragen nicht scheut: Was kann der ökologisch gutwillige Mensch durch Tun oder Verzicht bewirken? Was ist kontraproduktiver Unsinn? Manches aber reizt zu Widerspruch. So wirft sie Menschen, die sich nicht am Töten anderer Arten beteiligen wollen, „Hybris“ vor. „Hoffart“ entdeckt sie auch in Projekten wie Icarus: Dieses stattet Zugvögel mit Minisendern aus, um herauszufinden, wie man ihnen beim Überleben helfen kann. Warum aber sollen nur erstere Bemühungen hochmütig sein, das Erschießen trächtiger Waschbären oder das Töten zwecks Fleischgewinns aber nicht? Ebenso gut lesbar wie prall an Fakten ist Dave Goulsons „Stumme Erde“. Als Fünfjähriger klaubte er Raupen in seine Jausendose und beobachtete, wie sie sich in schwarz-rote Nachtfalter verwandelten. Das war’s, seither hat er sein Leben kleinen Krabblern verschrieben. Nicht nur deren filigrane Schönheit bringt er uns näher, auch die vielen Aufgaben, die sie übernehmen: den Planeten sauber halten zum Beispiel. Gäbe es nicht all die Viecher, die sich durch Kuhfladen und anderen Dung wühlen, die Weiden dieser Welt würden unter dem Mist ersticken. Insekten „bestäuben unsere Nutzpflanzen, kompostieren Dung, Laub und Leichen, erhalten den Boden gesund, halten Schädlin-

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ge in Schach“. Vögel, Fische und Frösche brauchen sie als Nahrung. „Ohne Insekten“, so der Professor für Biologie an der University of Sussex, „funktioniert einfach nichts.“ Seit aber der kleine Dave seine ersten Rau-

pen einsammelte, ist die Masse von Insekten Schätzungen zufolge um 75 Prozent geschrumpft. Durch den Verlust von Lebensräumen, eingeschleppte Krankheiten, nächtliche Beleuchtung. Zu Pestiziden hat Goulson selbst etliche Studien durchgeführt, etwa zu Neonicotinoiden, die Hummeln und Bienen Orientierungssinn und Gedächtnis rauben. „Unser chemischer Angriff auf die Natur“, so der Wissenschaftler, „ähnelt einem Genozid, der immer mehr Tier- und Pflanzenarten vernichtet.“ Noch weniger bekannt ist, wie sehr die Erderwärmung den Insektenschwund beschleunigen wird. Prinzipiell sei zu erwarten, dass die meisten Arten Richtung Norden in höhere Regionen wandern werden. Aber wie sollen sie das tun, wenn sie fast überall nur intensiv bewirtschaftete Äcker und zugepflasterte Flächen vorfinden? „Die Wahrscheinlichkeit, dass sie es schaffen, nach Norden zu ziehen, um dem Klimawandel zuvorzukommen, ist gering; vor allem deshalb, weil sie sich von bestimmten Pflanzenarten ernähren, die dann eigentlich mitwandern müssten.“ Von den Entwicklungen profitieren werden dagegen die Schadinsekten in der Landwirtschaft: Weil die Winter immer milder werden, vermehren sie sich das ganze Jahr über. Die Ernteerträge bei Getreide, Reis und Mais würden daher laut Schätzungen mit jedem Grad der Erwärmung um etwa ein Zehntel zurückgehen. Ebenfalls prima gedeihen werden die Anophelesmücke, Hauptüberträgerin der Malaria, und die Gelbfiebermücke. Goulson lässt seine Leserschaft mit diesen Aussichten aber nicht einfach erschlagen sitzen. Den Abschlussteil widmet er der Frage: „Was können wir tun?“ Erst einmal gelte es, Bewusstsein für die Gefährdung der Insekten zu schaffen, weil die, abgesehen von Bienen und Schmetterlingen, kaum Fans haben. Es folgen zahlreiche Tipps, etwa wie man im eigenen Garten und auf dem Balkon Insekten anlocken kann. Den größten Hebel sieht er aber bei der Ernährung, wobei er nicht „mit dem Finger auf die Bauern zeigen“ will. Vieles müsse sich von Grund auf ändern, etwa der hohe Konsum tierischer Lebensmittel. Drei Viertel der globalen Anbauflächen würden für die Fleisch- und Milchproduktion genutzt. Ein Drittel der weltweit hergestellten Kalorien werde außerdem verschwendet. Würde man das ändern, dann kriegten die Bauern die Weltbevölkerung auch ohne Pestizide satt. Politiker sollten dieses Buch lesen. „Für den St.-Helena-Riesenohrwurm und die

Franklin-Hummel ist es bereits zu spät“, schließt Goulson, „für einen Großteil des Lebens auf unserem Planeten jedoch noch nicht.“ Ein aufmunterndes Beispiel erzählen auch die Autoren des „Prekären Bestiariums“: Nachdem Tiergärten Waldrappe nachzüchteten, gibt es wieder Kolonien in freier Natur. Weil die zerzausten Vögel nicht mehr wissen, wie man in den Süden fliegt, setzen Waldrappliebhaber sich in Ultraleichtflieger und fliegen voraus. Zurück finden die Tiere allein. Und siehe da, nach 350 Jahren Pause überqueren heute wieder regelmäßig Waldrappe die Alpen. F


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Das Huhn aus dem Reagenzglas Ökologie: In „Die zweite Schöpfung“ zeigt Nathaniel Rich, wie der Mensch die Natur bereits verändert hat as Verhältnis des Menschen zur NaD tur ist, gelinde gesagt, ein schwieriges. Über lange Zeit betrachteten unsere Vor-

fahren sie als ihren erbitterten Feind und bekämpften sie unbarmherzig. Schon ganz frühe Schriftzeugnisse künden davon. Gilgamesch etwa meinte, eine Heldentat vollbringen zu müssen, um Unsterblichkeit zu erlangen. Was also tat er? „Da er sich nichts Ehrenvolleres vorstellen kann, als einen Urwald zu zerstören, reist Gilgamesch zum heiligen Zedernberg, enthauptet den Halbgott, der den Wald schützt, macht alles dem Erdboden gleich und fertigt aus dem stattlichsten Baum ein Tor zu seiner Stadt.“ So rekapituliert Nathaniel Rich das Epos aus babylonischer Zeit. Mit diesem Spirit ausgestattet, machten auch

Menschen nachfolgender Zeitalter sich munter ans Werk und die Erde untertan. Erst im 19. Jahrhundert begannen Wissenschaftler zu bezweifeln, ob wirklich die Natur eine Bedrohung für die Zivilisation sei – oder ob es sich nicht umgekehrt verhalte. Seither versucht der Mensch zunehmend, im Einklang mit der Natur zu leben – wenn er nicht gerade dringend die Fläche einiger Fußballfelder versiegeln muss. „Was wir mit unangebrachter Nostalgie noch immer floskelhaft ,die Welt der Natur‘ nennen, ist verschwunden, falls sie je existiert hat“, so Rich. „Kaum ein Stein, Blatt oder Kubik-

meter Luft ist nicht von unserer ungeschickten Hand gezeichnet.“

weltschädliche Chemikalien. Heraus sticht auch die Geschichte von Vater und Sohn Park, anhand derer Rich erzählt, wie sich die Fleischindustrie entwickelt hat und wohin hier die Reise geht. Henry Park war einst noch ein normaler Metzger, der seine Kunden kannte und für Qualität stand.

Der US-amerikanische Schriftsteller, Essay-

ist und Reporter zeichnet in seinem neuen Buch kein Weltuntergangsszenario. Schilderte er in seiner vorhergehenden, breit rezipierten Reportage „Losing Earth“ (2019), wie es zur Klimakatastrophe kam, so erzählt er in „Die zweite Schöpfung“ von Menschen, die sich nicht mit der Situation abfinden wollen. Manche betätigen sich als Aufdecker und führen einsame Kriege gegen Konzerne, andere versuchen aktiv die Zukunft zu gestalten. So lernen wir die Geschichte des Juristen Robert Bilott kennen, der für eine große Anwaltsfirma tätig ist. Normalerweise vertritt diese US-Konzerne. Bilotts Leben änderte sich an dem Tag, als ein Farmer an ihn herantrat, dessen Rinder qualvolle Tode starben, seit der Chemiekonzern DuPont in der Gegend Wasser und Böden vergiftete. Bilott stieß auf einen der größten Umweltskandale in den Vereinigten Staaten. Andere hätten angesichts der Menge an Dokumenten aus fünf Jahrzehnten, die dafür zu durchforsten waren, kapituliert. Die Gegenseite wollte ihn unter dem Material begraben, lieferte ihm damit jedoch die entscheidenden Beweise. Niemand dachte, dass er alles lesen würde. Bilott erzielte einen Etappensieg im Kampf gegen um-

Nathaniel Rich: Die zweite Schöpfung. Wie der Mensch die Natur für immer verändert. Rowohlt, 318 S., € 22,70

Sein Sohn Nate versuchte sich als Koch in Avantgarde-Restaurants, dann eröffneten sie einen gemeinsamen Laden. Der eine verkaufte Fleisch, der andere verkochte es vor Ort. Mittlerweile arbeitet Nate an Hühnerfleisch aus dem Reagenzglas, das mindestens genauso gut schmecken soll wie echtes. Der Vater stört sich allenfalls daran, dass das Resultat Fleisch genannt wird, ist ansonsten aber stolz auf den Sohn: „Weißt du, was man irgendwann seltsam finden wird? Dass die Leute ihre eigenen Hühner hatten und sie geschlachtet haben. Bald wird niemand mehr glauben, dass es das wirklich mal gab.“ Von einem trockenen Report ist Richs Buch denkbar weit entfernt. Wie schlimm es um die Natur bestellt ist und wie viel Hoffnung für das Leben von Menschen auf der Erde noch besteht, lässt er offen. Stattdessen setzt er die große amerikanische Tradition des Schriftstellers als Reporter fort und verbindet unbändige Neugier mit erzählerischer Kraft. SEBASTIAN FASTHUBER

Wie man seinen Umweltschweinehund dressiert Ökologie: Die Psychologin Isabella Uhl-Hädicke erklärt, warum man sich im Klimaschutz oft selbst im Weg steht ls Greta Thunberg mit dem Zug zum A Weltwirtschaftsforum nach Davos fuhr, aß sie einen Snack, der in Plastik verpackt

war. Ein Foto davon handelte dem Teenager in den sozialen Medien einen Shitstorm ein. User versuchten, die junge Klimaschützerin, die, statt schnell mal ein Flugzeug von Stockholm zu nehmen, tagelang im Zug gesessen war, wegen der Plastikverpackung als Umweltsünderin vorzuführen. Warum gossen die Menschen Häme über das Mädchen, statt sich seinem Kampf für ein gesundes Weltklima anzuschließen? Isabella Uhl-Hädicke ist Umweltpsychologin an der Universität Salzburg und beschäftigt sich mit dem inneren Umweltschweinehund, der uns davon abhält, ein klimafreundliches Leben zu führen. Nun hat sie aus ihrem Thema ein Buch gemacht, dessen Titel zugleich ihre Forschungsfrage ist: „Warum machen wir es nicht einfach?“ Wieso handeln wir also nicht so, dass wir die Lebensgrundlagen für uns und unsere Kinder sichern, obwohl wir wissen, wie stark die Klimakrise unsere Lebensgrundlage gefährdet? Warum gewinnt der innere Umweltschweinehund so oft – und welche Tricks beherrscht er, um uns zu trägen Wesen zu machen, die den notwendigen Veränderungen trotzen? Da wäre zum Beispiel die Sache mit unserem

positiven Selbstbild. In der Regel halten wir

uns alle für gute Menschen. Wenn durch eine Information unser Selbstbild plötzlich Kratzer bekommt, beginnt es im Hirn zu knirschen. Der Fachbegriff dafür lautet „kognitive Dissonanz“. Sie entsteht etwa, wenn Greta Thunberg die unfreundliche Wahrheit ausspricht, dass wir mit unserem klimafeindlichen Lebensstil den Kindern die Zukunft rauben. Um das schöne Selbstbild wiederherzustellen, gibt es nun mehrere Möglichkeiten. Entweder man nimmt die Information ernst und ändert sein Leben. Das wäre der anstrengende Weg. Oder man rechtfertigt sein Verhalten, redet die Information klein und versucht die Überbringerin der schlechten Nachricht als unglaubwürdig darzustellen. Das geht wesentlich einfacher und man braucht sich um die irritierende Information nicht weiter zu kümmern. Um eine Klimaschutz-Ikone als Heuchlerin abzustempeln, reicht bereits eine Plastikverpackung eines Sandwichs. Uhl-Hädicke nimmt ihre Leserschaft an der Hand und führt sie in die Welt der Umweltpsychologie ein. Sie schreibt persönlich und verständnisvoll, zitiert nicht nur verblüffende Studienergebnisse, sondern liefert auch gleich eine Anleitung zur Selbsttherapie für ein klimafreundliches Leben mit dazu. Durch Selbsttests lernen sich die Leserinnen und Leser besser einzuschätzen. Je nach Werteinstellung präsentiert ihnen Uhl-Hädicke Strategien, um ihren

persönlichen ökologischen Fußabdruck zu verkleinern. Wie schafft man nun den klimafreundlichen Lebenswandel? Uhl-Hädicke hat dazu einige Tipps parat. So hilft es etwa, nicht nur Vorsätze zu fassen, sondern sie auch öffentlich zu machen – also sie vor anderen Menschen auszusprechen oder auf sozialen Medien zu posten. Der Vorsatz sollte realistisch umsetzbar und so konkret wie möglich sein – das vermeidet Ausreden und Frustrationen. Dass sich die Bemühungen lohnen, daran

Isabella Uhl-Hädicke: Warum machen wir es nicht einfach? Die Psychologie der Klimakrise. Molden, 176 S., 25 €

lässt die Umweltpsychologin keinen Zweifel. Denn wer sein Leben ändert, kann auch andere Menschen mitreißen. Klimaschutz kann also ansteckend sein. „Durch Ihre umweltfreundlichen Handlungen und die daraus folgenden Umgebungshinweise, wie beispielsweise ein Fahrradhelm am Schreibtisch oder der Plan mit den Fahrzeiten der Straßenbahn, sind Sie ein Vorbild für andere und bestärken – oft unbewusst – deren Intention für umweltfreundliche Verhaltensweisen positiv“, schreibt Uhl-Hädicke und macht dabei ihren Leserinnen und Lesern Mut: „Auch wenn die Situation rund um den Klimawandel und die Verschmutzung unseres Ökosystems oft überfordernd scheint: Man kann als Einzelperson definitiv etwas bewirken und verändern!“ BENEDIKT NARODOSLAWSKY


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Fischstäbchen, Völlerei und Fleischwende

Die messenger-RNA als Weltretterin

Kulturgeschichte: Thomas Macho fragt sich, „Warum wir Tiere essen“ und ob wir das auch in Zukunft tun werden

Ein Rundkurs durch aktuelle Pharmaforschung gibt profunde Ein- und sehr optimistische Ausblicke

in Interview mit Eva Konzett für E den Falter lieferte die Idee für das neue Buch. Die Frage, warum Men-

NA – diese drei Buchstaben beR deuten heute nicht weniger als die Rettung der Welt.“ Zwei Wis-

schen Tiere essen, verfolgt Macho aber bereits seit den 1990er-Jahren. In seinem neuen Werk gibt der Philosoph und Staatspreisträger für Kulturpublizistik drei Antworten: Menschen essen Tiere erstens, um sich mit hochwertigem Eiweiß zu versorgen. Zweitens, weil sie gar nicht bemerken, dass sie es tun – Stichwort Fischstäbchen. Dass dies funktioniert, liegt nicht nur an der geometrischen Abstraktion, sondern vor allem an der Unsichtbarkeit der Milliarden sogenannter Nutztiere, ihrem Leben in fensterlosen Großställen und ihrem Tod in den Schlachthöfen. Und an der Fähigkeit der meisten Menschen, ihr Wissen darüber zu verdrängen. Den dritten Grund verankert Macho an zahlreichen Beispielen aus Mythen und Literatur im Gedächtnis der Leserschaft, die nicht immer leicht verdaulich sind (Spoiler: Es geht auch um den Verzehr einer Schabe). „Wir essen Tiere, um uns mit anderen Lebewesen zu vermischen, mitunter um deren Eigenschaften – Kraft, Beweglichkeit, sinnliche Wahrnehmungsfähigkeiten – anzunehmen und zu teilen. Stoffwechsel kann zum Gestaltenwandel gesteigert werden: Metabolismus als Metamorphose.“ Machos kulturhistorische Betrachtungen

sind facettenreich und immer wieder erhellend: etwa wenn er den Urmenschen als Aasfresser beschreibt, der warten muss, was geschickter jagende Tiere übrig lassen, der also der Hyäne näher war als dem Panther. Oder wenn er erklärt, dass die Geschichte der Macht eine Geschichte der Völlerei ist und Könige wie Märchenhelden als „fresstüchtige Kolosse“ den „Triumph über die Drohung des allgegenwärtigen Hungers“ verkörpern. Vision bietet das Buch hin-

gegen keine, anders als zum Beispiel das von Macho zitierte „Zoopolis“: Darin entwerfen Sue Donaldson und Will Kymlicka eine Gesellschaft, in der Tiere als Staatsbürger mit Rechten und Pflichten anerkannt werden, und bieten den juristischen und philosophischen Rahmen dafür. Die Entwicklung der letzten Jahre hin zu einem neuen Miteinander über Artgrenzen hinweg spielt in Machos neuem Text kaum eine Rolle. Verzicht auf Fleisch verknüpft er vorrangig mit Askese. Besonders suspekt ist ihm der „radikale Veganismus der letzten Generation“. Die wachsende Zahl (nicht nur) junger Menschen, die sich vegetarisch oder vegan ernähren und dabei Genuss und Haltung verbinden, wird er damit nicht abholen. Dass es um die Wurst geht und Ver-

