Die Beste Zeit Nr. 33

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DIE BESTE ZEIT Das Magazin für Lebensart

Ausgabe 33, 2015 - 3,50 Euro

Parsifal – neu erzählt Premiere im Wuppertaler Opernhaus

Ein Theater flieht vor sich selbst

Kunst in der Sparkasse

Die Wupper – Rezension von Anne Linsel

130. Ausstellung, von Peter Klassen

Am I still A House? Ausstellung Erwin Wurm im Skulpturenpark

Sammler aus Leidenschaft

Selbst ist die Frau

Der Sammler Barlach Heuer

Eine deutsche Schule für Brooklyn

Alltag und Bühne

Salome

RealSurreal

Ausstellung George Grosz von Rolf Jessewitsch Premierenkritik von Fritz Gerwinn

Meisterwerke der Foto-Moderne

ISSN 18695205

Wuppertal und Bergisches Land

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Editorial Liebe Leserinnen und Leser. „Kultur für alle“ hieß der Slogan, mit dem in den 1970er Jahren der damalige Frankfurter Kulturstadtrat und spätere Präsident des Goethe-Instituts Hilmar Hoffmann das Kulturverständnis der Bundesrepublik Deutschland aufrüttelte. Hinter diesen drei prägnanten und wichtigen Worten „Kultur für alle“ stehen verschiedene Grundannahmen: Dass Kultur keine elitäre Angelegenheit für wenige Betuchte sein darf, dass alle Menschen (egal welcher Schicht) von Kultur profitieren, dass Kultur ein Grundrecht ist, dass Kunst und Kultur einfach zum menschlichen Leben gehören. Sind diese Forderungen im inzwischen wiedervereinigten Deutschland nicht schon längst eingelöst? Ja und nein. Gerade eine Stadt wie Wuppertal zeigt in ihrer prekären finanziellen Situation, wie brüchig das Fundament sein kann, auf dem scheinbar sicher geglaubte Kulturinstitutionen stehen. Gleichzeitig zeigen die Vielfalt und Vielzahl der Angebote in allen kulturellen Sparten, wie unverzichtbar Kunst, Musik, Tanz, Theater, Literatur gerade in schwierigen Zeiten sind – DIE BESTE ZEIT ist selbst ein Beleg dafür. Doch es bleiben Fragen offen: Wer entscheidet, welche Kultur „für alle“ gelten soll? Und wer sind eigentlich „alle“? In einer immer mehr sich durch Herkunft und Lebensentwürfe diversifizierenden Gesellschaft lohnt es sich für die „Kultur-Macher“ genau hinzuschauen, wer eigentlich ihr Publikum ist und auf dessen Bedürfnisse zu reagieren. Ein Beispiel, das ein Tabuthema aufgreift und sich einer scheinbaren Randerscheinung widmet, findet in diesem Heft besondere Beachtung: Spezielle kulturelle Angebote für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Betrachtet man die demographische Entwicklung, so wird klar, dass dies für die traditionellen Kulturinstitute wie Oper, Konzertsaal oder Museum ein Thema wird: Ihre Haupt-Klientel ist in der Altersgruppe der über 60-Jährigen angesiedelt – und genau diese ist in besonderem Maße von Demenzerkrankungen betroffen (momentan 1,5 Millionen Menschen in Deutschland, Tendenz steigend). Wer eins und eins zusammenzählt, erkennt hier eine wichtige Zielgruppe – es wäre fatal zu glauben, man hätte als Kulturinstitution „die Alten“ ohnehin als Publikum sicher. Falsch ist auch die Annahme, dass solche Angebote eine wohltätige Einbahnstraße seien. Im Gegenteil: Der Erkenntnisgewinn für die Musiker, Künstler und Kulturvermittler ist enorm – denn eine Demenzerkrankung verlangt den Verzicht auf theoretischen Wortschwall, um zum eigentlichen Kern der Kunst zu kommen. So wird die Kommunikation zwischen Künstlern und Menschen mit Demenz eine intensivere – weil sie auf tieferen emotionalen Schichten beruht als im üblichen Kunst-, Musik- oder Theater-„Business“. Die ersten zarten Anfänge kultureller Teilhabe für Menschen mit Demenz sind in Wuppertal und im Bergischen Land gemacht. Nun gilt es, mit Hilfe weiterer Kulturschaffender und Institutionen neue sinnvolle Angebote zu entwickeln. Die Initiativen stehen allen Interessierten offen. Für Menschen mit Demenz und ihre Betreuer ist die Vision einer „Besten Zeit“ oft nicht mehr zu verwirklichen. Die bisher erprobten Konzepte zeigen aber, dass eine „gute Zeit“ oder eine „schöne Zeit“ durch Teilhabe an Kunst, Kultur und am öffentlichen Leben auch für diese Menschen möglich ist. Die Krankheit Demenz mag dabei nur als ein Modellfall für den Sinn und Nutzen von Inklusion stehen. Teilhabe an Kultur und am öffentlichen Leben bringt allen Beteiligten einen Gewinn. Ihre Elisabeth von Leliwa

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Saitenspiel:Meisterwerke in der Historischen Stadthalle Wuppertal So. 14.06.2015, 20.00 Uhr

Aimez-vous Brahms? Brahms: Streichquintett G-Dur op. 111 Leyendecker: Streichquartett Nr. 1 Brahms: Streichsextett B-Dur op. 18

Minguet Quartett Gérard Caussé, Viola Alexander Hülshoff, Violoncello

VVK: KulturKarte Tel. 02 02 .563 76 66 Veranstalter: Historische Stadthalle Wuppertal GmbH

Die Konzertreihe „Saitenspiel“ wird ermöglicht mit freundlicher Unterstützung von Detlef Muthmann www.saitenspiele.eu

Impressum Die Beste Zeit erscheint in Wuppertal und im Bergischen Land Erscheinungsweise: alle zwei Monate Verlag HP Nacke Wuppertal - Die Beste Zeit Friedrich-Engels-Allee 122, 42285 Wuppertal Telefon 02 02 - 28 10 40, E-Mail: verlag@hpnackekg.de V. i. S. d. P.: HansPeter Nacke Ständige redaktionelle Mitarbeit: Frank Becker, Thomas Hirsch, Matthias Dohmen, Susanne Schäfer, Karl-Heinz Krauskopf Darüber hinaus immer wieder Beiträge von: Marlene Baum, Heiner Bontrup, Antonia Dinnebier, Beate Eickhoff, Fritz Gerwinn, Klaus Göntzsche, Johannes Vesper und weiteren Autoren Erfüllungsort und Gerichtsstand: Wuppertal

Nachdruck - auch auszugsweise - von Beiträgen innerhalb der gesetzlichen Schutzfrist nur mit der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Gastbeiträge durch Autoren spiegeln nicht immer die Meinung des Verlages und der Herausgeber wider. Für den Inhalt dieser Beiträge zeichnen die jeweiligen Autoren verantwortlich. Kürzungen bzw. Textänderungen, sofern nicht sinnentstellend, liegen im Ermessen der Redaktion. Für unverlangt eingesandte Beiträge kann keine Gewähr übernommen werden. Trotz journalistischer Sorgfalt wird für Verzögerung, Irrtümer oder Unterlassungen keine Haftung übernommen. Bildnachweise/Textquellen sind unter den Beiträgen vermerkt. Titelfoto: Erwin Wurm, Fat House, 2003/2011, Ausstellung „Am I Still A House?“ im Skulpturenpark Waldfrieden Foto: Sueleyman Kayaalp

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Inhalt Ausgabe 33, 7. Jahrgang, Juni/Juli 2015 Parsifal – neu erzählt Wuppertaler Opernhaus von Fritz Gerwinn

Seite 6

Elsken Ein Buch von Ulla Schenkel von Hermann Schulz

Seite 52

Am I a house? Skulpturenpark Waldfrieden von Martha Gutschi

Seite 10

Kurzgeschichten von Karl Otto Mühl

Seite 54

Alltag und Bühne Ausstellung George Grosz in Solingen von Rolf Jessewitsch

Seite 14

Ein Weg aus freien Stücken von Safeta Obhodjas

Seite 57

Das Heben von Wortschätzen Ein Portrait von Karla Schneider von Marianne Ullmann

Seite 59

Ein Theater flieht vor sich selbst Die Wupper – von Else Lasker-Schüler Rezension von Anne Linsel

Seite 18

Reise ins Innere der Stadt Die Wupper – Lasker-Schülers Bühnenstück von Klaus Göntzsche

Seite 20

Wer mich findet von Marina Jenkner

Seite 62

Eine schöne Zeit erleben Institutionen öffnen für Demenzkranke von Elisabeth von Leliwa

Seite 24

Selbst ist die Frau Eine deutsche Schule für Brooklyn von Stefan Altevogt

Seite 63

Sammler aus Leidenschaft der Sammler Barlach Heuer von Karl-Heinz Krauskopf

Seite 27

RealSurreal Meisterwerke der Foto-Moderne von Rainer K. Wick

Seite 68

Salome Premiere in Wuppertal von Fritz Gerwinn

Seite 32

Hamlet „Hamlet light“, doch mit Tiefgang von Frank Becker

Seite 74

Fifth Avenue von Johannes Vesper

Seite 76

Seite 35

Klangart im Skulpturenpark Welten & Generationen kommen zusammen Skulpturenpark Waldfrieden

Seite 39

Paragraphenreiter

Seite 82

Ich erwarte die spanische Delegation! Tagebuch eines Wahnsinnigen von Frank Becker

Seite 40

Besuch auf der Hardt von Anne Fitsch

Seite 83

Runway die Mechanik einer Fashion Week von Stefan Altevogt

Seite 42

Mit spitzer Feder Cartoon-Zeichner André Poloczek von Frank Becker

Seite 85

Irgendwann Gedicht von Dorothea Müller Foto von Olaf Joachimsmeier

Seite 48

Neue Kunstbücher Geschichtsbücher, Buchgeschichten Buchvorstellungen

Seite 88

Wuppertaler Lesereihen Literatur auf dem Cronenberg von Marina Jenkner

Seite 50

Kulturnotizen Kulturveranstaltungen in der Region

Seite 93

Kunst in der Sparkasse 130. Ausstellung von Peter Klassen, Klaus Küster

Interessantes zum Thema Steuern und Recht von Susanne Schäfer

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Parsifal – neu erzählt Premierenbesuch am 13. März 2015 im Wuppertaler Opernhaus Musikalische Leitung Toshiyuki Kamioka Inszenierung Thilo Reinhardt Bühnenbild Harald Thor Kostüme Katharina Gault Lichtdesign Stefan Bolliger Video Sönke Feick Chor Jens Bingert Amfortas Thomas Gazheli (Cover: P. Paul) Titurel Martin Blasius Gurnemanz Thorsten Grümbel Parsifal Tilmann Unger Klingsor Andreas Daum Kundry Kathrin Göring Blumenmädchen Silja Schindler, Mine Yücel, Lucie Ceralová, Ralitsa Ralinova, Carla Hussong, Sandra Borgarts Gralsritter Andreas Beinhauer, Peter Paul Knappen Mine Yücel, Lucie Ceralová, Johannes Grau, Markus Murke Stimme aus der Höhe Lucie Ceralová linke Seite: Tilmann Unger, Thorsten Grümbel, Kathrin Göring

Freitag, 17 Uhr: ungewöhnliche Zeit für eine Premiere, aber Wagners Parsifal dauert ja auch, mit Pausen, fünf Stunden und erfordert kräftiges Sitzfleisch. Am Ende gab es viel Beifall, aber auch etliche Buhs. Und die ersten Kritiken waren nicht besonders positiv. Das ging von „Parsifal – ursprünglich von Wagner“ bis zu „Regie krachend gescheitert“. Ich selber fürchtete vorher eher weihevolles, aber langweiliges Standtheater und wurde positiv überrascht. Das Regiekonzept Thilo Reinhardts versah die Geschichte mit neuen Akzenten, klar und deutlich dargestellt, und holte das Weihefestspiel vom Podest in die Gegenwart. Die Frau aus der ersten Reihe, die schon nach drei Minuten des 1. Aktes wütend ihren Platz verließ, konnte sich die Gralsknappen und Gurnemanz wohl nur in sperrigen Rüstungen vorstellen. Tatsächlich schliefen sie aber in der Wuppertaler Inszenierung von Thilo Reinhardt in Trainingsanzügen auf dünnen Matten in der Gralsturnhalle, über sich einen Turner an Ringen, wurden dann von Gurnemanz geweckt und machten zu dessen Erzählungen Morgengymnastik, bevor sie zum Fechtunterricht übergingen. Auch in anderer Hinsicht bekamen Wagners Gralsritter, sonst Lichtgestalten in großen Höhen, heftigen Bodenkontakt. Zwar verlangen noch während des Vorspiels drei junge Männer Einlass in die Bruderschaft, doch zeigt sich bald, dass im

Alltag die hehren Regeln – vor allem Enthaltsamkeit und Solidarität – kaum noch eine Rolle spielen. Einer der Gralsritter bedrängt die am Waschbecken stehende Kundry von hinten und erhält umgehend eine kräftige Ohrfeige, und ein Pinup-Girl im Spind wird missbilligt, aber nicht bestraft. Aber als ein lautgebender Teddy entdeckt wird, empfängt dessen Besitzer etliche Degenhiebe von Gurnemanz selbst, unter dem verächtlichen Gelächter der übrigen Knappen. Auch als der von Parsifal getroffene Schwan im Todeskampf auf der Bühne liegt, von Entsetzen und Trauer keine Spur. Der sterbende Schwan wird ausgelacht und nachgeäfft. Offensichtlich ist er einer von mehreren auf der Statisterie, Thomas Gazheli

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Gralsburg in Gefangenschaft gehaltenen „heiligen“ Schwänen, von denen noch einige als traurige Gestalten auf der Bühne erscheinen. Auch die Könige der Gralsburg können dem Niedergang wenig entgegensetzen. Amfortas versucht, seine durch die Schmerzen verursachte Verwirrtheit durch besonders autoritäres Auftreten zu kompensieren, und Titurel ist von einer besonders heftigen Form von Altersstarrsinn befallen. Die Ritter selbst sind verheiratet und bringen zur Gralsenthüllung ihre Frauen mit, die aber zu Beginn des eigentlichen Rituals auf die Emporen verschwinden müssen. Das erinnerte mich zuerst an die Sitzordnung in Synagogen, die Gesellschaft wandelte sich dann aber immer mehr in eine Mischung aus Sekte und schlagender Verbindung (darauf weisen die Masken der Männer hin), wo Männer das Sagen haben und Frauen Beiwerk sind. In Reinhardts Inszenierung wird auch deutlich, warum der Gralskönig Amfortas den Gral nicht enthüllen will: die Enthüllung ist mit dem Opfer des eigenen Blutes verbunden. Er wird kreuzmäßig auf ein

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Gestell gefesselt, zwei neu aufgenommene Mitglieder müssen ihm mit Degen den Arm anritzen, bis Blut fließt. Dieses wird von zwei Blutkübelhaltern aufgefangen, das sind zwei Männer, die dies mit Gefäßen an einer langen Stange bewerkstelligen (diese beiden gekreuzten Geräte bilden auch das Wappen der Bruderschaft). Das aufgefangene Blut wird an die anwesenden Männer verteilt, danach wird der Gral, in diesem Fall eine Großsektflasche, heruntergelassen und kräftig getrunken. Die Verbindung von Blut und Alkohol weist wieder auf lebensbündische Verbindungen hin, aber auch die Nachbarschaft zu religiösen Ritualen ist unverkennbar. Im dritten Akt wird dieser Faden wieder aufgenommen. Die Gralsburg ist vollkommen demoliert, mitten in der Turnhalle gräbt Gurnemanz das Grab für Amfortas, der sterben will; im Hintergrund sieht man die Gräber verstorbener Ritter, auch das Titurels. Parsifal erscheint nicht allein, sondern als Führer einer versehrten und kampfmüden Truppe von UN-Blauhelmen, die sich gegenseitig stützen müssen. Schließlich findet ein Abendmahl auf zwei

nebeneinander gelegten Spinden statt, aber ein Abendmahl der Suchenden, Verletzten, Hungrigen, die auch hungrig bleiben, weil nicht genug da ist. In dieser Szene (und nicht am Schluss) findet sich auch der Erlösungsaspekt, weil an diesem alternativen Abendmahl auch ein Muslim, zwei Sünder, nämlich Amfortas und Klingsor, und mit Kundry sogar eine Frau(!) teilnehmen. Der Gegensatz zur Gralsritterschaft, die dann erscheint, könnte nicht größer sein. Diese ist inzwischen eine veritable Rentnerversammlung, die zuerst mit Rollatoren, auf Krücken und mit begleitenden Krankenschwestern Titurels Grab besucht, dann aber mit allen Mitteln nach dem Blutritual verlangt, zu dem sich Amfortas mehr oder weniger gezwungen noch einmal bereitgefunden hat. Dabei fällt schon mal einer aus dem Rollstuhl, und die Stangen mit den Blutkübeln dienen als Stütze. Amfortas wird von dem dann auftretenden Parsifal Statisterie, Herrenchor, Tilmann Unger (ganz links), Mine Yücel, Lucie Ceralová, Martin Blasius, Markus Murke, Johannes Grau, Thomas Gazheli (hinten Mitte)


gerettet. Dann passiert wieder Unerwartetes: Parsifal scheint erst dem Ritual folgen zu wollen, zerreißt dann aber Seiten aus der „Gralsbibel“, die bei jedem Ritual dabei sein muss, wirft sie dann in Titurels Sarg. Diesen setzt er dann per Brandbeschleuniger in Flammen und wirft auch noch den heiligen Speer hinterher. Befreiung aus Sektenzwängen? Über den Schluss soll man wohl nachdenken: Alle alten Ritter kriechen an die Rampe, blicken nach unten ins Orchester und hören verzückt zu. Was das bedeuten mag ? Vielleicht: Stück und Handlung sind problematisch, aber hört die Musik! Oder: Genießt die Kunst, aber macht daraus keine Religion ! Das steht natürlich quer zu Wagners eigenem Anspruch, und manchem konservativem Wagnerianer wird das blasphemisch erscheinen. Mir nicht. Die „neue Erzählung“ Reinhardts ist nachvollziehbar und konsequent, das Weihevolle – damit aber auch die Längen, weil auf der Bühne wenig passiert – ist dem Stück gründlich ausgetrieben, weil in dieser Version auf der Bühne viel passiert und auch passieren muss.

Weil die Regie neu ansetzt, habe ich sie besonders lange behandelt. Nachzutragen ist noch der Anfang des zweiten Aktes. Hier überlässt der Regisseur – nach der Cheerleader-Attacke der Blumenmädchen am Anfang – in der entscheidenden Szene Parsifal – Kundry eindeutig den Sängern das Feld, die hier auch ihre Qualitäten voll zeigen können. Tilmann Unger (Parsifal) und Kathrin Göring (Kundry) überzeugten ohne Fehl und Tadel in allen Anforderungen der Dramatik, mit vollen, satten Tönen auch in höchsten Höhen. Auch die anderen Sänger: Thomas Gazheli (Amfortas), Martin Blasius (Titurel), Thorsten Grümbel (Gurnemanz), Andreas Daum (Klingsor) und der Chor (Leitung Jens Bingert) gaben ihr Bestes. Auch das Orchester spielte hervorragend, ließ die Sänger klar hervortreten, nur Gurnemanz wurde in der Premiere ein paarmal überdeckt. Toshiyuki Kamioka (zwei Tage vor der Premiere für die „Goldene Stechpalme“ für seine Personalpolitik nominiert) leitete souverän, ließ sich aber erst beim Schlussbeifall sehen. Die Buhs für ihn galten wohl nicht seiner musikalischen Leistung. Klar, dass sich das Premierenpublikum

nicht einig war: Einige Buhs musste auch das Regieteam (außer Thilo Reinhardt Harald Thor (Bühnenbild), Katharina Gault (Kostüme) und Stephan Bolliger (Lichtdesign) ertragen, aber es gab auch jede Menge Bravos für eine mutige neue Deutung. Gern würde ich empfehlen, sich diese Inszenierung unbedingt anzusehen, um sich ein eigenes Bild zu machen. Das ginge aber ins Leere, weil das Stagione-Prinzip es mit sich bringt, dass beim Erscheinen dieses Artikels schon alle fünf Aufführungen stattgefunden haben. Schade, denn eine zeitliche Streckung der Aufführungen hätte vielleicht die offensichtlich überregionale Wahrnehmung noch weiter verstärken können. Fritz Gerwinn Fotos: Uwe Stratmann

Damenchor, Blumenmädchen, Tilmann Unger

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Am I a house? Ausstellung Erwin Wurm Am I Still A House? im Skulpturenpark Waldfrieden Bis zum 12. Juli 2015 präsentiert der Skulpturenpark Waldfrieden eine Auswahl von Werken des österreichischen Künstlers Erwin Wurm. Unter dem Titel „Am I Still A House?“ werden Skulpturen und Videoarbeiten Erwin Wurms gezeigt, die sich auf das Motiv des Hauses beziehen. Erwin Wurm, geboren 1954 in Bruck, Österreich, studierte zunächst an der Universität Mozarteum Salzburg, besuchte anschließend die Hochschule für angewandte Kunst und die Akademie der bildenden Künste in Wien. Von 2002 bis 2010 lehrte er als Professor für Bildhauerei/Plastik und Multimedia an der Universität für Angewandte Kunst Wien. 2013 wurde er mit dem Großen Österreichischen Staatspreis ausgezeichnet.

links: Erwin Wurm, Fat House, 2003/2011 Foto: Sueleyman Kayaalp unten: bei der Eröffnung am 11. April

Die Profanität der Objekte in Erwin Wurms Œuvre ist elementarer Grundbestandteil seines künstlerischen Schaffens. Die Spannbreite reicht hierbei von Gurken, über Würstchen und Autos bis zu Häusern unterschiedlichster Formgebung. Dies schafft primär Vertrauen beim Betrachter, denn die Gegenstände sind vermeintlich „bekannt“. Die Begegnungen der Materialien in Erwin Wurms Œuvre schaffen allerdings Zwischenräume und Anspielungen, die weit über die Beziehung zwischen Betrachter und Objekt hinausweisen. In der aristotelischen Tradition begriffen, liegt die „Substanz“ der Dinge in deren autonomen Wirklichkeit und weniger in den menschlichen Handlungen, die ihnen Sinn zuweisen oder ihnen ihre physikalischen Geheimnisse versuchen abzuringen. Das Objekt ist mehr als seine Korrelation zum Menschen. Und genau auf diese Spur führt Erwin Wurm seine Betrachter. Oberflächlich betrachtet scheint etwa „Docile“ der Inbegriff eines amerikanischen Farmhauses zu sein. Allerdings wurde das Dach eingedrückt. Tatsächlich sind hier die körperlichen Spuren des Künstlers zu sehen, der auf dem ursprünglichen Lehmmodell gesessen

hat. Hier entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Darstellung eines Gebäudetypus, der Deformation durch den Körper des Künstlers und der Materialität. Die glänzend weiße Ausführung der Skulptur in Acryl lässt keine Rückschlüsse auf das weiche Lehmmodell zu. Dadurch entsteht eine neue Form von Materialismus oder ein „spekulativer Realismus“, der akzeptiert, dass die Dinge nicht dem Menschen untergeordnet sind, sondern ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. Der Philosoph Markus Gabriel bringt es auf den Punkt: „Es gibt nicht eine Welt, sondern ganz viele verschiedene Perspektiven auf die Welt“. Damit kommt auch dem Material ein anderer Stellenwert zu. Erwin Wurm bezeichnet es als Aufgabe des Künstlers, der Welt Sinn zu entziehen. Das Haus, ob nun als „Fat House“, „Melting Houses“ oder eines aus der Reihe „Samurai und Zorro“ wird seiner primären Funktion entbunden – der Künstler entzieht ihm seinen Sinn. Aber trotzdem wird es nicht sinnlos, sondern vielmehr sinnfrei. Der Entzug der Bedeutung hat eine kathartische Wirkung. Erwin Wurm proklamiert: „Der Un-Sinn befreit, schafft Freiraum, bindet nicht ein in gesellschaft-

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liche Konventionen bzw. Forderungen, er ist anarchisch.“ Was sichtbar wird, ist ein „Aus-der-Form-Geraten“. Hier zerfließt und dort mutiert, was an Normierung dem Objekt zuvor inhärent gewesen ist. Normiert sind aber keineswegs nur die Häuser, sondern auch deren Bewohner und Benutzer. Die architektonischen Formen der Serie „Samurai und Zorro“ sind Reminiszenzen an reale Gebäudekomplexe, wie der Wiener „Narrenturm“ („Diverge“), die weltweit erste geschlossene Anstalt für psychisch Kranke, das Staatsgefängnis St. Quentin („Zorro“), das Hochsicherheitsgefängnis „Stammheim“ oder deutsche Bunkerarchitektur („Detain“). Gemeinsam ist diesen Häusern eine massive Reglementierung menschlichen Handelns und Verhaltens. Die Deformation der architektonischen Form wird zum Sinnbild der psychischen Verfasstheit. An der Oberfläche manifestiert sich, was ansonsten hinter Mauern verborgen bleibt. Die dysfunktionale Verformung wird zum Aufbegehren gegen Konformität und Normierung. Körperliche Spuren des Künstlers am Objekt offenbaren auch Erwin Wurms Auflehnungen gegen eine Kunstproduktion, in der Ateliers wie Manufakturwerkstätten fungieren. Er selbst berichtet: „Das hat mich genervt, weil ich sozusagen den Kontakt zu meinem Werk verloren habe. Ich versuche daher, das wieder zurückzuholen und alles selber zu machen oder zumindest großteils selber zu machen.“ Auch „Fat House“ ist aus der Form geraten. Der Inbegriff des kleinbürgerlichen Lebensstils – das Einfamilienhaus – hat anthropomorphe und adipöse Gestalt angenommen. Gesellschaftskritische Überlegungen zu Konsumverhalten und Maßlosigkeit drängen sich auf, und abermals wird das Objekt zum Träger unserer eigenen psychischen Verfasstheit. Weltanschauungen werden als Umstände der Zeithistorie und damit als subjektiv enttarnt. Fettleibigkeit etwa galt im Barock als Ausdruck des Wohlstandes und widerspricht aber heutzutage allen Schönheitsidealen. Die subversive Kraft des Absurden wird beim Betreten des Hauses spürbar. Eine Videoprojektion zeigt das „Fat House“ in einem inneren Monolog über seine eigene Existenz verstrickt. Auf einer Metaebene reflektiert es über die Möglichkeit der Transformation eines Alltagsgegenstandes

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in die Welt der Kunst. Das Haus stellt die Frage in den Raum: „Am I an art work more than a house?!“. Die Mutation eines industriell gefertigten Produkts zu einem Kunstwerk hat kunsthistorisch betrachtet eine nahezu hundertjährige Tradition. Das Werk weckt Reminiszenzen an das Readymade und seinen Geburtshelfer Marcel Duchamp. Mit dem Verweis auf historische Anknüpfungspunkte ist Erwin Wurms Œuvre aber keinesfalls Rechnung getragen. Das Objekt und damit das Kunstwerk emanzipieren sich. Und wenn ein einzelnes Werk schon Selbstreflexion in sich trägt, dann erscheint es auch nicht weiter wunderlich, dass die stetige Neuvermessung dessen, was Skulptur eigentlich sein kann, sich wie ein roter Faden durch das gesamte Œuvre Erwin Wurms zieht. Sein skulpturales Konzept hat mit der klassischen Kunstgattung nur noch wenig zu tun, denn er dehnt den Begriff und verleibt der Skulptur viele unterschiedliche Medien ein – vom Video, über die Fotographie, bis zur Performance. Den Entstehungsprozess einer Skulptur, also die Akkumulation oder Reduktion von Material, hat Erwin Wurm bereits in frühen Arbeiten auf den menschlichen Körper umgemünzt und in weiterer Folge die Zuoder Abnahme von Gewicht zur skulpturalen Praxis erklärt. Mit dem Anthropomorphismus eines Einfamilienhauses („Fat House“) verschmilzt die Idee des Körpers als Skulptur mit einem vertrauten und profanen Objekt. Das archetypische Einfamilienhaus scheint in eine unförmige, verfettete Gestalt mutiert zu sein. Das Gewöhnliche erscheint mit einem Mal fremdartig und offenbart dadurch die üblichen Erkennungsmuster. Damit ist jede Begegnung mit Erwin Wurms Werk auch eine Selbstbegegnung. Martha Gutschi Fotos Ausstellungseröffnung: Karl-Heinz Krauskopf Skulpturenpark Waldfrieden Hirschstraße 12, 42285 Wuppertal Tel. 0202 47898120, mail@skulpturenpark-waldfrieden.de, www.skulpturenparkwaldfrieden.de Öffnungszeiten: März bis Oktober: Die–So, 10–19 Uhr, November bis Februar: Fr–So, 10–17 Uhr.

