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Orhan Pamuk über „Die Nächte der Pest“

Sherlock Holmes auf Rohypnol

Orhan Pamuk arrangiert historische Fakten und Fiktionen, um die politische Dimension einer Pestpandemie zu erörtern

Mit Adjektiven wie „brandaktuell“ oder „visionär“ ist die Kritik schnell bei der Hand, wenn sich in der Literatur dargestellte Ereignisse tri ig mit realer Gegenwart in Beziehung setzen lassen. Nachdem Orhan Pamuk seinen jüngsten Roman bereits 2016 begonnen hatte, scheidet Corona als Anlass und Inspirationsquelle für „Die Nächte der Pest“ allerdings aus.

Die Pandemie, die der Literaturnobelpreisträger von 2006 darin beschreibt, ist historisch und geografisch präzise verortet: Sie bricht im April des Jahres 1901 auf der Mittelmeerinsel Minger aus, die zu diesem Zeitpunkt (noch) Teil des Osmanischen Reiches ist und gerade hohen Besuch hat. Prinzessin Pakize Sultan, Nichte des über 30 Jahre regierenden Abdülhamit II., ist mit ihrem frisch angetrauten Gatten, einem erfolgreichen Quarantänearzt, eigentlich unterwegs nach China; durch den zunächst vertuschten, bald aber nicht mehr zu leugnenden Ausbruch der Pest, der die Dienste ihres Ehemannes erforderlich macht, wird sie allerdings zu einem längeren Zwischenstopp auf Minger genötigt.

Für „Die Nächte der Pest“ ist Pakize vor allem als Quelle von Bedeutung, denn das meiste, was in diesem Hybrid aus historischem Roman und Geschichtsbuch von einer zunächst obskuren, im Laufe der Erzählung aber klare biografische Konturen gewinnenden Historikerin – spoiler alert: es handelt sich um die Urenkelin von Pakize – referiert wird, basiert auf den offenbar sehr detailfreudigen Briefen, die diese über viele Jahre an ihre ältere Schwester Hadice geschrieben hat.

Wer an dieser Stelle stutzig wird – als letzte Pestepidemie Europas galt bislang jene, die 1771 in Moskau ausbrach – liegt nicht falsch. Das historische Setting um das Dahinsiechen des „Kranken Mannes am Bosporus“, als welcher das Osmanische Reich von Zar Nikolaus I. apostrophiert wurde, bildet den authentischen historischen Rahmen. In diesen hat der Autor freilich auch zahlreiche fiktive Figuren gesetzt. So ist etwa Pakize – im Unterschied zu Hadice – frei erfunden, und auch die Insel Minger mit ihrer Hafenstadt Arkaz, deren Topografie akribisch beschrieben und sogar mit einer liebevoll gezeichneten Karte belegt wird, existieren nur in Pamuks Roman. Sie liegt in etwa dort, wo sich in der wirklichen Welt die Insel Karpathos befindet. Wiederum verbürgt ist, dass Sultan Abdülhamit, ein Vertreter dessen, „was wir heute den ,politischen Islam‘ nennen“, ein großer Krimi-Fan und Verehrer von Conan Doyle war. Und dessen Sherlock Holmes steht im Roman, der dank der baldigen Ermordung des Generalinspektors für Gesundheitswesen auch über einen Crime-Plot verfügt, für eine moderne, deduktive und auf Indizien beruhende Beweisführung, die Abdülhamit im genannten Fall statt Prügel und Folter angewandt wissen möchte. Weit wird man ohne die berüchtigte Bastonade freilich nicht kommen, denn wie der Gouverneur von Minger anmerkt: „Europäische Methoden schlagen bei uns nicht immer an!“

In Daniel Defoes fingiertem Tagebuch eines Sattlers, „Die Pest in London“, das 1722 erscheint und als authentischer Bericht über „The Great Plague“ von 1665 ausgegeben wird, findet sich ein Seitenhieb auf den „türkischen Prädestinarismus“; Muslimen wurde nachsagt, die Pest als von Gott verhängtes Fatum hinzunehmen – eine Mentalität, die die Durchsetzung obrigkeitlich verfügter Quarantäne naturgemäß nicht eben erleichtert. 1901 ist man nach der bahnbrechenden Entdeckung des pestverursachenden Bakteriums und der Infektionskette Ratte-Floh-Mensch durch den Schweizer Arzt Alexandre Yersin im Jahr 1894 zwar einen bedeutenden Schritt weitergekommen, hat aber – vor der Entwicklung von Antibiotika – in der Bekämpfung der Krankheit kaum andere Mittel an der Hand als Separierung, Wegsperrung und Isolation.