änderung dringend nötig ist, betont Thomas Macho aber deutlich: Massentierhaltung steht im Spannungsverhältnis zu Tierschutz und Tierrechten, sie beschleunigt die Erderwärmung, führt zu sozialen Ungerechtigkeiten und – in Corona-Zeiten hochbrisant – Zoonosen. So schließt Macho: „Veganismus, Novel Food und eine wesentlich strengere Regulierung der Fleischindustrie bilden gleichsam drei Richtungen, die – unabhängig voneinander – eingeschlagen werden müssen, um das Ziel einer Fleischwende und des Klimaschutzes zu erreichen.“ FELICE GALLÉ

Thomas Macho: Warum wir Tiere essen. Molden, 128 S., € 22,– Erscheint am 28.3.

senschaftsjournalisten starten mit einem Paukenschlag. Dann führen Edda Grabar und Ulrich Bahnsen durch medizinische Zeitgeschichte in Geschichten. Etwa jener von zwei als eher gesellig denn genial geltenden Wissenschaftlern, die in ihrem Stamm-Pub verkünden, das Geheimnis des Lebens entdeckt zu haben. Der Unterschied zu den meisten anderen über den Wirtshaustisch posaunten Großtaten: James D. Watson und Francis Crick haben recht. Ihre verdrehte Strickleiter aus Eiweißketten wird als „DNA-Doppelhelix“ Einzug in alle Biologiebücher halten. Edda Grabar ist Biologin und arbeitet als Journalistin vor allem zu Pharmaforschung und biomedizinischen Themen für mehrere Wissenschaftsmagazine, die FAZ und die Zeit. Dort schreibt auch der gelernte Neurogenetiker Ulrich Bahnsen. Genetik, Altersforschung und Medizin sind seine Themen. Beide wurden für ihre Beiträge mehrfach ausgezeichnet. Die Sehenswürdigkeiten der kleinen Pharmaforschungs-Rundfahrt sind neben Menschen vor allem Forschungsunternehmen. Länger Station macht man bei den Shooting-Stars BionTech und Moderna. Deren Forschung zielte ursprünglich auf Krebstherapien mittels messenger-RNA (mRNA), jenem Biomolekül, das die Information von unseren Genen (der DNA) abliest und damit die Proteinfabriken in den Zellen steuert. Doch bereits vor der Entdeckung von Covid-19 verkündet BionTech-Gründer Uğur Şahin, im Fall einer Pandemie könnte man mit der neu entwickelten Technologie auch sehr rasch Impfstoffe herstellen. Grabar und Bahnsen beleuchten die eben erst entdeckte mRNA in einer überwältigenden Zahl von Rol-

DER WIENER WUND

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len. Die Spezifizität und Individualität, mit der Erreger anvisiert werden können, gelten als große Chance für die Heilung seltener Krankheiten – bei denen die Entwicklung klassischer Medikamente oft unfinanzierbar bleibt. Auch bei Herzschwächen und Kreislauferkrankungen könnte geholfen werden. Weitere Virus-Epidemien? Rein impfstofftechnisch kein Problem! Auch wenn sie sich phasenweise von der Euphorie erfolgreicher Forscherinnen und Forscher anstecken lassen, behalten die Autorinnen ihren Realismus. So weisen sie auch darauf hin, dass noch kein Unternehmen das ursprüngliche Ziel erreicht hat: eine RNA-Krebstherapie. Die einzelnen Episoden sind auch emo-

tional mitreißend und spannend zu lesen. Am Ende hat man solide Einblicke gewonnen, wie RNA in unserem Körper funktioniert und sich für Impfstoffe und Medikamente nutzen lässt. Auch wenn hier alles präzise recherchiert ist, fällt die Erklärung einzelner Wirkmechanismen manchmal kurz aus. Dadurch erscheint der Optimismus in die weiteren Entwicklungen von mRNA-Impfungen und –Therapien etwas vage begründet. Einer Feststellung der Autoren kann man nach dieser aufregenden Tour durch die Möglichkeiten moderner Molekularmedizin jedenfalls folgen: „Das Zeitalter der RNA-Therapien (...) hat begonnen.“ ANDREAS K REML A

Edda Grabar, Ulrich Bahnsen: Das Ende aller Leiden. Quadriga, 268 S., € 20,60

M I D - C E N T U RY VIENNA

240 Seiten, € 29,90 fa lt ershop.a t | 0 1/ 53 6 6 0 -9 2 8 | I n I h re r B u ch h an d lu n g


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Kernbohrungen im reaktionären Eisberg Geistesgeschichte: In „Verfluchte Neuzeit“ gräbt sich Karl-Heinz Ott tief in die verborgenen Schichten des rechten Denkens

George W. Bush band der Öffentlichkeit mit der Mär von Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen erst einen Bären auf, ehe er seine Truppen in den Irak schickte. Volk und Militär müssen schließlich an den Sinn eines Feldzugs glauben, auch wenn dessen Hintergründe kompliziert sind. Unter der Überschrift „Ökonomie der Wahrheit“ definierte der stramm rechte politische Philosoph Leo Strauss eine solche Vorgangsweise als „noble Lüge“ und somit als zulässiges Mittel zum höheren Zweck. Nicht nur George W. Bushs Strategen sind durch die Schule des 1973 verstorbenen, bei uns wenig bekannten illiberalen Denkers gegangen. Als Professor in New York und Chicago prägte Strauss Generationen rechter US-amerikanischer Intellektueller. Bis heute finden sich unter den führenden Köpfen der Republikaner zahlreiche „Straussianer“. Davon ist jedenfalls der deutsche Schriftsteller und Essayist Karl-Heinz Ott überzeugt. Der Autor mehrerer Romane (zuletzt „Und jeden Morgen das Meer“ sowie „Die Auferstehung“) erhielt für sein Werk zahlreiche Auszeichnungen. Entsprechend viel beachtet ist sein neues Buch „Verfluchte Neuzeit“, mit dem er eine umfangreiche Geistesgeschichte des reaktionären Denkens vorlegt – zumal er darin hoch Brisantes wie den Vormarsch der „Querdenker“ und den Sturm auf Kapitol und Reichstag aufgreift.

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Entsprechend tief schürft Ott, der dabei so manchen unerwarteten Verbindungsstollen anlegt

Bei den Hörnern der Kapitolstürmer handelt es

sich nämlich nur um die Spitzen eines reaktionären Eisbergs, dessen tiefste Schichten bis in die ersten Jahrzehnte der Neuzeit hinabreichen. Wie Ott zeigt, wandten sich schon damals Vertreter des althergebrachten Weltbildes mit aller Macht gegen neues Gedankengut und begründeten eine seither nicht abgerissene Denktradition, die bereits gegen Vorläufer der Aufklärung wie

Karl-Heinz Ott: Verfluchte Neuzeit. Eine Geschichte des reaktionären Denkens. Hanser, 432 S., € 26,80

René Descartes Sturm lief. Entsprechend tief schürft Ott, der dabei so manchen unerwarteten Verbindungsstollen anlegt: von Trump über Nietzsche und Heidegger zu Foucault etwa, aber immer wieder auch ganz hinunter bis zum frühen Kampf der katholischen Kirche gegen die Lehren von Spinoza, Locke oder Hobbes. Otts Essays sind kenntnisreich und anregend, doch hat er sich im Lauf der intensiven Beschäftigung mit den rechten Denkern offenbar auch ein philosophisches Stockholm-Syndrom zugezogen. So bemängelt er an Strauss’ Umgang mit klassischen Texten: „Dass seine Interpretationen voller Urteile stecken, merkt man oft lange nicht. Zwischen Referieren und Kommentieren sind bei ihm die Grenzen fließend; wo das eine beginnt und das andere endet, lässt sich zuweilen schwer feststellen.“ Nun, nicht anders lesen sich Otts Essays. Ob er die von ihm kritisierten Autoren gerade zitiert, interpretiert oder karikiert, ist über weite Strecken unklar. In einer Passage, in der es um das Verhältnis des Staatsrechtlers Carl Schmitt zur 68erGeneration geht, fällt der Satz: „Vielleicht hätte man es mit den 68ern machen sollen wie mit den Studenten auf dem Tiananmen-Platz.“ Beim flüchtigen Lesen entsteht der Eindruck, es handle sich um einen Gedankengang Schmitts – nur war der zum Zeitpunkt des Tian’anmen-Massakers nicht mehr am Leben. Unschärfen erzeugt der Autor zudem durch zahlreiche Passivkonstruktionen – von wem etwas behauptet, bekämpft oder bejubelt wird, bleibt oft ungesagt – sowie die inflationäre Verwendung des Pronomens „man“, das sich auch innerhalb eines Absatzes auf verschiedene Personengruppen beziehen kann: „Man hat es mit Turbulenzen zu tun, die weit hinausreichen über periphere Unruhen. Hinter den Mikrophonen stehen nicht mehr die sogenannten Intellektuellen; man bekämpft sie als Repräsentanten einer linksliberalen Elite, die verant-

wortlich zeichnet für alle Übel der Welt.“ Wer genau hat es mit Turbulenzen zu tun, und wer bekämpft die Intellektuellen? „Zuweilen lassen sich ganze Bücher auf ein einziges Postulat reduzieren“, meint Ott angesichts des zu bewältigenden Materials noch recht zuversichtlich in einem seiner ersten Kapitel. Vereinfachungen sind jedoch nicht immer Abkürzungen auf dem Weg zur Erkenntnis, sondern führen auch in manche Sackgasse. Nicht jeder rechte Wirrkopf wie Roger Garaudy, der vom kommunistischen Résistance-Helden zum HolocaustLeugner mutierte, ist es wert, in aller Ausführlichkeit zitiert zu werden. Bei anderen Autoren hätte es hingegen Sinn gemacht, ein paar Seiten mehr zu lesen, ehe man sie in die Schublade der reaktionären Finsterlinge steckt. So macht Ott neben den üblichen Verdächtigen wie Schopenhauer oder Nietzsche auch einige Literaten als rückwärtsgewandte Vordenker dingfest, meist Franzosen. Wenig überraschend begegnet man Namen wie Huysmans und Houellebecq, aber auch Victor Hugo. Der hat im „Glöckner von Notre Dame“ nämlich den Satz geschrieben: „Seit ein jeder veröffentlichen kann, was er will, erstickt die Welt in einem Durcheinander, das sie als Vielfalt verherrlicht.“ Für Ott ist der Fall klar, Hugo will zurück ins Mittelalter. Dass sich der Autor Hugo zwar in einen mittelalterlichen Menschen hineinversetzen konnte, als Citoyen jedoch ein leidenschaftlicher Verfechter der Revolution und der Republik war, übersieht Ott. Es sind Ungenauigkeiten wie diese, die bei

der Lektüre seiner an Material zweifellos reichen rechten Geistesgeschichte oft stutzig werden lassen. Dass man dadurch zum Nachlesen angeregt wird, kann man Ott schon wieder anrechnen. Und immerhin beweist er, dass ein Denken in starren Freund-Feind-Schemata, wie er es mit gutem Grund Carl Schmitt und dessen geistigen Erben vorwirft, tatsächlich keine gute Idee ist. GEORG R ENÖCK L

ILLUSTRATION: GEORG FEIERFEIL

icht nur Wladimir Putin weiß, dass man einen Kriegsgrund eben erfinN den muss, wenn gerade keiner da ist. Auch


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Querdenker für Toleranz und Freiheit

Zarathustra beim Denken zusehen

Philosophie: Volker Reinhard liefert eine Annäherung an Voltaire, die widersprüchlichste Figur der Aufklärung

Philosophie: Nach 1945 war das Werk Nietzsches in Verruf geraten. Wie zwei Italiener ihn rehabilitierten

an könnte Voltaire (1694–1778) M als ersten Intellektuellen bezeichnen, wäre der Begriff nicht erst

Textstellen lässt überdies den Zauber der sprachlichen Brillanz, mit dem die Stücke auf die Zeitgenossen gewirkt haben, nicht erahnen. Voltaires philosophische Texte glänzen durch scharfe und elegante Formulierungen, sind aber nicht viel ergiebiger: Kaum ernsthaft setzt sich Voltaire mit der Tradition auseinander, er kanzelt Größen wie Descartes, Leibniz und Spinoza so sarkastisch wie oberflächlich ab. Damit verlaufen sich die Traktate in theologischen Zänkereien mit Kirchenautoritäten und einem rein aufs Gemüt begründeten Glauben an einen Gott, der nach der Schöpfung nicht mehr eingreift.

or über 30 Jahren besuchte ich V einige Semester lang Vorlesungen zu Friedrich Nietzsche. Der Wal-

Nach der Katastrophe des Erdbebens

ipp Felsch, Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, mit seiner gelungenen Doppelbiografie von Giorgio Colli (1917–1979) und Mazzino Montinari (1928–1986). Schon in seinem letzten Buch, „Der lange Sommer der Theorie“, hat Felsch eindrücklich bewiesen, dass man über vermeintlich schwer vermittelbare Sujets wie poststrukturalistische Philosophie gleichermaßen kluge wie gut lesbare Bücher schreiben kann. Sein Erfolgsrezept: Kontextualisierung, Personalisierung und ein eigener Stil. Ob es um die ideologischen Grabenkämpfe im Nachkriegsitalien geht oder die Verästelungen der französischen Nietzsche-Rezeption der 1960er-Jahre: Felsch vermag diese intellektuellen Debatten mit wenigen Sätzen prägnant zu skizzieren. Er erzählt flott und präsentiert die historischen Akteure mit einer Mischung aus Empathie und leichter Ironie. Colli ist in den letzten Kriegsjahren in Lucca Montinaris Philosophielehrer. Er begeistert einen kleinen Kreis von Schülern für die Philosophie der Griechen und den verkrachten Professor für Gräzistik, also Altgriechische Philologie, Friedrich Nietzsche. Montinari tritt aber später der Kommunistischen Partei Italiens bei. Beide versuchen sich schließlich gemeinsam als Nietzsche-Übersetzer und -Herausgeber. Im April 1961, kurz vor dem Mauerbau, fährt Montinari nach Weimar. Dort lagert der umfangreiche Nachlass Nietzsches. Aus den geplanten zwei Wochen werden Jahrzehnte.

hundert Jahre später aufgekommen. Sicher aber ist er der erste europaweit wahrgenommene Denker: Seine Aussagen wurden bereits Wochen danach in Petersburg diskutiert. Sein geistiges Rüstzeug war breit aufgestellt. Aus einer gutbürgerlichen Familie stammend, die mit dem Jansenismus, einer innerkatholischen Oppositionsbewegung, und dem Gedankengut Calvins vertraut war, verbrachte er die Schulzeit quasi als Gegengift in der renommiertesten Bildungseinrichtung der Jesuiten. Der Kampf gegen diese antagonistischen Strömungen sollte sein ganzes Leben bestimmen, und bald waren auch die weltlichen Autoritäten – Hof und Justiz – vor Spott und Kritik nicht sicher. Deshalb blieb ihm der diplomatische Dienst verwehrt, wobei auch seine Affären das Maß der durchaus bestehenden Toleranz überstiegen. So verlegte er sich aufs Schreiben. Polemiken brachten ihn in die Bastille, dann in die Emigration nach England, die harmonischste Zeit seines Lebens im Klima des intellektuellen und wirtschaftlichen Aufbruchs. In Frankreich fuhr er am Theater, abwechselnd mit Schlappen, immer wieder Triumphe ein. Internationale Reputation erlangte er aber durch seine politischen Interventionen. Mit Friedrich II. führte er eine lebenslange, turbulente (zu dessen Missvergnügen nicht homoerotische) Beziehung. Auch Katharina II. wollte ihn nach seiner Apologie Peters des Großen als aufgeklärter Despot an ihren Hof locken.