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Alltag und Bühne Ausstellung George Grosz Berlin 1914-1931 Dadaist und Gesellschaftskritiker George Grosz bildet den Auftakt im jüngst gegründeten Zentrum für verfolgte Künste

Das Zentrum für verfolgte Künste im Kunstmuseum Solingen präsentiert für wenige Wochen selten gezeigte Exponate aus dem Nachlass George Grosz sowie aus Privatbesitz. Gastkurator Ralph Jentsch (Rom) setzt die Werke George Grosz` zu Alltag, Bühne und Buch der Jahre 1914 bis 1931 in einer einzigartigen Weise zueinander in Beziehung. Dem Besucher eröffnet sich durch die Gleichzeitigkeit der Entstehung dieser Werke ein neuer Blick auf das Gesamtwerk des großen Dadaisten Grosz.

George Grosz (1893 - 1959) ist vor allem wegen seiner gesellschaftskritischen Gemälde und Zeichnungen der Zwanziger Jahre einer der bedeutendsten Künstler seiner Zeit. Für ihn typische Sujets sind die Großstadtszenerien mit all ihren menschlichen Irrungen wie Standesdünkel, Prostitution, Verelendung, Gewalt bis hin zu Mord und Krieg. Er beschreibt Klassengegensätze und bezieht dabei klar Stellung. Er verspottet mit seinen Bildern die herrschenden Kreise der Weimarer Republik: Politik, Wirtschaft, Militär, Justiz und Klerus.

Probedruck des Titelblattes zur Mappe George Grosz, Die Räuber, 1922 Privatbesitz © Ralph Jentsch, Rom linke Seite: Kaufmann, 1927, Figurine zur Aufführung Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk, nach dem Roman von Jaroslav Hašek George Grosz Estate © Ralph Jentsch, Rom

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links: Tierfiguren, 1922, zu Yvan Goll, Methusalem oder der ewige Bürger George Grosz Estate © Ralph Jentsch, Rom unten: Seid Untertan der Obrigkeit, 1927, Hintergrundbild zur Aufführung Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk, nach dem Roman von Jaroslav Hašek George Grosz Estate © Ralph Jentsch, Rom

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Grosz war wesentlicher Teil der Berliner Dada-Szene. Unter anderem organisierte er 1920 die Erste Internationale DadaMesse in Berlin mit und stellte dort aus. 1920, 1922 und 1928 musste er sich vor Gericht für die Mappenwerke „Gott mit uns“, „Ecce Homo“ und „Hintergrund“ verantworten. Letztere erschien zur Aufführung „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“ und enthält die bekannte kleine Zeichnung „Maul halten und weiter dienen“, die auch als „Christus mit der Gasmaske“ bekannt wurde und zu einem der längsten Prozesse der Weimarer Republik führte. Alle diese Mappenwerke werden in der Ausstellung gezeigt.

Maul halten und weiter dienen, 1928, Hintergrundbild zur Aufführung Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk, nach dem Roman von Jaroslav Hašek Privatbesitz © Ralph Jentsch, Rom

Demjenigen, dem der Dadakünstler und Gesellschaftskritiker Grosz eine vertraute Größe ist, der mag verwundert sein angesichts der ausgestellten Bühnenbild- und Kostümentwürfe dieses Künstlers. Hier hat seine Phantasie Raum, hier zeigt sich in Aquarellen seine ausdrucksstarke Farbwahl. Der skandalumwitterte Grosz arbeitete dabei mit den Großen der Literatur- und Theaterwelt zusammen: für Stücke von Yvan Goll, Georg Kaiser, George Bernhard Shaw, Arnold Zweig und Jaroslav Hašek – und für legendäre Bühnen wie die Volksbühne und das Theater am Nollendorfplatz in Berlin von Erwin Piscator. 1932 erhielt Grosz einen Lehrauftrag an der New Yorker Art Students League. Am 12. Januar 1933 emigrierte er in die USA. Viele seiner Bilder wurden anschließend im Dritten Reich als „Entartete Kunst“ diffamiert.

Katalog: Zur Ausstellung erscheint ein Katalog, der 160 Seiten umfasst und für 25.– Euro im Museumsshop erhältlich ist. George Grosz. Alltag und Bühne – Berlin 1914-1931 Zentrum für verfolgte Künste im Kunstmuseum Solingen Wuppertaler Straße 160, 42653 Solingen Dauer bis 14. Juni 2015 Öffnungszeiten: Di – So 10 – 17 Uhr Eintritt: 6.- Euro / erm. 3.- Euro www.kunstmuseum-solingen.de

Rolf Jessewitsch

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Ein Theater flieht vor sich selbst

Anne Linsel schreibt seit über 30 Jahren Theaterkritik u. a. für Münchener Abendzeitung (AZ), Theater Heute, Süddeutsche Zeitung (SZ) , WDR und ZDF. Foto: Karl-Heinz Krauskopf

Eine Woche vor der Wuppertaler Premiere von Else Lasker-Schülers Schauspiel „Die Wupper“ wurden vom Theater „Tourguides“ gesucht. Denn die Inszenierung ist zu einem vierstündigen Stadtprojekt mutiert: „Die Wupper“ – eine „Reise ins Innere der Stadt – ein theatraler Gang begleitet von den Figuren Else Lasker-Schülers und ExpertInnen für Stadtgeschichte.“ In Bussen wurde das Theaterpublikum zu verschiedenen Aufführungsorten gefahren. Mehr oder weniger ausgewiesene Experten gaben während der Fahrten Auskunft über die Dichterin und die Geschichte der Stadt. Eingebunden in das Unternehmen „Wupper“ wurden u.a. Gastronomen, Vertreter der Spielorte und vom Stadtmarketing. Auch ein Politiker ist als Experte dabei: der kulturpolitische Sprecher der SPDLandtagsfraktion in NRW. Dahoam is dahoam, oder besser bergisch: Tu hus is tu hus. Das gilt auch in Wuppertal. Gespielt wurden die fünf Akte auf der Bühne des neuen kleinen Theaters, in einer denkmalgeschützten Bandfabrik aus dem 19. Jahrhundert, im Zoo, in der Kirche einer niederländischen Gemeinde. Den vierten Akt erlebte das Publikum im Bus als Hörstück. „Die Wupper“, eine „böse Arbeitermär“ ist das erste von drei Theaterstücken der Lyrikerin Else Lasker-Schüler (1869 in Elberfeld -heute Wuppertal- geboren, 1945 in Jerusalem gestorben). Es beschreibt den Niedergang einer Fabrikantenfamilie und einer Arbeiterfamilie im Wupper-Tal zur Zeit der Industrialisierung. Der große gesellschaftliche und soziale Umbruch hat die Textilstadt, Geburtsort von Friedrich Engels, besonders hart getroffen. Die politischen Konflikte und privaten Katastrophen im Frühkapitalismus und Frühsozialismus zeigt das Stück im Verfall aller Figuren, in der Zerstörung ihrer traditionellen sozialen Beziehungen.

Julia Reznik Foto: Christoph Sebastian

Gleich zu Beginn des Abends wurde durch das Vertauschen der beiden ersten Akte – und damit der Spielorte Bandfabrik und Bühne - offensichtlich, dass die Inszenierung (Regie: Stephan Müller) vor allem der Logistik des Projektes folgt: kein zeitraubendes Hin und Her der Busse. Textkürzungen und das zeitliche und räumliche

Auseinanderreißen des gesamten Stückes machten szenische Begründungen und Blicke ins Innere der Figuren ausgesprochen schwierig. Ihre Beziehungen, Sehnsüchte, Träume, sexuellen Begierden, ihr religiöser Eifer erschlossen sich kaum. Auch die Lieblingsfiguren der Dichterin, die drei herunter gekommenen Stadtstreicher, durften nur am Rande oder aus der Ferne agieren. Besucher, die das Stück nicht kennen, waren am Ende nicht klüger. Hochgestapelt auch die angekündigte „Reise ins Innere der Stadt“. Die Informationsflut während der Busfahrt (manchmal, wenn es um die Dichterin ging, auf niedrigstem Anekdotenniveau) verhinderte zusätzlich die Konzentration auf das Stück. Mit den (guten) Schauspielern – auch wenn keiner den bergischen Dialekt der Arbeiter im Stück beherrschte – hätte man in einem Theaterraum, wo immer er sich befindet, künstlerisch viel erreichen können. Das ist der Ort, wo Dichtung zum Leben erweckt wird. „Die Wupper“ hat in bedeutenden Theatern viele großartige Aufführungen mit unterschiedlichen Sichtweisen erlebt. Legendär die Hans Bauer-Inszenierung 1966 in Wuppertal zur Eröffnung des heute geschlossenen Schauspielhauses... „Theater soll Theater bleiben“, forderte einst die Dichterin. Das Stadtprojekt „Die Wupper“ aber ist eine Flucht vor dem Theater in eine Eventkultur. Tourismus statt Theater. Sie wolle mit diesem Projekt „die Stadt nach vorne bringen“, hatte Intendantin Susanne Abbrederis erklärt. Ob sie Theater will und kann, bleibt abzuwarten. Man darf aber gespannt auf die Nachbarstädte schauen: im Frühjahr 2016 wird Roberto Ciulli „Die Wupper“ inszenieren, eine Kooperation seines Mülheimer Theaters mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus. Anne Linsel aus: Süddeutsche Zeitung vom 2./3. April 2015

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Reise ins Innere der Stadt Die Wupper – Else Lasker-Schülers Bühnenstück aufgeführt an wechselnden Standorten in der Stadt Ob es irgendwo auf der großen weiten Welt während eines Theaterbesuches schon einmal Begegnungen mit lebenden Wölfen gegeben hat? Wenn nein, dann 2015 in Wuppertal.

links: v. l. Stefan Walz, Anuk Ens, Daniel F. Kamen, Uwe Dreysel, Tinka Fürst unten: Die drei Herumtreiber Thomas Braus, Miko Greza, Stefan Walz

Es war sehr ungewöhnliches „Theater“, als „Die Wupper“ von Else Lasker-Schüler (fast immer ausverkauft) von der Intendantin und Dramaturgin Susanne Abbrederis in den Spielplan genommen wurde. Ungewöhnlich war an dieser Inszenierung des Schweizer Regisseurs Stephan Müller (er nannte sich bescheiden Projektleiter) im Grunde alles von der Premiere am 28. März 2015 bis zur letzten Vorstellung am 25. April. Ungewöhnlich war auch die Ursache des Ausfalls am 29. März: der Orkan Niclas wütete über Wuppertal. Der Pausengang der Besucher aus der Musikmuschel im Wuppertaler Zoo zum neuen Restaurant Okavango gehörte nicht unmittelbar zur Aufführung. Im Wolfsgehege auf dem Weg dorthin wuchs schnell die Neugier der Tiere auf die Menschen in der Dunkelheit des Abends. Das Wolfsrudel begab sich an den trennenden Zaun und wirkte – fast weiß durch die Finsternis – beinahe schaurig. Die Wölfe aber waren nur ein Nebenef-

fekt dieser Abende mit dem Stück der großen, in Wuppertal geborenen Lyrikerin, das die Verantwortlichen von damals dem etwas spröden Bundespräsidenten Heinrich Lübke und seiner Gattin Wilhelmine im Jahre 1966 nicht als Premiere nach der bis fast heute verherrlichten Notlösung an der Elberfelder Bergstraße im neuen Schauspielhaus an der Kluse zumuten wollten. So ging es am 24. September 1966 mit dem Klassiker „Nathan der Weise“ von Lessing los, zu dem Hanna Jordan das Bühnenbild schuf. Eine der Hauptrollen als kurzberockter Tempelherr wurde von Matthias Habich gespielt, damals noch am Anfang seiner späteren, großen Karriere als Charakter-Darsteller. Er kam aus Baden-Baden nach Wuppertal und erinnerte sich später in der RundschauSerie „Sprungbrett Wuppertal“ an beson-ders viele Liebesaffären. Der aus Enkhausen im Sauerland stammende Heinrich Lübke mag spröde gewe-

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Konstantin Shklyar, Philippine Pachl, Julia Reznik (Hintergrund) sen sein, seine Gattin Wilhelmine war das überhaupt nicht. Eher das Gegenteil. Es gibt im wunderbaren (längst vergriffenen) Standardwerk „50 Jahre Theater Wuppertal“ von Siegfried Becker ein Foto, als die Lübkes nach der Premiere mit dem Ensemble zusammensitzen. Für diese „Wupper“ hat damals der große Teo Otto das Bühnenbild geschaffen. Seine Heimatstadt Remscheid hat ihr Theater nach ihm benannt. Mit Kaspar Brüninghaus, Horst-Dieter Sievers, Regine Lutz und Peter Danzeisen in den Hauptrollen war das vor fast 50 Jahren im Vergleich zu heute riesengroße Ensemble im bejubelten Einsatz. Zurück zur „Wupper“ von 2015. Wer immer auf die Idee mit der Reise „In das Innere der Stadt“ gekommen ist: es war begnadet und 22

jeder, der das erlebt hat, wird es nie vergessen. Es passiert doch schneller als geglaubt, dass eine Aufführung in Vergessenheit gerät, selbst wenn sie gefallen hat. Welcher normale Bürger dieser Stadt hat schon in der Konzertmuschel im Zoo gesessen? Es wäre zudem noch vor wenigen Jahren völlig ausgeschlossen gewesen, dort überhaupt so etwas Aufwändiges und im Grunde Zoofremdes zu bieten. Dazu hat der Zeitgeist-Zoodirektor Dr. Arne Lawrenz höchstpersönlich den Hörtest im Flamingo-Bereich vorgenommen. Wir zitieren dazu den Original-Text des Projektleiters Stephan Müller: „Einer der erhabenen Momente im Probenprozess zu „Die Wupper“ war ein Lärmtest im Zoo. Der Direktor wollte die Lärm-Emissionen unter szenischen Aktionen getestet wissen. Zu diesem Zweck stellte er sich unter

die mannshohen Tiere und lauschte nach den Folgen unseres rhythmischen Lärms. Nach einer Weile kehrte er mit beglücktem Gesicht zurück und gab allgemein Entwarnung durch: die Flamingos zeigten keinerlei Stressverhalten. Es konnte also weitergearbeitet werden…“ Vor der Fahrt zum Zoo war beim zweiten Akt die Bandweberei Büsgen in einem der vielen Hinterhöfe (Alleehaus) an der Friedrich-Engels-Allee der Schauplatz. Schwierige Zeiten waren darzustellen, die alten Maschinen im Backsteingebäude trugen die Narben von zwei Weltkriegen. Sehr real und nah rauschte die Schwebebahn an den matten Fenstern vorbei. In der alten Weberei tauchten die drei Herumtreiber mit den skurrilen Namen Der Pendelfrederech (Miko


„Die Wupper“, Wuppertaler Bühnen im Jahre 1966 Greza), Lange Anna (Stefan Walz) und Der gläserne Amadeus (Thomas Braus) auf. Beängstigend bis begnadet von der Maske verwandelt mit ebensolchen Kostümen (Siegfried Mayer). Wobei alle Schauspieler in mehreren Rollen beschäftigt waren und auch hier leistete die Maske Großes. Besonders bei der in Freiburg im Breisgau geborenen Anuk Ens von der damenhaften Fabrikbesitzerin Charlotte Sonntag noch im Theater am Engelsgarten bis zu Amanda Pius. Als der Fahrer einer der Busse auch die hinderlichen Frechparker im Zooviertel besiegt hatte und bei einem Halt am Rande der Wupper der nächste Akt aus dem Rekorder des Busses kam, wartete auf dem Gelände des 1851 eingerichteten Friedhofes der Niederländisch-reformierten

Gemeinde an der Katernberger Straße schon der Pastor Jan-Henry Wanink. Mit beruflich bedingter Routine und einem erkennbaren Unterhaltungstalent moderierte er das Finale an und betrieb dabei gezielt Wissensvermittlung über den Rosenfriedhof und die Entstehung der Gemeinde. Gänsehaut und Schaudern kam auf, wenn die Herumtreiber von draußen an die Fenster hämmerten. Der Pastor war nicht der einzige Experte, den Susanne Abbredis und ihr Team engagiert hatten. In den Blankenagel-Bussen überbrückten im Wechsel (alle mit erkennbarer Leidenschaft) Andreas Bialas, Dr. Uwe Eckardt, Hajo Jahn und Reiner Rhefus die Zeit mit Informationen über die Sozial- und Industrie-Geschichte Wuppertals und die von Else Lasker-Schüler.

Eigentlich schwere Kost mit tragischem Ende ist in dieser Inszenierung brillant vermittelt worden. Wenn sich – aus welchem Grunde auch immer – ein Autor mit der Wuppertaler Theatergeschichte beschäftigt: Er möge DIESER Wupper von 2015 einen angemessenen Platz einräumen. Klaus Göntzsche Fotos: Christoph Sebastian

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Eine schöne Zeit erleben Kulturinstitutionen öffnen sich für Menschen mit Demenz Demenz ist ein Thema, an dem auch der klassische Kulturbetrieb nicht mehr vorbeikommt. Etwa 1,5 Millionen Menschen mit Demenz leben aktuell in Deutschland, Tendenz steigend. Die demographische Entwicklung beschert Konzerthäusern und Museen – bei aller Anstrengung in der pädagogischen Arbeit für Kinder und Jugendliche – weiterhin ein Publikum, dessen Mehrheit in der Altersgruppe der über 60-Jährigen zu finden ist. Doch gerade diese Altersgruppe ist von Demenz in besonderem Maße betroffen. Auch im Zusammenspiel der Generationen wird das Thema immer drängender: Wie kann man Familien mit erkrankten Angehörigen weiterhin die Teilhabe an Kultur ermöglichen?

„Ein Gang zu Mutter und Kind“ nennt sich die Führung für Menschen mit Demenz im Museum KOLUMBA in Köln © M. Schönenborn / dementia+art Köln

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Diesen Herausforderungen stellen sich – mit Erfolg – die Projekte „Auf Flügeln der Musik“ und „dementia+art“, die in den vergangenen Jahren in Nordrhein-Westfalen etabliert wurden und nun auch Angebote für das Bergische Land entwickeln. Kulturelle Teilhabe im öffentlichen Raum – sowohl im Konzertsaal als auch im Museum – verändert das allgemeine, bedrückende Bild von der Krankheit: Für Menschen mit Demenz sind Lebensqualität, Wohlbefinden und schöne gemeinsame Erlebnisse mit ihren Wegbegleitern möglich. Und man möchte hinzufügen: auch unabdingbar, um die Erkrankung besser tragen zu können. Initiativen wie „Auf Flügeln der Musik“ und „dementia+art“ unterstützen Künstler, Musiker, Pädagogen, Vermittler und Kulturmanager darin, sinnvolle Formate und Angebote für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen zu schaffen und die nötigen Kontakte zu den relevanten Institutionen im Sozialund Pflegebereich herzustellen.

