Die Beste Zeit Nr. 22 2013

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begabt, adrett und verfault gleichzeitig zu wirken, am Fernsehschirm noch nach Fäulnis zu riechen, und wenn etwas, das nicht mehr da ist, einfach dadurch, dass es nicht mehr da ist, immer stärker wird, also ein durch Nichtigkeit gekräftigtes Dasein führt, so finde ich, ist das ein Spielchen, ein Vorgang, ein Happening, das entschieden und schon viel zu lange zu weit geht – und es wird nicht geschossen. Unbegrenzt ist die Geduld der deutschen Gesellschaft, die sich offenbar immer noch in der Einübung jenes Stadiums befindet, das mit fünf nach Zwölf am besten zu bezeichnen ist. Sie, von der wir hier sprechen, kann nicht staatliche Freiheit und Ordnung ersetzen, sie kann nicht, selbst wenn sie Fäulnis als Material wählt, die Verfaulung aufhalten – das ist die Krise der Literatur, des Kabaretts, der Malerei, der Wuppertaler Schauspielhaus, gesehen von der Friedrich-Engels-Allee

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Bildhauerei. Das, wie ich sagte, schon krankhafte Interesse der Gesellschaft für sie entsteht vielleicht aus dem Wunsch, sich selbst zu finden; und sie findet sich selbst, findet: Unfaßbarkeit und Fassungslosigkeit. Als die, die wir hier im Augenblick versammelt sind, sollten wir uns klar darüber sein: Wer mit ihr – ich nenne sie noch einmal beim Namen –, der Kunst, zu tun hat, braucht keinen Staat. Ich brauche keinen, aber Sie brauchen ihn, und sie kann Ihnen den Staat nicht ersetzen. Sie ist frei, sie ordnet Material, und sie ist ein drittes: untröstlich – es würde mich zu weit führen, wollte ich, was hier fällig wäre, eine umfassende Analyse aller Irrtümer, aller Mißverständnisse, allen Unheils geben, das durch die Verwechslung von trostlos und untröstlich entstanden ist; trostlos ist sie nie, aber immer untröstlich – das ist auch nur eins der unzähligen Synonyme für Poesie: frei, geordnet, untröstlich, eine geheimnisvolle Trinität, die nicht

aufgebrochen werden kann – es kann sich nicht einer nur das eine oder das andere herausnehmen, was der Staat, die Kirchen, die Gesellschaft so gern tun, wenn sie einordnen wollen: freie Ordnung, geordnete Untröstlichkeit, untröstliche Freiheit. Das Fürchterlichste: in der Untröstlichkeit der Poesie verbirgt sich ein gewisser Trost. Immer wieder und immer wieder vergebens greift sie mit diesem Dreizack in den unendlichen Ozean der Vergänglichkeit, ihm einen Fetzen zu entreißen, der dauern könnte. Und da wir hier unter uns, in Gesellschaft miteinander sind, Staatenlose, die sich ganz nett amüsieren, muß ich rasch, um neues Mißverständnis auszuschließen, erklären: nicht, dass sie Dauer habe, ist für den, der sie macht, wichtig – wichtig, dass etwas, irgend etwas dauern könnte auf dieser Erde, denn sie ist ganz und gar von dieser Erde; ob die Liebe, ja die Liebe, Schmerz, Dunkelheit, Licht dauern könnte – lauter Gegenstände,


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