Unglaublich die Energie des Mannes, die ihm neben seiner literarischen Produktion (die Werkausgabe umfasst 201 Bände!) und der politischen Beratertätigkeit erlaubte, äußerst erfolgreich wirtschaftlich zu agieren: als Börsenspekulant, Heereslieferant (trotz laut verkündetem Pazifismus), Privatbankier für Fürstenhäuser, schließlich als Immobilieninvestor, der es zum Vorsteher eines halbautonomen, wirtschaftlich florierenden Gemeinwesens brachte. Volker Reinhardt versucht auf 600 Seiten einen Überblick über das Leben und Denken dieses menschlichen Chamäleons zu entwerfen. Es gelingt ihm dies nicht ganz so gut wie in vorangegangenen Werken, die noch viel weitere Felder beackerten, wie die Papstchronik und seine italienische Kulturgeschichte. Er legt viel Gewicht auf die unzähligen Theaterstücke, die heute kaum noch interessieren können, noch dazu, weil sie ein und demselben Schema folgen. Die trockene Übersetzung langer

von Lissabon (1755), das ihn zu seinem berührendsten und neben der philosophischen Erzählung „Candide“ bis heute meistgelesenen Werk inspirierte, wandelt sich die gefühlte Grundannahme eines gütigen Gottes in tiefe Skepsis. Religion ist nun nur mehr Opium fürs (unaufgeklärte) Volk, dessen es bedarf, da sonst Anarchie ausbräche. Aber als Polemiker und Ideologe, der für eine menschlichen Justiz und gegen Intoleranz und Dogma kämpfte, ist er so wichtig geblieben, dass in Frankreich das 18. Jahrhundert lange „le siècle de Voltaire“ („das Jahrhundert Voltaires“) genannt wurde. Bis heute werden bei Demonstrationen gegen religiösen Fanatismus Schilder mit seinem Namen hochgehalten. Auf die Gegenwärtigkeit seines Themas zu verweisen, ohne dabei in platte Aktualisierung zu verfallen, ist Reinhardt allerdings auch hier wieder gelungen. Mehr auf Begleiterinnen und Gegner einzugehen – wie die faszinierende Madame de Châtelet und den immer anstrengenden Jean-Jacques Rousseau – wäre schon lohnend gewesen. Auch manche Schattenseiten Voltaires könnten deutlicher ausgeleuchtet werden, etwa die ambivalente Haltung dem Judentum gegenüber, das er einerseits gegen Verfolgung in Schutz nimmt, dem er gleichzeitig seine wüstesten Ausfälle als gnadenlose Religion schlechthin widmet. Zum Teil hat das wohl sehr weltliche Gründe: Jüdische Geschäftspartner kamen ihm – dem Privateigentum das Heiligste war – bisweilen in die Quere. THOMAS LEITNER

Volker Reinhardt: Voltaire. Die Abenteuer der Freiheit. C.H. Beck, 607 S., € 32,–

rossschnauzerträger war damals wieder einmal sehr angesagt. Aber woran erinnere ich mich noch? Daran: dass Elisabeth Förster-Nietzsche aus dem Nachlass ihres Bruders ein Werk destillierte, das es nie gab: „Der Wille zur Macht“. Damit diente sie sich den Nazis an. Unser Professor empfahl daher die neue, überaus schicke Taschenbuchausgabe. Dass die beiden Herausgeber dieser „definitiven Edition“ Nietzsches Italiener waren, wunderte uns damals. Wie es dazu kam, erzählt nun Phil-

In der DDR stand Nietzsche unter dem

Bannfluch des Reaktionärs, er galt offiziell als Staatsfeind. Aber es war gerade die Ruhe hinter dem Eisernen Vorhang, die den beiden Italienern die Edition ermöglichte. „Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung“ ist ein passender Titel. Die Editionswissenschaft genießt ja einen staubtrockenen Ruf: Da gilt es schwer leserliche Manuskripte zu

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entziffern, alternative Lesarten aufzuzeigen und einen umfangreichen Anhang zu produzieren. Philologie sei eher etwas für Philister, meinte schon Nietzsche selbst. Für Colli und Montinari hingegen verspricht der akribische Blick auf Nietzsches Gekrakel dem Philosophen gleichsam beim Denken zuzusehen, „der alte, voyeuristische Traum der Philologie“. Michel Foucault macht sich lustig über die „naive“ Absicht von Colli und Montinari, im Chaos des Weimarer Nachlasses den „eigentlichen“ Nietzsche freizulegen. Für Foucault, Gilles Deleuze und Jacques Derrida wird Nietzsche ja gerade zum Stammvater ihrer poststrukturalistischen Philosophie, die sich von Konzepten wie Autor und Werk verabschiedet. Die buchstabengetreue Edition ist für Colli und Montinari aber die einzige Möglichkeit, Nietzsche vor ideologischer Vereinnahmung zu bewahren. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versuchten dies vor al-

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In der DDR stand Nietzsche unter dem Bannfluch des Reaktionärs, er galt offiziell als Staatsfeind lem rechte Denker und nun eben die französischen Links-Nietzscheaner. Felsch zieht hier eine Parallele zur frühen Aufklärung. Damals hatten Philologen versucht, durch ihre kritische Bibellektüre (des Originals und der oft fragwürdigen lateinischen Übersetzung) konfessionelle Streitigkeiten zu beenden. Der Rekurs auf die Quellen und ihre unvermeidliche Vieldeutigkeit sollte religiösem Fanatismus den Boden entziehen. Ironischerweise werden Colli und Montinari schließlich zu den Nietzsche-Experten schlechthin, legen aber selbst keine eigene Interpretation seines Werks vor. Aber vielleicht ist ja gerade das konsequent. OLIVER HOCHADEL

Philipp Felsch: Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung. C.H. Beck, 272 S., € 26,80


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Willkommen bei den Printing Natives! Kulturgeschichte: Ein Fachmann für Kirchenhistorie berichtet über sein Spezialgebiet – die Medienrevolution as einmal draußen ist, lässt W sich nicht zurückholen. Selbst wenn die höchste Autorität den Wi-

derruf befiehlt und erfahrene Männer daran arbeiten: In der Praxis ist es kaum möglich, die einmal verbreitete Information einzufangen. Silicon Valley 2022? Mitnichten: Mainz 1520! Beatus Rhenanus, ein Lektor und Herausgeber der ersten Stunde, berichtet, wie eine Verbrennung von Büchern Martin Luthers kläglich scheitert: Die Volksmenge brüllt, dass Luther gar nicht rechtskräftig verurteilt sei. Der vom päpstlichen Gesandten Hieronymus Aleander mit der Hinrichtung der Druckwerke beauftragte Henker weigert sich, den Brand zu legen. „Zudem, so Rhenanus weiter, freuten sich die Pressen über Aleanders Treiben, denn für jedes verbrannte Exemplar würden zahlreiche neue gedruckt“, ergänzt Thomas Kaufmann. Mit Storys wie dieser macht der Professor für Kirchengeschichte lebendig, was hier aus seiner Sicht geschehen ist: die erste Medienrevolution. Und er erklärt die Hardware im Hinter-

grund: Eine der vielen erstaunlichen Tatsachen, die der Autor zusammengetragen hat, ist das Ausmaß, in dem Handschriften im 15. Jahrhundert seriell produziert und in europaweiten Vertriebsstrukturen gehandelt wurden. Einer der zentralen Märkte war bereits damals die Frankfurter Buchmesse. Die Geschwindigkeit der Informationsverbreitung blieb dennoch überschaubar – die Inhalte konnten die lokalen Autoritäten immer noch leicht kontrollieren. Auch aus dem wenig beachteten Zwischenschritt der „Blockbücher“ wurden keine Blockbuster. Die Holzblöcke, in die man ganze

Buchseiten gravierte, um sie in der Presse zu drucken, ließen sich kaum mehr als einmal verwenden. Schon damals war es die Zerlegung der

Information in ihre kleinstmöglichen Einheiten, durch die Daten wesentlich schneller verarbeitet werden konnten. Was Gutenbergs Erfindung zu einem großen Wurf machte, war daher die Verwendung beweglicher Lettern. Im Unterschied zu Holzschnitt und Blockbuch konnten die aus Metall gegossenen Buchstaben beliebig oft neu kombiniert und verwendet werden. Eine essenzielle Voraussetzung lag im Werkzeugbau: Um die Typen der einzelnen Buchstaben in gleicher Größe produzieren zu können, hatte Gutenberg ein eigenes Gießinstrument entwickelt. Auch die rasch aushärtende Legierung aus Zinn, Blei, Antimon, Kupfer und Eisen, aus der die Typen gegossen wurden, war entscheidend, denn: Neue Informationstechnologien schaffen neue Wirklichkeiten. Die auf Basis der eben erfundenen Hardware möglichen Applikationen und ihre sensationelle Wirkung beschreibt der Autor anhand des wohl ersten Medien-Stars: Martin Luther. Dass dessen 95 Thesen es auf ihre historische Reichweite brachten, war beileibe nicht dem damals gängigen Anschlag an der heimatlichen Kirchentür in Wittenberg zu verdanken. Luther hatte seine Polemik gegen den Ablasshandel genau zeitgleich in der weitaus bedeutenderen Drucker-Metropole Leipzig publizieren lassen. Doch auch dadurch wäre Luther wohl nicht zum bekanntesten Kirchenmann Europas geworden. Seinen Durchbruch bescherte ihm das erste mediale Großereignis der

Weltgeschichte: Zu Luthers Weigerung am Wormser Reichstag, seine Aussagen gegen Ablasshandel und Papsttum zu widerrufen, erschienen über 100 gedruckte Kommentare. „Niemals seit Gutenbergs Erfindung war über ein Ereignis zeitnäher und dichter geschrieben, berichtet, publiziert worden“, ordnet der Autor dies ein. Thomas Kaufmann weiß, wovon er spricht. Der evangelische Theologe arbeitet vor allem als Kirchenhistoriker, unterrichtet dieses Fach an der Universität Göttingen und ist Mitglied der dortigen Akademie der Wissenschaften, zudem Abt des Klosters Bursfelde. Über den Ketzer-Pionier hat er bereits ein eigenes Buch verfasst („Martin Luther“), ein weiteres über die Folgen von dessen Werk („Erlöste und Verdammte“). Seine Beiträge zur Geschichte der Reformation, unter anderem als wissenschaftlicher Berater für Fernsehdokumentationen, wurden mehrfach ausgezeichnet. Auch wenn er Luther als das Epizent-

rum einer sich verändernden Welt darstellt, bleibt Kaufman nicht an ihm kleben. Viele andere „Printing Natives“ bekommen ihren Auftritt, die mit dem neuen Buchdruck gesellschaftlichen Veränderungsdruck erzeugen, sei es als Autor oder als Handwerker. Albrecht Dürer etwa wird als Pionier des Markenzeichens gewürdigt, samt einem Abdruck seines Signets. Am Beispiel des Erasmus von Rotterdam zeigt Kaufmann, wie ein großer Geist erst durch die neuen Druckereien seine Wirkung entfalten kann. Und auch die ersten viral verbreiteten Fake News lernt man kennen: die Judenschriften des Johannes Pfefferkorn. Am Ende stellt er all das technisch Mög-

liche und nunmehr weithin Teilbare in den Zusammenhang eines breiter werdenden gesellschaftlichen Diskurses, der sich zunehmend der Kontrolle durch die Obrigkeit entzieht. Kaufmann zoomt äußerst präzise in

einen Ausschnitt unserer Geschichte, in dem sich Wahrnehmung und Gestaltungsmöglichkeiten unserer Welt massiv änderten. Gestochen scharfe Beschreibungen dieser Zeit, ihrer noch ganz anders tickenden Bewohnerschaft und der in vielen Zitaten wiedergegebenen Sprache sind es, die das Buch lebendig zu lesen machen. Nur an manchen Stellen bremsen die Details aus offenbar höchst umfassender Recherche den Lesefluss. Dem Drang, weiter mitzuerleben, wie der Druck aus der Druckerpresse eine hellere, offener werdende Welt vorantreibt, tut das keinen Abbruch. Wie mit einer Zeitmaschine nimmt Kaufmann seine Leserinnen und Leser mit in ein Vorvorgestern, das noch ganz anders funktioniert als unser Heute. Und doch zeigt er Parallelen zwischen jetzt und damals auf: wie sich eine Gesellschaft anfühlt, in der technische Innovation neue Möglichkeiten schafft, Gedanken schnell und über große Distanzen zu teilen. ANDREAS K REML A

Thomas Kaufmann: Die Druckmacher. Wie die Generation Luther die erste Medienrevolution entfesselte. C.H. Beck, 350 S., € 28,80

Hommage an die Physiker vor 100 Jahren Wissenschaft: Ein origineller Blick auf die Zeit, als Einstein, Bohr und Heisenberg die Physik revolutionierten Juni des Jahres 1925 fuhr ein deutscher Physiker Inachm23-jähriger Helgoland, um sich in Ruhe sei-

nen Ideen widmen zu können. Werner Heisenberg litt unter einer starken Pollenallergie und entfloh mit dieser Reise lästigem Blütenstaub. Als hochbegabter Assistent des angesehenen Max Born in Göttingen beschäftigten ihn die gravierenden Unstimmigkeiten des sogenannten Bohr’schen Atommodells, die er mit einem radikalen theoretischen Ansatz ausräumen wollte. Bei Bohrs Atommodell kreisen Elektronen um den Kern und vollführen seltsame Sprünge von einer Bahn zur anderen. Heisenberg hinterfragte diesen anschaulichen Erklärungsansatz und schlug vor, das Elektron neu zu denken. Anstatt anzunehmen, es sei ein Objekt, konzentrierte er sich

allein auf das, was sich von außen beobachten lässt, etwa die Intensität und Frequenz des abgestrahlten Lichts. Um unter dieser Annahme rechnen zu können, stellte er sämtliche Größen, die die Bewegung eines Elektrons beschreiben, nicht mehr durch Zahlen dar, sondern durch Tabellen, sogenannte Matrizen. Diese Pionierarbeit lancierte die soge-

nannte Quantenmechanik und brachte Heisenberg 1932 den Nobelpreis ein. Sie war eine der genialen Ideen, dank denen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert die so erfolgreiche moderne Physik entstand. Die berühmteste Theorie wurde 1905 ersonnen, als in Bern ein 27-jähriger Sachbearbeiter des Schweizer Patentamtes namens Albert Einstein eine

Arbeit mit dem Titel „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“ veröffentlicht hatte: Er hatte damit die Relativitätstheorie begründet. Ernst Peter Fischer ist als Wissenschaftsautor selber ein Phänomen. Er hat Mathematik, Physik und Biologie studiert, sich als Wissenschaftshistoriker habilitiert und mittlerweile mehr als 70 Bücher auf den Markt gebracht. Bei diesen Mengen häufen sich natürlich Wiederholungen, weshalb er in seinem neuesten Werk auf einen originellen Ansatz setzt und die radikalen Erneuerungen von Einstein & Co mit der Zeit der Romantik in Beziehung bringt. Beide stellen Umwälzungen der abendländischen Kultur dar, so Fischer. Kraft der Französischen und der Industriellen Revolution in der Ära

der Romantik habe sich das Bild vom Menschen mit seinem kreativen Handeln ebenso dramatisch verändert wie in der Weimarer Republik das Bild der Welt durch die Quantenphysik. Davon, so Fischer, lässt sich Wichtiges lernen. Als Menschen können wir der Wahrheit gegenübertreten, sie mit offenem Blick erkunden und uns dann mit ihr versöhnen. Immerhin. A N D R É B E H R

Ernst Peter Fischer: Die Stunde der Physiker. Einstein, Bohr, Heisenberg und das Innerste der Welt. C.H. Beck, 288 S., € 25,70


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Fritz Mandl: „Patronenkönig“ und Grenzgänger Biografie: Ursula Prutsch erzählt das Leben des jüdischen Rüstungsindustriellen zwischen Nazis und Geheimdiensten er Molden-Verlag bewirbt das Buch D „Wer war Fritz Mandl“ mit den Worten: „Zu lesen wie ein Film“. Widersprüch-

liche Persönlichkeiten besitzen eben Sehnsüchte und Abgründe und haben das Zeug, einen Plot zu entwickeln, der nach Verfilmung schreit. Der Biografie Fritz Mandls hat sich Ursula Prutsch angenommen, Professorin für US-amerikanische und lateinamerikanische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Fritz Mandl war der homo oeconomicus schlechthin. Der Rüstungsindustrielle exportierte Patronen in alle Welt, war Faschist, fürchtete im Krieg um das Heimatland und hoffte gleichzeitig, dass dieser lange dauert, um die Kassen zu füllen. Als erster Ehemann der Schauspielerin Hedy Lamarr wusste er auch kulturelles Kapital einzusetzen. Sein Leben spiegelt österreichische Geschichte von Karl Lueger bis zum Untergang der Monarchie wider, von der Ersten Republik über die Zwischenkriegszeit und den Austrofaschismus bis zur Zerstörung der Demokratie. Fritz Mandl wurde 1900 unehelich geboren, der Vater war konfessionslos mit jüdischer Herkunft. Schon 1924 trat Fritz in das Familienunternehmen ein, die Patronenfabrik Hirtenberg, bald der bedeutendste Munitionsbetrieb Österreichs. Vier Jahre zuvor hatte es einen Brandanschlag auf die Fabrik gegeben, den Mandl kommunistischen Arbeitern zuschrieb: Illegalerweise war Munition aus Hirtenberg an die polnischen Streitkräfte verschoben worden, die ihren jungen Staat gegen die Sowjetunion verteidigten. Nicht allein deshalb verachtete Mandl alles Linke. Ein No-Go war für ihn auch der Anschlusswunsch an Deutschland, der bis 1933 auch unter prominenten Vertretern der Sozialdemokratie bestand. Die Ausschaltung des Parlaments und die Errichtung eines faschistischen Staats waren ihm recht, Engelbert Dollfuß war ihm zu schwach. Mit katholisch geprägter Ständeordnung im Kopf war er überzeugt, dass der Faschismus die „bessere Demokratie“ wäre. Er war ein enger Freund von Ernst Rüdiger Starhemberg, dem Heimwehrfürsten, Bundesführer der Vaterländischen Front und Vizekanzler unter Kurt Schuschnigg. Ihn und die Heimwehr unterstützte Mandl finanziell und mit Waffen, er bewunderte den italienischen Diktator Benito Mussolini. Im argentinischen Exil, wohin er 1938 nach dem „Anschluss“ ging, war das für seine Geschäfte nicht mehr opportun, zumindest nach außen hin legte er die Haltung ab.