Auf Flügeln der Musik Musik eignet sich in besonderer Weise als Schlüssel zur inneren Welt von Menschen mit Demenz. Sie kann aufwecken, besänftigen oder trösten – und damit eine uralte, archaische Funktion übernehmen, wie sie sich etwa im Orpheus-Mythos ausdrückt. Musik wird heute sowohl in der Pflegewissenschaft als auch in der Neuropsychologie als „Königsweg“ in der Kommunikation mit (auch schwer) demenzkranken Menschen angesehen. Das Pilotprojekt „Auf Flügeln der Musik“ startete im April 2012, initiiert und durchgeführt vom Kompetenzzentrum „Kultur und Bildung im Alter“ im Institut für Bildung und Kultur (IBK kubia), das in Remscheid ansässig ist. Hochrangige Förderer waren der Bundesbeauftragte für Kultur und Medien, das Kuratorium Deutsche Altershilfe Köln sowie das Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport NRW. In Zusammenarbeit mit Institutionen wie dem WDR-


Sinfonieorchester Köln, den Duisburger Philharmonikern, der Deutschen Kammerakademie Neuss am Rhein und der Historischen Stadthalle Wuppertal wurden Konzertformate und Rahmenprogramme konzipiert, praktisch erprobt und evaluiert. Ziel des Projekts war es, Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen eine gemeinsame Teilhabe an Konzerten in einem (ideell und real) „geschützten Raum“ zu ermöglichen – und ihnen dadurch Anregungen und Stimulation jenseits des Alltags zu bieten. Ein Konzert an atmosphärisch eindrucksvollen Orten des Musiklebens kann für diese Menschen und ihre Wegbegleiter ein ganz besonderes Erlebnis sein und bedeutet zudem, trotz der Erkrankung weiter am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Im Juni 2014 wurde „Auf Flügeln der Musik“ von Staatsministerin Prof. Monika Grütters mit dem BKM-Preis für Kultur und Bildung ausgezeichnet. Die Historische Stadthalle Wuppertal zählte von Anfang an zu den teil-

nehmenden Partnern: So werden die sonntäglichen Konzerte der Kammermusik-Reihe „Saitenspiel“ zu erleichterten Konditionen für Menschen mit Demenz geöffnet. Eine persönliche Ansprechpartnerin steht für die Kartenbestellung, alle Fragen und während des Konzerts vor Ort zur Verfügung. Auch Musiker des WDR Sinfonieorchesters waren bereits mit einem speziell für Menschen mit Demenz konzipierten Konzert zu Gast im Mendelssohn Saal der Historischen Stadthalle. Im weiteren Umkreis bietet das Philharmonische Orchester Hagen begleitete Konzertbesuche an. dementia+art Im Museumsbereich ist die Stadt Köln, wo die von Jochen Schmauck-Langer geleitete Initiative „dementia+art“ zuhause ist, der deutschlandweite Vorreiter bei speziellen Führungen für Menschen mit Demenz. So kann man im Kölnischen Stadtmuseum das „alte Köln“ erleben, im Wallraff Richartz Museum ausgewählte Highlights der

Sammlung genauer betrachten und danach im Atelier kreativ tätig werden. Das Museum Ludwig stellt die Frage „Sprechen Sie Picasso?“, das Museum für Angewandte Kunst weckt mit einer Reise in die 1950er Jahre Erinnerungen. Kölns außergewöhnlichstes Museum KOLUMBA zelebriert „den schönen Schein“ mit einem Gang zu Mutter und Kind und zu einer goldenen Wand. In allen Angeboten geht es um (auf wenige Bilder konzentrierte) sinnliche Erlebnisse, zumeist auch durch musikalische Akzente unterstützt. Die kleinen Gruppen ermöglichen Gemeinsamkeit und Interaktion. „Kulturelle Angebote eignen sich mit ihren emotionsnahen Inhalten ganz besonders, um ,Inseln des Selbst‘ anzusteuern, Ressourcen zu stärken und kleine Lichtblicke zu ermöglichen. Oft sind es gerade auch die Angehörigen, die staunend auf die Gespräch vor Max Liebermanns Gemälde „Die Rasenbleiche“ im Wallraf-RichartzMuseum Köln mit Jochen Schmauck-Langer © M. Schönenborn / dementia+art Köln

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aktive Teilhabe ihres Menschen mit Demenz schauen und sich zugleich einmal in ihrer oft sehr belastenden Rolle zurücknehmen können“ berichtet Jochen Schmauck-Langer über seine eigenen Erfahrungen als Leiter solcher Führungen. Umgekehrt entdecken auch Senioren- und Pflegeeinrichtungen kulturelle Angebote als attraktiven neuen Schwerpunkt und integrieren ihn in ihr Pflege- und Betreuungskonzept. Überhaupt ist die enge Vernetzung und Zusammenarbeit von Fachleuten aus dem Kultur- und dem Demenzbereich das besondere Merkmal von „dementia+art“. Die Verankerung in beiden Bereichen ermöglicht es, biographie- und ressourcen-orientiert passgenaue Angebote für Menschen mit Demenz zu schaffen. Das Ziel ist es, dass Betroffene, Angehörige und Wegbegleiter „eine schöne Zeit erleben“ (so das Motto der Initiative). In einem nächsten Schritt überträgt „dementia+art“ das erfolgreiche Kölner Konzept (das auch zahlreiche Besucher aus dem Bergischen Land anzieht nun in andere Regionen und Städte. Im Bergischen Land sind die Kontakte zum Demenz-Servicezentrum geknüpft; eine erste Fachtagung im Kunstmuseum Solingen stieß auf nachhaltiges Inter-

esse. Als erstes Museum der Region wird ab Herbst 2015 das angesehene Städtische Kunstmuseum Villa Zanders in Bergisch Gladbach Führungen für Menschen mit Demenz anbieten, weitere Angebote sind in Vorbereitung. Interessierten Kulturinstitutionen des Bergischen Landes steht der Einstieg in das Netzwerk jederzeit offen. Resonanz Die Reaktionen der Besucher sind vielleicht das überzeugendste Argument für die Wichtigkeit dieser Angebote. So konnte die wissenschaftliche Evaluation der Pilotkonzerte von „Auf Flügeln der Musik“ überdurchschnittliche hohe Wohlbefindlichkeitswerte der Menschen mit Demenz nachweisen. Aber auch sozialpsychologische Aspekte sind – gerade für die Betreuenden – von enormer Bedeutung: „Es war für mich einfach sehr schön zu sehen, dass einige Eltern von ihren Kindern begleitet wurden. Und da hatte ich auf einmal das Gefühl, ich bin nicht alleine damit, für meine Mutter Nischen zu suchen, in denen sie Schönes erleben kann. Mir gar keine Gedanken machen zu müssen, was ich tue, wenn meine Mutter sich anders verhält, als es die Konvention in einem Konzertsaal vorgibt. Dann ist alles ganz ruhig ver-

laufen, und ich konnte mich der Musik hingeben, den wunderschönen sanften und belebenden Klängen, ich habe die Virtuosität der Musiker bewundert. Dass ich dabei die Nähe meiner Mutter spüren konnte, war ein ganz besonderer Moment.“ So berichtete eine pflegende Angehörige nach dem Besuch eines WDR-Kammerkonzerts für Menschen mit Demenz. Für professionell Pflegende sind die Praktikabilität und der Mehrwert der Angebote ein entscheidender Faktor. Aber auch hier überzeugt die Praxis. Das Feedback einer Mitarbeiterin des Sozial-Kulturellen Dienstes bei den Cellitinnen nach einem Besuch im Stadtmuseum Köln fasst die Anstrengungen, aber auch den Sinn der Begegnung von Demenz und Kunst prägnant in Worte: „Der Weg mit der KVB ist mühsam. Wir fragen uns, ob das Ziel es wert ist. Die Antwort erhalten wir von den Bewohnern: Nach der freundlichen Begrüßung im Museum entspannen sich die Gesichter, ein Gespräch kommt auf, die Führung beginnt. Eine alte Frau erwacht bald aus ihrer Versunkenheit. Der Rückweg erscheint allen sonderbar kurz und mühelos. Kultur bewegt.“ Elisabeth von Leliwa Angebote für Menschen mit Demenz – nächste Termine: Historische Stadthalle Wuppertal 14. 6. 2015, 20 Uhr: „Saitenspiel“ mit dem Minguet Quartett (Werke von Brahms u. a.) 27. 9. 2015, 18 Uhr: „Saitenspiel“ mit dem Goldmund Quartett (Werke von Mendelsohn, Mozart u. a.) http://saitenspiele.eu/auf-fluegeln-der-musik/ Philharmonisches Orchester Hagen Rathaus an der Volme (Ratssaal) Neujahrskonzert am 30. 1. 2016, 11 Uhr Anmeldung: www.alzheimergruppe-hagen.de Kunstmuseum Villa Zanders ab Herbst 2015 www.villa-zanders.de Allgemeine Informationen: www.dementia-und-art.de http://ibk-kubia.de/angebote/projekte/ auf-flügeln-der-musik/

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Sammler aus Leidenschaft Der Sammler Barlach Heuer – Verre Français der Manufaktur Schneider Vincent van Gogh (1853 – 1890) schrieb an seinen Freund Emile Bernard (1868 – 1941): „Möglich, dass diese großen Genies nur Narren sind und dass man, um grenzenlosen Glauben und grenzenlose Bewunderung für sie zu haben, ebenfalls närrisch sein muss.“

Bewunderer, Liebhaber, Sammler und Mäzen: Barlach Heuer mit einer Vase von Paul Nicolaus (1875-1952) die er 2010 dem Musée d´Arts Décoratifs de Paris schenkte

Wenn dem so ist, gehört Barlach Heuer zu dieser besonderen Spezies Mensch. Hat er doch – wie ein Besessener – über viele Jahre, mit Intention und fundiertem Wissen, vor allem aber mit der Akribie des genialen Connaisseurs, eine Sammlung von Schneider-Gläsern aufgebaut, die vorbehaltlos als einzigartig bezeichnet werden kann. Was bringt Barlach Heuer, einen seit über sechzig Jahren in Paris lebenden, 1930 in Elmshorn geborenen Künstler dazu, Glasobjekte einer Manufaktur zu sammeln, die in Vergessenheit zu geraten schien? Als der junge Barlach 1953 nach Frankreich auswandert, um in Paris als Künstler den Erfolg zu suchen, folgt er seiner späteren Frau Laurence, die er 1952 bei einer internationalen Studienreise nach Dänemark während Ausgrabungsarbeiten einer Wikinger-Garnison kennen und lieben lernte. Heuer, Patenkind von Christian Rohlfs, Emil Nolde und Ernst Barlach und in Ehrerbietung seiner Eltern zum letztgenannten mit dessen Namen

getauft, verlässt Deutschland auch, weil es ihm zu eng wurde und er hoffte, in Paris mit der Kunst den Unterhalt für sich, seine Frau und später die beiden Söhne zu verdienen. Trotz Anerkennung seiner Arbeiten werden seine Werke zu selten verkauft, um davon eine Familie zu ernähren. Seiner Kunst, das wird Barlach Heuer bald bewusst, fehlt es an dem oft beschworenen goldenen Boden. Regelmäßige Einkünfte bleiben daher aus. Zum Glück bewahrt das Gehalt seiner als Lehrerin tätigen Ehefrau die vierköpfige Familie vor größerer Not. Barlach Heuer ist neugierig, interessiert sich für alles was Kunst im weitesten Sinne betrifft. Seit der Ausstellung „Les Sources du XXième Siècle“, 1960 im Pariser Museum für moderne Kunst, durchstreift er immer wieder die Pariser Auktionshäuser, besucht die Flohmärkte und Antiquitätenhändler, studiert die großartigen Museen der Kunstmetropole und kommt unweigerlich mit Fachleuten und Künstlerpersönlichkeiten zusammen. Sie lernen Heuer schon bald sehr zu

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schätzen, hören auf seinen Rat. So war er mit der besonderen Gabe des untrüglichen Erkennens großartiger Arbeiten den Spezialisten in Handel und Wissenschaft ebenbürtig, wenn ihnen nicht gar oft voraus. Warum sich Heuer nicht den „großen“ Namen wie Lalique, Gallé oder etwa Daum zuwandte als er die Glaskunst des Art Nouveau und des Art Déco für sich entdeckte, sondern der Verreries Schneider seine volle Aufmerksamkeit schenkte, ja geradezu von ihrer Glaskunst fasziniert, als Sammler für immer infiziert wurde, erklärt er mit den Worten: „Ich war zu Beginn meiner Glassammelleidenschaft linke Seite: Barlach Heuer in mitten seiner Gläser: Ausstellungseröffnung im Musée de la Faience in Sarreguemines, 2012 Ausstellung in der Glashütte Gernheim, Petershagen 2015: Schneider-Schalen die in den Jahren zwischen 1918 und 1922 entstanden sind

völlig ahnungslos, wurde jedoch immer vom familiär geprägten Geschmack, meinem Instinkt für Nachhaltigkeit in der Kunst und deren Ausstrahlung fast schlafwandlerisch geführt. Zudem war für mich die anfangs bestehende Ablehnung der Manufaktur Schneider durch viele Sammler rehabilitierender Ansporn, auf deren Objekte erst recht mein Augenmerk zu lenken. Ohne wirklich Geld zu haben, aber mit dem Wunsch, Schönes erwerben zu wollen, konnte ich bald die ersten günstig angebotenen Glasvasen und Glasobjekte kaufen und mit Gewinn an zufriedene Kunden weitergeben.“ Aus diesen anfänglichen Geschäften entwickelte sich nach und nach nicht nur ein zunehmender Kundenkreis der Barlach Heuer vertraute, sondern auch eine immer größer werdende Gruppe von Antiquitätenhändlern, die ihm schließlich sehr kostbare Glaskunst aus der Epoche des Art Nouveau und Art Déco zugängig machte und ihn damit als Experten anerkannte. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Barlach Heuer der Initiator der Nostalgiewelle für diese Kunst

in Deutschland war; ebenso ist er einer der ersten Sammler von Schneider-Glas, weil er dessen überragende künstlerische Qualität mit klarem Blick erkannte. Im Laufe der Jahre sind unzählige Gläser durch seine Hände gegangen, um sie entweder von seinen Kunden als weitere Objekte ihren Glassammlungen hinzuzufügen oder eben seine eigene, langsam wachsende Sammlung zu bereichern. Für Barlach Heuer war es eines Tages selbstverständlich, seine umfangreich gewordene Sammlung, und hier besonders Gläser der Manufaktur Loetz, an Dr. Helmut Ricke, dem damaligen Direktor des Glasmuseums Hentrich in Düsseldorf, als Dauerleihgabe zu übergeben, wo sie 2003 als Sonderausstellung gezeigt wurde. Damit wurden seine außergewöhnlich schönen Gläser endlich einer großen Besucherzahl zugängig gemacht. Durch den Wechsel in der Direktion und Unstimmigkeiten wurde die Sammlung 2009 – bis auf wenige „große“ Stücke – an ihn zurückgegeben. Diese Objekte und die angefügte Sammlung von Laurence und Jean Pierre Serre, nicht weniger

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anspruchsvoll, ist heute mehr denn je gefragt, um in aufeinander folgenden Ausstellungen in verschiedenen europäischen Ländern eine der großartigsten Schneider-Glas-Sammlungen vielen Besuchern zugänglich zu machen. Betrachtet man die Exponate der von Barlach Heuer und dem Sammlerehepaar Laurence und Jean-Pierre zusammengestellten Ausstellung „Verreries Schneider“ die einen weitreichenden Überblick über die vorwiegend zwischen 1913 und 1938 produzierten Glasobjekte der Glashütte aus Epinay-sur-Seine gibt, so versteht man schnell warum Barlach Heuer vom Schneider-Glas so fasziniert ist. Farbigkeit, stilvolle Formgebung und die ausgewogenen Proportionen der kostbaren Vasen, Schalen, Zierpokale und Objekte ziehen unweigerlich in ihren Bann. Fraglos ist die mit über 300 Exponaten vorzüglich ausgestattete Ausstellung sowohl in Frankreich (Musée de la Faience in Sarreguemines – Musée du Verre in Conches), in Schweden (Glass Factory Boda in Glasbruk, Röhsska Museet in Göteborg), in Finnland (Suom Lasimuseo

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in Riihimaki) und zuletzt in Deutschland (Glashütte Gernsheim, Petershagen) ein wahrer Besuchermagnet. Dem Interessierten präsentiert sich an den genannten Ausstellungsorten ein strahlendes, buntes Feuerwerk aus allen möglichen Glasobjekten, vornehmlich des Art Déco. Der Betrachter versteht nach dem Ausstellungsbesuch warum Schneider-Gläser so schnell berühmt wurden. Sie sind das Resultat traditionsbedingten Handwerks, verbunden mit der Kraft der Künstler, Kompositionen zu schaffen, die das verinnerlichte Empfinden von Natur so unverwechselbar deutlich hervorzubringen vermochten. So ist es nicht verwunderlich, dass die noch bis zum 3. Mai in Gernsheim gezeigte Glassammlung vom 12. Juni bis zum 31. Dezember erneut in Frankreich (Musée des Arts Décoratifs, Hotel Lallemantin Bouges) zu sehen sein wird. Die Manufaktur Schneider wurde 1913 von den Brüdern Ernest (1877-1937) und Charles Schneider (1881-1953) in Epinay-sur-Seine, östlich von Paris, gegründet. Bevor Ernest Schneider jedoch den Schritt zur Selbständigkeit

wagte, war er als Entwerfer der Manufaktur Daum Frères in Nancy tätig. Es war denn auch in dieser aufblühenden Industriestadt Nancy wo 1901 der damals bereits berühmte Glasmacher Emile Gallé zusammen mit Louis Majorelle, JeanAntonin Daum und Eugène Vallin die „École de Nancy“ gründete, die er dann auch leitete. Vorbild dieser aus wirtschaftlichen Gründen zusammengekommenen Vereinigung aus Künstlern, Verlegern und Kritikern, war die britische „Arts and Crafts Movement“. Ernest Schneider schied 1911 aus der Firmenleitung der Glasmanufaktur Daum Frères aus, um einige Jahre später mit seinem jüngeren Bruder Charles, er war ein bei Daum Frères ausgebildeter Modelleur und Steinschneider, in Epinay-sur-Seine eine kleine, auf Gebrauchsglas spezialisierte Glashütte zu erwerben. Ihre Erfahrungen aus der Zeit bei Daum Frères nutzten Besucher bewundern ihre Leuchtkraft: 36,7 cm hohe Schneider-Vase mit herausgeätztem, blumigen Décor; Herstellungsjahr ca. 1922/1925


die beiden experimentierfreudigen Glaskünstler, um einzigartiges Kunstglas in Form von Vasen, Schalen oder Objekten zu schaffen. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten und die Verreries Schneider erwarben in kürzester Zeit einen zuvor nicht geahnten Bekanntheitsgrad. Immer bizarrere Konturen, ein außergewöhnlicher Formenreichtum, aufregende Farbkompositionen, ungewöhnliche Farbkombinationen und simplifizierte Décore, verbunden mit einer bestechend ausgeklügelten Fertigungstechnik machten sie zur profiliertesten und bald auch zur weltweit größten Glasmanufaktur des beginnenden 20. Jahrhunderts. Das bei den Brüdern Schneider hergestellte Kunstglas des Art Nouveau und des Art Déco war nicht nur bei den kunstinteressierten Bürgern in Europa begehrt, sondern wurde in den 20er Jahren in alle Welt exportiert. Der grandiose Erfolg nahm mit der Weltwirtschaftskrise ein jähes Ende. Die nur kurze Gesehen, geprüft und erworben: Barlach Heuer betrachtet den Neuerwerb, eine selten angebotene Schneider-Vase (ca.1928/1930)

Blütezeit war Folge des weltweit eingebrochenen Verkaufs edler Gläser und den sich daraus ergebenden unüberwindbaren Finanzierungsschwierigkeiten. Sie führten 1938 zum Konkurs des Unternehmens. Als Ergebnis akribischer Sammelleidenschaft und genauer Kenntnisse über die Entstehungsgeschichte der SchneiderGläser hat Barlach Heuer zusammen mit dem Ehepaar Serre ein wunderbares Kunstbuch verfasst. Es ist ein Geheimtipp für alle Freunde des Art Déco und Jugendstil Glas, die keine Möglichkeit hatten bzw. haben, eine der genannten Ausstellungen zu besuchen. Das Kunstbuch ist 2012 im Verlag „Édition Chose et Autres-Choses“ unter dem Titel „SCHNEIDER – Les Enfants d´une Oeuvre“ erschienen. Fast 300 großartige Fotografien der gesammelten Glasobjekte und eine umfassende Darstellung der Firmengeschichte machen das in französischer und deutscher Sprache gedruckte Buch zum echten Highlight unter den Glas-Kunstbüchern. Auch hier wird die Leidenschaft deutlich, mit der Barlach Heuer ein Leben lang – und er tut es heu-

te noch – Verre Français der Manufaktur Schneider wie auch seltene Arbeiten anderer Provenienz sammelt. Seine ganz besondere Passion gilt jedoch dem entstehenden Glasmuseum in Conches-en-Ouche (Haute-Normandie), dem er bereits 40 besonders schöne Objekte aus seiner Sammlung geschenkt hat, um sie für immer einer breiten Öffentlichkeit zugängig zu machen. Als Anerkennung für sein stillschweigend praktiziertes Mäzenatentum ernannte der französische Staat Barlach Heuer 2013 zum „Chevalier de l´Ordre des Arts et des Lettres“. Die französische Kulturministerin Aurélie Filippetti ließ es sich nicht nehmen, ihm den Orden in einem Festakt im Pariser Senat zu verleihen; eine mit Fug und Recht verdiente Ehrerbietung. Text und Fotografie Karl-Heinz Krauskopf

In Harmonie mit der Natur: eine 1924/25 in der Manufaktur Schneider geschaffene Vase

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Salome Premiere in Wuppertal Nach dem ambitiösen und deshalb umstrittenen Parsifal feierte das Wuppertaler Publikum die neue „Salome“ mit einhelligem Beifall. Nicht nur in Hinsicht auf die musikalische Umsetzung kam das Publikum auf seine Kosten, auch das Regieteam erhielt in der Premiere viel Applaus. Anders als der Regisseur des Wuppertaler Parsifals, Thilo Reinhard, in seiner Berliner „Salome“ , betonte Michiel Dijkema den vorgegebenen Spannungsbogen und legte besonderen Wert auf genaue und nachvollziehbare Personenführung, bezog aber hierbei auch neue Sichtweisen im Detail ein.

unten: Emilio Pons, Cristina Baggio, Thomas Gazheli linke Seite: Statist, Michael Hendrick, Dubravka Musovic, Cristina Baggio

In überwältigendem Blau zeigt sich die Bühne beim Öffnen des Vorhanges, rechts darüber der Mond. Links unten ein schwarzes Loch mit beachtlichem Tiefgang und mühsamem Einstieg. Dazu zwei Treppen, eine führt über einen Steg in den Festsaal. In diesem Ambiente spielt sich alles ab. Dass der Hauptmann Narraboth und der Page ein Paar sind, wird von Anfang an betont, umso stärker erscheint deshalb Narraboths Hinwendung zu Salome, die offenbar von seiner Verliebtheit weiß und sie auch durch körperlichen Kontakt ausnutzt. In ebensolcher Weise bedrängt sie auch den Propheten, der dies mehrfach geschehen lässt, wohl auch genießt, bevor er sich dann doch wieder besinnt und sich fast gewaltsam von ihr losreißt. Die beiden Soldaten sind in dieser Szene hilflos, wissen nicht, ob sie eingreifen sollen; einerseits fürchten sie die Stärke Jochanaans, andererseits die erotische Aggressivität Salomes. Narraboths Selbstmord interessiert Salome wenig; Nachdem Jochanaan sie zurückgewiesen hat und in sein Gefängnis zurückgekehrt ist, ist sie nicht nur enttäuscht, sondern verzweifelt. Gleichzeitig scheint sie einen Ent-

wicklungssprung zu machen vom mit der Liebe spielenden jungen Mädchen, das auch sonst alles bekommen hat, was es wollte, zur abgewiesenen Frau. Auf die Idee, Jochanaan den Kopf abschlagen zu lassen, um ihn doch zu erreichen, kommt sie wohl erst, als sie in das Blut des toten Narraboth fasst. Das verändert auch ihr Verhältnis zu ihrem Stiefvater Herodes, dessen Avancen sie lange mit Ekel zurückweist. Erst als er ihr für ihren Tanz einen Wunsch erfüllen will und darauf einen Eid schwört, ändert sich ihr Verhalten sofort und konsequent, und keiner begreift, warum sie das tut. Auch während des Tanzes wird dies noch nicht klar. Dafür hat sich der Regisseur der Hilfe des Choreographen Matthew Tusa versichert. Wirkt der Tanz am Anfang noch etwas statisch, verlebendigt er sich im weiteren Verlauf ungemein, weil Salome alle Anwesenden mit einbezieht: zuerst die Soldaten, dann den Jüngeren der Jesus bewundernden Nazarener, der von seinem älteren Begleiter von diesem sündigen Tun erst gerettet wird, bevor dieser dann selbst mitmacht und von Salome besonders gern berührt wird, weil seine Haare denen von Jochanaan besonders gleichen. Auch die

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fünf Juden, deren grotesker Streit vor dem Tanz ebenfalls sehr schön choreographiert war, und die übrigen Festgäste werden von Salome, die sich schließlich Jochanaans liegen gebliebenen Umhang über die Schultern legt, zum Tanzen gebracht. Lediglich Herodias macht nicht mit, versteht ebenfalls noch nicht, was ihre Tochter will, und deutet ihr Verhalten als Überlaufen zu ihrem Mann. Größer kann das Entsetzen aller – außer Herodias – aber nicht sein, als Salome ihre wahre Absicht verkündet. Herodias versteht dies dann wiederum sofort, trinkt nach der Hinrichtung auch von Jochanaans Blut und beschmiert damit die Brust des muskelbepackten Henkers. Auch ihre Beziehung zu Herodes wird klar akzentuiert: nur in angstbesetzten Momenten halten sie noch zusammen, ansonsten sind sie bis zu körperlicher Gewalt zerstritten. Der Schluss ist überraschend und nicht ganz unproblematisch. Während sich auf der hinteren Wand ein roter Neonstreifen wie ein Menetekel bildet, wird auf die ganz dunkel gewordene Bühne plötzlich ein Riesenscheinwerfer getragen, der auch ins Publikum leuchtet und in Sekundenbruch-

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teilen Salomes Hinrichtung zeigt. Dies erscheint mir etwas anachronistisch, zumal die meisten Kostüme (Tatjana Ivchina) auf die Zeit des tatsächlichen Geschehens hinweisen und die neueren Kostüme einiger Festgäste den Anspruch der Zeitlosigkeit nicht ganz erfüllen können. Das Orchester folgte dem Dirigenten des Abends, Ari Rasilainen, präzise, die Zusammenarbeit in der Probenphase hat den Musikern offensichtlich gefallen. Lediglich zu Beginn des Salome-Auftritts mussten sich Sängerin und Orchester lautstärkemäßig aufeinander einstellen. Das ging aber ganz schnell und fast unmerklich, und danach klappte die Zusammenarbeit hervorragend; dass die SängerInnen sich vom Orchester getragen und unterstützt fühlten, zeigten einige, indem sie sich schon beim ersten Applaus beim Orchester bedankten. Cristina Baggio zeigte sich in jeder Hinsicht als ausdrucksvolle Sängerin, Darstellerin, Tänzerin ihrer schwierigen Aufgabe gewachsen. Michael Hendrick und Dubravka Musovic brillierten als zerstrittenes Ehepaar Herodes und Herodias. Thomas Gazheli als Jochanaan, der schon in der Matinée-

Veranstaltung und vorher als Amfortas das Publikum mit seiner voluminösen Stimme beeindruckt hatte, füllte damit auch diesmal das gesamte Opernhaus, selbst wenn er gar nicht auf der Bühne war. Auch Emilio Pons als Narraboth und die übrigen Darsteller der kleineren Rollen erfüllten sowohl sängerisch als auch darstellerisch ihre Rollen gut aus. Weil zur Zeit für die Nachfolge Kamiokas nicht nur ein neuer Opernintendant, sondern auch ein neuer GMD gesucht wird, dirigierten außer Ari Rasilainen, der auch für die Einstudierung verantwortlich zeichnete, fünf weitere Kandidaten jeweils eine der nach der Premiere noch folgenden fünf Vorstellungen: Am 19. 4. Johannes Pell, am 26. 4. Lutz Rademacher, am 8. 5. Ivan Törzs, am 17. 5. Aleksandar Markovic und am 30. 5. Kwame Ryan. Fritz Gerwinn Fotos: Uwe Stratmann

L. Demjan, J. Szurgot, C. Baggio, M. Hendrick, F. Hönisch, D. Musovic


Kunst in der Sparkasse In der Reihe „Kunst in der Sparkasse“ wurde im März die 130. Kunst-Ausstellung in der Stadtsparkasse Wuppertal eröffnet.