Auf Minger, wo die Pest durch Mekka-Pilger eingeschleppt worden sein soll, finden sich Maßnahmengegner vor allem, aber nicht nur, auf muslimischer Seite; auch unter den griechischen Geschä sleuten gibt es solche, die sich den Anordnungen zu entziehen trachten.

Gut die Häl e der Bevölkerung und vor allem die ärmere und weniger gebildete Schicht ist muslimisch. Wie diese Gegensätze und die Machtansprüche diverser imperialer, religiöser, lokaler Instanzen und eines blühenden Bandenwesens die Pandemiepolitik beeinflussen, unterlaufen oder als Vorwand für ganz andere Ziele nutzen, ist ein ebenso komplexes wie aufregendes Thema. Leider wird es auf den knapp 700 Seiten einigermaßen grandios vergurkt. Das liegt nicht nur daran, dass der Roman

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Dass Pamuk wegen Verunglimpfung Atatürks angezeigt wurde, ist das eine; dass man o nicht weiß, wo die Ironie au ört und die unfreiwillige Selbstparodie anfängt, das andere

Orhan Pamuk: Die Nächte der Pest. Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser, 694 S., € 30,90

„seine Längen“ hat, wie selbst wohlgesonnene Rezensenten einräumen mussten – tatsächlich entspricht das Tempo etwa jenem einer altersschwachen Schildkröte auf einer frischgeteerten Straße –, sondern dass an diesem eigentlich so gut wie gar nichts funktioniert.

Fraglich ist einmal schon, was genau die Delegation der Erzählung an die Historikerin/ Urenkelin leistet, die sich auf den letzten 50 Seiten aus der Gegenwart des Jahres 2016 in eigener Sache zu Wort meldet, davor aber immer wieder mit betulichen, banalen oder unsinnigen Zwischenbemerkungen — „So lässt sich mit geradezu historischer Exaktheit behaupten, dass die beiden glückselig miteinander schliefen“ – nervt. Ein klassischer auktorialer Erzähler hätte nicht nur den Widerspruch bereinigt, dass ständig von Dingen berichtet wird, die die Doktorandin aus Cambridge unmöglich wissen kann, er hätte auch verhindert, dass die nötige historische Basisinformationen in zugleich langatmige und hölzerne Dialoge gepackt werden, die nach schlechtem Kinderuni-Feature klingen: „,Hinter Krankheiten wie Cholera, Gelbfieber oder Lepra stecken natürlich Keime und Bakterien‘, sagte er. ,Zur Eindämmung einer Seuche genügt allerdings nicht die Bakteriologie allein, sondern die Briten haben eine eigene Seuchenkunde erfunden, die sogenannte Epidemiologie.‘“

Zwischen schwülstigem Orientalismuskitsch mit viel Mondenschein und Du nach Orangen, Geißblatt, Rosenwasser und Lysoform und einer zum Teil haltlos überzogenen Politsatire mag sich der Roman nicht entscheiden. Dass Pamuk wegen der Passagen, in denen – einsamer Höhepunkt seines Romans – General Kâmil unter bizarr-blutigen Umständen die Unabhängigkeit der Insel deklariert („Minger den Mingerern!“) in Erdoğan-Land wegen Verunglimpfung Atatürks angezeigt wurde, ist das eine; dass man in vielen Fällen nicht weiß, wo die Ironie au ört und die unfreiwillige Selbstparodie anfängt, das andere.

Die in der SZ als „glänzend“ ausgewiesene Übersetzung trübt das ohnedies begrenzte Lektürevergnügen noch zusätzlich. Sie strotzt vor falschen Tempora, Modi, Präpositionen und Pronomen, erratischen Wortstellungen und schiefen Bildern.

Wenn Menschen von einem Gewi er „erfasst“ werden, jemand unter „enger Beobachtung“ steht oder sich „missliebig“ macht; wenn Läden „aufstanden“, „seltsame Stimmungen im Umlauf sind“, in den Gefängniszellen „lose Zustände“ herrschen, der Staat „die Lage in der Hand“ hat, „Zerrbilder an der Geschichte mitschmieden“ oder von der „aktuellen Verbreitung des Osmanischen Reiches“ (statt von dessen „Ausdehnung“) die Rede ist, fragt man sich schon, in welche Zielsprache hier aus dem Türkischen übersetzt wurde.

Nicht allen Unfug wird man indes der Übelsetzung allein anlasten können: „Er war ständig darauf gefasst, jemandem zu begegnen, doch die Nacht schien ein dunkler zweidimensionaler Raum zu sein.“ Ja, gute Nacht auch!