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In Österreich zog er die Fäden. Selbst wenn man ihn nicht mochte, so kam man nur schwer an ihm vorbei URSULA PRUTSCH

ten Kurt Waldheim und zur Noricum-Affäre der 1980er-Jahre. Die Historikerin weiht in die besondere Quellenlage ein: Sie erhielt Zugang zum fein säuberlich geordneten Familiennachlass mit Rechnungen und Geschäftsberichten, Briefen an Banken und Militärs. Allerdings betrifft er nur die Jahre im argentinischen Exil. Gespräche mit Freunden Mandls, Archive in London und Wien, Rom und Buenos Aires halfen, die Außensicht zu vervollständigen. Als Mandl in Buenos Aires von Bord ging, lag „dank des Schweizerischen Bankvereins reichlich Geld auf einem Konto für ihn bereit, und auch auf ein paar Bekannte würde er hier zählen können“. Selbst von Argentinien aus kooperierte er mit den Nazis. Fürs Geschäft war ihm Gesinnung egal. Prutsch enthüllt seine Verfemung als jüdischen Nazi und angeblichen Freund des argentinischen Präsidenten Juan Péron. Peinlich genau vollzieht sie die Geldflüsse und Verbindungen zur Schweiz nach, prüft die Kontakte zu höchsten politischen Kreisen und stellt manches richtig. Mandls Konten in Argentinien wurden eingefroren, nachdem die Amerikaner ihn auf die schwarze Liste gesetzt hatten. Einstige Mitarbeiter stellten ihn als NaziAgenten dar. Die New York Times berichtete. Er wurde zum Spielball amerikanischer und argentinischer Interessen und landete im Gefängnis, allerdings zu luxuriösen Bedingungen.

Prutsch beleuchtet die Ereignisse mit dramaturgischer Eleganz, die Leserin kann sich die Szenen genau vorstellen. Etwa die Süffisanz Mussolinis, wenn Mandl ihn bittet, die Filmkopien seiner Ehefrau aufkaufen zu dürfen, der damaligen Hedy Kiesler, spätere Lamarr. Er möge doch die Aufführung der „Ekstase“ verbieten! Mussolini genoss es – und lehnte ab. Hedy Kiesler wurde dank der ersten Nacktrolle im Film Kult. Präzise beschreibt Prutsch auch Nebenfigu-

ren wie den Diener Pokorny, der als überzeugter Nazi in den Diensten des jüdischen Herrn keine Chance hatte, eine andere Stelle zu finden. Pokorny schreibt am Ende an Mandl: „Ich war immer überzeugt davon, dass Ihre guten Freunde zugleich Ihre größten Feinde waren.“ Literarische Hinweise wie etwa auf Franz Nabl Theaterstück „Schichtwechsel“ bringen die Sichtweisen in Deckung zueinander. Faktenreich macht Ursula Prutsch anhand der Biografie eines Rüstungsindustriellen mit Hang zum Glamour Geschichte lebendig. Man sieht fast vor sich, wie der Diener Pokorny seinen Herrn beobachtet. Was für eine Filmszene wäre das, wenn wir aus seiner Perspektive sähen, wie Mandl Hedy Kiesler zum ersten Mal begegnet. Aber das ist Fiktion. Die Historikerin ist der Wahrheit verpflichtet. Sie erzählt sie auf inspirierende Weise. LYDIA MISCHKULNIG

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Wird Lula Präsident? Lulas Weg zum Präsidentenamt war lang, seine Politik half Millionen Menschen aus bitterster Armut. Doch die PT erschütterte das Land auch mit Skandalen, Lula wurde verurteilt. Nun ist ein Rechtsextremer Präsident. Werden Lula und die PT aus den Fehlern der Vergangenheit lernen? Bei der Präsidentscha!swahl im Oktober 2022 könnte es zum großen Showdown kommen. Brasilienkenner Andreas Nöthen zeichnet den politischen Werdegang des Ausnahmepolitikers, und damit auch die jüngere Geschichte Brasiliens, nach.

Mandls Imperium reichte von Hirtenberg über

die Schweiz bis in die Niederlande, nach Deutschland und Polen, bis Argentinien, Mexiko, Uruguay und Peru. „In Österreich zog er die Fäden“, schreibt Prutsch: „Selbst wenn man ihn nicht mochte, so kam man nur schwer an ihm vorbei.“ Sein Netzwerk umfasste schillernde Figuren aus der österreichischen und internationalen Industrie-, Politik- und BankenSchickeria, durch das Exil kamen weitere Verbindungen hinzu. In der Lektüre ergibt das einen Parforceritt durch die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts bis in die Jahre des österreichischen Bundespräsiden-

Ursula Prutsch: Wer war Fritz Mandl. Waffen, Nazis und Geheimdienste. Die Biografie. Molden, 304 Seiten, € 30,–

Andreas Nöthen | Luiz Inácio LULA da Silva. Eine politische Biografie www.mandelbaum.at 256 Seiten | € 20,– | ISBN: 978-3-85476-947-7


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Becoming Herzl: Eine neue Biografie übt sich in Dekonstruktion auf dem Herzl-Berg liegt, hat sich heute in Israel die Erinnerung an den Begründer des politischen Zionismus erheblich verflüchtigt. Nur mehr die Hälfte der Israelis weiß, wer Theodor Herzl (1860–1904) war. Am bekanntesten ist noch sein Porträt mit dem markanten Bart, das früher Banknoten zierte und jetzt gerne für T-Shirts verwendet wird, erzählt uns Derek Penslar. Theodor Herzl hat um 1900 in Wien den Keim zu Israels Staatswerdung gelegt: „Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen.“ Der amerikanisch-kanadische Historiker Derek Penslar, erster Inhaber des StanleyLewis-Lehrstuhls für Israelstudien an der Universität Oxford und nunmehr Harvard-Professor, kann uns in seiner kenntnisreichen, spannenden Biografie zeigen, dass es nicht den einen Herzl gibt, sondern mehrere. Innerhalb weniger Jahre modifizierte der jüdische Vordenker in einem enormen Reifeprozess mehrmals seine Positionen. Schon zu seinen Lebzeiten gab es heftige Kritiker, die etwa Eurozentrismus und mangelnde traditionelle Gläubigkeit bemängelten. ist schwierig. Auch deshalb, weil es da eine Familiengeschichte gibt, die mit einer unglücklichen Ehe und einem tragischen Familienschicksal wahrlich nicht nach Legende aussieht und viel von einem neurotischen, egozentrischen Charakter verrät, der besessen nach Erfolg giert. Theodor Herzl, in Budapest geboren und 1878 nach Wien übersiedelt, suchte seinen Weg: Er verwandelt sich vom mäßig erfolgreichen Lustspielautor zum Feuilletonisten, dann zum politischen Korrespondenten und schlussendlich zum politischen Visionär. Mit der Streitschrift „Der Judenstaat“, besonderem Organisationstalent und Charisma kann er endlich erreichen, was er erträumt hat: eine weltgeschichtliche Figur zu sein, die zehntausende Anhänger um sich versammelt und mit den Mächtigen über die Auswanderung der Juden in einen eigenen Staat verhandelt. Herzl wird zur Ikone einer neuen Bewegung. ALFRED PFOSER Eine simple Heldenverehrung

ILLUSTRATION: GEORG FEIERFEIL

bwohl es im Land allerorten O Herzl-Straßen gibt und die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem

Die Liebe zum Fragment Zeitgeschichte: Michael Wildts „Zerborstene Zeit“ ist originell und gut zu lesen orweg gibt es ein Dementi: „Die V deutsche Geschichte“ gebe es eigentlich nicht. Wer gehört dazu

und wer nicht? Wo findet sie statt? Zweifel äußert Michael Wildt, Professor für Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin, im Vorwort auch hinsichtlich der Darstellbarkeit: Eine lineare große Geschichte lässt sich seiner Meinung nach heute nicht mehr schreiben. Auch mit dem Anspruch auf Vollständigkeit und dem einen roten Faden hat er Probleme. Wer eine sogenannte Gesamtdarstellung sucht, wird bei ihm nicht glücklich werden. Und doch ist dieses Buch über die deutsche Geschichte, die mit dem vertrackten Aufbruch der deutschen Revolution 1918/19 beginnt und mit der desillusionierten „Welt in Trümmern“ 1945 endet, in vielerlei Hinsicht große Geschichtsschreibung. Auch für eine breite Leserschaft, da es nicht nur Wildts enormen Kenntnisreichtum offenbart (120 Seiten Anmerkungen und Literaturverzeichnis), sondern auch spannend und plastisch geschrieben ist. Wer nicht den langen Atem für die 518 Seiten hat, kann sich an die Gebrauchsanweisung des Autors halten: dass die zwölf Essays auch separat, ohne Befolgung der Chronologie, gelesen werden können. Gleichzeitig ergeben sie in ihrer Summe einen ausgezeichneten Überblick. Wildt greift in den zwölf Kapiteln je-

Derek Penslar: Theodor Herzl. Staatsmann ohne Staat. Wallstein, 256 S., € 24,70

weils ein bestimmtes Jahr heraus. Und auch dieses eine Jahr interessiert ihn nicht in der Gesamtheit, sondern wird um bestimmte Ereignisse wie etwa den Äthiopienkrieg und den Spanischen Bürgerkrieg (1936) gruppiert. Dabei holt der Autor sein enormes Wissen über den allgemei-

nen Hintergrund sehr geschickt herein, erlaubt sich auch zeitliche Vorund Rückgriffe. Bei einigen Kapiteln studiert er große Geschichte ganz konkret an einem bestimmten Ort, etwa wenn er das Zustandekommen des Vertrages von Locarno (1925) oder den deutschen Vernichtungskrieg in Lemberg (1941) schildert. Im Fall der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 gehört seine ganze Aufmerksamkeit der rheinland-pfälzischen Stadt Wittlich, deren stabile katholische Wählermehrheit die Nationalsozialisten innerhalb weniger Monate drehten. Mochte es am Ende des Jahres noch eine ansehnliche Anzahl von Hitler-Gegnern gegeben haben, aus der Öffentlichkeit waren diese verschwunden. Was war da passiert? Wie kam diese

Wende zustande? Welche Gefühle, Stimmungen und Geschichtsbilder waren am Werk? Welche Eindrücke und Einbrüche haben die Lebensläufe geprägt? Wie haben die Menschen große Geschichte erlebt? Wildt arbeitet mit Tagebüchern als Form der Erfahrungsverarbeitung. Drei spielen eine besondere Rolle, weil ihre Schreiber ihn von den 1920er-Jahren bis 1945 begleiten können. Das Diarium des Romanisten Victor Klemperer ist bekannt und berühmt. Als weitere Auskunftsgeber treten ein solider katholischer Gastwirt und eine Tochter aus einer gutbürgerlichen Kaufmannsfamilie auf, die viel auf die deutsche Ehre hält, mit den Nazis sympathisiert, aber gleichzeitig entgegen dem Willen der Eltern ihre große Liebe heiratet, einen jüdischen Ingenieur. Erfrischend die Perspektivenwechsel, überraschend die Sprünge, die

Wildt vornimmt. Dem damals viel beachteten Auftritt der Josephine Baker (1926) oder den Zusammenhängen von Arbeit, Freizeit und Politik widmet er eigene Kapitel. Grandios die Schilderungen von der deutschen Inflation (1923), die er mit den Berichten der verhängnisvollen französischen Besetzung des Rheinlandes verschneidet und als Bruch verortet: In der Erfahrung dieses Jahres wurde der Keim für einen Radikalismus gelegt, der auf die Erwartung eines großen Retters setzte. „Zerborstene Zeit“ hat sich viel vorge-

nommen. Was einst als programmatische Ansage vom Philosophen Ernst Bloch formuliert und von vielen Historikern beschworen, aber fast nie eingelöst wurde, versucht das Buch wieder einmal: „Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ zu zeigen wird hier zu Programm und Methode. Nicht übel, das Ergebnis! Michael Wildt, einer der versiertesten Kenner des 20. Jahrhunderts, der viele Einzelstudien verfasst hat (zuletzt 2019 „Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte“), lässt mit Liebe zum Fragmentarischen, zu Widersprüchen und auch zum Verqueren die bekannte und doch so unbekannte deutsche Katastrophengeschichte wieder lebendig werden. ALFRED PFOSER

Michael Wildt: Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 bis 1945. C. H. Beck, 638 S., € 32,90


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Transatlantische Verstrickungen Zeitgeschichte: „Surazo“ über Leni Riefenstahls Kameramann Hans Ertl in Bolivien und seine Tochter, die ermordet wurde m Mai 1973 wird Monika Ertl in La Paz auf offener Straße erschossen. Die I35-Jährige ist Mitglied der bolivianischen

Guerilla ELN, die gegen die Militärdiktatur kämpft. Drei Jahre zuvor hatte sie mit ihrer gutbürgerlichen Herkunft gebrochen, Kampftrainings auf Kuba absolviert und 1971 in Hamburg bei einem Attentat den bolivianischen Konsul Roberto Quintanilla Pereira getötet, der für die Erschießung Che Guevaras verantwortlich war. Zum Zeitpunkt von Monikas Tod lebt ihr Vater Hans Ertl auf einer Hazienda im bolivianischen Tiefland. Der Kameramann und Kurzzeitliebhaber Leni Riefenstahls sowie Erwin Rommels liebster Frontfotograf war Anfang der 1950er-Jahre mit seiner Familie von Nachkriegsdeutschland nach Südamerika ausgewandert. Sein Nachbar: der bolivianische Diktator Hugo Banzer, mit dem Hans Ertl eine Männerfreundschaft verbindet. Ein anderer guter Freund der Familie, den

Monika und ihre Schwestern nur „Onkel Klaus“ nennen, ist Klaus Barbie: der als „Schlächter von Lyon“ in die Geschichtsbücher eingegangene NS-Kriegsverbrecher, der in Bolivien jahrzehntelang als Geheimdienstberater und Waffenhändler mit Drogengeld Diktaturen unterstützt. „Onkel Klaus“ war es wohl auch, der als Drahtzieher hinter Monikas Erschießung stand.

Hans Ertl, der seine Tochter um ein Vierteljahrhundert überlebte, beklagte, „unverschuldet in das Mahlwerk südamerikanischer Guerillero-Politik geraten“ zu sein. Zur Verurteilung der Ermordung seiner Tochter kann er sich ebenso wenig durchringen wie zur Distanzierung von seiner NS-Vergangenheit.

tet, wie sich die Verbindungen zwischen Nationalsozialismus und Alpinismus auch in den bolivianischen Bergen fortsetzten, und analysiert die Natur- und Ethno-Dokumentarfilme, die Ertl in Bolivien drehte. Sie forscht nach Hinweisen auf die Motive für die Radikalisierung ihrer Protagonistin Monika Ertl, von der es kaum eigene Zeugnisse gibt. Vor allem geht Harrasser der Frage nach, was es für die Geschichtsschreibung bedeutet, „dass die Langzeitfolgen von Naziwissen und Nazitechniken einen ganzen Kontinent ein halbes Jahrhundert lang geprägt haben“ und etwa „das Folterwissen der Gestapo, gehätschelt im antikommunistischen Kampf der USA, bis in die Achtzigerjahre in Bolivien, Argentinien, Chile, Uruguay weiter perfektioniert wurde“.