Der neue Vorstandsvorsitzende der Sparkasse, Gunther Wölfges, hat wieder einen Sinn für die Kunst. Neben ihm Max Christian Graeff, Sylvie Hauptvogel, Matthias Neumann und Dietmar Wehr.

Nach nun mittlerweile schon 47 Jahren Kunst gibt es hier eine lange Tradition, ein ordentliches Stück Kultur, wie man es nur selten findet in der Bankenlandschaft. Auch, wenn die Sparkassen allesamt bekannt sind für ihre Nähe zur Kultur und zur Kunst. Der nun fast schon nicht mehr neue Vorstandsvorsitzende der Sparkasse, Gunther Wölfges, übernimmt diese Tradition in einer Stadt im Umbruch, eine Stadt mit sehr, sehr vielen Baustellen, eben eine recht lebendige Stadt, aber in einer allgemein schwierigen wirtschaftlichen Situation. Es ist auch eine besonders faszinierende Stadt, in der die Kunst und die freischaffenden Künstler immer wieder für Bewegung sorgen. Mittlerweile haben sie sogar eine Rolle für die Kultur einer Stadt eingenommen, die dieses soziale Gebilde mit seinen gewählten Vertretern und Angestellten alleine nicht leisten kann. Tony Cragg, ein Solitär an unübersehbar erster Stelle. Ein Glücksfall sowie Pina Bausch. Aber auch die vielen anderen, die

unaufhörlich ihre Arbeit fortführen. Zum Beispiel Holger Bär, dessen Malmaschinen unaufhörlich in der Wiesenstraße für den internationalen Kunstmarkt rattern. Oder Michael Seeling in Barmen, dessen Skulpturen und Zeichnungen sich damit beschäftigen, wie im Weltraum das Gold entstanden ist und wie seine Bedeutung heute ist. Renate Löbbecke, die mir ihrem folianten Werk über Kragkuppelbauten, an dem sie fast zwanzig Jahre lang gearbeitet hat, ihre künstlerische Arbeit erweitert hat. Erschienen ist es im renommierten Verlag der Buchhandlung Walther König. Oder Jürgen Grölle, der mit größtem persönlichen Einsatz sein weltweit vernetztes Kunstprojekt durchführt, in einem Hinterhof direkt an der Wupper gelegen. In seinem Keller enden die Stützen des Schwebebahngerüstes. Und der Galerist Rolf Hengesbach natürlich, der uns Talbewohnern mit seinen fundierten und äußerst spannenden Eröffnungsreden und einem aufregenden Ausstellungs-Programm auf den sonntäglichen Eröffnungsveranstaltungen in

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der Vogelsangstraße die moderne Kunst näherbringen will und kann. Nicht weit davon arbeitet Gregor Eisenmann, einer der jungen Künstler, der sein Atelier in der Utopiastadt im ehemaligen Bahnhof Mirke betreibt, direkt neben der Nordbahntrasse gelegen. Und Bodo Berheide, der seine Skulptur „figura magica“ von einer 17 Jahre währenden Weltreise wieder nach Hause gebracht hat. Übrigens hat er sie der Stadt zum Geschenk gemacht. Das sind nur ein paar der vielen Kunstschaffenden, die ihre Arbeit fortführen. Zurück zur Ausstellung in der Sparkasse. Vor rund fünfhundert Gästen konnte Klaus Küster kompetent erhellen, was es mit diesem etwas kryptischen Ausstellungstitel „Nach der Fotografie“ auf sich hat. Hier zur Erinnerung ein kleiner Ausschnitt aus seinem Beitrag im Katalog zur Ausstellung, hier über die Arbeit von Sylvie Hauptvogel: Im Begriffsfeld Heimkultur, also dort, wo sich jeder auszukennen glaubt, findet Sylvie Hauptvogel seit einigen Jahren das für sie immer naheliegende Thema des Humanen. In den letzten Jahren hat sie sich vorzugsweise mit Objekten und Rauminstallationen beschäftigt. Ich erinnere an die von ihr 2014 im Wuppertaler Sommerloch neben einer Wandinstallation gezeigte Performance mit selbstgefertigten Quallen. Oft sind es ganz alltägliche Dinge oder Begriffe die uns an emotionale Beziehungen innerhalb unserer Biografie denken lassen. Sie sind es, die von der Künstlerin in ihrer eigenen Biografie verortet, und so zum Antrieb werden, aus dem ein Werk entsteht. Mit ihrem Einfallsreichtum und der ihr eigenen, von Fluxus und Nostalgie inspirierten bildnerischen Sprache führt sie uns ironisierend und augenzwinkernd an Konstellationen von Alltagsgegenständen heran, die über die materialen und emotionalen Beziehungen zu ihrer eigenen Biografie und der ihrer Familie hinaus, auch den Betrachter zur Erinnerung an seine oben: Der Vorstandsvorsitzende der Stadtsparkasse vor vollem Haus. unten: Cristov Rolla und Max Christian Graeff: „Canaille du jour“.

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diesbezüglichen Beziehungen einlädt. Ihre Installation „zartes Rosa“ mit dem gleichnamigen Buchobjekt und seinen spannenden, gestickten Permutationsfolgen, mag bei sensibilisierten Betrachtern ein Wiedererkennen lebendiger Bilder aus der eigenen Vergangenheit auslösen. Meine Vorstellung vom in diesem Fall nicht korrigierbaren Sticken, also dem die Papierseite verletzenden Durchstechen mit einer Nadel, welche den zartrosafarbenen Faden führt, ließ mich an Gertrude Steins einfachen und doch so, dank der Dornen einer Rose, Achtung gebietenden Satz denken: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Es ist die Blume, die für das im 18. Jh. aufgekommene Farbadjektiv „rosé“ Patin gestanden hat. Erst im 20. Jh. führte das Bedürfnis nach einer Nuancierung dieses Farbtons zu der Übernahme vom französischen rosé, was unserem Begriff zartrosa entspricht. Wie groß mag noch in den 1970er Jahren die Freude einer Mutter gewesen sein, als ihr Töchterchen, aus der Schule kommend, erstmals eine farbige Nadelarbeit auf weißem Leinen, welches zuvor mit der Kopie eines Karo-Rasters versehen worden war, mit nach Hause brachte? Auch noch als junge Frau war den auf der Geometrie des quadratischen Hilfsrasters basierenden Handarbeiten nur schwer zu widerstehen, wenn es galt, einen extravaganten Buch-Schutzumschlag zu verzieren, wie es nicht nur in Sylvie Hauptvogels Familie üblich war. Dem ursprünglich als Fotoalbum konfektionierten Buch hat die Künstlerin die durchsichtigen Pergamin-Seiten entnommen, die trotz des von ihr ungeliebten, gleichwohl typischen und weithin bekannten Prägemotivs aus Spinngeweben, Spinnen und Fliegen, die Familienfotos schützen sollten. oben: Der Fotografie-„Fachmann“ Klaus Küster ließ sich sogar von einem komplizierten Schienbeinbruch nicht vom geistvollen Reden abhalten. Mitte: Michael Zeller prüft das zarte Rosa, eine andere Art von Buch. unten: Fotografen-Kollegen kommen begutachten, hier Andreas Fischer und Süleyman Kayaalp. „Gemeinsam älter werden“: Dietmar Wehr zeigt alte Kartoffeln.

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Aus der Nötigung dieses allzu durchsichtigen Motivs hat sie eine Tugend gemacht: In die 15 quadratischen Papiere stickte sie mit grün- und rosafarbigem Garn kleine, fantasievolle Texturpartien so feinfühlig ins Grundmotiv, dass eine narrative Variationsfolge entstand, in der nun das farbige Garn mit den unifarbigen Spinnweben einen versöhnlichen Kontakt aufgenommen hat, bei dem auch Spinnen und Fliegen nicht zu kurz kommen. Vornehmlich Frauen kennen die Strickliesel genannten Vorrichtungen, mit denen sich schlauch- und kegelförmige Strickerzeugnisse aus Wolle und anderen Materialien fertigen lassen. Auf diese Weise schuf die Künstlerin verschiedene flexible Strickgebilde, die durch manuelles Verformen die organische Anmutung von Körperöffnungen und Ähnlichem annahmen. Vergrößerte Fotografien dieser Objekte wurden dann zu Vorlagen für die schwarz/rosa-farbigen Siebdrucke auf den (gebrauchten) Kopfkissenbezügen, welche wir nun als, organic genannte, Objekte in der Wandinstallation erleben. Das Verhältnis von Kunst und Leben hier neu zu entdecken, ist dank ihrer künstlerischen Qualität die eine Möglichkeit, eine andere ist es, der Fantasie hinsichtlich des weiteren Gebrauchs der Kissen keine Grenzen zu setzen.“ Soweit und so gut dieser Ausschnitt aus der Eröffnungsrede Klaus Küsters. Natürlich hat er auch über das Werk der anderen beiden Künstler dieser Fotografieausstellung, Matthias Neumann und Dietmar Wehr gesprochen. Diese beiden erwirtschaften ihren Lebensunterhalt im Wuppertaler Sinfonieorchester. Nebenbei bemerkt, auch hier wieder eine Baustelle. Beide Künstler sind sogenannte Doppelbegabungen, das ist gar nicht so selten unter Künstlern. Der eine spielt Bratsche, der andere den Kontrabass. Beide arbeiten sie schon seit vielen Jahren auch in der bildenden Kunst. Aus eigenem Antrieb heraus und hier ohne Kapellmeister. Wem das Herz voll ist, dem läuft eben der Mund über, so eine abgewandelte Weisheit aus biblischen Tagen. Der Künstler muss und will uns zeigen, wie er die Welt erlebt.

Aber das ist auch typisch für den freien Künstler, der ja ohne Auftrag arbeitet und in eigener Verantwortung. In den Anfängen dieser Reihe Kunst in der Sparkasse bestand der Anspruch, Schwellenängste der Menschen vor Museen und Galerien abzubauen. Angesichts der gestiegenen Zahl der Kunstinteressierten ist dieses Ziel sicher längst erreicht. Aber auch heute noch ist es die Intention dieser Reihe, Horizonte und Weltbilder – auch die eigenen – um neue Gedanken, Philosophien und Sichtweisen zu erweitern und vielleicht auch zu verändern. Sehr oft und gerne sind auch einige ehemalige Wuppertaler zu Besuch, die ihren Arbeits- und Lebensschwerpunkt in andere Gegenden verlegt haben. Max Christian Graeff ist einer dieser Fortgezogenen. Er spielte zusammen mit Christov Rolla, dem Mann am Klavier zur Eröffnung. Beide leben in Luzern und hatten die lange Reise auf sich genommen, um uns einen kleinen Ausschnitt aus ihrem Programm zu präsentieren. Es war eine spannende und lustvolle Darbietung. Wie Geschichten aus einem Fotoalbum heraus, so beschreiben sie selber ihre Lieder: Dokumentationen von Poetik und Poesie. Ein Koffer vollgefüllt mit Traurigkeit und Übermut, Hysterie und Sentiment, mit dem schallenden Lachen der Verlorenen und dem stillen Gewissen der Profiteure. Es war ein unterhaltsamer Abend, ein erbauendes und auch erhellendes Programm. Peter Klassen, Klaus Küster Fotos: Bjørn Ueberholz


Klangart im Skulpturenpark Welten und Generationen kommen zusammen Enrico Rava, KhaliféSchumacherTristano, Gasandji, Günther Baby Sommer und viele mehr bei KLANGART 2015 im Skulpturenpark Waldfrieden, Wuppertal Wuppertal ist seit dem Fluxus- und FreeJazz-Aufbruch in den 60er-Jahren als Stadt bekannt, in der besondere künstlerische und musikalische Ereignisse auf ein neugieriges und offenes Publikum stoßen. Die Konzertreihe KLANGART setzt diese Tradition mit Erfolg fort. Im Jahr 2015 findet die von der Cragg Foundation im Skulpturenpark Waldfrieden veranstaltete Konzertreihe bereits zum siebten Mal statt. Dass es erneut gelungen ist, bekannte Stars und vielversprechende Newcomer nach Wuppertal zu holen, liegt nicht zuletzt am guten Ruf, den die Reihe auch unter Musikern genießt – und am Ambiente des idyllisch auf einer Anhöhe über dem Wupper-Tal gelegenen Skulpturenparks: „Musikerinnen und Musiker lassen sich vom Geist des Ortes inspirieren, Musik und bildende Kunst finden im Natur-Raum des Parks zu einer organischen Einheit, einem Dreiklang aus Natur, Musik und Kunst“, so der künstlerische Leiter E. Dieter Fränzel.

Gasandji

KLANGART 2015 Termine im Juni/Juli Samstag, 20. Juni 2015, 19 Uhr: Marialy Pacheco Trio & Joo Kraus (Kuba/Kolumbien/Deutschland)

Samstag, 4. Juli 2015, 19 Uhr: Enrico Rava Quintett (Italien)

Marialy Pacheco

Enrico Rava Sonntag, 21. Juni 2015, 18 Uhr: KhaliféSchumacherTristano (Luxemburg / Libanon) Sonntag, 5. Juli 2015, 18 Uhr: Gasandji & Band (Kongo) Skulpturenpark Waldfrieden Hirschstraße 12, 42285 Wuppertal www.skulpturenpark-waldfrieden.de

Joo Kraus

Kartenvorverkauf über www.adticket.de, Hotline 0180 6050400 (20ct/Anruf aus dem dt. Festnetz, Mobilfunk abweichend), an der Kasse des Skulpturenparks und allen bekannten Vorverkaufsstellen. unten: Khalifé SchumacherTristano

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Ich erwarte die spanische Delegation! Nikolai Gogols „Tagebuch eines Wahnsinnigen“ Ein Solo-Abend von und mit Thomas Braus

Poprischtschin: Thomas Braus

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Vibraphonklänge, Baustellengehämmer, Klingeltöne vermischen sich zu einem wie Gehirnwäsche enervierenden Klang-Cluster (Uwe Dreysel), der den Besucher der Bühnenfassung von Nikolai Gogols Novelle „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ beim Eintritt ins Wuppertaler Theater am Engelsgarten erwartet, ihn akustisch auf eine knappe Stunde langsam überschnappenden Wahnsinns einstimmt. Auf dunkler Bühne bewegt sich langsam, unruhig ein schwarzer Quader, der sich gedreht als ein leuchtend weißer, klaustrophobisch enger Raum entpuppt, der das Büro des Petersburger Titularrats Popriscin (Thomas Braus), in dem er seinen untergeordneten Ministerialdienst versieht, darstellt, aber auch die ebenso karge Zelle des Patienten Poprischtschin in einer Nervenheilanstalt werden wird. Wir folgen dem seelischen Verfall eines von stumpfsinniger Bürokratie und aufgrund von Standesunterschieden unerfüllt bleibender Liebe peu à peu

den Verstand verlierenden Mannes. Thomas Braus gibt diesen in den Strudeln der Irrationalität ertrinkenden Kranken, seine Ausbrüche, Tiraden, Wahnvorstellungen hautnah. Man kann sich als Zuschauer, auch durch die begleitende, sich ins Ohr bohrende musikalische Kulisse, dank Braus´ schauspielerischem Genie kaum selbst diesem Wahn entziehen. Braus schafft es, die seelische Metamorphose vom gedemütigten Ministerialbeamten zum durchaus stolzen Irren, der sich für den spanischen Thronfolger Ferdinand VIII. hält, in einer knappen, ungeheuer dichten Stunde zu vermitteln. Mehr noch setzt er den bitteren Sarkasmus Gogols über die russische Gesellschaft der frühen Romantik in auch heute gültige Bilder um. Zum Frösteln. 1835 brachte Gogol (1809-1852) seinen Stoff unter dem Eindruck von E.T. A. Hoffmanns „Kreisleriana“ und „Die Lebensansichten des Katers Murr“ (die sprechenden/schreibenden Hunde hat Gogol dort entlehnt) zu Papier.


Niemand konnte damals ahnen, dass Gogol sich 1852 in religiösem Wahn zu Tode hungern würde. Die „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ nahmen prophetisch den eigenen Irrsinn vorweg. Ein elementarer Theaterabend. Thomas Braus, der gemeinsam mit Uwe Dreysel den Abend auch inszeniert hat, benutzt dabei die gegenüber der werktreuen von Korfiz Holm modernisierte und im Vokabular à jour gebrachte Theaterfassung von Werner Buhss. Eine gute Wahl. Die isolierten, gut zu verortenden plakativen Lacher während des Stücks aus dem voll besetzten Saal dokumentierten fehlendes Verständnis für Gogols/Braus’ Botschaft. Der lang anhaltende Applaus vom Plenum am Ende hingegen würdigte eine erlesene Leistung. Idee/Konzept: Thomas Braus – Regie: Thomas Braus/Uwe Dreysel – Bühne: Wolfgang Heidler – Musik: Uwe Dreysel – Dramaturgie: Mona vom Dahl – Koordination: Helene Vogel – Fotos: Sebastian Eichhorn Frank Becker Fotos: Sebastian Eichhorn

Poprischtschin: Thomas Braus

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Runway Ein Blick auf die Mechanik einer Fashion Week

Perfekter Catwalk Copyright Thom Kletecka unten: Modeschöpfer oder Modegeschöpf? Die Grenzen verschwimmen da manchmal.

Selbst der ärgste Mode-Agnostiker hat sehr wahrscheinlich schon einmal die Namen Yves Saint Laurent, Coco Chanel oder Karl Lagerfeld gehört, Menschen, die uns als „Modeschöpfer“ bekannt sind und mithin zu mindestens etwas halbgöttliches für sich reklamieren können. So legt das die Aufmerksamkeit vieler Hochinteressierter nahe, ungeachtet der Frage, ob die Fans durch ihr Interesse nicht wesentliche Ursache dessen sein könnten, was sie als Wirkung empfinden. Aber nehmen wir mal an, es gäbe eine Welt der Mode mit ihren Halbgöttern und Fabelwesen. Wir schauen auf einen der wichtigeren Mechanismen ihrer Mitteilung, auf die Modewochen und die Fotografen, deren Bilder von Modewochen regelmäßig in allerlei Bildmedien zu sehen sind, denn Fashion Weeks sind keine Hörspiele. Es mag zunächst überraschen, dass einige der wichtigsten Modewochen dieser Welt nach einem Automobilbauer heißen: Mercedes-Benz Fashion Week. Produziert

werden diese Shows von der International Management Group (IMG). Mit Golf-Profis und deren Vermarktung hatte IMG zu Beginn der 1960er Jahre die ersten Dollars verdient und bald eine vertikale Konzentration in dem Sinne begonnen, dass man Prominenz-erzeugende Ereignisse selber zu organisieren begann, also zunächst einmal Sportereignisse und seit einigen Jahren Modewochen. Zur vertikalen Konzentration gehören „IMG Models“, eine Agentur für Laufstegtalente, in deren Karteien die Heidi Klums und Kate Mosses dieser Welt zu Hause sind, „IMG Media“ für die Setzung allen Konzerngeschehens in's rechte Licht und Beförderung in den Stand der Erhabenheit und schließlich die „IMG Academy“, an der mittlerweile in 80 Ländern dieser Erde etwa 12.000 junge Nachwuchstalente in Sportarten trainieren, die als überdurchschnittlich vermarktbar gelten. Gemessen am Sinn des Ganzen ist IMG keine so kleine Firma: Mehr als 3.000 Menschen beziehen ihr Gehalt direkt aus dem Firmenhauptquartier an der Fifth

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Avenue in Manhattan oder aus einer der vielen IMG-Verzweigungen. Auf den ersten Blick ist es erstaunlich, dass Kameraleute und Fotografen, ohne deren Arbeit Modewochen lokal sehr begrenzte Ereignisse blieben, nicht auf der IMGGehaltsliste stehen. Womöglich braucht Hype ja ein gewisses Maß an medialer Unabhängigkeit. In diesem Bereich arbeitet Chris Cannon. Chris bekleidet seit einigen Jahren eine ebenso wichtige, wie sich der öffentlichen Wahrnehmung entziehende Funktion bei der zweimal im Jahr stattfindenden New Yorker Ausgabe der Mercedes-Benz Fashion Week. Seine Tätigkeit könnte man als Mischung aus Platzanweiser und Real Estate Agent, also Immobilienmakler, beschreiben: Zweimal im Jahr ist Chris ein „Marker“. Er markiert die Standorte für Kameraleute und Fotografen bei der Fashion Week in New York. Sein Honorar ist ein nennenswerter Einzelposten in deren Kostenrechnung. Eigentlich ist Chris angehender Landschaftsarchitekt mit Heimatanschrift in Columbus, Ohio und dort in einer bio-dynamischen, aber nicht sehr profitablen Feldfruchtkooperative engagiert. Zweimal im Jahr kommt er für zehn Tage aus Ohio nach New York und gleicht die geringen Feldfruchterträge aus. Er sagt seinen Kunden, sie sollten ihm Geld gemäß ihrer Wertschätzung des für sie jeweils markierten Platzes geben. Eine Antwort auf die naheliegende Frage, kraft wessen Autorität Chris Plätze auf der Pressetribüne zuweist, bedarf eines Ausflugs in die Entstehungsgeschichte jener Pressetribüne in ihrer Ausrichtung quer zur Laufrichtung des Runway. Für die längste Zeit der bisherigen Runwayoben: Chris Cannon, den Cat Walk im Visier: Er kennt die Vorlieben „seiner“ Fotografen. Mitte: Platzhirsch auf Lichtung: Dan Lecca (mit grauem Bart) in Mitten der eingeschworenen Gemeinschaft von Runway-Fotografen. Copyright Masato Onoda unten: Hauptsache interessant: Ein Kameramann richtet die Froschperspektive ein.