In diese verworrene Gemengelage transat-

lantischer Beziehungen zwischen Altnazis und rechten südamerikanischen Diktaturen und, später, zwischen linkem Guerilla-Kampf und internationaler 68er-Politik taucht die Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser mit ihrem Buch „Surazo“ tief ein. Harrasser, Professorin und Forschungsvizerektorin der Kunstuniversität Linz, spannt einen weiten Bogen: von der kulturellen Kolonisierung durch jesuitische Missionare in Bolivien über Nachkriegsverstrickungen der dortigen deutschen Kolonie bis zu Harrassers Tiroler Heimatstadt Kufstein als zentralem Knotenpunkt rechter Netzwerke. Dort lebte etwa der NS-Sturzkampfflieger Hans-Ulrich Rudel und konnte auch in den Nachkriegsjahren „bei voller Beleuchtung unsichtbar bleiben“ und rege Kontakte zu südamerikanischen Diktatoren und ausgewanderten NS-Kameraden pflegen. Harrasser setzt ihre fesselnden Recherchen Steinchen für Steinchen zu einem mosaikartigen Text zusammen. Sie beleuch-

Mit dem Buchtitel „Surazo“ ist dabei nicht

Karin Harrasser: Surazo. Monika und Hans Ertl. Eine deutsche Geschichte in Bolivien. Matthes & Seitz, 260 S., € 26,80

nur der Name eines eisigen südamerikanischen Windes gemeint. „Surazo“ sollte auch der letzte Dokumentarfilm heißen, den Hans Ertl in Südamerika drehte. Die Kälte ist auch ein Motiv von Harrassers Buch: von der „Eisprinzessin“ Leni Riefenstahl über die von den Nazis verklärten eisigen Bergwelten und Hans Ertls Film „Nanga Parbat“ aus den 1950er-Jahren bis zu einem Männerbild, in dem Kälte und Härte miteinander verschmelzen. JULIA KOSPACH

Kick-off zur Verkehrswende Raumplanung: Katja Diehl will die Gesellschaft durch neu gedachte Mobilität gerechter gestalten o kann es nicht weitergehen. Ob einen S nun die steigenden CO -Emissionen aufregen oder die explodierenden Preise 2

an den Zapfsäulen, eines steht fest: Unsere Mobilität muss sich verändern – da sind sich Autofahrerclubs, Menschenrechts- und Klimaaktivistinnen inzwischen einig. Neu ist nur die Dringlichkeit, die seit Putins Krieg auch Erstere auf einmal verspüren. Den Befund teilt auch Katja Diehl, allerdings nicht erst seit Ende Februar. Die 49-jährige PR- und Marketing-Expertin aus Hamburg hat sich in den letzten Jahren als Podcasterin („SheDrivesMobility“) und unter dem Twitter-Namen „kkklawitter“ (über 35.000 Follower) als „Influencerin in Sachen Verkehrswende“ etabliert. Sie berät die österreichische Verkehrsministerin und deren baden-württembergische Amtskollegen. Als „Zukunftsaktivistin“ fordert Diehl in so-

zialen Medien und nun auch zwischen Buchdeckeln eine Verkehrswende unter dem Hashtag #Autokorrektur. Deren Notwendigkeit begründet sie aber nicht mit der Klimakatastrophe oder den menschenverachtenden Diktaturen, die uns das Öl liefern – jedenfalls nicht an erster Stelle. Diehls #Autokorrektur ist vor allem ein Plädoyer für eine lebenswertere Gesellschaft. Diese entsteht nach ihrer Überzeugung, wenn Mobilität nicht mehr autozentriert gedacht

wird. „Träume ich zu groß oder die anderen zu klein? Nach meiner Vision befragt, könnte ich sehr lange begeistert über das Bild sprechen, was [sic] ich sehe: spielende Kinder mitten auf der Straße, Radfahrer:innen, Spaziergänger:innen, Rollstuhlfahrende und Menschen mit Rollatoren, die mal für einen Schwatz stehen bleiben, bevor sie ihr Gemüse kaufen, Brot besorgen, in die Kita rollern oder ins Atelier gehen.“

zentrale Forderung „Jede:r sollte das Recht haben, ein Leben ohne eigenes Auto führen zu können“ ist unter den derzeitigen Bedingungen oft kaum umsetzbar, wie sie durch Interviews zeigt. Mit dem Berufs- und Familienleben inkompatible Öffi-Intervalle auf dem Land, für den Rollstuhl ungeeignete Gehsteige oder auch die Angst vor sexuellen oder rassistischen Übergriffen zwingen viele Menschen wohl oder übel ins Auto.

Ein wenig erinnert Diehls Enthusiasmus ja an

„Und wer mir sagen möchte, dass Zeit im

die Renderings, mit denen Neubauprojekte beworben werden: Dort scheint auch immer die Sonne und alle haben gerade Urlaub. Doch geht es der Autorin und Aktivistin nicht um die Behübschung privilegierter Innenstadtviertel, sondern um ein wesentlich radikaleres Umdenken. „Automobilität ist männlich ist dominierende Mobilität“, lautet ihre Formel für den Ist-Zustand. Unser Verkehrssystem ist demnach für eine Gruppe optimiert, die man mit den Adjektiven „männlich, weiß, cis, heterosexuell, wohlhabend“ beschreiben kann. Für alle anderen gibt es „Flächenungerechtigkeit, Luftungerechtigkeit, Lärmungerechtigkeit“. Diehl kritisiert nicht nur den immensen Flächenbedarf autozentrierter Verkehrsorganisation – was wenig Neuigkeitswert hätte –, sondern analysiert vielmehr den öffentlichen Raum aus der Perspektive derjenigen, die derzeit daraus verdrängt werden. Ihre

Katja Diehl: Autokorrektur Mobilität für eine lebenswerte Welt. S. Fischer, 272 S., € 18,50

Auto gute Zeit ist, der Person werde ich leicht zweifelnd in die Augen blicken“, so die Autorin, die ihre Thesen im Social-Media-typischen Plauderton vorträgt. Leider nahm es auch das Lektorat ziemlich locker, was den Text über weite Strecken seltsam unfertig wirken lässt. Es fällt schwer, Kapitalismuskritik ernst zu nehmen, wenn sie so daherstolpert: „Eine Industrie, die riesige Zerstörungen erzeugt, weil sie sich an einem Kapitalismus orientiert, der sich an falschen Maßstäben wie dem des Bundesinlandsproduktes [sic] oder der Dividenden für Aktionäre bindet, wird in unserer Gesellschaft als ‚erfolgreich‘ kategorisiert.“ Dass #Autokorrektur zum „Kick-off einer Gesellschaft“ wird, „die gemeinsam eine attraktive, lebenswerte und klimafreundliche Mobilitätszukunft für alle baut“, ist dieser freilich dennoch zu wünschen. GEORG R ENÖCK L


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Steigende Preise und kein Ende in Sicht

Was die Welt regiert? Eine Geldmaschine!

Volkswirtschaft: Hans-Werner Sinn warnt vor einem giftigen Cocktail aus Staatsverschuldung und Inflation

Finanzen: Es gebe zwar immer mehr Geld, aber beileibe nicht weniger Mangel, mahnt ein Wirtschaftssoziologe

s sind doch nur Nummern im E Computer, diese Staatsschulden. Was soll schlecht daran sein, wenn

nser Finanzsystem lässt sich als eine Sammlung verschiedenster U Tauschwerkzeuge für Geld und Waren

die EZB in Krisenzeiten hilft, die Zinsen für Staatsanleihen – Geld, das sich Staaten von den Bürgern leihen, um Ausgaben über Steuereinnahmen hinaus tätigen zu können – zu senken, indem sie emittierte Staatspapiere einzelner Staaten aufkauft? Die Staaten können dann Rentner, Beamte, Arbeitslose und Infrastruktur bezahlen, Finanzakteure können nicht mehr auf den Kursverfall dieser Staatspapiere wetten. Hans-Werner Sinn, bis 2016 Präsident des Münchener Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung und der einflussreichste Volkswirtschaftler Deutschlands, gehört zu den Kritikern des aufgeblähten Finanzmarktes, üppiger Konjunkturprogramme und der Politik der Europäischen Zentralbank (EZB). Einerseits „rettet“ für ihn die EZB keine Staaten, sondern vor allem große private Investoren. Sie schaffe Zombie-Banken und lege die Kosten am Ende auf den Steuerzahler um. Andererseits löse die EZB-Politik die durch den Euro entstandenen Probleme nicht, sondern verschärfe sie und nehme stillschweigend eine Umverteilung von den starken Ökonomien des Nordens in die Südländer vor. Seit 2008, dem Jahr der LehmanKrise, ließen die Aufkaufprogramme der EZB und die künstlich gedrückten Leitzinsen die Geldmenge der Zentralbank emporschnellen. Noch liegt der Geldüberhang von vier Billionen Euro großteils bei den Banken, doch wenn die Zinsen ansteigen und das Geld in Umlauf gebracht wird, werde eine längst bestehende Inflation beschleunigt werden.

Vor diesen Inflationspotenzialen warnt Sinns neues Buch eindringlich, denn jüngst kamen inflationsverstärkende Faktoren hinzu: Neben den Staatsverschuldungen durch die CoronaKrise sind das die quarantänebedingten Lieferengpässe von Material und Zulieferprodukten. Sie führten 2021 zu den stärksten Preissteigerungen im verarbeitenden Gewerbe seit 70 Jahren und zu einem Nachfrageüberhang, der durch Konjunkturprogramme noch verstärkt wird. Rohstoffpreise stiegen, die Erzeugerpreise in Industrie und Nahrungsbranche

wurden hochgetrieben. Die Energiewende soll teils durch Subventionen auf Schuldenbasis finanziert werden. Die Erhöhung des Mindestlohns in Deutschland werde die Arbeitslöhne hinauftreiben. Die USA könnten ihre Leitzinsen bald erhöhen, Geld werde in die USA fließen und der Euro werde abgewertet. Sinn neigt wie stets zur dramatisieren-

den Zuspitzung und Reduktion, um seine Interventionen in die öffentliche Meinungsbildung wirkungsvoll zu machen. Vor allem seine unveränderte Kritik an der staatsinterventionistischen „Energiewende“, dem staatlich

»

Sinns Buch ist von einer Klarheit und Datenfülle, die es zu einer hochaktuellen Gegenwartsdiagnose machen forcierten Bauboom und an Konjunkturpaketen reizen zum Widerspruch. Doch sein Buch ist von einer Klarheit und Datenfülle, die es nicht nur zu einer hochaktuellen Gegenwartsdiagnose, sondern zugleich zu einer idealen Einführung in modernes volkswirtschaftliches Denken machen. Nicht etwa, weil man mit allen Argumenten einverstanden sein muss. Sondern weil es in vorbildlich aufklärerischer Weise vor Augen führt, was ein mündiger Bürger kennen und verstehen muss, um sich ein eigenes, wohlbegründetes Bild der Lage zu machen, in der wir Europäer heute stecken. SEBASTIAN K IEFER Hans-Werner Sinn: Die wundersame Geldvermehrung: Staatsverschuldung, Negativzinsen, Inflation. Herder, 432 S., € 28,80

beschreiben. Oder, wenn man Aaron Sahr folgt: Es ließ sich so betrachten. Denn genau das sei nicht mehr möglich, meint der Wirtschaftssoziologe. Heute müsse man das Finanzsystem als Struktur verstehen, in der alle Bauteile, Geldbeträge und Bilanzen wie in einem komplexen Apparat zusammenwirken. Kurz gesagt: Geld ist eine Maschine. Ausgangspunkt von Sahrs Überlegungen ist die „Modern Monetary Theory“, eine von den Nachfolgern John Maynard Keynes’ geprägte Geldtheorie. Sie sieht wesentliche Hebel für den Wert des Geldes nicht in den Mechanismen freier Märkte, sondern in der Verantwortung von Regierungen: In deren Macht liege es, mehr oder weniger Geld zu produzieren. Diese Geldschöpfung hält Sahr für eine

der zentralen Machtressourcen der Maschinerie. Gerade diese friste aber ein „Schattendasein“ in den stillen Kammern mächtiger Zentralbanken; abseits des Zugriffs durch gewählte Volksvertreter. Dass sich die Geldschöpfungs-Politik somit der demokratischen Steuerung entzieht, sieht Sahr als Sieg einer Ideologie, die das Geld entpolitisieren will. Das legt die Latte für sein Werk hoch: „Ziel dieses Buches ist (…) die Überwindung eines herrschenden Denkens, das unser Verständnis der monetären Welt verzerrt und damit unsere Wahrnehmung finanzieller Möglichkeiten und Abhängigkeiten verschleiert – eine Kritik der finanziellen Vernunft.“ Dazu liefert Sahr eindrucksvolle Zahlen: Obwohl das Wirtschaftswachstum zumindest in den OECDStaaten seit Jahrzehnten moderat verläuft, ist das verfügbare Geldvolumen um ein Vielfaches gestiegen: Hundert Mal so viel Geld wie 1980 sei heute im Umlauf – während sich die Wirtschaftsleistung nur aufs etwa Zweieinhalbfache gesteigert habe. Erfreuen sich nun alle größeren Wohlstands? Weit gefehlt! Gewonnen haben durch die wundersame Geldvermehrung laut Sahr einmal mehr jene, die Geld haben und es investieren können. Für Lohn- und Gehaltsempfänger ändere das wenig; für Menschen ohne Arbeit gar nichts. Im

Gegenteil: Sozialleistungen für Ärmere würden unter dem Geldsegen der Reichen leiden – so wie die gesamte öffentliche Infrastruktur von Abfallwirtschaft über Klima-Investitionen bis zu Verkehrsausgaben. „Weltweit“, so Sahr, „fehlen 15 Billionen US-Dollar für notwendige Infrastrukturausgaben (bis 2040).“ Die Vorleistungen, die die GeldMaschine für die Gesellschaft erbringt, seien ebenso als kritische Infrastruktur zu betrachten und entsprechend zu steuern – nicht auf kapitalistische Einzelinteressen, sondern aufs Gemeinwohl hin. Sahr leitet die Forschungsgruppe „Monetäre Souveränität“ am Hamburger Institut für Sozialforschung. Schon in seinem Debüt „Das Versprechen des Geldes“ (Hamburger Edition, 2017) hat er eine soziologische Sicht des Geldes entwickelt. Die WeltGeld-Maschine in all ihrer Komplexität darzustellen gelingt; ebenso überzeugt die daraus abgeleitete Forderung einer politischen Steuerung. Bloß auf Komplexitätsreduktion darf man hier nicht hoffen. Auch wenn der Autor sein Versprechen hält, dass das Werk ohne Vorkenntnisse in Mathematik oder Rechnungslegung lesbar sei, erfordert es doch gehörig Konzentration und starkes Interesse an wirtschaftspolitischen Zusammenhängen. An der Grenze von Sachbuch und Fach-

buch liefert Sahr eine scharfsinnige Analyse unseres weit über banale Tauschmittel hinausgewachsenen Geldapparats – und der Notwendigkeit, diesen im Sinne des Gemeinwohls zu steuern. Allerdings erschließt sich sein Buch wohl einer ähnlich kleinen Zielgruppe wie seinerzeit Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Zu wünschen bleibt, dass es ähnlich großen Einfluss auf unseren gesellschaftlichen Diskurs entfaltet. ANDREAS KREMLA

Aaron Sahr: Die monetäre Maschine. Eine Kritik der finanziellen Vernunft. C.H. Beck, 447 S., € 28,80

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Als das Bett noch öffentliche Bühne war Kulturgeschichte: Die Archäologen Nadia Durrani und Brian Fagan erzählen, was im Bett schon alles geschehen ist auter schöne Bettgeschichten: Im Grab von Tutanchamun fand sich L das früheste Exemplar eines zusam-

menklappbaren Bettes – und das im 14. Jahrhundert vor Christus. Die Könige Frankreichs regierten ihr Reich vom Himmelbett aus. Ludwig XIV. besaß gar 400 davon, eins prächtiger als das andere, manche trugen sogar eigenwillige Namen. England war stolz auf das Große Bett, drei Meter lang und breit, zweieinhalb Meter hoch, gebaut im späten 16. Jahrhundert. Es lässt sich noch heute im Londoner Victoria and Albert Museum bestaunen; selbst Shakespeare war es eine Anspielung wert. Marcel Proust schrieb seine „Suche

nach der verlorenen Zeit“ größtenteils in horizontaler Position. Der exzentrische Premierminister Winston Churchill führte seine Amtsgeschäfte mitunter von der Matratze aus und rang liegend um den Sieg über Nazi-Deutschland. Seinem konservativen Parteikollegen John Profumo hingegen waren solche Erfolge nicht beschieden, ihm wurde das Bett zum Verhängnis – er stolperte über seine Affäre mit Christine Keeler, die wiederum das Bett mit dem sowjetischen Militärattaché Jewgeni Iwanow teilte. Eine diplomatische Verwicklung, die John Lennon und Yoko Ono nicht zu fürchten hatten: Sie demonstrierten 1969 ganz offen und vor Kameras mit einem mehrtägigen Bed-in gegen den Vietnam-Krieg, und die Künstlerin Tracey Emin machte in den 1990ern aus ihrer Schlafstatt gleich eine Installation – samt schmuddeliger Decke, blutiger Unterwäsche, Zigarettenkippen und benutzten Kondomen.