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Geschichte, bis hinein in die 1980er Jahre, standen Fotografen und Kameraleute nämlich entlang des Laufstegs. Die Models kamen, drehten sich, machten vielleicht einen Knicks, ließen sich jedenfalls in aller Ruhe und von zahlreichen Standpunkten aus ablichten, in der Regel mit Blitz. 1989 brachte die Firma Canon das erste Zoom-Objektiv mit Auto-Focus auf den Markt, das Filmmaterial war deutlich lichtempfindlicher geworden und Dan Lecca war einer der ersten Runway-Fotografen, die das Potenzial beider Entwicklungen auszuloten begannen. In Interviews beteuert er immer wieder, Ende der 80er Jahre zusätzliches Geld für die Hochschulkosten seiner beiden Kinder gebraucht zu haben. Seine zahlreichen Feinde bezichtigen ihn hingegen einer raubtierhaften Rücksichtslosigkeit. Wie auch immer, spätestens Mitte der 90er Jahre war Dan Lecca mit einem „Marktanteil“ von knapp 90% der unangefochtene „King of the Runway“, lieferte also fast alle Runway-Fotos für Harper's Bazaar, Allure, Vogue, Town & Country, Marie Claire, New York Times und wo Modenschauberichte noch so abgedruckt werden. Lecca verschob mit seiner neuen, mit dem Teleobjektiv aufgenommenen Frontalperspektive den ästhetischen Standard derart gründlich, dass von der Seite aufgenommene Bilder nach kurzer Zeit gar nicht mehr veröffentlicht wurden. Die Zahl der für verkäufliche Bilder geeigneten Kamerastandpunkte auf der nun im rechten Winkel zum Runway und an dessen einem Ende stehenden Pressetribüne war aber dadurch erheblich reduziert. Weil Modeschöpfer ihre Models nun alle auf die neue Art abgelichtet haben wollten und Lecca sozusagen Synonym für diesen Stil war, bekam er von den Schöpfern Markierungsrechte auf der oben: Aufbau der Pressetribüne: Thom erklärt Chris wie er stehen möchte, während Strippenzieher arbeiten. Mitte: Virginia Smith (Dritte von links) kam in Vertretung von Anna Wintour. unten: Video Runway: Bewegte Bilder von Modeschauen gewinnen an Bedeutung

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Pressetribüne, zunächst für die von ihm in Anspruch genommenen Standpunkte, die mit den über die Jahre besser werdenden Zoomobjektiven etwas weiter nach hinten rückten. Der Safari-Look ist halt unschlagbar. Die Markierungen wurden von einem seiner Assistenten angebracht, den Leuten im Team, die im vordigitalen Zeitalter für das Einlegen der Filme in die Kameras zuständig waren, für den Transport des belichteten Materials, für den Kaffee und ganz im Allgemeinen, damit man bei Bedarf jemanden zum Anschreien hat. Von solchen Menschen gibt es auf Modeschauen erstaunlich viele. Sie sind der „Glue“, der Leim, der das Geschehen zusammenhält. Als Teil des „Glue“ hat Chris Cannon vor Jahren auch angefangen, als „Runner“ für Dan Lecca. Runner sind – wie der Name schon sagt – Läufer, genauer gesagt, es sind laufende Boten, die ehemals belichtete Filme zur Weiterverarbeitung von A (Fotograf ) nach B brachten. Heute sind es volle Speicherkarten, wenn die Bilder nicht gleich per Kabel auf den Computer wandern. Chris war als Runner sehr erfolgreich, weil er nicht nur rannte, sondern immer sein Fahrrad mit nach New York brachte – in Midtown Manhattan das bei weitem schnellste Fortbewegungsmittel – und sich so den Ruf eines Allgegenwärtigen verdiente. Dan hatte einen festen Markierer und dessen Markierungen wurden in der Regel von den allermeisten anderen Fotografen respektiert, zum einen, weil eine frei ausgetragene Schlägerei um die besten Plätze selten zielführend ist, zum anderen weil der Markierer die Vorlieben und Bedürfnisse der konkurrierenden Fotografen sehr rasch verstanden hatte und umsetzte. Die Stufen der Tribüne stehen im Prinzip zwar Jedem mit Presseakkreditierung offen, doch sind die allermeisten der in den Medien gezeigten Bilder und Videos der New Yorker Fashion Week von Standpunkten aufgenommen, die von einem Markierer markiert worden sind. Trotz der Konkurrenz sind Runway-Fotografen auch eine eingeschworene Gemeinschaft und darum entstand dadurch kein Autoritätsproblem, dass der Markierer ursprünglich aus dem Team Lecca kam. Dan war eben

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lange Jahre der Platzhirsch. Dessen Markierer war Chris mit seiner Allgegenwart ein paar Jahre lang zur Hand gegangen und hat ihn dann irgendwann beerbt. Das Erbe bestand im Wesentlichen aus der Markierungs-Autorität, einer passivaggressiven Methode der Preisverhandlung („pay me what you think it is worth to you“) und aus einem Trick: Mit einem Teppichmesser schlitzt der Markierer die aufgeklebten Markierungen kreuzweise ein, damit das Abknibbeln richtig lange dauern würde. Etwa 70 der 300 Shows der Mercedes-Benz Fashion Week wurden zuletzt von Chris Cannon markiert. Er kommt, schabt alte Markierungen ab, markiert neu, wartet, bis sich Fotografen und Kameraleute aufgebaut und eingefunden haben und radelt dann weiter an den nächsten Ort. Von den Shows selber bekommt er nur wenig mit, weiß aber um ihre peniblen Choreographien und die beinahe schon deutsche Pünktlichkeit ihrer Durchführung, vor allem damit die Vertreter der Modezeitschriften ihre eng getakteten Zeitpläne einhalten können. Bis vor wenigen Jahren hieß es, eine Show sei keine Show, wenn nicht Anna Wintour, Chefredakteurin der Vogue, zuschaut. Das hat sich zuletzt etwas entspannt, vor allem weil Anna jenseits der 65 und darum nicht mehr allgegenwärtig ist. Sie lässt sich in solchen Fällen von Prinzessinnen vertreten. So zuletzt durch Virginia Smith bei der Vorstellung der Kollektion des Hauses BCBGMAXAZRIA (kurz für „bon chic, bon genre, Max Azria“). Neben der neuesten Herbstmode gab es auch während der Modewoche im Februar ein weiteres Novum. Bei der Vorstellung der Kollektion des Hauses Marc Jacobs – als einer der New Yorker Lokalmatadoren präsentiert er traditionell sehr umfangreich und aufwändig – wurden per Live-Schaltung bewegte Bilder der gut eine halbe Millionen Dollar teuren Schau auf die Webseiten des Modehauses und der New York Times hochgeladen. Dabei sollten die 500.000 Interessenten aber nicht nur die am Regiepult gemischten Einstellungen dreier Videokameras verfolgen, sondern eben auch auf Pause drücken können. Beim Druck der Pausetaste, so der Anspruch, musste dann für jedes der

Modelle sofort ein hoch aufgelöstes Foto auf dem Internet verfügbar sein, das selbst stark vergrößerte Details der Kollektionen zu illustrieren in der Lage wäre. Dieses „sofort“ schließt freilich das „Normalverfahren“ der Bildredaktion und -bearbeitung aus, von Purzelbäumen mit Photo Shop ganz zu schweigen. Unter zwei, drei, maximal vier Belichtungen muss eine brauchbare sein, die der mit Kabel gleich an die Kamera angebundene Editor auswählen und auf das Internet hochladen kann. Ein Fall für Thom „Buddha“ Kletecka. Der Schüler von Meister Lecca wird von Marc Jacobs vor allem auf Grund seiner inneren Ruhe geschätzt. Diese innere Ruhe basiert auf sehr viel Erfahrung und ein wenig Yoga. Chris hatte ihm auf der Pressetribüne den geeigneten Platz markiert, Thom war gut eine halbe Stunde vor dem auf Punkt 18 Uhr terminierten Beginn der Show eingetroffen, genug Zeit also, um ein paar Kolleginnen und Kollegen zu begrüßen und knapp genug, um nicht die Konzentration zu verlieren. Dann ging wie bei jeder Modenschau das Licht aus und in das Dunkel der Halle begann gangbare Techno-Musik zu dröhnen, Sorte: Metal. Mit Glockenschlag sechs Uhr abends war der Laufsteg in das Licht zahlreicher Spot-Lights getaucht und Sekunden später kam das erste von 58 Models um die Ecke auf die lange Gerade gebogen. Thom nahm es in den Zoom und spürte sich schnell in ihren Schrittrhythmus ein, um vor dem nächsten Model bereits ein brauchbares Bild gemacht zu haben. Den richtigen Zeitpunkt für eine gelungene Aufnahme zu finden, ist dabei die Herausforderung, denn in menschlichen Bewegungsabläufen sind einige Phasen deutlich weniger fotogen als andere. Da kann eine Frau oder ein Mann noch so schön sein, wenn ich die Bewegung zu dem Zeitpunkt des unteren Umkehrpunkts des Auf und Ab im Gang einfriere, dann haben Haare und Kleidung erkennbar weniger Fülle als etwa Wangen und die Haut unter dem Kinn. Das gilt als nicht schön. Dann doch lieber der obere Umkehrpunkt, der Moment scheinbarer Schwerelosigkeit mit den Mundwinkeln am höchstmöglichen Punkt. Bei Tennisschlägern heißt das Sweet Spot.


Mit dem Zoom hielt Thom das erste Model der Show also in einem gleichmäßigen Bildausschnitt und sobald es sich an einem von nur drei, vier möglichen süßen Flecken auch mit offenen Augen und in professioneller Spannung zeigte, doppel- oder trippelklackte der Verschluss und auf dem Monitor des Fotoeditors erschienen entsprechend zwei oder drei Bilder zur Auswahl, von denen dann eines zwei Sekunden später auf der Webseite landete. Das wiederholte sich dann bei jedem der 58 Styles, den Entwürfen, die Marc Jacobs anzubieten hatte. Nach 58 Aufnahmen zu je 120 Dollar – der in diesem Jahrzehnt noch gültige Tarif für ein verwertbares Foto vom Runway – gab es noch eine nicht eigens abgerechnete Zugabe, nämlich den Auftritt des Modeschöpfers, kurz und unerwartet schüchtern im Hintergrund bleibend, und dann war Thoms Einsatz für diesen Abend auch schon beendet. Sein größter Kostenfaktor für den Gig war ein kleiner vierstelliger Dollarbetrag an Chris für Markierung und Gewährleistung des Standorts auf der Pressetribüne. Eine in Thoms Augen lohnende und darum auch gerne gemachte Ausgabe. Weil Marc Jacobs die letzte Show der Fashion Week war, blieb er noch für einen Moment. Auch Chris Cannon war noch da, auch Dan Lecca und einige andere Kolleginnen und Kollegen, die noch nicht zur London Fashion Week abgereist waren. Man packte rasch die Gerätschaften ein und gönnte sich einen Absacker. Wichtig oder nicht, die Fotografen hatten die Schöpfungen der Mode ins rechte Licht gesetzt und das Bildmaterial erzeugt, die Kunde notfalls bis in die tiefe Provinz zu tragen. Stefan Altevogt Fotos: Karl-Heinz Krauskopf

oben: Buddha Thom Kletecka, Copyright Stefan Altevogt Mitte: Hochkonzentrierte Profis in Aktion: In zehn Minuten entstehen über 200.000 Bilder. unten: Zum Abschluss: Noch einmal alle Designs auf einen Blick.

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IRGENDWANN Irgendwann wächst Gras darüber und die Welle über dem Meeresfriedhof glättet sich wieder Wenn Agitatoren ihre eigene Wahrheit verkünden Aufschrei und Klage in Schweigen ersticken uns das alte Lied immer wieder erklingt Wenn Lüge und Empörung verdrängt Tod, Leid und Tränen ausgelöscht im Dunkel des Bildschirm verschwinden ist wieder Frieden im deutschen Wohnzimmer

Gedicht Dorothea Müller Foto „Fund“ von Olaf Joachimsmeier


Wuppertaler Lesereihen „Literatur auf dem Cronenberg“ im Fotostudio Hensel Die Wuppertaler Literaturszene rund um den Verband deutscher Schriftsteller (VS) und die Autorengemeinschaft „Literatur im Tal“ hat eine Vielzahl von literarischen Veranstaltungen zu bieten, darunter auch mehrere Lesereihen wie die Werkstattlesungen im Literaturhaus, die Autorenlesungen zu den Büchermärkten in der Pauluskirche, Literatur auf dem Cronenberg im Fotostudio Hensel und viele mehr. Diesmal geht es um die Lesereihe „Literatur auf dem Cronenberg“.

Hermann Schulz liest im Fotostudio Hensel

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Samstagnachmittag um kurz vor 17.00 Uhr in Cronenberg – die Geschäfte im Ortskern haben geschlossen, nur im Fotostudio Hensel, einem alten Schieferhaus an der Hauptstraße 1, ist reges Treiben. Zwischen unzähligen eingerahmten Fotos sind die Stühle bis auf den letzten Platz besetzt. Getränke und Knabbereien stehen bereit, ebenso wie selbstgebackene belegte Brote für die Pause, ein Autor legt seine Manuskripte am Lesetisch zurecht und dann wird es still. Nach der Begrüßung durch Herrn Hensel und die Moderatorin beginnt der Autor zu lesen, seine Geschichten schwirren durch den Raum, in dem durch die zahlreichen Fotos bereits viele Geschichten stumm erzählt werden, aber die Zuschauer lauschen gebannt aus mehreren Ecken des Fotostudios ...

im Container am Barmer Opernhaus stattfindet. Meine Frau kam begeistert von der Lesung zurück. Mit unserem Sohn besprachen wir, ob sich unsere Räumlichkeiten für solche Lesungen auch anbieten. Dann holten wir Frau Häuschen-Ries mit ins Boot. Wir wollten wissen ob sie auch der Meinung war, so etwas in unserem Studio zu veranstalten. Auch sie war der Meinung, dass die Räumlichkeiten von der Atmosphäre sehr geeignet wären. Nun mussten wir rechnen. Anzahl der Stühle und Kosten. Wir berechneten die zur Verfügung stehende Fläche und kamen auf ca. 30 zusätzliche fehlende Stühle. Wir gingen das Risiko ein und spendierten auch noch für jeden Stuhl ein Kissen.

Herr Hensel, wie entstand die Idee zu „Literatur auf dem Cronenberg“?

Gerd Hensel: Die erste Lesung mit Frau Häuschen-Ries war ein großer Erfolg, sie zelebrierte Sprache. Ein Satz, ein Wort wurde im Vortrag zur Melodie. Weiterhin war sie die erste, die den Vortrag mit Musik würzte. Weit über 50 Besucher wurden gezählt. Es war also auch Bedarf da.

Gerd Hensel: Die Idee entstand folgendermaßen: Meine Frau und ich lasen in der Zeitung, dass eine Lesung mit der Cronenbergerin Christina Häuschen-Ries

Wie waren die Anfänge?


Wie ging es weiter? Gerd Hensel: Wir legten fest, dass alle Lesungen in unserem Studio immer samstags um 17.00 Uhr stattfinden. Der Grund: Unsere Besucher haben so auch noch die Gelegenheit, zusätzlich an anderen Aktivitäten teilzunehmen. Was bedeutet es für einen Fotografen, samstags nach Feierabend Lesungen zu organisieren?

häufig, dass wir auf der Straße angesprochen werden mit der Botschaft, bitte machen Sie mit den Lesungen weiter. Es wäre schön, wenn die Gäste, die unsere fotografischen und auch Arbeiten im Einrahmungsdesign sehen, bei Bedarf zu uns kommen. Was bedeutet es für einen Ortsteil wie Cronenberg, eine eigene Literaturreihe zu haben?

Wie werden die Lesungen von Ihren Kunden aufgenommen? Finden durch die Lesungen auch neue Kunden zu Ihnen?

Gerd Hensel: Wir werden am Ende des 3. Jahres 15 Veranstaltungen gemeistert haben, das beweist, dass der Ortsteil Cronenberg die Lesereihe „Literatur auf dem Cronenberg“ bestens angenommen hat. Für die Bekanntmachung entwerfen und drucken wir die Handzettel und die Plakate. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die großzügige Unterstützung der Ortsteilzeitungen, „Cronenberger Anzeiger“ und Cronenberger Woche. Die Besucherzahlen lagen im Schnitt um 40 Gäste.

Gerd Hensel: Unsere Gäste, ich sage nicht unsere Kunden, weil viele der Besucher für uns neue Gesichter sind. Wir erleben es

8. Was ist als nächstes geplant? Wo sehen Sie „Literatur auf dem Cronenberg“ in Zukunft?

Gerd Hensel: Da diese Lesungen alle zwei Monate stattfinden, außer der Ferien- und Weihnachtszeit, sehen wir es als verkraftbar an, an diesem Tag unser Studio für diese Zeit umzubauen.

Gerd Hensel: Wir werden auch in Zukunft alles tun, um die Veranstaltungen interessant zu gestalten, der Eintritt bleibt frei, weiterhin werden wir in der Pause unseren Besuchern eine Erfrischung und ein Häppchen mit selbstgebackenem Sauerteigbrot anbieten. Wir bleiben offen, für Verbesserungen bei den Veranstaltungen. So haben wir die räumliche Akustik verbessert, in dem wir die alte Anlage gegen eine neue ausgetauscht haben. Die Gäste haben es begrüßt. Marina Jenkner Fotos: Olaf Hensel Info: Die nächste Lesung von „ Literatur auf dem Cronenberg“ findet im Herbst statt. Details erfahren Sie in der nächsten Ausgabe unter den Terminen des Verbandes deutscher Schriftsteller. Gerd Hensel, Dorothea Müller und Marina Jenkner bei der Lesung von Dorothea Müller im Fotostudio Hensel

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Elsken Ein Buch von Ulla Schenkel: Else Lasker-Schüler erinnert sich an Bilder ihrer Kindheit

Hermann Schulz, geboren 1938, lebt als Autor von Kinder- und Jugendbüchern in Wuppertal. Er leitete von 1967 bis 2001 den Peter Hammer Verlag. Zuletzt erschien sein Roman „Die Nacht von Dar es Salaam“.

Illustrationen: Ulla Schenkel

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Da würde ein neues Buch mit Texten von Else Lasker-Schüler und vielen Illustrationen erscheinen, sagte mir am Telefon Renate Dohm, ob ich es wohl in „Die Beste Zeit“ besprechen könnte. Ulla Schenkel hätte die Bilder dazu gemalt. Ihren eigenen Anteil an dem Werk erfuhr ich erst auf Nachfrage. Meine Bedenken, dass ich vielleicht Fachmann für Brieftauben bin, nicht aber für künstlerisch gestaltete Bücher, hielt ich zurück, weil Renate Dohm eine gute Freundin ist, der man nichts abschlagen mag. Sie versprach, man würde mir ein Exemplar schicken, und ob wir uns nicht mit der Künstlerin Ulla Schenkel auf einen Kaffee treffen könnten. Die Begegnung zu Dritt fand dann auch in der CityKirche statt. Wir hatten ein anregendes Gespräch, obwohl ich den Überlegungen der Malerin nicht immer folgen konnte. Aber ich bekam den Hinweis, am 10. April würde das Buch in der Backstubengalerie vorgestellt werden. Bei der Gelegenheit würde die Journalistin Gisela Schmoeckel sprechen; das könnte ich mir vielleicht ja mal anhören. So wurde ich trotz aller Zweifel in die Aufgabe hinein gezogen, das Buch zu besprechen. Sie (die Zweifel!), ob ich für die Arbeit der Richtige sei, meldeten sich wieder zu Wort, als ich den klugen Vortrag von Gisela Schmoeckel gehört hatte. War da nicht alles gesagt? Würde ich so sensibel und kenntnisreich das Buch, das Zusammenspiel von Bild und Text und die

Bedeutungen der Techniken deuten können? Gisela Schmoeckel gab mir freundlicherweise ihren Text und erlaubte, einige Zitate zu benutzen. (nachstehend gekennzeichnet mit G.Sch.) Da war ich wieder erleichtert! Zunächst aber zum Anteil, den Renate Dohm an dem Buch hat: Sie engagiert sich in der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft und im Schriftstellerverband (VS) Wuppertal. Sie hat aus dem Werk der Dichterin kenntnisreich Texte ausgewählt, die von den Erinnerungen an Kindheit und Jugend in Wuppertal erzählen. Das ist eine großartige, meines Wissens erstmalige Zusammenstellung aus vielen verstreuten Quellen; eine wunderbare Leistung, die man jetzt in einem großartigen Buch geschlossen zwischen zwei Buchdeckeln findet. „Immer hatte Else Lasker-Schüler Heimweh, sie war oft krank, traurig und verzweifelt, aber immer und trotz allem hat sie auch im Exil weiter gezeichnet, Geschichten und Gedichte geschrieben, sogar ein Theaterstück“, schreibt Renate Dohm in ihrem Nachwort, das uns die wichtigsten Lebensstationen der Dichterin noch einmal vor Augen führt. Als ich das Buch in die Hand bekam, schaute mich die sitzende Gestalt der Else (als ältere Dame) fragend, ein wenig schelmisch und rätselhaft an; fast genau wie Ulla Schenkel mich in der City-Kirche angesehen hatte. Mit wenigen Strichen in schwarz und Blau gezeichnet, daneben der Titel ‚Elsken‘ in Rot; Farbsignale für das komplette Buch.


Hatte ich hier ein Kinderbuch in Blau und Rot in der Hand? Es ist ein Kinderbuch, so wie die Dichterin das kleine Mädchen auch im Alter geblieben ist, das sie mit ihren Eltern in Elberfeld war. Das Blättern in dem schön ausgestatteten Band ist ein Fest der heiteren Gestalten in Blau und Rot; nur an zwei Stellen verschieben sich die Farben ins Grünliche und Lila. Alle Figuren stehen frei. Die Künstlerin zeigte in ihrer Ausstellung, wie sie die ersten Entwürfe angelegt, die Figuren dann ausgeschnitten und zusammengesetzt hatte. Das Buch wird dazu beitragen, dass „immer mehr Menschen sich finden, die sich von Else Lasker-Schüler ‚erwischen‘ lassen und süchtig werden nach ihrer Lebensliebe, ihren Träumen, ihrer singenden Sprache“, schreibt die Malerin. Und an anderer Stelle: „Das muss eine wundervolle, eine wilde, manchmal sogar gefährliche und doch geborgene und verspielte Kindheit gewesen sein, die die kleine Else Schüler, ‚das Elsken‘, zu Ende des 19. Jahrhunderts im Wuppertal in Elberfeld erlebt hat“. Der bunte Bilderreigen, obwohl nur in zwei Farben, dieses Buches versucht nur am Rande Illustrationen der Texte. Ulla Schenkel greift mutig und ausgelassen Motive aus den Erzählungen der Dichterin auf – und erzählt sie weiter! Darin liegt das Geheimnis jeder guten Illustration, dass sie eigenes Leben hat, eine Geschichte weitererzählt, und doch nahe an der Lebensfreude, dem Ernst, den Gefährdungen, der Tragik des Kinderlebens bleibt. Da geht es zärtlich

zu, dramatisch und gefahrvoll, da begegnen uns die ‚Knopfspiele‘ (vielleicht der eigenen Kindheit), und die hässlich „Hepp Hepp“ schreienden Kinder, die das kleine jüdische Mädchen auf dem Schulweg verspotten. Nein, hier ist keine heile Welt beschworen worden, nicht nur Geborgenheit und Liebe des Elternhauses. „Ulla Schenkel hat eine Vorliebe für erzählende Bilder, in schwarz-weiß, in abstrahierend vereinfachenden Figuren, Gegenständen und Gesten, die von weichen, mit der Rohrfeder gezeichneten Konturen wie aus einem Fluss entstehen … In Bildern von dem Kind Elsken zu erzählen, in ihrem Kopf und den Händen für sich die Frage zu klären, wie sie heute Kindern und Erwachsenen davon berichten könnte. Wie kann eine Ahnung vermittelt werden von dem, was es bedeutet, als jüdisches Kind mitten in Elberfeld groß zu werden, das Anderssein zu empfinden und mit diesem wachsenden Bewusstsein zu leben. Ulla Schenkel hat es herausgefunden! … (Die Bilder) sind alle schon auf den Farbklang von Blau und Rot reduziert. Aber die Aquarelltechnik schien Ulla Schenkel nicht überzeugend. Sie entschloss sich, die Figuren und die Versatzstücke der Szenen mit der Rohrfeder und verdünnter Tusche zu zeichnen. Ein Problem umschifft sie mit geradezu eleganter Sicherheut und auch Humor: Else Lasker-Schüler hat (selbst) wunderbare, kolorierte Zeichnungen und Grafiken geschaffen, kongenial zu ihren Dichtungen … Wer sich darauf einlässt, zur Kunst des großen Vorbildes eigene

Bilder zu schaffen, geht das Risiko ein, sich zu stark an den Stil des Vorbildes anzugleichen, es zu stark zu adaptieren. Indem jedoch Ulla Schenkel zur breiten Rohrfeder greift und mit dem ihr eigenen Schwung eine Figur aus einer Kontur erschafft, entgeht sie der Gefahr und kann trotzdem durch ihre Bilder die Sprache der Dichterin hindurch schimmern lassen.“ (G.Sch.) Wir wissen heute viel vom bewegten Leben der Dichterin ‚aus dem Tal der Wupper‘, nicht zuletzt aus dem Roman von Christiane Gibiec „Else blau“, in dem sie u. a. von den wilden Jahren in Berlin, den Leidenschaften dieser Frau und ihrer unbeugsamen Lebensbejahung berichtet. Wenn wir nun dieses großformatige wunderbare Buch mit Elses Texten über ihre Kindheit lesen, können wir dieses Leben vom Ende her betrachten. Erstaunt, zwischen den Zeilen lesend und die Bilder betrachtend, können wir in Texten und Bildern die Motive entdecken, die Else Lasker-Schüler ein Leben lang begleitet haben. „Elsken“ von Ulla Schenkel ist ein ‚Künstlerbuch‘, für das wir dieser Malerin dankbar sind. Es eignet sich wunderbar für Kinder und Erwachsene, in der Zauberwelt ihres Lebens das wunderbare Vibrieren der frühen Gefühle und Wahrnehmungen zu entdecken und nachzuempfinden. Wer könnte das, ohne lebendig an das eigene frühe Leben erinnert zu werden!? Das ist der vitalste Teil, den Literatur und Kunst zu leisten vermögen. Hermann Schulz Textredaktion: Renate Dohm Verlag: Frauen Museum e.V., im Krausfeld 10, 53111 Bonn ISBN 978-3-3940482-76-1 (Mit Unterstützung des Kulturbüros Wuppertal)

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Harald Leipnitz

Karl Otto Mühl wurde am 16. 2. 1923 in Nürnberg geboren. 1929 folgte der Umzug der Familie nach Wuppertal. Dort Ausbildung zum Industriekaufmann. 1941 Militär, 1942 Kriegsdienst in Afrika, Gefangenschaft in Ägypten, Südafrika, USA, England. Im Februar 1947 Rückkehr nach Wuppertal, wo er sich der Künstlergruppe »Der Turm« anschließt, der auch Paul Pörtner angehört. Erste Kurzgeschichten werden 1947/48 veröffentlicht. Am Carl-Duisberg-Gymnasium holt er 1948 das Abitur nach, danach Werbe- und Verkaufsleiter in Maschinen- und Metallwarenfabriken. Erst in der Mitte der 60er Jahre gelingt es ihm wieder, kontinuierlich zu schreiben. Zwischen 1964 und 1969 entsteht der Roman »Siebenschläfer« (veröffentlicht 1975). Mit den Theaterstücken »Rheinpromenade«, »Kur in Bad Wiessee«, »Die Reise der alten Männer« gelingt ihm der Durchbruch. Seitdem veröffentlichte Karl Otto Mühl dreizehn Theaterstücke, zahlreiche Fernsehfilme, Hörspiele und Romane. Die Stadt Wuppertal verlieh ihm 1975 den Eduard von der Heydt-Preis.