Man könnte noch viele weitere dieser Bett-Anekdoten erzählen und würde doch nicht genug davon bekommen! Nadia Durrani und Brian Fagan haben in ihrer Kulturgeschichte „Was im Bett geschah“ einige davon zusammengetragen. Über das Episodische hinaus aber beschreiben die beiden Archäologen pointiert und fesselnd, wie das Bett sich von einem geselligen Ort zum privaten Schutzraum entwickelt hat, wie seine Funktion sich über die Jahrtausende immer wieder wandelte – und was im Bett so alles veranstaltet wurde. Dafür blicken die beiden weit zurück: Es

dauerte ein paar Millionen Jahre, bis unsere Vorfahren es sich an Feuerstellen gemütlich machten und sich aneinanderkuschelten, um Kälte und Gefahren zu trotzen. Aber immerhin schon vor 70.000 Jahren war es so weit. Aus dieser Zeit datiert das erste Artefakt, das man als Bett bezeichnen könnte. Homo sapiens hatte sich in einer südafrikanischen Höhle eine Kuhle in den felsigen Boden gehauen, um darin zu nächtigen. Von da an war die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten: Man schlief zwar noch lange vornehmlich auf Strohlagern, eingehüllt in Decken und Felle, und das selten allein. Aber bei den Ägyptern und Römern findet sich eine gewisse Ausdifferenzierung – schön verzierte Betten, auf denen gegessen, regiert, gefeiert, natürlich auch geschlafen wurde. Je höher der Stand, desto größer übrigens der Abstand zum Boden. Das Bett war nichts, was versteckt wurde, sondern vielmehr eine öffentliche Bühne. Man war stolz auf das gute Stück:

„In der Frühmoderne, die die Historikerin Carole Shammas scherzhaft das Zeitalter des Betts taufte, wurde die Schlafstatt häufig für jedermann sichtbar in der guten Stube zur Schau gestellt, war sie doch das teuerste und wertvollste Möbelstück, das sich eine Familie zulegen konnte.“ Auch war es lange Zeit üblich, das Bett mit anderen zu teilen. Der berühmte Tagebuchschreiber Samuel Pépys etwa berichtet im 17. Jahrhundert davon, dass er nicht nur gerne mit Frauen, sondern auch mit Freunden die Nacht in einem Bett verbrachte. Besonders schätzte er jene mit großem Konversationstalent. Im Bett wurde also – abgesehen von gewöhnlicher Nachtruhe und Liebesakten – alles Mögliche getrieben. Manches, das wir heute ganz selbstverständlich damit in Verbindung bringen, kannten unsere Vorfahren nicht: Kinder wurden bis zum 17. Jahrhundert vornehmlich in hockender Haltung geboren. Durrani und Fagan berichten, dass Ludwig XIV. mit großer Freude Frauen bei der Geburt beobachtete. „Da es ihm nicht passte, dass er bei den traditionellen Geburtshockern keine ungehinderte Sicht hatte, soll er die neue, liegende Position vorgeschlagen haben.“ Vielleicht ist das eine Legende, aber die Geschichte des Fortschritts ist ja reich an Absurditäten. Dem Sonnenkönig war alles zuzutrauen. Absurd oder zumindest bedenklich ist

auch das, was die Industrialisierung mit den Schlafgewohnheiten angestellt hat. Bis uns die Moderne einem strikten Zeitdiktat unterworfen habe, seien wir Zwei-Phasen-Schläfer gewesen, wie Wissenschaftler herausfan-

den: Nach vier Stunden sei man mitten in der Nacht aufgewacht, hätte ein paar Dinge erledigt, Sex gehabt, über Träume geplaudert oder Geschäfte gemacht, um im Anschluss weitere vier Stunden bis zum Morgen zu schlummern. Wer weiß, ob unser Konsum von Schlaftabletten notwendig wäre, müssten wir nicht, einer protestantischen Arbeitsethik folgend, unseren Schlaf nach den Stechuhren des Kapitalismus ausrichten. Wer das Buch von Durrani und Fagan liest, in dem es natürlich auch um Traumgespinste geht und Mythen, um die soziale und die machtpolitische Bedeutung des Bettes, um Schlafsack und Hightech-Baldachine der Zukunft, der ahnt, welcher Rang diesem Möbel zukommt – und wie schändlich es von der Forschung vernachlässigt wurde. Immerhin bringen wir darin mindestens ein Drittel unseres Lebens zu, und in Homeoffice-Zeiten noch mehr. Das Bett spiegelt die jeweilige Gegenwart wider, das gesellschaftliche Miteinander, medizinische und moralische Diskurse. Durranis und Fagans „horizontale Geschichte der Menschheit“ ist eine höchst anregende Lektüre, die im Übrigen nicht als Schlafmittel taugt. ULRICH RÜDENAUER

Nadia Durrani und Brian Fagan: Was im Bett geschah. Eine horizontale Geschichte der Menschheit. Reclam, 269 S., € 24,– Erscheint am 18.3.

„Ich bin auch so eine“ Katja Kullmann schreibt über weibliche Langzeit-Singles: Es ist eine Hommage an eine andere Form von komplettem Leben or 20 Jahren schrieb die deutsche V Journalistin und Schriftstellerin Katja Kullmann, Jahrgang 1970, in ihrem Bestseller „Generation Ally“ über das Selbstverständnis der Frauengeneration um die 30, der sie selbst angehörte. Jetzt, mit Anfang 50, widmet sich Kullmann mit Witz und Gelassenheit der „Frau ohne Begleitung“, die wie sie selbst ohne Partnerschaft durchs Leben geht. Das gilt als Skandalon, immer noch, als Lebensentwurf, dem Unfreiwilligkeit unterstellt und Mitleid entgegengebracht wird. Von „The Question“ („Wieso ist denn so eine tolle Frau wie du (noch) allein?“) über die Zuweisung des Katzentischs im Restaurant bis zu Diskriminierungen, mit denen sich Single-Frauen (anders als Single-Männer) häufig herumschla-

gen müssen, dekliniert Kullmann das Reaktionsrepertoire einer Gesellschaft durch, in der Ehe und Zweisamkeit als Idealvorstellung überhöht werden. Bliebe es allein bei dieser Bestandsauf-

nahme, wäre „Die Singuläre Frau“ immer noch eine äußerst lohnende Lektüre, aber nur halb so eindringlich, wie sie es tatsächlich ist. Denn zu den „Solistinnen“ des Lebens existiert eine reiche und hochgradig unterbelichtete Sozial- und Ideengeschichte, und Kullmann hebt diesen Schatz mit Verve, während sie uns teilhaben lässt an den Erfahrungen ihres eigenen Langzeit-Single-Daseins. Nach einem „mittleren Selbsterkenntnisschock“ stellt sich dieses ihr keineswegs als Mangel, sondern durchwegs „als komplettes Leben“ dar. Seit sie „am Spiel-

feldrand der Liebe“ Platz genommen hat, sticht ihr nicht nur die Ritualisierung von Paarbeziehungen mehr ins Auge, sie stellt auch fest, dass sie das Leben ohne Begleitung zu einer offeneren, weniger selbstsüchtigen Person gemacht habe. Sie folgt den Traditionslinien weiblicher Single-Leben, erzählt von den „Flappern“ der 1920er-Jahre, von der Stadt als Raum für die Freiheit der Frau, von Pensionen und den ersten WGs der Geschichte, in denen sich alleinstehende Frauen zusammentaten. Vorurteile entlarvt sie als Reflex des Patriarchats, das es sich nun einmal nicht vorstellen kann und will, dass frau auch ohne Partnerschaft zu einer vollen Existenz finden könnte. Kullmann spielt in ihrem Buch keine Lebenskonzepte gegeneinander

aus. Stattdessen setzt sie jenen Frauenleben, die sich „nicht konstant auf ein Gegenüber beziehen“, ein Denkmal und registriert, welche Möglichkeiten sich dadurch eröffnen können. Von Selbstbetrug keine Spur, dafür jede Menge Klarheit und Lebensklugheit. Oder wie Kullmann über die „Singuläre Frau“ sagt: „Ich bin ihr Fan.“ JU L I A K O S P A C H

Katja Kullmann: Die Singuläre Frau. Hanser Berlin, 336 S., € 24,70


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Zirkusnummern und Sex nach Drehbuch Was tun, damit Sex wirklich frei ist? Philosophie-Jungstar Amia Srinivasan über Pornografie und Rassismus im Schlafzimmer at sich die Lage von jungen Frauen als H sexuelle Wesen verschlechtert? Vertieft Online-Dating „diskriminierende Spurril-

len“? Hat die Pornografie den Feminismus auf dem Gewissen? Was wäre zu tun, damit Sex wirklich frei ist? Was prägt unser Begehren? Es sind Fragen wie diese, die Amia Srinivasan in ihrem Debüt, der Essaysammlung „Das Recht auf Sex“, diskutiert. Bei den fünf langen und an Recherche prallen Schreibstücken handelt es sich durchwegs um Texte, die „kein Zuhause“ bieten, wie Srinivasan gleich einleitend klar macht. Denn in ihnen wägt die Philosophin weitaus mehr Fragen ab, als sie Antworten gibt, und verweilt, „wo notwendig, im Unbequemen und Ambivalenten“. Amia Srinivasan ist ein Jungstar der Philosophie. Die 37-Jährige, die als Tochter indischer Eltern in New York, Taiwan, Singapur und London aufwuchs, studierte in Yale und Oxford Philosophie. Seit 2020 bekleidet sie als erste Frau und jüngste Professorin den Chichele-Lehrstuhl für Soziale und Politische Theorie an der Universität Oxford. Vor ihr hatte diesen unter anderen Isaiah Berlin inne, einer der einflussreichsten Denker des Liberalismus nach dem Zweiten Weltkrieg.

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Wer begehrt wird und wer nicht, ist politisch motiviert und häufig von allgemeinen Herrschafts- und Ausgrenzungsstrukturen bestimmt AMIA SRINIVASAN

„Bei ihrer ersten realen intimen Begegnung

Der akademische Elfenbeinturm ist Sriniva-

sans Sache nicht. Stattdessen greift sie aktuelle Debatten auf: sexuelle Belästigung, Prostitution und Pornografie, Rassismus im Schlafzimmer, #MeToo, Gender und Transgender, den Einfluss von Herrschaftsstrukturen auf Lust und Begehren. Lauter Gebiete, zu denen sich Feministinnen mitunter kontroverse Denkgefechte lieferten und liefern. Womit man schon bei einem der großen Vorzüge von Srinivasans Buch wäre: Es bietet einen exzellenten Überblick über die feministischen Denkschulen der letzten Jahrzehnte und wägt deren Stimmen aufs Ausführlichste gegeneinander ab. Nicht, dass Srinivasan mitunter nicht eindeutig Stellung bezöge wie in dem Es-

say „Warum man nicht mit seinen Studierenden schlafen sollte“. Den der Lehre oft immanenten Eros stellt sie darin nicht in Abrede, spricht sich aber – nach ausführlicher Diskussion der Richtlinien, die inzwischen die meisten Bildungsinstitutionen zu sexuellen Beziehungen zwischen Lehrenden und Studierenden eingeführt haben – eindeutig dafür aus, dass ein guter Lehrer Abstand hält, denn: „Es ist ein Unterschied, ob man das Begehren, das man in den Studierenden entfacht, genießt und sie unterdessen von sich ablenkt oder ob man sich selber zum Objekt des Begehrens macht.“ In einem weiteren Kapitel denkt sie über das Thema Pornografie nach. „Gespräche mit Studierenden über Pornografie“ entstand, nachdem Srinivasan klar geworden war, dass ihre Studierenden der ersten Generation angehören, die mit Internetpornografie aufgewachsen ist. Sie beklagen, dass von ihnen „beim Sex Zirkusnummern“ und Sex nach (Porno-)Skript erwartet würde, der vor allem die weibliche Lust ignoriere.

Amia Srinivasan: Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert. Klett-Cotta, 320 S., € 24,70

… stand das Drehbuch für sie bereits fest, jedenfalls für die Heteros unter ihnen; es diktierte nicht nur Ablauf, Gestik und Lautäußerungen, sondern auch, welche Reaktionen, welches Begehren und welches ‚Machtverhältnis‘ korrekt waren.“ Srinivasans Essay ist eine hochinteressante Reflexion darüber, inwieweit allzeit zugängliche Mainstream-Internetpornografie oder auch Online-Dating-Plattformen mit ihren Kategorisierungen die erotische Vorstellungskraft beschneiden, weil sie diese durch ein normiertes, patriarchal geprägtes Konsummuster überlagern. Nicht minder fesselnd ist ihr viel gelobter Essay „Das Recht auf Sex“. Bei seinem ersten Erscheinen in einer Zeitschrift vor einigen Jahren wirbelte er so viel Staub auf, dass Srinivasan ihm nun in der Buchfassung eine 88 Punkte umfassende Reaktion auf Widersprüche, Kritik und Zuspruch, die sie erreichten, nachgestellt hat.

Im Essay selbst wird die titelgebende Frage nach dem „Recht auf Sex“ verhandelt, und zwar ausgehend von der aggressiven, misogynen Subkultur der „Incels“ (involuntary celibates, unfreiwillig Zölibatäre) und ihres Helden, des Attentäters Eliot Rodger, der 2014 in einem Amoklauf in Kalifornien ein halbes Dutzend Menschen tötete und doppelt so viele verletzte. Sein Motiv: sich dafür zu rächen, dass die „boshaften Miststücke“ von Frauen ihm zustehenden Sex verweigert hatten. Srinivasan nimmt den Fall zum Anlass, um Begehrensmuster, sexuelles Empowerment und Entitlement sowie sexuelle Vorlieben entlang rassistischer Prägungen unter die Lupe zu nehmen. Sie reflektiert über Abstufungen von „Fickbarkeit“, „bei der es nicht darum geht, wessen Körper als sexuell verfügbar gilt …, sondern darum, wessen Körper denjenigen, mit denen sie Geschlechtsverkehr haben, den höchsten Status verleihen“. Auch dieser Essay beharrt auf Ambivalenz: „Auf der einen Seite steht das Eingeständnis, dass niemand verpflichtet ist, jemand anders zu begehren, niemand das Recht hat, begehrt zu werden, auf der anderen die Erkenntnis, dass wer begehrt wird und wer nicht, politisch motiviert ist und häufig von allgemeinen Herrschafts- und Ausgrenzungsstrukturen bestimmt wird.“ Kurzum: Sex ist hochpolitisch. Der Gesell-

schaft entkommt man auch im Schlafzimmer niemals. In jedem Fall aber – was keine Kritik an Srinivasans exzellentem Buch ist, sondern die Beobachtung der eigenen Reaktion auf die Vielschichtigkeit der darin verhandelten Themen – weiß man nach der Lektüre ihrer Essays nicht mehr, ob man es eher mit Theodor Fontane („das ist ein weites Feld“) oder mit Fred Sinowatz („das ist alles sehr kompliziert“) halten soll. Der Kopf raucht einem mit Gewissheit, und neue Einsichten zum Nachsinnen gewinnt man jede Menge. JULIA KOSPACH


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„Wer Geld hat, heiratet eine weiße Frau!“

Die dürre Cousine des Glücks

Gesellschaft: Fußballstar Lilian Thuram enthüllt Mechanismen der „weißen Vorherrschaft“

Karl-Markus Gauß macht sich in seinem Journal „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“ Gedanken über unsere Zeit

m Beginn von Lilian Thurams Buch steht die Welt Kopf: Der A Autor hat die Weltkarte umgedreht

anchmal sind es kleine FundM stücke am Straßenrand, hinreißend versprachlichte Beobachtungen,

und ein, im Vergleich zu herkömmlichen Weltkarten, riesig erscheinendes Afrika in die Mitte gestellt. Für viele Nordamerikaner und Europäer bestehe kein Zweifel, dass ihr Land im Mittelpunkt der Welt stehe, so Thuram. Lilian Thuram, geboren 1972 in Guadeloupe, war Fußball-Weltmeister, französischer Rekordnationalspieler und Star-Verteidiger bei AC Parma und Juventus Turin. Seit seinem Karriereende im Jahr 2008 widmet er sich ganz dem Kampf gegen Rassismus. Bereits 2005 kritisierte er den damaligen französischen Innenminister Nicolas Sarkozy, als dieser gemeint hatte, man müsse die Vororte von Paris mit dem Kärcher säubern. Auch Thuram ist in einem dieser Vororte aufgewachsen. In seinem neuen Buch „Das weiße Den-

ken“, soeben auf Deutsch erschienen, fokussiert er nun vor allem auf jene, die vom Rassismus profitieren – vielleicht ohne es zu wissen oder zu wollen. An konkreten Beispielen zeigt er, dass „die Überlieferung der Geschichte durch den Westen und das Christentum die Weißen ins Zentrum der Welt stellt“ – von der Antike über die Kolonialzeit und Sklaverei bis zum heutigen Tag. Andere Dinge würden ausgeblendet, zum Beispiel wenn es um die vermeintliche Entdeckung Amerikas geht: „Gibt es irgendeine Schule, an der Schüler*innen diese unfassbare Zahl gelehrt wird, dass nämlich 10 % der Weltbevölkerung, also über 50 Millionen Menschen, von den Kolonisatoren ausgelöscht wurden, und zwar ungefähr zu Beginn jener Epoche, die die weiße Welt als Renaissance bezeichnet?“ Durch die konsequente „Weißwaschung der Geschichte“ halte sich das „weiße Denken“ für die Norm. Thuram fragte etwa einen Freund: „Wenn ich Schwarz bin, was bist du dann?“ Er sei normal, antwortete der Freund spontan. Das „weiße Denken“ habe auch „die Gedankenwelt vieler nichtweißer Menschen gekapert“. Auch schwarze Kinder würden sich Gott als weißen Mann mit langem Bart vorstellen.