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Ich bin auf einen Ausspruch meines alten Freundes Harald Leipnitz gestoßen, der ein großer Schauspieler war. „Das Talent kann man nicht einsetzen, wenn man sein Handwerk nicht versteht.“ Er war schon ein Besonderer. Selten sah ich in einem Schauspieler soviel Intensität mit tänzerischer Leichtigkeit vereint, selten soviel Heiterkeit mit zarter, wehrloser Verletzlichkeit, und das alles vor dem Hintergrund tiefer, unauffälliger Religiosität und der Bereitschaft, sich auf sein Gegenüber einzulassen. Er gehörte zum TURM, einer bekannten Wuppertaler literarischen Nachkriegsvereinigung. Fast alle sind verstorben; aber, ich bin sicher, sie alle werden es immer noch bedauern, ihn nicht mehr um sich zu haben. Dafür kann er jetzt von Wolke zu Wolke tänzeln wie damals, vor etwa 70 Jahren im BALL DER DIEBE – wo er skandierte „Die Fragonards, die Leuchter und das Silber“. Etwa 4 Wochen vor seinem Tod war ich mit ihm im KONTRAKREIS in Bonn verabredet, wo er gastierte. Ob es denn nicht besser für ihn wäre, wenn er festes Engagement an einem Haus annehme, fragte ich ihn, denn er hatte schon fortgeschrittenen Lungenkrebs. So leicht wäre das gar nicht, antwortete er. Das vorhandene Ensemble reagiere mit Abwehr, wenn ein Kollege mit Bekanntheitsgrad hineingepflanzt werden sollte. Vieles kam damals zusammen, als sich sein Ende näherte. Tankred Dorst berichtete von Haralds neuer Partnerin, er wusste, wie Harald unter der Unerbittlichkeit der Trennung von seiner Familie litt. Er war ein weichherziger Mann. Kurz vorher war ich beim hiesigen Discounter seiner ersten Frau begegnet, einer Religionslehrerin. Ich weiß, wie ernst die Beiden ihre Beziehung nahmen. Ihr zuliebe war er zum katholischen Glauben konvertiert Zur offiziellen Scheidung war es nie gekommen. Ich dachte daran, dass er als erster in meinem Leben eine Geschichte von mir vorgelesen hatte. Das war 1947 in der „Kunststube Leithäuser“, einem Ladengeschäft in dem angeschlagenen von der Heydt-Museum Wuppertals. Die Wuppertaler Künstler der ersten Stunde waren dabei; natürlich auch Paul Pörtner und Tankred Dorst. Ich glaube, der las seine Geschichte „Esther geht zum König“ vor.

Ich habe noch niemand getroffen, der Harald Leipnitz nicht mochte, den liebenswürdigen Jungen aus der Wuppertaler Varresbeck. Im Foyer des kleinen Theaters erlaubte er sich ein Glas Wein, meine ich mich zu erinnern. Seine neue Gefährtin, Ingrid Weis, kam hinzu. Er wirkte fiebrig. Seine Krankheit kannte er, aber er hoffte, dass sie zum Stillstand gekommen war. Wir standen einander gegenüber, sprachen von seinen Plänen, seinen Gastrollen – aber mich verließ nie das Gefühl, dass hinter einem unsichtbaren Vorhang heftige Auseinandersetzungen stattfanden, Gespräche in einer unwirklichen Welt. Dass von mir etwas erwartet wurde, zu dem ich mich nicht fähig fühlte. Ein letztes Gespräch zu Füßen eines schwarzen Riesen, was konnte ich da sagen. Es war, als ob er mir flüchtig zugewinkt hätte, als ich kurz danach die Nachricht von seinem Tod erhielt. Karl Otto Mühl


Die Hütte auf Connemara Da an der Küste der Halbinsel Connemara hat sie zuletzt in ihrer Hütte gewohnt, Tatjana, als alt gewordene Frau. Da passierte nichts außer dem, was die Natur unternahm, oder, wenn der Nachbar etwas Nachdenkliches sagte. Tatjanas Mann war gestorben, eine Tochter lebte in Galway, ein Sohn in Dublin. Doch, lange Briefe schrieb sie mir in den letzten Jahren, ich möchte kommen, oder, ich möchte mit meinem Sohn kommen, und – später – ich könne ja auch mit meiner Frau kommen; nur kommen sollte ich – Und dabei hatten wir doch nur eine einzige Nacht, na ja, auch einen Abend, aber das vor fast dreißig Jahren. Wir arbeiteten im gleichen Konstruktionsbüro, sie als Zeichnerin, ich als Ingenieur. Ob sie schön war? Weiß ich nicht. Man sah sie an und spürte federnde Bewegungen an ihr und sah das Glitzern in ihren Augen. Sah auch die kraftvoll hervortretenden Backenknochen, dachte vielleicht an Steppe und Dschingis Khan. Oder an Fleisch, das unter ihrem Sattel mürbe geritten wird, während ihre Haare flattern. Ihr Schreibtisch war neben meinem, und irgendwann fingen wir an, uns kleine Zettel mit Bemerkungen zuzuschieben. Irgendwann stand auf einem, ich könne sie am Abend auf dem Nachhauseweg begleiten. Tat ich, und, ich muss sagen, heute, nach einem Zeitalter, habe ich diesen ersten Kuss unter einem Baum, auf raschelndem Laub stehend, nicht vergessen. Ein flammendes Gefühl packte mich damals von oben bis unten, oder umgekehrt, und, es ließ den Rest von Gehirn, den ich besaß, schmelzen. Beim Küssen merkte ich beseligt, dass ihr Atem heftiger und stoßweise wurde. Der Rausch überkam auch sie. Für den nächsten Abend verabredeten wir uns in der Gartenlaube ihrer Eltern. Der Regen prasselte auf die Holzhütte, die Welt vor dem kleinen Fenster war grau und nass, die Bank in der Hütte war hart und nur mit einer Wolldecke bedeckt, aber Tatjanas Körper war hell, weich und warm. Am morgigen Abend könne ich bei ihr zu Hause übernachten, sagte sie, ihr Vater habe Nachtschicht. Wo die Mutter war, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht waren die Eltern geschieden.

Meine Erinnerung reicht nur bis zu dem Bett, in dem wir beide uns aneinander drückten. Eine heiße Begrüßung war vorausgegangen, fällt mir ein; ich erinnere mich sogar, dass da unter dem Kleid wohl nicht viel an Textilien war. Es war wieder eine berauschende Begegnung, in der alle mögliche Gegenwehr verbrannte – bis wir plötzlich das Geräusch der Wohnungstüre hörten. Ihr Vater war doch heimgekommen. Ich verkroch mich unter der Bettdecke und hörte, wie er ihr eine gute Nacht wünschte. Anscheinend bemerkte er mich nicht oder wollte es nicht. Als wir uns am nächsten Morgen aufmachten, schlief er noch. Bei der Arbeit schob sie mir einen Zettel zu, ich möge sie am Abend zu ihrem Verlobten begleiten, der mit seinem Blinddarm im Krankenhaus lag. Das war zwar eine Überraschung für mich, aber keine so ganz große, weil ich ohnehin irgendwie betäubt im Liebesrausch war, und mir selbst auch nicht vorstellen konnte, ich selbst wäre für die Rolle eines Verlobten geeignet. Ich kam mir frei von jeder Verantwortung vor. Heute wundere ich mich, dass es mich nicht mehr beunruhigte, dass sie einen Verlobten hatte und dass sie ihn mit mir zusammen besuchte. Was sie dabei dachte, werde ich niemals ganz erfahren. Der Verlobte, er hieß Egon, war ein freundlicher, rotbackiger, junger Mann. Wir standen an seinem Bett und sprachen mit ihm, und auch darüber wundere ich mich heute noch. Mein Mitkommen schien ihn nicht zu erstaunen. Mehr habe ich übrigens nie über ihn erfahren. Die Ereignisse ließen mir auch wenig Zeit. Am nächsten Tag schob sie mir vom Nachbar-Zeichenbrett aus einen Zettel zu, sie wolle mich in der Mittagspause sprechen. Wir trafen vor der Cafeteria im Herbstsonnenschein aufeinander, und sie sagte mit niedergeschlagenen Augen: „Wir können nur zusammen bleiben, wenn wir uns innerhalb der nächsten vierzehn Tage verloben.“ Was wurde von mir verlangt? Den seligen Rausch für alle Zukunft fortzusetzen? Wollte ich das, gab es das überhaupt? Was ging in ihr vor? Ich habe als Junge noch die Bomben auf unsere Stadt fallen hören, sogar das Kreischen von Granateinschlägen habe

ich gehört. Aber diese Worte erschreckten mich mehr. Sie trafen mich allein, nur mich. Sie waren kalte, harte Realität, die mich herausriss, aus dem warmgefütterten Alltag. Seit diesem Augenblick weiß ich, dass Frauen Explosivkörper sind. Man weiß nie, wann sie explodieren. Und mir fällt ein Kinder-Ausspruch ein, den ich kürzlich gelesen habe: „Vom Küssen muss man heiraten.“ Zwei Tage später – wir hatten nicht mehr miteinander gesprochen – gab es das nächste Drama. Es gab eine Anweisung, sie kam vom Chef, dass Tatjana mit ihrem Tisch und Zeichenbrett in einen anderen Raum versetzt werden solle. Dies geschah auch. Ich muss mich sehr geschämt haben, dass wir aufgefallen waren. Wahrscheinlich habe ich diese Tage in einer Art Anästhesie überstanden – wenn ich durch das Büro ging und spürte, wie mir die Blicke der Kollegen folgten. In den folgenden Wochen begegnete mir Tatjana nie, wahrscheinlich blieb sie in der Mittagspause im Büro. Und danach war sie plötzlich verschwunden. Es hieß, sie sei im Ausland. Statt Tatjana beschäftigten mich nun die Folgen. Auf einmal hatte ich eine vegetative Dystonie, so sagte der Arzt, eine Krankheit, die man heute seltener so nennt. Ich fühlte mich krank, gefährdet, geschwächt, nicht voll einsatzfähig. Schwere Beine, Herzklopfen, Frösteln, Stiche in der Brust, alles machte mir Angst und ließ mich ein baldiges Ende fürchten. Natürlich ging ich weiter zur Arbeit, aber darüber hinaus nahm ich mir nichts vor. Erst nach etwa zwei Jahren klang dieser Zustand ab. Initiative spürte ich aber erst wieder, nachdem ich die Firma gewechselt hatte, zu einem Freund, der Architekt für Industriebauten war. In dieser Zeit nahmen wir zusammen mit einer befreundeten Firma an einer Messe in Moskau teil. Ich stand vom Morgen bis zum Abend in der Hotelhalle, wo die Ausstellung ausgerichtet war. Moskau, das klingt weitgereist und weltläufig, aber ich erlebte eigentlich nur die zwei Tage in der verschneiten Stadt; Fahrten zu Regierungsgebäuden im Lada durch verschneite Straßen zu Behörden, Trinksprüche mit Ansammlungen von

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Ministern; Schnaps, Ministeriale, Gespräche, dazu abends im Hotelrestaurant Menschengewimmel, Wein, russische Jeunesse Dorée, westliche Musik trotz Kommunismus. Was sich in der Hotelhalle an den Nachbarständen abspielte, beachtete ich nicht. Ich kannte weder die Produkte noch die Schwerpunkte der Mitaussteller. Woher auch. Am zweiten Tag der Messe gab es eine Überraschung für mich. Von einem der Nachbarstände kam ein stämmiger, jüngerer Mann an unseren Stand, der nach mir fragte. Er stand mir gegenüber, ein freundliches Gesicht, rötliche, drahtig-dichte Haare, ein echter, kraftvoller Ire. Ob ich eine Kollegin namens Tatjana gehabt hätte? Ich bejahte. Natürlich kannte ich so eine. „Ich bin mit ihr verheiratet“, sagte er. „Soll ich sie grüßen?“ Natürlich sollte er. Drei Kinder hätten sie, fügte er hinzu. Sie lebten in Galway, also im Nordwesten von Irland. Mehr erfuhr ich nicht, mehr hätte ich auch nicht zu fragen gewusst. Es blieb das Gefühl, dass wir im Unbestimmten Segelnde sind, ein Leben lang, und an Kaps oder Landspitzen segeln wir aneinander vorbei und winken uns zu; aber um ein Kleines würde dieses Treiben-Lassen und Segeln auch körperlos sein, wir, nur noch treibendes Bewusstsein, leicht

wie ein Frühlingshauch unter blassem Himmel – aber, bei solchen Grübeleien versuchte ich dann immer rasch, an etwas Konkretes zu denken, zum Beispiel an die winterlich verdorrten Sträucher entlang meiner einsamen Spaziergänge. Das half meistens. Viele Jahre hörte ich nichts von Tatjana. Vor einigen Jahren begannen dann ihre ersten Anrufe und erreichten mich ihre ersten Briefe. Die Briefe waren lang, obwohl nichts zu berichten war. Es schien nichts zu passieren. Sie lebte einfach allein. Ich weiß nicht mehr, was darin stand. Natürlich schien alles großartig zu sein. Keine Vorstellung habe ich von der grandiosen Natur, keine Ahnung vom Meer, keine Ahnung von dem Gefühl, wenn man da oben oder da unten stehe. Manchmal sage der Nachbar dieses oder jenes, aber alles sei ganz großartig – und sie sei glücklich. Selten fahre sie nach Dublin, wo ein Sohn und Enkelkinder lebten. Ihre Briefe und Mitteilungen enthielten durchweg immer die gleichen Informationen, ja, dieselben Sätze. Freilich, auch damals, vor Jahrzehnten, hatte sie Unverbundenes manchmal sehr schroff und erstaunlich inkohärent ausgedrückt, etwa „So ein Tier würde ich niemals berühren. Aber, wenn ich Ziegenkäse esse, gehe ich immer aus der Küche. Das waren noch Zeiten, als ich mich um Tante Babs kümmerte …“

Obwohl ich die herauspurzelnde Art, zu sprechen, bei ihr zu kennen glaubte, kam sie mir immer merkwürdiger vor. Ich fragte sie einmal, ob sie schon einmal mit einem Arzt oder Psychiater gesprochen hätte. Ach, sagte sie, das wisse sie ja alles. Sie sei so erfüllt von Wohlgefühl – Ob sie denn nicht einmal zu Besuch komme, fragte ich. Dass man miteinander reden könnte. „Ach“, sagt sie, „ich war ja letzte Woche da, in eurer Stadt, bei meiner Schwester. Nein, dich wollte ich nicht anrufen. Du kommst ja sowieso bald herüber.“ Das erschreckte mich. Nach einigen Wochen war ihr Telefon tot. Sie war nicht mehr zu erreichen. Ich hatte die Telefonnummer ihrer Tochter in Dublin, aber, als ich anrief, kam ein derartiges Sprach- und Ansage-Gewimmel aus dem Hörer, dass ich entmutigt auflegte. Ich denke, sie ist entweder gestorben, oder ihre Kinder haben sie zu sich genommen, oder sie ist in einer Anstalt. Die Tatjana meiner Vorstellung segelt im Unbestimmten. Die Fragmente ihres Lebens – also, was ich von ihr weiß – scheinen zu nichts zu führen und liegen als Rätsel vor mir. Ich habe es noch nicht verstanden. Sie scheint irgend etwas von mir erwartet zu haben. Das Ganze muss vielleicht irgendwie anders erledigt werden. Karl Otto Mühl

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Ein Weg aus freien Stücken

Safeta Obhodjas Foto: Angelika Zöllner

Zwar wussten Aylas Eltern von Anfang an, dass sie seit einem Jahr mit Fuat im Internet oder per Skype kommunizierte, aber er wurde nur als ein PhantomFreund wahrgenommen. Ohne Kommentar erfüllten sie ihr den Wunsch, beim Goethe-Institut Deutsch zu lernen und betrachteten das nur als noch eine Macke ihrer eigensinnigen Tochter. Ein Phantom! Von wegen. Eines Tages kündigte Ayla den Besuch ihres Freundes an. Immer noch konnten sich ihre Eltern nicht vorstellen, dass dieser Deutschtürke aus dem Internet eine reale Person war. Er sei siebenundzwanzig, arbeite als Manager einer großen Firma in Deutschland, und er befände sich auf seiner ersten Geschäftsreise in Istanbul. Die beiden hätten lange auf diese Chance gewartet, sich endlich persönlich kennen zu lernen, klärte Ayla ihre Eltern auf und fügte stolz hinzu, dass er seine guten Sprachkenntnisse ihr zu verdanken habe. Die Telefonate mit ihr und die ausgetauschten E-mails hatten ihm geholfen, Türkisch richtig zu erlernen. Seine Zweisprachigkeit hatte ihm dann diesen guten Job verschafft. Damit konnte sie ihre Eltern nicht beeindrucken, einstimmig lehnten sie ab, einen Fremden aus dem Westen in ihrem Haus willkommen zu heißen. „Ihr habt mich als Baby in dieses Land der Frauenhasser mitgebracht, ich konnte mich nicht dagegen wehren. Wenn ihr schon vor dem Krieg in Bosnien geflohen seid, warum nicht Richtung Westen, wie alle anderen, zivilisieren Menschen. Mein Freund Fuat lebt in Europa, und ich will zu ihm. In seinem Land sind Frauen frei, hat er mir erzählt, frei ihr Leben selbst zu bestimmen. Das will ich auch.“ Wenn immer sich Ayla eingeengt fühlte, rüttelte sie an dem schlechten Gewissen der Eltern. Tief in die Nacht lauschte sie dem Flüstern aus ihrem Schlafzimmer und hoffte auf ein positives Ergebnis der späten Beratung. In den langen schlaflosen Stunden bis zur Morgendämmerung betete sie: „Lieber Allah, öffne mir einen Weg nach Europa, sei es durch Fuat Kacer. Bitte, bitte!“ Der Gott schien ein gutes Gehör und viel Barmherzigkeit zu haben. Am Morgen teilten die Eltern Ayla mit, dass sie ihren Freund zum Abendessen einladen möchten. Wenn er schon kein Phantom

war, dann sollte das Treffen mit ihm unter ihrer Aufsicht stattfinden. Der junge Mann war geschäftstüchtig und hatte viele Termine in Istanbul, aber er schaffte es, Ayla und ihre Familie zwei Mal zu besuchen. Während des Besuches saugte das Mädchen alles auf, was er vom Leben der Musliminnen im ihr fremden Land erzählte. Immer wieder, wenn sie dieses Thema ansprach, betonte er, dass die Frauen in seiner Familie sehr stark seien und niemandem erlaubten, sie herumzukommandieren. Seine Mutter und Schwester hätten sogar an einer von den Deutschen organisierten Demo teilgenommen, die sich gegen eine radikale Gruppierung gerichtet hatte. Ayla verstand nicht gegen wen und was sie protestiert hatten, sie hörte nur, das wäre freiwillig gewesen. Obwohl sich Fuat sehr anständig benahm und Ayla respektvoll behandelte, konnte er damit bei ihren Eltern nicht richtig punkten. „Ich habe das Gefühl, das ist nicht sein wahres Gesicht, was er uns da präsentiert hat“, lautete das Urteil ihrer Mutter, aber das Mädchen stellte sich taub. Beim ersten Skype-Gespräch nach seinem Besuch, lud Fuat Ayla nach Deutschland ein. Ihre Gastgeberin sollte seine ältere Schwester Merve sein, diese rebellische, die bei einer politischen Demonstration mitmarschiert war. Ayla reagierte euphorisch und krempelte ihren Alltag um. Sie vernachlässigte ihr Kunststudium und lernte intensiv Deutsch. Gerade in dieser Zeit gingen die Proteste gegen die Willkür der Regierung in Istanbul los, eine willkommene Möglichkeit, ein Praktikum in europäischer Demokratie zu absolvieren. Mit einer Gruppe Studenten lief sie drei Tage hintereinander zum Taksim-Platz, wo sie ein paar Stunden unbewegt dastand, glücklich ihren eigenen Mut auskosten zu dürfen. Prompt bekam ihr Vater per Handy ein Bild von ihr als schweigende Demonstrantin. Am Abend machte er ihr die Hölle heiß. „Die Prügelknechte hätten dich wie viele andere zum Krüppel schlagen oder dich mit Tränengas vergiften können. Noch schlimmer wäre es gewesen, wenn sie dich verhaftet hätten. Man munkelt, in den Polizeirevieren werden Frauen vergewaltigt. Wer kann uns

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dann helfen, wir sind immer noch fremd in diesem Land.“ Nachdem die Liste der Horrorvorstellungen ihrer Eltern erschöpft war, sagte Ayla mit vorgetäuschter Ruhe: „Ihr habt recht, das alles hätte mir passieren können. Seht ihr nicht, dass nur Fuat mich aus diesem schrecklichen Land retten kann?“ Die junge Frau blieb mehrere Tage im Hause eingesperrt, währenddessen ihre Eltern nach einer Lösung suchten. Am Ende riefen sie eine Cousine mütterlicherseits an, die in der Nähe von Düsseldorf lebte. Sie schuldete ihnen eine Revanche, weil sie bereits drei Mal bei ihnen samt ihrer ganzen Familie zu Gast gewesen war. Die Verwandte reagierte wie erwartet und bot Ayla Unterkunft und Verpflegung an. Die Sicherheitsvorkehrungen der Eltern konnte das Mädchen nicht ablehnen, weil sie ihnen dann die Wahrheit über den Onkel hätte sagen müssen. Jedes Mal wenn dieses Ehepaar in ihrem Haus geweilt hatte, hatte er versucht, sie anzufassen und zu belehren, wie berauschend die Küsse eines echten Mannes sein konnten. Die junge Frau hasste diese Cousine und ihren Gatten, dennoch hätte sie lieber ihre Zunge durchgebissen, als den Eltern davon erzählt. Sie schämte sich dafür, dass so eine Schande in ihrer Familie möglich war. Während des langen Wartens auf ein Visum intensivierten sich die Gespräche

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zwischen den jungen Leuten. Fuat betonte immer wieder, er würde sie respektvoll behandeln, als wären sie schon verlobt. Eine Heirat gehörte zwar nicht zu ihren Zukunftsträumen, aber wenn sie die einzige Möglichkeit bot, ein freies Leben in einem freien Land zu führen, dann musste sie so etwas in Kauf nehmen. Er versprach ihr, sie am Flughafen zusammen mit Schwester und Mutter abzuholen. Von der Verwandten, die den Empfangsauftrag ihrer Eltern hatte, berichtete sie ihm nicht. „In Deutschland entkomme ich der Sorge meiner Lieben. Ich werde die Cousine begrüßen und ihr offen sagen, dass ich Fuat vertraue und bei seiner Schwester wohnen möchte.“ Als sie nach der Landung zu dem jungen Mann beim Ausgang eilte, war sie sicher, das glücklichste Mädchen der Welt zu sein. Eine Sekunde später wurde sie ein bisschen stutzig, weil er alleine war, obwohl er beteuert hatte, seine Mutter und Schwester mitzubringen. Zwei Frauen in langen Mänteln und mit schwarzen Kopftüchern, die hinter ihm standen, nahm sie nur flüchtig und ein bisschen irritiert wahr. So ein Bild entsprach nicht ihrer Vorstellung von europäischer Zivilisation. „Warum ist er alleine? Hat mich seine Familie etwa abgelehnt? Was mache ich jetzt?“ In seinem eleganten Anzug machte Fuat eine gute Figur. Sein Blick aber musterte sie kritisch und schien an ihren langen,

dunkelblonden Haaren zu kleben. Sie nährte sich ihm langsam, verängstigt durch seine versteinerte Miene. „Ayla, ich dachte, du würdest von alleine darauf kommen. Es ist meine Schuld, ich hätte dir das sagen sollen. Meine Mutter und meine Schwester Merve“, stellte er ihr die Frauen in langen Mänteln vor. „Hab’ aber keine Sorgen, sie werden sich um dich kümmern. Und sie haben mehrere Geschenke für dich.“ Die jüngere Frau mit den geschickt geschminkten Augen zog eine Tüte aus ihrer Tasche. „Willkommen! Unsere Schwester, ich freue mich, dich endlich kennen zu lernen. Fuat hat uns so viel von dir erzählt. Und von deiner Familie. Komm mit! Es gibt dort an der Ecke einen Raum mit Spiegeln. Alle Frauen in unserer Familie, glaub mir, alle haben sich aus freien Stücken entschieden, sich den Sitten entsprechend zu kleiden. Du kannst die Farbe wählen: schwarz, dunkelblau, dunkelrot. Das dunkelblaue mit Spitze würde gut zu deinen Augen passen. Mit diesem Kopftuch wird dich mein Bruder noch mehr lieben.“ Safeta Obhodjas

Sarah Thornton, britische Kunsthistorikerin und Soziologin, hat in den USA 2008 unter dem Titel „Seven Days in the Art World“ ein Buch veröffentlicht, in dem sie (Zitat) „die Welt des riesigen, boomenden Marktes der Gegenwartskunst“ an sieben Orten in sieben Kapiteln vorstellt.

Mathias Weis Zwischen Leinwand und Hungertuch Aus dem Alltag eines Malers

Mathias Weis’ Buch nun ist eine ganz persönliche Antwort auf diese Betrachtung der Spitze der Kunstweltpyramide. Ausgehend von der Überzeugung, dass Übertragungen der von Thornton geschilderten „Sahnehäubchen“ der Kunstwelt auf deren weniger prominente Bereiche, die immerhin den weitaus größten Teil der lebenden Künstler ausmachen, unpassend sind, schildert der Autor sich und sein eigenes Umfeld exemplarisch im Spannungsfeld zwischen Atelier, Geldjob und ALG 2 in der Form eines Tagebuchs.

312 Seiten Klebebindung, 21 x 15 cm Verlag HP Nacke Wuppertal ISBN 978-3-942043-45-8 14,90 Euro


Das Heben von Wortschätzen

Karla Schneider war als Buchhändlerin und Mitarbeiterin einer Tageszeitung in Dresden tätig, bevor sie 1979 nach Wuppertal übersiedelte. Sie arbeitete für die ZEIT und die FAZ als Jugendbuchrezensentin und für das Feuilleton der FAZ. Bisher wurden mehr als 30 Romane, Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht. 2014 wurde sie mit dem Ida Dehmel Literaturpreis der GEDOK gewürdigt.