nem Einkommen eine weiße Frau für mich hätte einnehmen können und das also auch hätte tun sollen. Wer Geld hat, hat ein großes Haus, ein dickes Auto, eine goldene Uhr, und heiratet eine weiße Frau!“ Struktureller Rassismus, so zeigt Thuram, gehört auch heute zum Alltag, obwohl etwa die französischen Gesetze Gleichheit versprechen. So würden „nicht-weiße Menschen“ öfter von der Polizei kontrolliert, steigen seltener beruflich auf und ernten täglich misstrauische Blicke. Thuram fordert einen „Suizid der Race“, denn: „Die Erfindung der menschlichen ‚Rassen‘ dient nur dazu, die Solidarität zwischen den Menschen zu zerstören, ein Feindbild zu konstruieren, das die Ausbeutung der großen Mehrheit durch die Herrschaft der Wenigen ermöglicht.“ So wie Männer seit Jahrhunderten von der männlichen Vorherrschaft profitieren, profitierten auch die Weißen bis heute von der „systematischen Herabsetzung nicht-weißer Menschen“. In Frankreich, wo das Buch schon 2020

erschien, erntete es viel Lob, aber auch Kritik von rechter und konservativer Seite, die darin zuweilen „antiweißen Rassismus“ vermutete. Tatsächlich spricht Thuram bloß unangenehme Wahrheiten an. Mit vielen Beispielen zeigt er Wurzeln, Mechanismen und Übel der „weißen Vorherrschaft“ auf. Die Kategorisierung in „Schwarz“ und „weiß“ – so die Schreibweise in dem Buch – meint dabei vor allem „eine politisch-soziale Kategorie innerhalb einer rassistisch strukturierten Gesellschaft“, wie die Übersetzerin der deutschen Ausgabe erklärt. Es gehe ihm nicht um Schuldzuweisungen, betont Thuram. Es stehe jedoch auch in der Verantwortung jener, die von den Privilegien profitieren, für deren Abschaffung einzutreten. Es ist Zeit für einen Perspektivenwechsel, denn die Weltkarte am Anfang des Buchs ist nicht verkehrt und Afrika darin auch nicht übergroß. Die Darstellung nennt sich „PetersProjektion“ und bildet bloß die realen Verhältnisse der Landmassen ab. Und da die Welt rund wie ein Fußball sei, so Thuram, könne man sie eben aus jeder beliebigen Richtung betrachten. DONJA NOORMOFIDI

Teamkollegen verspotteten Thuram so-

gar, weil er mit einer schwarzen Frau liiert war. „Man fragte mich sogar: ‚Magst du keine weißen Frauen? Bist du etwa Rassist?‘, als müsste ich mich in irgendeiner Form schuldig fühlen.“ Dies habe eine erstaunliche Geringschätzung „Schwarzer Frauen“ offenbart: „Denn woher kam die amüsierte Überraschung meiner Teamkollegen? Von der Tatsache, dass ich mit mei-

die Karl-Markus Gauß macht, wenn er der Nase nach durch sein Viertel in Salzburg streift. „Endlich sah ich doch ein junges Paar: eine bleiche, in ihrer Übermüdung wie ausgekargt wirkende Mutter, die von ihrem alleinerziehenden Fünfjährigen behutsam durch die Siedlung geführt wurde.“ Manchmal spürt er Erinnerungen nach oder Begriffen, räsoniert etwa über das Glück, das er schnöder Zufriedenheit gegenüberstellt, und schließt dann pointiert mit einem Aphorismus: „Das Glück hat eine dürre nervige Cousine, den Spaß, und einen behäbigen selbstgefälligen Vetter, die Zufriedenheit.“ Manchmal macht sich Gauß über Ärger-

nisse schreibend Luft – etwa wenn er die Verrohung des Alltags am Beispiel von testosterongesteuerten Autofahrern in einer 30er-Zone festmacht. Oder wenn er das weltpolitische Geschehen kommentiert, das in der österreichischen Variante auch als zynische Posse auftreten kann. Wie hier bei Ex-Kanzler Sebastian Kurz: „Wem die Welt, wie sie ist, nicht schlecht genug erscheint, der muss seinen Kampf um ihre Verschlechterung auch sprachlich führen und trachten, Worten ihre humane Bedeutung zu nehmen. ‚Wir wollen denen Hilfe geben, die sie verdienen‘, spricht der Kanzler naseweis. Hilfe hat man bisher dem gegeben, der sie benötigt, nun aber gebührt sie jenen, die sie sich verdienen. Warum? Damit der Sozialstaat endlich gerechter werde und jene ausstoße, die seiner bedürfen.“ An diesen drei Beispielen, die aus Karl-Markus Gauß’ neuem Journal „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“ stammen, lässt sich einiges zeigen: einmal, dass der Autor, das wissen Gauß-Leser selbstverständlich seit vielen Jahren, Stil hat – in jeglicher Hinsicht. Weil ihm die Sprache wichtig ist, erkennt er zudem ziemlich genau, welche Unsinnigkeiten und Skrupellosigkeiten mit ihr begangen oder kaschiert werden können. Gauß hat obendrein einen unendlich weiten literarischen, historischen und politischen Horizont, wo andere ein Brett vor dem Kopf spazieren tragen.

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Zeitfähigkeit, Zeitwürdigkeit zu geben versuchte. Hätte ich nicht dieses auch mir selbst rätselhafte Verlangen, wäre es mir nicht die Mühe wert, den Koffer zu packen und das Haus zu verlassen.“ An seinem 60. Geburtstag im Jahr 2014

hatte Gauß sich vorgenommen, fünf Jahre lang ein Journal zu führen. In ihm sind so viele kluge Gedanken enthalten, dass man daraus gerne jeden dritten Satz zitieren würde. Gauß geht es darum, sich selbst in seiner Zeit wiederzuentdecken, wie er am Ende schreibt. Aber wir entdecken darin natürlich auch unsere Zeit wieder. Und nicht nur die unmittelbar vergangene. Sondern die Vergänglichkeit überhaupt. Wollte man ein Leitmotiv in diesem Journal herausstellen, dann ist es das Verschwinden. Es sind

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Hilfe hat man bisher dem gegeben, der sie benötigt, nun gebührt sie jenen, die sie sich verdienen KARL-MARKUS GAUSS

Abschiede, Nachrufe auf Menschen und Dinge, die einen prominenten Platz in diesem Journal einnehmen. Dass dieses Buch aber trotz aller Melancholie eine unerschütterliche Heiterkeit und Zuversicht ausstrahlt, ist bemerkenswert: Bei einer aus den Fugen geratenen Welt, globalen Verwerfungen und Katastrophen, bei Erscheinungen wie Donald Trump, Sebastian Kurz und deren (wut)bürgerlicher Anhängerschaft könnte man leicht zum Zyniker werden. Karl-Markus Gauß wird es nicht. Vielleicht weil er der Sprache noch immer zutraut, das Populistische und Zersetzende zu entlarven. Das macht Gauß zum Aufklärer, mithin zu einem würdigen Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung des Jahres 2022. ULRICH RÜDENAUER

Wenn er sich aufmacht in die Welt,

Lilian Thuram: Das weiße Denken. Nautilus Flugschrift, 304 S., € 22,–

vornehmlich in übersehene östliche Gefilde, dann bringt er keine „touristische Reiseprosa auf BallermannNiveau“ mit, wie andere Autoren das laut Gauß mitunter tun, sondern bewegte, vom Klischee befreite Bilder: „An keinem Ort habe ich verweilt, dem ich nicht seine Zeit,

Karl-Markus Gauß: Die Jahreszeiten der Ewigkeit. Paul Zsolnay, 316 S., € 25,–


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Über Schamkapseln und geschlitzte Wämser Kulturgeschichte: Die Renaissance ist die Zeit der „Geburt der Mode“. Und die Menschen damals liebten Experimente m Pariser Louvre hängen zwei ÖlporIdeutsche träts nebeneinander. Auf einem ist der Maler Albrecht Dürer zu sehen,

auf dem anderen der Buchhalter Matthäus Schwarz aus Augsburg, ein echter Mode-Influencer seiner Zeit. Beide Männer sind auf den Gemälden Ende 20, beide Bilder entstanden Ende des 15. Jahrhunderts und könnten unterschiedlicher nicht sein. Dürer ist auf seinem Selbstbildnis ungekämmt, exaltiert mit langen Haaren und auffälliger Kopfbedeckung. Schwarz hingegen, eine lokale Größe, ließ sich als stilbewusster Geschäftsmann mit eleganter Kleidung, exquisitem Schmuck und edlen Waffen in Szene setzen. So also wollten Männer Ende des 15. und im 16. Jahrhundert von der Welt gesehen werden, schließt die Historikerin Ulinka Rublack daraus. Der lateinische Begriff „Modus“ mit Bezug

zur Mode taucht erstmals im 15. Jahrhundert auf. In der Renaissance begann sich der Geschmack schneller zu ändern als je zuvor. Steigende Urbanisierung, das Entstehen handwerklicher Manufakturen, Kreuzzüge und dass die geistliche Elite begann, sich auszustaffieren – all das ließ Mode entstehen. Rublacks gelungenes Buch „Die Geburt der Mode“ darf man getrost einen dicken Wälzer nennen. Die 530 Seiten sind ge-

füllt mit unterhaltsamen Geschichten über Menschen und ihre modischen Anstrengungen, garniert mit reichlich Anschauungsmaterial und einer umfangreichen Bibliografie. Rublack konzentriert sich auf die Analysen süddeutscher, vor allem Nürnberger und Augsburger Quellen. „Dressing Up. Cultural Identity in Renaissance Europe“ heißt die Originalausgabe – die deutsche Autorin hat einen renommierten Lehrstuhl an der Universität Cambridge in England inne. Die preisgekrönte Frühneuzeit-Forscherin rollt die Geschichte der Mode nicht nur anhand der Porträts auf, sondern vor allem mithilfe des sogenannten Trachtenbuchs des narzisstisch veranlagten Matthäus Schwarz.

mals! Diese Mode ging von den Landsknechten aus, deren Kleidung bunt war. Erstmals entwickelte sich Mode „von der Straße“ und nicht nur von den Höfen. In der Renaissance dominierte italienische Mode, da italienische Städte wie Mailand, Florenz und vor allem Venedig wichtige Umschlagplätze für den Handel mit dem Orient wurden. Ganz Europa folgte der Renaissance-Mode. Die von Männern getragene Schamkapsel, entstanden aus dem Latz der Männerhosen, war eine Art Wonderbra für Männer und hatte interessante Formen angenommen. Männer fühlten sich dank ihr zu Vergleichen bemüßigt. Verständlicherweise war nicht jeder ein Freund der Schamkapsel. Der modische Mann trug sie über dem Wams, einer kurzen, schmalen Weste.

In seinem „Klaidungsbüchlein” dokumentier-

te Schwarz, Hauptbuchhalter der Fugger in Augsburg, sein komplettes Leben anhand seiner Outfits. Ab seinem 23. Lebensjahr beauftragte der pflichtbewusste Angestellte regelmäßig Künstler, ihn zu malen, wenn er ein paar schicke neue Kleider bekam. Diese 173 Miniporträts auf Pergament arbeitete er in sein Büchlein ein und kommentierte sie. Für die Nachwelt zeigte er zum Beispiel, wie er sich für gesellschaftliche und politische Anlässe in Schale warf, etwa wenn er einen Karrieresprung vorhatte. Sein ganzer Dandy-Stolz war ein Wams mit 4800 Schlitzen. Der letzte Schrei da-

Amüsant veranschaulicht die Autorin in ihrer

Ulinka Rublack: Die Geburt der Mode. Eine Kulturgeschichte der Renaissance. Klett-Cotta, 536 S., € 49,40. Erscheint am 19.3.

gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Betrachtung, wie durch Bildmedien und durch den Austausch mit anderen Kulturen und Mentalitäten die Einstellung zum Konsum von Kleidung Teil einer umfassenderen Lebensanschauung wurde. Am Ende schreibt sie treffend: „Idealerweise konnte ich meinen Lesern hoffentlich ein Verständnis davon vermitteln, warum wir behaupten können, dass Kleider Geschichte schrieben und es in der Geschichte um Kleidung gehen kann.“ NATHALIE GROSSSCHÄDL

Nur wer hinausgeht, kann jemandem begegnen Lebenskunst: Der Philosoph Charles Pépin legt eine Eloge an die Verwandlungskraft von Begegnungen vor ährend der AusgangsbeschränkunW gen der letzten beiden Jahre kam sie kaum zustande: die Begegnung mit Unbe-

kannten, die dem eigenen Leben neue Impulse oder eine überraschende Wendung zu geben vermag. Charles Pépins „Kleine Philosophie der Begegnung“ reißt da jedoch keine Wunden auf, sondern wirkt eher wie Balsam. Man möchte fast sagen: Die Lektüre seines Buches bewirkt selbst schon jene innere Öffnung, die laut Pépin eine Vorbedingung für Begegnungen darstellt. Für den Menschen als zu früh geborenes We-

sen, das darauf angewiesen ist, von anderen zu lernen, sind Begegnungen konstitutiv. „Ich brauche den Anderen, ich muss dem Anderen begegnen, um mir selbst zu begegnen. Ich muss anderen begegnen, um ich selbst zu werden.“ Ein Thema, das gleichzeitig mit Loslassen und Handeln zu tun hat, passt zu dem französischen Philosophen, der zuletzt „Die Schönheit des Scheiterns. Kleine Philosophie der Niederlage“ und „Sich selbst vertrauen. Kleine Philosophie der Zuversicht“ vorlegte. Wobei der Zusatz „Kleine Philosophie“ bedeutet, dass es sich hierbei weder um Ratgeber handelt (obwohl sich Pépin nicht scheut, Bedingungen für ein gelungenes Leben zu benennen) noch um akademische Abhandlungen (die ihre Leser mit gelehrtem Wissen zu erschlagen drohen).

Jemandem zu begegnen bedeute, überrumpelt und aus der Fassung gebracht zu werden, definiert Pépin. „Es geht etwas vor sich, das wir uns nicht ausgesucht haben, das uns unerwartet trifft: Es ist der Schock der Begegnung.“ Die „Kollision mit der Andersheit“ kann einem Leben eine völlig neue Richtung geben. „Sie vermag Erwartungen zu vereiteln, Prognosen zu durchkreuzen, die Karten neu zu mischen.“ Pépin beruft sich auf Referenztexte von Platon und Aristoteles über Rousseau und Hegel bis zu Freud, Sartre und Martin Buber. Er erzählt aber auch von sich selbst und veranschaulicht seine Thesen anhand von Filmen sowie historischen Beispielen: Der Freundschaft des Egomanen Picasso mit dem feinsinnigen Paul Eluard und dem Aufeinandertreffen von Keith Richards und Mick Jagger am Bahnhof eines Vororts von London. Oder der von David Bowie vorangetriebenen Begegnung mit Lou Reed, der sich schon mit seinem Scheitern abgefunden hatte. Aus Begegnungen entsteht nicht nur etwas Neues, sondern oft auch etwas, was sich keiner der Beteiligten vorstellen konnte. Im Falle von Richards und Jagger etwa 60 Schallplatten. „Die Schranken der Individualität werden durch die Erfindung dieser Partnerschaft gesprengt und aufgehoben“, meint Pépin. Und: „Die Kraft dieser

Begegnung ist besser in Begriffen der Mystik als in Begriffen der Arithmetik zu fassen, denn eigentlich wissen wir nicht genau, was da so gut läuft.“ Begegnungen geben Kraft und erweitern den Horizont. Sie lassen uns aus uns selbst heraustreten und die Welt mit neuen Augen sehen. Auch Kunstwerke oder Bücher können diese Impulse geben. Albert Camus’ „Der Fremde“ etwa schenkte Pépin ein neues Verhältnis zum Heimatland seiner Mutter, Algerien. Die Lektüre von Emmanuel Carrères Wälzer über das frühe Christentum, „Das Reich Gottes“, veränderte seinen Blick auf gläubige Menschen. Die Auswirkungen von Begegnungen kämen nicht immer mit Pauken und Trompeten daher, sie könnten auch „stille Wandlungen“ einleiten. Sind Begegnungen zufällig? Nur bedingt,

Charles Pépin: Kleine Philosophie der Begegnung. Hanser, 255 Seiten, € 20,60

meint Pépin. Wer zuhause sitzt, kann niemandem begegnen, wer einen günstigen Augenblick nicht nutzt, an dem geht er vorüber. Begegnungen werden provoziert durch „eine bestimmte Art, durchs Leben zu gehen, mit weit geöffneten Augen, die empfänglich sind für alle Signale, die uns die Welt sendet“. Man kann sie nicht erzwingen, aber vorbereiten, in Träumen, in der Neugier und den Filmen, die vor dem inneren Auge ablaufen. Oder mit diesem klugen, inspirierenden Buch. KIRSTIN BREITENFELLNER


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Bin im Garten! Vier neue Bücher über Selbstversorgung, klimafitte Pflanzen, Tiere im Garten und wie man einen Garten kenntnisreich genießt chon als Kind hegte Marie DieS derich den Wunsch, ihre „eigene kleine Farm zu haben“. Ihr erstes

Taschengeld sparte sie für ein Buch über Selbstversorgung, zum Geburtstag wünschte sie sich Ziegen und auf der elterlichen Dachterrasse experimentierte sie mit Gemüsesamen. Die Neigung zum Do-it-yourself (DIY) hat Diederich zu Beruf wie Berufung weiterentwickelt, was optimal funktioniert, da sie eindeutig zur rechten Zeit am rechten Platz war: Wenige Trends haben sich zuletzt breitenwirksamer entfaltet als DIY, Selbstversorgung und (Gemüse-)Gärtnern. Seit einigen Jahren betreibt Diederich, 27, ihr äußerst erfolgreiches SelbstversorgerBlog namens „wurzelwerk“ mit bis zu 2,5 Millionen Klicks pro Monat plus einen Youtube-Kanal mit 220.000 Followern. Nun erscheint auch Marie Diederichs erstes Buch mit dem puristischen Titel „Selbstversorgung“. Das Erfolgsrezept ist in Buch, Blog und Youtube-Videos dasselbe: Passion, reiche Erfahrung, gute Ideen, flotte Sprüche, schöne grafische Gestaltung und viele Fotos einer beschwingten Marie mitsamt Gemüsen, Tieren und Einweckgläsern. Von „Autark werden“ bis zu „Wenn du mal wieder mit der Zucchinikeule über den Gartenzaun winkst“ erfährt man hier alles, was es über Gemüse-Selbstversorgung zu wissen gibt: Standortwahl, Jungpflanzenanzucht, Kompostherstellung, gute Gemüse- und Obstarten für die reiche Ernte. Dazu gibt es Basisinfos zur Haltung von Ziegen und Hühnern. Im Unterschied zu anderen Büchern über Selbstversorgung aus dem Garten, die Einsteiger sorgenvoll mahnen, sich nicht zu übernehmen und

ja klein anzufangen, drängt Marie Diederich einen beinahe, „ins Tun zu kommen“ und sich viel zuzutrauen. Am besten sofort und nicht erst, wenn man die Pension antritt. Alles keine Hexerei, wenn man erst einmal den Dreh heraus hat, lehrt Diederichs Buch gut gelaunt. Natürlich stets bio, nachhaltig und samenfest. Das versteht sich in Diederichs Generation sozusagen von selbst. Weil Klimawandelfragen im Garten nie

weiter als einen Steinwurf entfernt sind, schießen auch Bücher zum Thema wie Schwammerln aus dem Boden. Ein solider Führer mit „100 robusten Pflanzen für den langlebigen Garten“ ist „Gärtnern im Klimawandel“ des Stainzer Gärtnermeisters Norbert Griebl. Da Gärten immer öfter mit Trockenheit, Hitze und Verschiebungen der Jahreszeiten zurande kommen müssen, sind robuste Pflanzen gesucht, die wenig Wasser und Pflege brauchen. Griebls Ratgeber porträtiert genau solche Kandidaten aus den Kategorien Stauden, Gehölze sowie ein- und zweijährige Arten. Dabei geht er jeweils auch auf gute Nachbarn für die porträtierten Pflanzen ein und legt einen Schwerpunkt auf den kulinarischen und ökologischen Mehrwert der Pflanzen. Womit wir beim tierischen Leben im

Hausgarten angelangt wären. Angesichts ausgeräumter Industrieagrarlandschaften entwickeln sich just Hausgärten zu wesentlichen Rückzugsgebieten für Vögel, Reptilien, Kleinsäuger und Insekten aller Art – solange sie Vielfalt bieten, ökologisch gepflegt werden und das Animalische, das in ihnen kreucht und

fleucht, im Blick haben. Genau dieser Blick lässt sich mit dem Naturführer „Gartensafari“ des deutschen Biologen Hannes Petrischak schulen. Reich bebildert lehrt er, wann und wo man welchem Getier im Garten begegnen kann – von Ameisenlöwe bis Zauneidechse – und wie man es hineinlockt. Zum eigenen Vorteil: Je mehr die tierisch-pflanzlichen Vielfaltskreisläufe im Garten funktionieren, desto pflegeleichter wird er. Einen Jahreszeiten-Ritt anderer Art bietet Isabelle van Groeningens „Die sieben Jahreszeiten“. Sie und ihre Partnerin Gabriella Pape – beide sind Kew-Gardens-geschulte Hortikulturistinnen und Gartendesignerinnen – führen die famose private Gartenschule an der Königlichen Gartenakademie in Berlin. Pape schreibt seit langem Gartenbücher und -kolumnen. Van Groeningen, die ein Gartenblog betreibt, folgt ihr nun nach. Ihre Texte sind poetische GartenFeuilletons nach guter alter britischer Tradition, voller Tipps, die in elegante Naturbetrachtungen verpackt sind. Beispiel gefällig: Bei Angst vor Frühlingsspätfrösten, die frisch ausgetriebenen Obstbaumblüten den Garaus machen könnten, folgt man dem bäuerlichen Beispiel und besprüht selbige vorbeugend mit einem feinen Wassernebel. Er bildet eine eisige Schutzhülle um die Blütenblätter. Kann man immer wieder brauchen. Was man nicht brauchen kann, ist etwas, das hiermit den ewiggestrigen Schrebergärtnern aller Nationen mit van Groeningens Worten ins Stammbuch geschrieben sei: Der Kiesgarten, so pflegeleicht er sein mag, ist genauso „ein ökologisches Desaster“ wie der englische Rasen. J U L I A K O S P A C H

Isabelle van Groeningen: Die sieben Jahreszeiten. Neue Anregungen für den Garten rund ums Jahr. Insel, 272 S., € 26,80

Hannes Petrischak: Gartensafari. Der heimischen Natur auf der Spur. Oekom, 208 S., € 20,60

Norbert Griebl: Gärtnern im Klimawandel. 100 robuste Pflanzen für den langlebigen Garten. Haupt Verlag, 224 S., € 26,80

Marie Diederich: Selbstversorgung. Löwenzahn, 300 Seiten, € 29,90

Wenn der Professor gegen das Hochbeet wettert Gartengestaltung: Stefan Rebenich, Experte für Alte Geschichte, empfiehlt Poesie und Malerei als Vorbilder tefan Rebenich verwendet Wörter S wie „Polyhistor“ (für einen Universalgelehrten) und „ubiquitäre Weg-

werfmentalität“. Er schreibt „dernier cri“ anstatt „der letzte Schrei“ und meint damit das Lifestyleprodukt „Hochbeet aus Europaletten“, wie es überteuert an jeder Ecke angeboten werde. Aus ökologischer Sicht katastrophal seien die Massenprodukte, wie es sie inzwischen beim Discounter gibt. Man muss diesen etwas großväterlichen, manierlichen Stil charmant finden. Der Uni-Professor unterrichtet immerhin Alte Geschichte in Bern und ist beseelt von seinem Hobby. Er warnt: Wir haben alles, was es zum Garteln braucht, im Überfluss, aber die Unmittelbarkeit der individuellen Erfahrung geht verloren. Vermeintli-

che Experten bestimmen das gärtnerische Gestalten. Die einen seien mit dem Billigangebot aus dem Gartencenter zufrieden, die anderen erstehen Exklusives zu horrenden Preisen. Schnell wechselnde hortikulturelle Mo-

den sind dem Autor ein Gräuel, er will mit Gartenbildung dagegenhalten. Sein Ideal: Gärten von zeitlosem Nutzen und natürlicher Schönheit. Dazu müsse man sich mit der Tradition auseinandersetzen. Die Beschäftigung mit der Antike kann er nicht verstecken. Und so geht es querbeet durch die Historie und die Saisonen, durch weltberühmte Gärten, zur Poesie und Malerei. Von Vincent van Gogh könne man mehr lernen als durch die Lektüre der von Rebenich verschmähten Ratgeber. Er schaut nach Versailles, zur Alhamb-

ra und empfiehlt die berühmte Gartenanlage Dumbarton Oaks in Georgetown, Washington, D.C. Besonders schwärmt er von der britischen Gartenkultur, die Aufregung rund um den cleanen Style des Rosengartens unter Melania Trump relativiert er. Dann und wann widmet sich Rebenich einer einzelnen Pflanze, etwa der Tulpe. Wir erfahren: Flüchtlinge verbreiteten sie in Europa. Sie trugen die wertvollen und problemlos zu transportierenden Zwiebeln als Startkapital in ihrem leichten Reisegepäck. Derzeit exportieren die Niederlande etwa zwei Drittel der Weltproduktion an Tulpen. Fast die Hälfte des Landes ist mit Tulpenfeldern bedeckt. Den harten Wettbewerb der globalen Pflanzenindustrie illustriert Rebenich anhand des Weihnachtssterns.

Das elegante Büchlein nach alter Schule ist lehrreich und unterhaltsam, außerdem beständig und von persönlichen Ansichten geprägt. Viele der Texte sind schon als Kolumnen in deutschen Wochenzeitungen erschienen. Idealerweise schmökert man übers Jahr verteilt. Wer aber keinen Garten sein eigen nennt, liest wahrscheinlich mit Wehmut. JULIANE FISCHER

Stefan Rebenich: Der kultivierte Gärtner. Die Welt, die Kunst und die Geschichte im Garten. Klett-Cotta, 208 S., € 26,80


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Monumentaler und bilanzieller Gruß aus der Küche Trotz Blogs und Online-Rezepten sterben die Kochbücher nicht aus. Im Gegenteil: Manche werden immer umfassender ozu überhaupt Kochbücher? Wozu W braucht es im Zeitalter von Streaming noch LPs? Wer einen Streamingdienst

abonniert hat, versteht vermutlich die Frage nicht. LP-Aficionados hingegen wissen, sie haben es mit einem komponierten Werk zu tun, das meilenweit vom geschwind ergoogelten Rezept entfernt ist, weil jemand gerade vergessen hat, wie viel Semmel es für Semmelknödel braucht (und ob überhaupt). Immer wieder schaue ich mir Bücher wie Harald Schmidts Thomas-BernhardKochbuch mit dem vielversprechenden Titel „In der Frittatensuppe feiert die Provinz ihre Triumphe“ (Brandstätter) an, aber dieses Buch ist eher etwas für literarisch Interessierte und trotz ein paar Rezepten kein Bernhard-Kochbuch, wobei ich nicht weiß, ob ich darauf Appetit hätte. Wir müssen uns in der Auswahl immer beschränken, deswegen werden BlogBücher eher an den Rand gedrängt und Kochbücher (selbst wenn sie von Bloggerinnen sind) bevorzugt. Wenn Sie es mögen, seien Ihnen Alison Romas „Nothing Fancy“ (Dorling Kindersley) oder Anna Röpfls „Teigliebe“ (Brandstätter) durchaus ans Herz gelegt. Ich selbst brauche die leicht überempathische Ansprache à la „Du hältst in diesem Moment endlich mein/dein eigenes Backbuch in deinen Händen – wie schön das ist!“ (Röpfl) nicht so dringend.

nem Spargel und Bergkäse oder den Brotauflauf mit Schnittlauchcreme bringt man auch als Durchschnittskoch zusammen, im Übrigen erfreue man sich an den schönen Abbildungen von Klaus Bauer. So ziemlich das Gegenteil von Mayers Buch

Es wird nicht alles schlechter. Wissenschaftliche Erkenntnisse über Ernährung bleiben der modernen Küche nicht verborgen. Alexander Herrmann ist Spitzenkoch und ein bekannt solider Kochbuchautor. Sein neues Buch „Weil’s einfach gesünder“ ist leitet er mit der Erzählung von seiner Oma ein, die Sauerkrautsaft zum Frühstück trank, abends wenig aß und Spaziergänge machte. Übersetzt: „fermentierte Produkte für gesunde Darmbakterien, reichlich Ballaststoffe und komplexe Kohlenhydrate, regelmäßige Bewegung, Low Carb, intermittierendes Fasten“. Die Oma wurde 104, und Herrmann legt ein aktualisiertes Werk mit durchwegs nachkochbaren Gerichten vor. Andreas Mayer kocht in Zell am See, im Schloss Prielau der Familie Porsche (für Böswillige: nicht am Falter beteiligt). In „Der Duft von Gemüse“ (Matthaes) zeigt er Spitzenküche, deutlich aufwendiger als Herrmann, obwohl er uns Nachkochbarkeit verspricht. Dafür sind die Rezepte seines Buchs durchwegs vegetarisch. Die vegane Gulaschsuppe, Zucchinischnitzel mit grü-

stellt Fabio Haebels „Gefundenes Fressen“ (Brandstätter) dar. Haebel, Restaurantbetreiber in Hamburg und Fernsehkoch, macht sich mit Fotograf und Autor auf an den Strand und in die Natur, um Lebensmittel zu sammeln, zu fangen (Fische) und zuzubereiten. Gewollt rauer Charme, gewollt anspruchsloses Vergnügen. Anregungen wie frische Ahornpfannkuchen (Blätter und Blüten zum Frühlingsbeginn) gibt’s genug. Nicht mehr und nicht weniger als ein Standardwerk hingegen ist „Wildkräuter – Bestimmen, Sammeln, Zubereiten“ (Becker Joest Volk) von Martina Merz. Auch sie ist Bloggerin, natürlich, Inhaberin einer Designagentur mit Schwerpunkt Biolebensmittel und bezeichnet sich selbst als leidenschaftliche Sammlerin. Man glaubt es ihr nach diesem Buch – es bietet alles, was man zum Finden von Kräutern braucht, von Informationen über Standorte, Bodenbeschaffenheit bis zu Warnungen vor Giftpflanzen. Bei jeder Pflanze helfen lexikalisch genaue Abbildungen und Tipps zum Sammeln und zur Verwendung sowie kalendarische Hinweise. Die Rezepte sind eher brav, aber auch hier findet man Anregungen: Kräuterspätzle, Wildkräuteromelett. Ja, auch karamellisierte Löwenzahnknospen. Insgesamt ein Werk von monumentaler Brauchbarkeit. Wenn wir bei den Monumenten sind: Ein Autorenteam um Nathan Myhrvold, einem ehemaligen Microsoft-Cheftechniker, hat sich in der Reihe Modernist Cuisine Kochthemen auf wirklich umfassende Art gewidmet. Nun kommt das Thema „Modernist Pizza“. Wie gewohnt unglaublich gründlich recherchiert, mit Besuchen bei allen relevanten Pizzamachern, mit einfach ALLEM, was es über Pizza zu wissen gibt, Teig, Belag, Geschichte, Kultur – sauteuer, in vier Bänden im Schuber, aber es wirkt. Mercedes Lauenstein, eine aus der Süddeutschen Zeitung bekannte Autorin, hat mit dem Fotografen Juri Gottschall das Onlinemagazin Splendido gegründet, im Geist von Slow Food, Demeter und Bio-Produzenten. Nun legt sie bei Dumont das gleichnamige Buch vor. Man glaubt es kaum, aber immer wieder gelingt es, der schlanksten al-

Alexander Herrmann: Weil’s einfach gesünder ist. Dorling Kindersley, 224 S., € 25,70

Fabio Haebel: Gefundenes Fressen. Brandstätter, 240 S., € 35,– Erscheint am 28.3.

Andreas Mayer: Der Duft von Gemüse. Matthaes, 240 S., € 51,30

ler Küchen, der italienischen, neue Aspekte abzugewinnen. Hier einen unaufdringlich minimalistischen. Wunderbar. Selbst bei Spaghetti mit Salbei und Butter kann man noch etwas lernen. Zwar schon etwas älter, aber bei unserer letzten Kochbuchschau durchgerutscht ist „La Pasticceria Italiana“ von Martina Tribioli (Christian Verlag). Ein moderner Klassiker, den wir nicht unempfohlen lassen möchten. Tribioli, die unter anderem bei Alain Ducasse lernte, führt uns durch das gesamte Spektrum italienischer Süßspeisen, die sie nicht verkompliziert und in manchem neu akzentuiert. Auch Salziges kommt vor: Haselnuss-Tartelettes mit Sardellen und Ricotta oder Tartelettes mit Makrele, Erbsen und Minze klingen schon gut. Slow-Food-empfohlen.

Mercedes Lauenstein: Splendido. Dumont, 256 S., € 30,– Erscheint am 12.4.

Zwei österreichische Werke: Der Strudel ist

Martina Merz: Wildkräuter – Bestimmen, Sammeln, Zubereiten. Becker Joest Volk, 288 S., € 30,80

Nathan Myhrvold, Francisco Migoya: Modernist Pizza. Phaidon, 4 Bände, € 375,–

Martina Tribioli: La Pasticceria Italiana. Christian, 288 S., € 30,90

das Sinnbild Österreichs – in die Länge gezogen, kantenlos, allumfassend. Bei Bedarf süß, gemüsig, fleischig, auch als Suppeneinlage. In Ingrid Pernkopfs und Renate Wagner-Wittulas „Strudelei“ (Pichler, überarbeitete Neuauflage) erfährt man alles, was man strudelmäßig wissen muss. – „Das österreichische Ei-Kochbuch“ des steirischen Food-Weisen Taliman Sluga bietet eine gar nicht österreichische Universalgeschichte des Eis und Rezepte, die eher der Hausmannsseite der Kost zuneigen. Zum Schluss zwei klassische Spitzenköche. Christian Rach, in Hamburg tätig, nimmt uns in „Geschmack pur“ (Gräfe und Unzer) mit auf die Stationen seines Kochlebens, die ihn auch ins Wiener Korso (des nicht genannten Reinhard Gerer) führten. Pro Lebensabschnitt gibt’s die passenden Rezepte: vom Croque Monsieur des Studenten über Anspruchsvolles aus Lokalen, in denen Rach kocht(e), bis sich der Kreis bei ihm zuhause schließt, mit einer Quiche. Auch Johannes King hat eine Wiener Station im Lebenslauf, die Kurkonditorei Oberlaa. In seinem Lokal auf Sylt erkochte er zwei Michelin-Sterne; heuer zog er sich aus der Küche zurück und betreibt einen Biobauernhof mit Lebensmittelhandel. In „King kocht“ bilanziert er mit Rezepten. Die sind komplex, selbst bei einfachem Anschein: Salzkartoffel, Wilder Spargel, Ziegenbutter-Hollandaise beansprucht etwa 25 Zutaten, aber die Anrichteidee ist spektakulär und das Resultat überzeugt. Für Ästheten und Ambitionierte! AR MIN THURNHER

Ingrid Pernkopf, Renate Wagner-Wittula: Strudelei. Pichler, 224 S., € 28,–

Christian Rach: Geschmack pur. Gräfe und Unzer, 168 S., € 26,90


FALTER 11∕22

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