„.. und von drei Seiten, ungleichmäßig einsetzend, hört man die Glockenschläge der Cronenberger Kirchtürme: ein Potpourri aus reformierten, lutherischen und katholischen Zwölfen.“ So heißt es in Karla Schneiders Erzählung „Spätprogramm“ (Ars Vivendi,1988). Seit Ende der Siebzigerjahre lebt die Autorin in Wuppertal und schreibt an der Grenze zu Remscheid und Solingen Romane und Erzählungen. Nicht immer ist es das Bergische Land, das sich als literarischer Ort in ihren Romanen einen Platz erobert hat, sondern Dresden mit seinen vielen Vororten und der Elbe, sind Leitmotiv zahlreicher Geschichten. Kein Wunder: Karla Schneider wurde in Dresden geboren. Sie wuchs in einer großen Familie auf. Drei Kinder, drei Frauen und ihr Großvater lebten zusammen in einer alten Villa. Die jüngeren Männer – viele davon Väter – waren damals im Krieg. In den 22 Geschichten aus „Kor, der Engel“ (Haffmans, 1992) taucht der Leser ein, in die Zeit der Vierziger- bis Achtzigerjahre. In den frühen Erzählungen schaut man mit den Märchenaugen des Kindes ins Geschehen, fühlt, riecht, schmeckt, begehrt auf und wildert in den verwunschenen Gärten alter Häuser und am Ufer der Elbe. Die Autorin nimmt uns mit auf eine Zeitreise durch ihre Wirklichkeit, die zunehmend zu einem neugierigen Forschen und Hinterfragen wird. Wie sie selbst das Lesen erlernte? Das kann man nachlesen in der Erzählung „Märchenkalender 1945“. Gerade mal vier Monate in der Schule, wird sie krank und bekommt einen Kalender geschenkt, in dem 12 Märchen stehen, für jeden Monat eines. „Ich mache mich also an die Entschlüsselung, aus reiner Langeweile. Es dauert zwei Tage, bis ich den Code geknackt habe und einigermaßen weiß, welcher Schnörkel welchem Buchstaben in der Fibel entspricht … Nach Tagen verbissener Schufterei begreife ich sogar Handlungen.“ Welch ein Glück, dass ihre Fertigkeiten anhielten und die Autorin das Lesen nicht verlernte, wie sie zuerst befürchtet hatte. In ihren Erzählungen, die dem Familienfaden folgen, geht man an der Hand einer scharf formulierenden Beobachterin durchs Geschehen. Die Protagonisten

finden immer wieder abgelegene, oft geheimnisvolle Antiquariate, in denen sie stöbern, verschwinden oder sich finden können. Wer sich auf Karla Schneiders Texte einlässt, muss sich bewusst machen, dass die literarische Welt immer auch Mitspielerin ist. Zwar an der durchlässigen Grenze zur Realität, doch mit dem Vorzug der vollkommenen Fantasiefreiheit. In Gesprächen mit ihr plaudert es sich leicht und humorvoll über Literatur heutiger und vergangener Tage und man erfährt so von den Wissensschätzen der Autorin und geht mit Worten um, die fast vergessen worden wären (was sind z. B. Schloßen?). Ihr Werk ist umfangreich und umfasst neben Erwachsenenliteratur auch Kinder- und Jugendbücher. Am Beginn ihres professionellen Schreibens standen Geschichten für Erwachsene. Wenn man Schriftstellerin ist und von diesem Beruf seinen Lebensunterhalt bestreiten muss, gilt es auf den Buchmarkt flexibel und vielseitig zu reagieren. Das hat die Autorin getan, indem sie verstärkt begann Kinder- und Jugendbücher zu schreiben. Mit Erfolg. Preise und Anerkennungen ließen nicht lange auf sich warten. Nur Weniges sei hier genannt: Sie erhielt 1984 den Josef-Dietzgen-Preis und 1989 den Astrid-Lindgren-Preis. Ihr Jugendroman „Reise in den Norden“ stand 1995 auf der Bestenliste im Deutschlandfunk und war 1996 für den Kinder- und Jugendbuchpreis nominiert. Für ihr Romanprojekt „Rückkehr nach Podgoritza“ (Schöffling & Co., 2001) wurde ihr ein Landesstipendium bewilligt. 2008 erhielt sie den Alex-Wedding-Preis der Akademie der Künste in Berlin für ihr kinder- und jugendliterarisches Werk. Erste Veröffentlichungen glückten schon Mitte der Siebzigerjahre in der damaligen DDR beim Eulenspiegel Verlag mit einem Krimi „Die Brauerei auf dem Kissen“. Diese Reihe im Verlagsprogramm umfasste satirische Krimis, deren Handlungen im westlichen Ausland spielten. Bei dem zweiten Krimi mit dem Titel „Rochus und Margot oder die bittere Lust zu verzichten“ kam die Ausreise in den Westen Ende September 1979 dazwischen. Wer mehr darüber erfahren möchte, welche Barrieren die Autorin überwinden

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musste, um überhaupt in das von ihr gewünschte berufliche Fahrwasser zu gelangen, dem sei die autobiografische Geschichte „Ungute Jugend“ (Karussell 2/2013) empfohlen. Darin wird man gewahr, wie der Druck des DDR-Regimes einen jungen Menschen auf der Suche nach seinem beruflichen Weg körperlich und psychisch zermürbt. „Nicht mal eine Äff-Dee-Jott-Bluse hatte sie besessen. Aber das konnten sie unmöglich herausgefunden haben“, so heißt es dort. Eine Bewerbung zum Volontariat bei einer Zeitung verläuft negativ. Erst neun Monate später, nach „dem freiwilligen Einsatz“ in der Technologie der VEB Tabak-Union war es möglich, eine zweite Bewerbung für ein Volontariat an eine andere Tageszeitung zu richten, die wiederum unter fadenscheinigen Begründungen abgelehnt wurde. „Wenn also nichts mit Schreiben, dann eben mit Lesen.“ Eine Ausbildung in einer Lehrbuchhandlung wurde genehmigt. „Sicher durfte man sich mal was ausborgen und zu Hause schmökern. Vom Kollegenrabatt gar nicht zu reden.“ Die Lebensgeister der Autorin erwachten, was sich bald mit Witz und Schabernack bei der Schaufenstergestaltung in der Volksbuchhandlung äußerte. Ein brauner nackter Osterhase aus Wellpappkarton gebastelt saß mit gespreizten Beinen mitten in den Frühlingstiteln. Dieses unerhörte Ereignis wurde, weil von Spitzelin Erika aus der Fachbuchabteilung als anzüglich empfunden, der Partei gemeldet – Wieder gab es keine Prämie. Die Tragikomödie offenbart das Absurde und die schmerzliche Ungerechtigkeit, der die Erzählerin ausgesetzt war. Was bedeutet Literatur für Karla Schneider? Die knappe und klare Antwort: „ALLES“. Dabei verweist sie auf das Puschkin-Zitat aus „Eugen Onegin“, worin es heißt: „Früher gefielen ihr Bücher, sie ersetzten ihr alles.“ Tatsächlich lässt sich diese Maxime der Autorin – auf die Künste im Allgemeinen ausgeweitet – anhand ihrer Publikationen belegen. Keine Erzählung, kein Roman, auch keines ihrer Jugend- oder Kinderbücher, ohne dass Literatur, Lesen, Theaterspiel, Musik, Tanz, Film, Kunst oder Architektur nicht eine Rolle im Handlungsgeschehen übernommen hätten. Aber es geht

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auch darum, Wörterschätze zu bergen, vor dem Vergessen zu retten und damit historische Themen anzufassen, die man in ihrer Opulenz erst einmal für ein Jugendbuch für zu schwierig hielte. Doch das hieße, die Leser zu unterschätzen und nicht an ihren Intellekt zu appellieren. Namens- und Ortsregister im Anhang, Worterklärungen für Wörter aus alter und neuer Zeit führen die Begierigen durch den Lesestoff, während Genießer sich einfach dem Schicksalsfaden der Figuren überlassen können. Doch dieses stets in der Gewissheit, sich in einem korrekt recherchierten Terrain zu bewegen. Beispielhaft sei hier der Roman „Die Geschwister Apraksin. Die Abenteuer einer unfreiwilligen Reise“ (Hanser, 2006) erwähnt. Kurz nach der Oktoberrevolution sehen die fünf Geschwister Apraksin als Waisen für sich keine andere Lösung zusammenzubleiben, als von zu Hause fortzugehen. Die Reise führt die zwei Jungen und drei Mädchen zwischen 5 und 15 Jahren von Rostow am Don über Jalta nach Moskau. Polly, die Zweitälteste hält das Zepter in der Hand. Doch in diesen Zeiten gehorcht nichts berechenbaren Gesetzen. Sie treffen auf ihrem Weg Hehler, Schieber, Straßenkinder und demobilisierte Soldaten. Finden aber auch vorübergehende Aufnahme bei einer reisenden Künstlertruppe oder bei Lehrerinnen für Ausdruckstanz nach Art von Isadora Duncan. Es wimmelt nur so von Musikern, Tänzern, Theaterdarstellern und Zirkusleuten. Diese Vielfalt von „Nebenfiguren“, die den Flüchtenden an die Seite gestellt sind, geben dem historischen Geschehen seine Farbigkeit. „Und Ihr Lieblingsfilm?“, lautete einmal die Frage aus dem berüchtigten Haffmans-Fragebogen. „Andrej Rubljow von Andrej Tarkowskj.“ Wen wundert's, dass es im Kern dieses von ihr genannten Films um einen Ikonenmaler geht und die Frage, sich den Glauben an die eigene Kunstintention zu bewahren. Klingt das nicht auch in ihren eigenen Büchern an? Wenn es darum geht, eine literarische Figur zu benennen, die der Autorin am nächsten kommt, wird es die Räubertochter in Hans Christian Andersens „Schneekönigin“ sein. Die Räubertochter hat das Gute wie das Böse zur Verfügung. Sie ist die (Be-)Herrscherin über große

wie kleine Gestalten, über Menschen und Tiere im Räuberdorf. Sie verfügt über die Bewohner und setzt diese nach Lust und Laune ein. So geht sie auch mit der kleinen Gerda um, die auf der Suche nach ihrem Freund Kay ins Räuberdorf geraten ist. Mit dem Messer in der Hand legt sich die Räubertochter neben Gerda aufs Nachtlager und lässt sich von ihr erzählen. Auf drastische Weise bestimmt sie in diesem Moment über Leben und Sterben der Besucherin, ganz wie sie den Verlauf steuern will. Am Morgen dann lässt sie Gerda mit üppiger Reiseausstattung ihre Suche nach Kay fortsetzen. In dieser Szene wird die Freiheit des Handels als absolut demonstriert. Geradezu sinnbildlich steht die Räubertochter für das, was ein Schriftsteller tut, nämlich mit dem Einsatz des von ihm ausgewählten Personals die Handlung zu leiten. Dass die Annäherung an diese Märchenfigur nicht ganz aus der Luft gegriffen ist, zeigt vielleicht auch der Band „Almuth und Helene“ (Haffmans, 1993). Die zwei weiblichen Protagonistinnen sind dem biblischen Frauenpaar Martha und Maria (die Schwestern des Lazarus) entlehnt. Almuth ist Literaturdozentin, ihre Cousine Helene, verwitwet, führt den Haushalt. Leitmotivisch durchzieht den Roman aber die Spurensuche nach einem Winterbild zu Andersens „Schneekönigin“. – Als der Student Padde bei den beiden Frauen zur Untermiete einzieht, sorgt dieser zuerst für Verwirrung, recht bald aber wird er Anlass zur Konkurrenz zwischen den Frauen um seine Gunst. Ein schockartiges Zusammentreffen des Nachts zwischen Almuth und dem gerade der Wanne entstiegenen kleinen Padde entzaubert die vorher dagewesenen Gefühle wie „Opferbereitschaft und Güte, eine Art Darüberstehen“. Alles vergeht so jäh wie es aufgekommen ist. Einzig Helene in ihrer burschikosen und zupackenden Art schafft es (unfreiwillig), dass der kleine Padde nach dem Ostermahl mit einer Fischvergiftung ins Krankenhaus kommt und seine kargen Habseligkeiten gleich mit ihm umziehen. Aber es geht in diesem Text auch darum, Begegnungen literarischen Lebens nachzuspüren, denen zwischen Freiligrath und Andersen zum Beispiel. In diesem atmosphärisch dicht erzählten Band


durchdringen sich Leben und LiteraturGeschichte. Das schriftstellerische Werk Karla Schneiders zu beschreiben, kann nur unvollständig bleiben. Doch sei hier der 2007 bei Hanser erschienene Entwicklungsroman „Marcolini oder Wie man Günstling wird“ genannt, der zwar als Jugendbuch daherkommt, in Wirklichkeit aber auch das Herz des erwachsenen Lesers erfreut. Die Residenz Dresden (1763) und die Elbe sind Handlungsorte. Camillo Marcolini, ein italienischer Comte aus ärmlichem Hause, wird Page und später Erzieher des gehemmten und körperlich beeinträchtigten Erbprinzen Friedrich August. Zwei Jungen also, der Page fünfzehn, sein Herr dreizehn Jahre alt. Marcolini muss stets abwägen zwischen der Freundschaft zu seinem Herrn und den Machtspielen bei Hofe, um seine eigene Position nicht zu gefährden. Im diesem Ränkespiel bleibt für den Erbprinzen und seinen Freund kaum

Freiraum, eigene Fähigkeiten und Interessen auszubilden. Erst als dem Prinzen von seiner Mutter erlaubt wird, einige Monate in Pillnitz zu verbringen, ergibt sich die Gelegenheit, der strengen Hofetikette zu entgehen. Der Prinz lernt dort unter großen Anstrengungen und selbst auferlegter Disziplin wieder laufen. Auch setzt er seine naturwissenschaftlichen Sammlungen und Studien fort. Kurz, das Leben kehrt ein. Ließe man das literarische Personal sämtlicher Erzählungen und Romane einmal gemeinsam die Bühne betreten, würde hinter ihnen eine unzählbare Menge historischer Figuren aus Kunst, Literatur und Politik sichtbar werden, denen im Schneider'schen Werk Referenz erwiesen wird. Im September 2014 wurde Karla Schneider in Heidelberg mit dem Ida Dehmel Literaturpreis der GEDOK ausgezeichnet, der alle drei Jahre das Gesamtwerk

einer deutschsprachigen Schriftstellerin würdigt. Sie steht damit in der Reihe von Autorinnen wie der Nobelpreisträgerin Herta Müller, Ulla Hahn, Sarah Kirsch, Rose Ausländer und Hilde Domin. Das ist Anlass für eine Lesung am 18. Juni 2015, 19 Uhr in der Buchhandlung v. Mackensen (Wuppertal-Elberfeld, Laurentiusstraße 12). Karla Schneider liest aus ihrem noch in Arbeit befindlichen Roman und gibt Einblick in ihr Exposé. So viel steht fest, auch wenn dort wieder von Dresden die Rede ist, das schriftstellerische Schaffen der Autorin entsteht auf den Höhen Wuppertals. Die Cronenberger Kirchenglocken mögen auch weiterhin während des nächtlichen Schreibens den atmosphärischen Ton angeben. Denn Ironie und Komik gestalten sich erst mit einer gewissen Distanz zu seinem Sujet. Marianne Ullmann Foto: Peter Keck

Sparkassen-Finanzgruppe

„Wunderbar, dass unsere Sparkasse einer der größten Kulturförderer Wuppertals ist.“

Die Stadtsparkasse Wuppertal unterstützt Soziales, Kultur und Sport in Wuppertal mit rund 5 Mio. € pro Jahr. Wir sind uns als Marktführer unserer Verantwortung für die Menschen und Unternehmen in unserer Stadt bewusst und stellen uns dieser Herausforderung. Mit unserem Engagement unterstreichen wir, dass es mehr ist als eine Werbeaussage, wenn wir sagen: Wenn’s um Geld geht – Sparkasse

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Wer mich findet

Marina Jenkner geboren 1980 in Detmold 1999 Abitur in Detmold lebt seit 1999 in Wuppertal 1999 - 2004 Studium der Germanistik, Kunst- und Designwissenschaften und Architektur an der Bergischen Universität Wuppertal. Literaturwissenschaftliche Magisterarbeit zum Thema „Baustelle Berlin - Reflexionen eines Umbruchs in Literatur und Film“ 2004 Abschluss als Magistra Artium Praktika und Nebentätigkeiten in verschiedenen PR- und Werbeagenturen seit 2005 Arbeit als Texterin, seit 2006 freiberufliche Texterin, Schriftstellerin und Filmemacherin Künstlerische Tätigkeiten: 2006: Lyrik-Foto-Band „WUPPERlyrik“ 2007: Kurzgeschichtenband „Nimmersatt und Hungermatt“ Lesungen und Schreibworkshops in Schulen, seit 2001: 21 Kurzfilme und den Langspielfilm „Blaue Ufer“ Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS), seit 9/2014 Sprecherin des VS Wuppertal

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„Herz, mein Herz, sei nicht beklommen und ertrage Dein Geschick“, dachte Anneliese und legte zitternd das „Buch der Lieder“ in ihren Rollator. Sich von Heine zu trennen fiel ihr besonders schwer. Ihr Bücherregal stand stark und breitschultrig vor ihr, die mit den Jahren zwar körperlich eingebüßt, den Stolz in ihrem Blick aber nicht verloren hatte. Jedes Buch war wie ein Freund, dessen Geschichte sie kannte. Anneliese hatte Deutschland nie verlassen, nur 1944 war sie zu Schanzarbeiten an die Grenze verpflichtet worden und hatte einmal in ein anderes Land hinüberblicken können. Trotzdem war sie ihr Leben lang Reisende gewesen – eine Reisende in der Welt der Buchstaben. Niklas saß lustlos auf der zerschlissenen Rückbank einer Straßenbahn, als ihm plötzlich ein kleines Büchlein unter dem Sitz ins Auge fiel. Er hob es auf. „Wer mich findet, dem will ich gehören“ stand in krickeligen Großbuchstaben mitten auf dem Umschlag. Niklas schlug das Büchlein auf, blätterte. Liebesdichtung des Mittelalters versprach der Titel, Niklas fand Texte in einer Sprache, die fremd und vertraut zugleich klang, daneben die jeweilige Übersetzung. Klingt gut, dachte er, nahm sein Mobiltelefon und schrieb in einer Kurzmitteilung an seine Freundin: „Du bist mein, ich bin Dein, dessen sollst Du gewiss sein.“ Günther drängte sich durch Menschengewühl auf den Bahnsteig und lief Slalom um die wartenden Berufspendler. Ein routinierter Blick in den Abfalleimer, beherzt griff er hinein und ließ die leere Pfandflasche in seiner abgewetzten Umhängetasche verschwinden. Doch was war das? „Wer mich findet, dem will ich gehören.“ Günther nahm das Buch, es fühlte sich nicht kühl und klebrig an wie die Glasflaschen, sondern weich, beinahe warm. Ein Gefühl, das er kannte. In seinem früheren Leben hatte es viele Bücher gegeben. Dann war der Alkohol gekommen und hatte ihn fortgetragen aus seiner geordneten Welt in ein Schweben am Abgrund. Ein paar Minuten später saß er auf einer Bank, hatte das Buch aufgeschlagen und murmelte die schönen Worte von Hölderlin vor sich hin: „Weh mir, wo nehm’ ich, wenn es Winter ist, die Blumen, und wo den Sonnenschein, und Schatten der Erde?“ Anneliese setzte ihre Brille auf und fuhr mit zittrigem Finger über den Zeitungsartikel. In ihrem Magen kribbelte es, als würde jemand darin Purzelbäume schlagen. Die Lokalredaktion berichtete von mysteriösen Bücherfunden im gesamten Stadtgebiet. Die Polizei vermute einen ungefährlichen

Literatur-Fanatiker oder Performance-Künstler hinter der Aktion und sähe deshalb keinen Handlungsbedarf. Zeitungsleser, die ein Buch gefunden hätten, dürften sich aber gerne bei der Redaktion melden. Über Annelieses Gesicht huschte ein Lächeln. Sie blickte auf ihren Rollator mit der Büchertasche im Korb. Es wurde Zeit für den täglichen Spaziergang. Goethe hing in einem Gefrierbeutel am Geländer der Rheinkniebrücke. Uhland fuhr mit der U-Bahn. Kafka erschreckte auf der Kö eine hochhackig beschuhte Dame. Grass verweilte im Benrather Schlosspark. In einer Altstadtkneipe hatten Schiller und Nietzsche es sich auf dem Tresen gemütlich gemacht. Celan saß auf einer Bank auf dem Gerresheimer Waldfriedhof. Die Droste wurde nachts hinter dem Medienhafen gefunden. Und eine Haiku-Sammlung sonnte sich im Japanischen Garten. Von der Verkäuferin bis zum Vorstandschef, vom Schüler bis zum Ruheständler – die ganze Stadt war auf der Suche nach Büchern. Wer ein Buch fand, galt als Glückspilz und hatte etwas zu erzählen. Die Lokalzeitung belebte die Kulturseite mit ausführlichen Rezensionen zu den Fundstücken. Neuerdings formierten sich die Menschen der Stadt in ihrer Freizeit zur Buchsuche, man verabredete sich nicht mehr auf ein Bier, sondern auf ein Buch oder beides, und Trittbrettfahrer versteckten King, Follett und Grisham am Hauptbahnhof. Wer etwas auf sich hielt, las ein Buch in der Öffentlichkeit und unterhielt sich über Literatur. Alle rätselten, wer der geheimnisvolle Literaturverbreiter wohl sei. Manche vermuteten gar die Politik dahinter, die durch diese Aktion die deutschen PisaErgebnisse verbessern wolle. Die Polizisten klingelten und klopften, doch niemand öffnete. Seit Tagen hatten die Nachbarn die alte Dame nicht mehr gesehen und sich Sorgen gemacht. „Aufbrechen“, sagte einer der Männer und kurz darauf standen sie in Annelieses Wohnzimmer. Ein Polizist ging zu der alten Dame, die reglos in ihrem Sessel saß, und fühlte ihren Puls – er schüttelte den Kopf. Seine Kollegen standen fassungslos vor dem leeren Bücherregal, dann entdeckten sie Heines „Wintermärchen“ aufgeschlagen auf dem Schoß der Frau. Behutsam hob der Polizist das Buch an. Auf dem Titel stand in krickeligen Großbuchstaben: „Wer mich findet, dem will ich gehören.“ Marina Jenkner


Selbst ist die Frau Eine deutsche Schule für Brooklyn Brooklyn, Kings County, hat viel zu bieten. Knapp Dreieinhalb Millionen Einwohner, Coney Island, Little Odessa, die Brooklyn Bridge, mit den Nets eine Profitruppe für Basketball, die Brooklyn Academy of Music, kurz auch BAM genannt und vieles, vieles mehr. Was Brooklyn nicht hat, ist ein internationaler Flughafen – JFK liegt in Jamaica und das ist schon in Queens County – die zahlreichen Attraktionen von Manhattan, denn wo bliebe sonst der Mut zur Lücke, und Brooklyn hatte seit Menschengedenken keine deutsche Schule.

Betreutes Schweben: Ein Kind in der Deutschen Schule Brooklyn Copyright Michael Nagle

Klar, es gibt für deutschsprachige Kleinkinder zwischen zwei und fünf Jahren die „Wortspiele“ und das „Kinderhaus Brooklyn“, also Einrichtungen im Bereich dessen, was sie hierzulande Pre-School und Pre-Kindergarten nennen, aber für Kinder ab etwa fünfeinhalb Jahren Alters blieb für lange Zeit nur der Weg zur Partridge Road in White Plains. Dort, im Westchester County nördlich von New York City, liegt die einzige deutsche Schule zwischen Washington DC und Boston. Am 6. Januar 2010 brachte Kathrin Nagle ihren Sohn Liam in Brooklyn zur Welt und mit der Geburt begann die Frage zu keimen, was nötig sein würde, damit der Kleine die Zuckertüte zur Einschulung in einem deutschsprachigen Umfeld im Arm halten könne. Frau Nagle zog jedenfalls nie einen Umzug nach Westchester in Erwägung und im Herbst 2014 eröffnete Brita Wagener als deutsche Generalkonsulin in New York feierlich die „German School Brooklyn“ oder kurz GSB.

Gut, es gab Schritte dazwischen. Es gab darüber hinaus eine Reihe glücklicher Umstände und der Tatendrang zweier Frauen, Kathrin Nagle und Muriel Plag. Frau Plag arbeitet für „Schulexpert“, eine gemeinnützige Organisation mit Sitz im hessischen Wetzlar, die Gründern von Schulen im In- und Ausland mit pädagogischem und organisatorischem Sachverstand zur Seite steht. Frau Plag hatte ihren letzten Auslandseinsatz in Ägypten gehabt und suchte im Februar 2014 nach neuen Herausforderungen, vorzugsweise international, als sie Frau Nagle begegnete. Als Expertin für Montessori- und Auslandsschulen war sie für Frau Nagle genau die Richtige, ihr bei der Weiterentwicklung der von ihr bald nach Liams Geburt gegründeten Spielgruppe und der 2012 daraus entstandenen Pre-School-Cooperative zu helfen. Liam sollte ja nicht auf der Stelle treten. Die Frage einer geeigneten Schule ergab sich für Frau Nagle gewissermaßen logisch aus der Entwicklung ihres

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Kindes. Weil aber Schulgründung für ein einzelnes Kind nicht lohnt, hörten sich die beiden Frauen um. Als regelrechter Multiplikator erwies sich dabei Randi Lockemann, Mutter eines Kindes im Alter von Liam und Geschäftsführerin des Brooklyner Restaurants „Die Stammkneipe“. In der Stammkneipe verkehren einige der vielen Neudeutschen aus Bezirken wie Fort Greene, Carrol Garden, Boerum Hill, Cobble Hill oder Park Slope. Nicht wenige haben Kinder und in der Regel auch Interesse daran, dass die deutsche Sprache Bestandteil der Erziehung bleibt. Es entstanden rasch Listen mit Geneigten. Um aus Interessierten dann aber auch wirklich Eltern zu machen, die ihre Kinder aus anderen EinrichtunZwei Herren neben der deutschen Generalkonsulin: Thomas Schneider aus dem schweizerischen Generalkonsulat, Jakob Ritter von Wagner aus dem deutschen Generalkonsulat und Brita Wagener, deutsche Generalkonsulin in New York (v.l.n.r.) Copyright Michael Nagle

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gen abmelden und an einer noch nicht existierenden Schule anmelden, bedarf es sehr guter Argumente. Argumente, wie Randi Lockemann, Muriel Plag und Kathrin Nagle sie im Mai 2014 in „Der Stammkneipe“ der mittlerweile auf 120 Personen angewachsenen Elterninitiative „German School Brooklyn“ und Herrn Jakob Ritter von Wagner vortrugen. Der Leiter der Kulturabteilung des Deutschen Generalkonsulats in New York bemühte sich mit einem „es ist allerhöchste Zeit für eine deutsche Schule in New York City!” redlich um Teilhabe an der Dynamik. Doch war ihm ihr Ausmaß wohl nicht ganz bewusst. Das im Mai erklärte Ziel war, zu Schulbeginn im September den Betrieb aufnehmen zu können. Normal sind zwei bis drei Jahre Vorlauf. Man braucht ein für den Schulbetrieb zertifiziertes Gebäude, Lehrpläne, Personal, Genehmigungen, „the whole shebang“, wie man hierzulande sagt. Zur Frage einer Immobilie hatte Christine Krabs, die Leiterin der Wortspiele, ei-

oben: Location, Location, Location: Die Heimat der Deutschen Schule im Union Temple of Brooklyn, gleich gegenüber vom Brooklyn Museum, vom Botanical Garden und anderen Einrichtungen brooklyner Bürgerstolzes


nen genialen Einfall, denn als Mitglied des Union Temple Brooklyn wusste sie von einer vielleicht zur Verfügung stehenden Etage. Der Union Temple Brooklyn ist die von deutschen Einwanderern gegründete, älteste jüdische Gemeinde in Brooklyn. Sie führt als Motto „Tikkun olam“, eine hebräische Wendung für Verbesserung der Welt. Sowohl die Präsidentin des Tempels, Beatrice Hanks, als auch die dortige Rabbi, Frau Linda H. Goodman, waren der Idee einer Deutschen Schule Brooklyn in ihrem Gebäude gegenüber aufgeschlossen und neben dem Zertifikat für den Schulbetrieb besitzt der Tempel noch etwas, das vielleicht dem dicksten Haar in der Glückssträhne von Frau Nagle und Frau Plag gleichkommt: eine hervorragende Lage. Der Union Temple Brooklyn befindet sich am Anfang des Eastern Parkways, dem Prachtboulevard des Stadtteils, der vom Grand Army Plaza nach Osten führt. Gleich gegenüber des Tempels liegen das Brooklyn Museum, der

Prospect Park, ein großer botanischer Garten und die riesige Brooklyn Public Library. Zudem besaß der Tempel eine entsprechende CFO, also eine Zertifizierung als Schulgebäude, und einen Swimming Pool. Der Mietvertrag war schnell unterschrieben, doch selbst beim besten Willen sind Genehmigungen für den Schulbetrieb, sogenannte School Charters, nicht über Nacht zu bekommen. Dazu liegen die zuständigen Behörden zu weit entfernt, nämlich in Albany, der Hauptstadt des Bundesstaats New York. Während PreSchool und Pre-Kindergarten städtischer Jurisdiktion unterliegen, gehören Grundschulen, also Kindergärten bis einschließlich fünfte Klasse zum Sprengel von Albany. Doch es gelang und die Betriebsgenehmigung konnte rechtzeitig beschafft werden: Im September war es so weit und nach feierlicher Eröffnung wurde mit 16 Kindern der regelmäßige Unterricht aufgenommen. Ein halbes Jahr später war die Schule auf 40 Kinder gewachsen und mitt-

lerweile müssen Bewerber aus Kapazitätsgründen abgewiesen werden. Mit jedem neuen Schuljahr soll künftig eine jeweils frische Klasse von Erstklässlern in Montessori-Manier in den Betrieb integriert werden, während sich die bestehenden Klassen langsam in Richtung Schulabschluss entwickeln, der deutschen Version des International Baccalaureate. Sprechen wir kurz vom Geld: Die GSB fällt in einem Umfeld von Privatschulen, die sich preislich in den oberen 20.000 bis unteren 30.000 pro Kind und Jahr bewegen, mit 15.000 Dollar angenehm auf, zumal sie für Grundschulen außergewöhnliche Angebote macht wie Schwimmunterricht im eigenen Pool, Tanz- und Theaterunterricht durch einen professionellen Schauspieler, mit Deutsch und Englisch zwei von jeweils Muttersprachlern betreute Unterrichtssprachen und darüber hinaus noch zwei Fremdsprachen, die erste in der dritten Klasse, die zweite in der fünften. Kinder, so Kathrin

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Nagle, saugen Fremdsprachen einfach so auf. Es wäre schade, wenn das brach liegen bliebe. Klar, Musik, Kunst und Yoga gibt es natürlich ebenso wie den regelmäßigen Ausflug in die Bibliothek, den Park, den botanischen Garten oder in das Museum. Die GSB wächst so schnell wie ihre Schüler. Die angemietete Etage im Tempel hat 13 Klassenräume. Das wäre die eine, sozusagen „natürliche“ Grenze der Entwicklung innerhalb der fünfjährigen Laufzeit des Mietvertrags. Die andere liegt in der Arbeitsbelastung der beiden Frauen hinter dem Projekt. Kathrin Nagle und Muriel Plag arbeiten nach wie vor ehrenamtlich für ihrer beiden Herzensangelegenheit. Die eine hat mittlerweile ihre volle Stelle gegen einen teilzeitigen Arbeitsplatz getauscht, um der Herausforderung einer Schulleiterin gerecht werden zu können, während die andere von Deutschland aus unermüdlich für den Erfolg der Schule arbeitet, Lehrpläne zusammenstellt, UnterrichtsmateriaSeite 65: Ein kurzer Weg zum Schwimmunterricht: Der Swimming Pool im Union Temple of Brooklyn rechts oben: Gruppenbild mit vielen Damen: Rabbi Linda Goodman, ihr Ehemann, die Tochter der Präsidentin des Union Temple of Brooklyn, Bea Hanks (die Präsidentin), Kathrin Nagle, Muriel Plag, (hinter Frau Plag) mit Catherine McMillan eine Lehrerin und stehend dahinter mit Kind, ebenfalls eine Lehrerin, Nora Stephens, rechts sitzend neben Frau Plag, Julia Stratmann (Lehrerin). (v.l.n.r.) Copyright Michael Nagle Mitte: Bewegungsunschärfen im Klassenzimmer: Ruhig sitzen ist nicht immer und überall gefordert rechts unten: Unterricht nur durch Muttersprachler: Melissa Bourgeois in einer Englisch-Klasse

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lien besorgt und nun schon häufiger Anfragen beantwortet, ob man nicht auch in Texas oder Pennsylvania, oder wo sonst noch genügend Nachfrage vorhanden sei, eine deutsche Schule einrichten könne. Soweit sind die beiden allerdings noch nicht und wollen vielleicht auch gar nicht in die Richtung. Erst einmal muss nach dem gelungenen Start das Bestehen der Schule gesichert werden, ein Bestehen im deutlich unteren Preissegment mit deutlich überdurchschnittlichen Leistungen und in der Begegnung mit Kathrin Nagle drängt sich sofort der Eindruck auf: Es könnte gelingen. Auf die vielleicht naive Frage, ob sie nicht noch weitere Kinder zu bekommen plant, um den Aufwand der Schulgründung besser rechtfertigen zu können, antwortet sie: „Die Schule ist mein zweites Kind.“ Stefan Altevogt Fotos: Karl-Heinz Krauskopf

oben: Vorbereitung für die großen Bühnen des Lebens: Eine Aufführung der Theatergruppe Copyright Michael Nagle Mitte: Konzentration auf das Wesentliche unten: Gemeinsames Lernen

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RealSurreal Meisterwerke der Foto-Moderne aus der Sammlung Siegert

Der Sammler Dietmar Siegert vor Fotomontagen von Herbert Bayer

linke Seite: Josef Sudek, Gipskopf, um 1947 unten: František Drtikol, Kreissegment (Bogen), 1928

Im Sommer des Jahres 2012 zeigte das Von der Heydt-Museum in Wuppertal die sehenswerte Ausstellung „Bella Italia“ mit Gemälden und Fotografien des 19. Jahrhunderts, die den Besuchern das Sehnsuchtsland der Deutschen in romantischen bis nostalgischen Bildern vor Augen führte. Das Gros der Fotos stammte aus der mehrere tausend Abzüge umfassenden Münchner Privatsammlung Siegert. Seit den 1970er Jahren ist Dietmar Siegert, von Hause aus Regisseur, Dokumentarfilmer und Filmproduzent, passionierter Fotosammler, der in den letzten Jahrzehnten eine der bedeutendsten Fotosammlungen Deutschlands aufgebaut hat und die Öffentlichkeit regelmäßig durch große Ausstellungen und aufwändig gestaltete Buchpublikationen daran teilhaben lässt. Im Anschluss an die herausragende Brühler Schau mit Fotografien des Surrealisten Man Ray im Jahr 2013 präsentiert das Max Ernst Museum nun mit der spektakulären Schau „RealSurreal“ eine Auswahl jener Fotografien aus der Sammlung Siegert, die zwischen 1920

und 1950 entstanden und der Klassischen Moderne zuzurechnen sind – oftmals hochkarätige Arbeiten von Fotografen der Neuen Sachlichkeit, des Neuen Sehens und des Surrealismus. Um es vorweg zu sagen: Die Ausstellung mit mehr als 200 zum Teil seltenen Originalabzügen von über 100 Fotografen ist ein ästhetischer Genuss und eine Einladung, sich spontan in die Foto-Avantgarden der Zwischenkriegszeit in Deutschland, Paris und der Tschechoslowakei zu verlieben. Sie ist ein Gemeinschaftsprojekt des Brühler Max Ernst Museums mit dem Kunstmuseum in Wolfsburg, ihrer ersten Station. Bedauerlicherweise hat sie einen kleinen Geburtsfehler. Denn sie lief in Wolfsburg und läuft auch in Brühl mit dem irrtierenden Untertitel „Das Neue Sehen 19201950“. Wenn sprachliche Ordnungen mehr sind als beliebige Setzungen und wenn Begriffe dazu dienen, die Dinge möglichst genau zu repräsentieren, dann muss dieser Sprachgebrauch doch für erhebliche Verwirrung sorgen. Obwohl nur eine, allerdings höchst bedeutsame,

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Facette im Spektrum der progressiven Fotografie der Klassischen Moderne, wird hier das sog. Neue Sehen fälschlich zum Sammel- und Oberbegriff für die gesamte Foto-Avantgarde jener Jahre. Richtiger wäre es, wie schon die Zeitgenossen es taten, allgemeiner von „Neuer Fotografie“ zu sprechen und die ganz unterschiedlichen Auffassungen, Haltungen und Praktiken auch begrifflich zu differenzieren, indem zunächst kategorial zwischen der Fotografie der Neuen Sachlichkeit, der des Neuen Sehens und der des Surrealismus getrennt wird. Nachdem sich die Kunstfotografie der Jahrhundertwende, der sog. Piktorialismus, auf einen – letztlich aussichtslosen – Konkurrenzkampf mit der Malerei und der künstlerischen Grafik eingelassen hatte, kam die Fotografie in den 1920er Jahren in Deutschland gewissermaßen zu sich selbst. Sie wurde in dem Sinne autonom, als sie ihre technischen Bedingtheiten, also ihre apparative Konditionierung, anerkannte und ihre medialen Eigenarten und Möglichkeiten auszuloten begann.

Insofern kann hier von einer „medialen Selbstbegründung“ der Fotografie die Rede sein, wie der Kunstwissenschaftler und Fotohistoriker Wolfgang Kemp treffend bemerkt hat. Dabei waren es vor allem zwei Hauptströmungen, die in Deutschland das Erscheinungsbild jener Epoche bestimmten, nämlich die „Neue Sachlichkeit“ einerseits und das „Neue Sehen“ andererseits – in der Realität freilich mit fließenden Übergängen, wie die Ausstellung „RealSurreal“ mit einer Reihe interessanter Beispiele vor Augen führt. Albert Renger-Patzsch, bekanntester Repräsentant der Neuen Sachlichkeit, steht für eine fotografische Haltung, die er selbst dahingehend beschrieben hat, dass die „Photographie ihre eigene Technik und ihre eigenen Mittel [hat]. Das Geheimnis einer guten Photographie [...] beruht in ihrem Realismus.“ (Hervorhebungen im Original) Der Durchbruch gelang Renger 1928 mit seinem Buch „Die Welt ist schön“, das eigentlich schlicht „Die Dinge“ hatte heißen sollen. In der Einleitung schrieb der Kunsthistoriker

links: Herbert Bayer, Selbstporträt, 1932 – rechts: Umbo, Unheimliche Straße II, 1928

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Carl Georg Heise, die Bilder Rengers zeigten, „mit welch überzeugender Selbstverständlichkeit ein Mensch der Gegenwart charakteristische Teilstücke eines Apparates, einer Maschine, einer industriellen Anlage, als ebenso schön empfindet wie ein Stück Natur oder ein Kunstwerk.“ Die Brühler Ausstellung liefert dazu zwei signifikante Belege aus den Jahren 1930 und 1933: das Foto eines von Rudolf Schwarz im Geiste des „Neuen Bauens“ entworfenen modernen Gebäudes in Aachen und die Aufnahme einer Zentralheizungsanlage, die mit größter Präzision deren technoiden Charakter betont. Absolute Schärfentiefe der mit einer Großbildkamera aufgenommenen Bilder ist hier selbstverständliche Norm. Umso überraschender ist ein Selbstporträt von 1926/27 – das auf der gewölbten Oberfläche eines Automobils aufgenommene Spiegelbild des Fotografen mit Stativ und Plattenkamera, das mit seinen „unsachlichen“ Verzerrungen und Verzeichnungen eine fast surreale Anmutung hat. Ein anderer bedeutender Vertreter der


neusachlichen Fotografie war August Sander. Im Mittelpunkt seines umfangreichen Œuvres steht das Menschenbild seiner Zeit. Mit dem Bildatlas „Menschen des 20. Jahrhunderts“ und dem 1929 erschienenen Buch „Antlitz der Zeit“ schuf er epochemachende Dokumente der sozialen Wirklichkeit der Weimarer Republik. Manchmal näherte er sich den Menschen in ihrem alltäglichen Umfeld, etwa in ihrer häuslichen Umgebung oder am Arbeitsplatz. Typischer für seine um Neutralität bemühte Herangehensweise war jedoch eine fast durchgängig frontale Inszenierung der Porträtierten, d.h., er schuf ein spezifisches Setting (häufig vor einem gleichmäßig hellen Hintergrund), liess den Fotografierten aber genügend Freiheit, um sich vor der Kamera innerhalb definierter Grenzen selbst darzustellen – so etwa durch Habitus, Kleidung oder Attribute, die Rückschlüsse auf ihren gesellschaftlichen Standort zulassen. Die Fotografie der Neuen Sachlichkeit stiess in den 1920er Jahren bei einer Reihe von Vertretern der künstlerischen Avant-

garde auf erhebliche Vorbehalte, ja auf Ablehnung. Der ungarische Konstruktivist, Totalkünstler und Bauhaus-Lehrer László Moholy-Nagy etwa hielt eine derartige Konzeption von Fotografie lediglich für reproduktiv und forderte seinerseits einen „produktiven“ Umgang mit dem Medium. Mit seinen eigenen fotografischen Experimenten – Fotogrammen, Fotomontagen (er nannte sie Fotoplastiken) und Kamerafotografien – wie auch mit seinen fototheoretischen Schriften (etwa „Malerei, Fotografie, Film“) wurde er zu einem der einflussreichsten Protagonisten der Fotografie des Neuen Sehens. Typisch sind extreme Naheinstellungen (Close Ups), radikale Drauf- und Untersichten, unorthodoxe Bilddiagonalen, harte Schatten und bewusste Unschärfen. Erwähnt sei aus der Sammlung Siegert nur das kaum bekannte Foto „Livia in Dessau“ von 1927, und Umbos steil von oben aufgenommene „Unheimliche Straße II“ von 1928 zeigt den Fotografen ganz im Schlepptau Moholys. Nicht eine „objektive“ Wirklichkeitsabbildung wie

bei Renger-Patzsch war das Ziel, sondern eher die Nutz- und Kontrollanwendung „konstruktivistischer Wahrnehmungsund Gestaltungstheorien auf die Realität, aus denen [...] ganz neue ästhetische Einsichten resultieren“ konnten, wie Andreas Haus festgestellt hat. Zugleich sollten tradierte Sehgewohnheiten unterlaufen, das Sehen selbst mit Hilfe des Kameraauges erweitert, aktiviert und im Hinblick auf eine neue, von Industrie, Technik und Maschinen, von Tempo und Beschleunigung der Lebensvollzüge bestimmte Epoche konditioniert werden. Kurz, es ging um Phänomene der optischen Wahrnehmung und deren Expansion durch das „Foto-Auge“ – so der Titel einer richtungsweisenden Publikation des Kunsthistorikers Franz Roh, der in der Brühler Ausstellung als Fotograf mit der eindrucksvollen Doppelbelichtung „Akt im Treppenhaus“ brilliert. Erinnert sei auch an die für zahlreiche Fotos des Neuen Sehens charakteristische Uneindeutigkeit von „Oben“ und „Unten“. So stellte Moholy einmal zu einer seiner

links: Franz Roh, Ohne Titel (Akt im Treppenhaus), 1922 - 1928 – rechts: Man Ray, Rayographie (Spirale), 1923

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Albert Renger Patzsch, Selbstporträt, 1926

Grete Stern, Das Ewige Auge, um 1950

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Kameraaufnahmen fest: „Was früher als Verzeichnung galt, ist heute verblüffendes Ergebnis! Aufforderung zur Umwertung des Sehens. Dieses Bild ist drehbar. Es gibt immer neue Sichten.“ Gemeinhin wird die Fotografie am Bauhaus mit dem Neuen Sehen identifiziert. Dies trifft die komplexe Gemengelage allerdings nur zum Teil. Nachdem MoholyNagy 1928 das Bauhaus verlassen hatte, wurde der Berufsfotograf Walter Peterhans Leiter der ein Jahr später eingerichteten Fotoabteilung. Hinsichtlich der Präzision seiner Aufnahmen – vorwiegend Stillleben – stand er eher der Neuen Sachlichkeit nahe. Im Hinblick auf ihre zum Teil rätselhaften Inszenierungen besitzen seine Fotografien zugleich aber eine unterschwellig surrealistische Note, und in der Tat sind am Bauhaus nach expressionistischen Anfängen und der Dominanz des Konstruktivismus seit den späteren 1920er Jahren auch deutliche Einflüsse des Surrealismus zu verzeichnen. Exemplarische Beispiele sind die Kamerafotografien und Fotomontagen Herbert Bayers, der zunächst Schüler und von 1925 bis 1928 Lehrer am Bauhaus war und von dem die Ausstellung „RealSurreal“ einige typische Arbeiten zeigt, u. a. den berühmten „Einsamen Großstädter“. Derartige Fotografien laden zu einem direkten Brückenschlag zur Fotografie des Surrealismus ein, die sich insbesondere im Paris der 1920er und 30er Jahre entwickelte. 1924 veröffentlichte André Breton das erste surrealistische Manifest, in dem er den Surrealismus als „reinen, psychischen Automatismus […] ohne jede Vernunft-Kontrolle“ definierte und sich zur „Allgewalt des Traums, [zum] absichtsfreien Spiel des Gedankens […] außerhalb aller ästhetischen oder ethischen Fragestellungen“ bekannte. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass er das von ihm propagierte sog. automatische Schreiben als Fotografie des Denkens qualifizierte und damit eine höchst bezeichnende Verknüpfung zwischen den Vorgängen des Unbewussten und den Automatismen des fotografischen Apparates herstellte. Tatsächlich leisten in der Fotografie, diesem „Schreiben mit Licht“, der Apparat und das Licht einen wesentlichen Teil der „Arbeit“. Dies ist ganz besonders an den Fotogrammen des


des Jahrzehnts waren die neuen Sehweisen und fotografischen Gestaltungskonzepte jener Zeit im Begriff, sich als Konvention zu etablieren, was große Ausstellungen wie „Pressa“ 1928 in Köln oder „Film und Foto“ (FiFo) 1929 in Stuttgart belegen. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die schon genannte Dokumentation „Foto-Auge“ von Franz Roh aus dem Jahr 1929 und das ebenfalls 1929 erschienene Buch „Es kommt der neue Fotograf“ von Werner Graeff, der am frühen Bauhaus in Weimar studiert hatte. Die Folge: ein neuer Akademismus, den der konstruktivistische Maler Vordemberge-Gildewart in der Zeitschrift „bauhaus“ schon 1929 als „große Mode“ namens „Optik“ angeprangert hatte, die rasch international Verbreitung fand, so auch in der Tschechoslowakei, und deren Auswirkungen bis in die Nachkriegszeit reichten. Jaromír Funke, Masaryks Studentenwohnheim in Brünn, 1930

Rainer K. Wick

kreativsten Fotografen der surrealistischen Bewegung, an den sog. Rayographien des Amerikaners Man Ray ablesbar, aber auch an dessen Vorliebe für das Verfahren der Solarisation bzw. der Pseudosolarisation (sog. Sabattier-Effekt), wodurch partielle Positiv-Negativ-Umkehrungen von magischer Bildwirkung zustande kamen. Der Eindruck des Surrealen ist hier vor allem das Ergebnis der Gleichzeitigkeit zweier Zustandsformen – positiv und negativ – die normalerweise nicht simultan erfahrbar sind. Ferner finden sich im fotografischen Œuvre Man Rays gelegentlich Doppelbelichtungen, die logisch Unvereinbares miteinander in Beziehung bringen und surreale Situationen jenseits der alltäglichen Normalität aufscheinen lassen. André Kertész, der zwischen Neuer Sachlichkeit und Neuem Sehen oszillierte und zugleich dem Kreis der Pariser Surrealisten nahestand, ist in der Brühler Ausstellung mit einem Exemplar aus seiner großen Serie der „Distorsionen“ von 1933 vertreten, Aktfotos, die die Körper durch Zerrspiegel bizarr verformt und verfremdet zeigen. Von anderen Fotografen zeigt die Schau in Brühl zum Teil höchst verrätselte, der Logik zuwiderlaufende, gleichsam traumhafte, oft

Alle Fotos Max Ernst Museum Brühl mit Ausnahme des Porträts von Dietmar Siegert vor Herberts Bayers „Selbstporträt“ und „Einsamer Großstädter“, beide 1932; Foto © Rainer K. Wick.

erotische Inszenierungen, die sich einer klaren Botschaft verweigern und Anlässe für die Entfaltung des freien Assoziierens bieten. Mit derartigen Aufnahmen haben etwa Maurice Tabard, Raoul Ubac und Pierre Boucher maßgeblich zur Herausbildung der surrealistischen Fotografie in Frankreich beigetragen, ebenso wie etwa Eli Lotar und Brassaï, die der Magie der Dinge und den dunklen Geheimnissen der Metropole Paris nachspürten. Neben den Schwerpunkten Deutschland und Frankreich bietet die Ausstellung tiefe Einblicke in die hierzulande bisher erst ansatzweise rezipierte Avantgardefotografie der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit und der 1940er Jahre. Hier begegnet der Besucher einem breiten Spektrum fotografischer Ausdrucksweisen, die sowohl den Einfluss der Neuen Sachlichkeit und des Neuen Sehens als auch Anregungen des Surrealismus erkennen lassen. Neben einer zentralen Figur der tschechoslowakischen Fotografie wie František Drtikol seien stellvertretend nur Jaroslav Rössler, Jaromir Funke, Karel Teige und Josef Sudek genannt. Obwohl sie zu eindrucksvollen Bildlösungen fanden, ist doch unverkennbar, dass sie sich im Fahrwasser der innovativen Fotopraktiken der 1920er Jahre bewegten. Schon Ende

RealSurreal. Meisterwerke der Avantgarde-Fotografie Das Neue Sehen 1920 – 1950 Sammlung Siegert Max Ernst Museum Brühl des LVR Comesstraße 42 / Max-Ernst-Allee 1 D – 50321 Brühl / Rheinland www.maxernstmuseum.lvr.de Telefon 02232/5793 0 Das Katalogbuch „RealSurreal“, 259 Seiten, 283 Abb., mit Beiträgen von Antonín Dufek, Björn Egging, Ivo Kranzfelder, Henning Schaper, Achim Sommer und Bernd Stiegler sowie einem Gespräch Ulrich Pohlmanns mit Dietmar Siegert erschien im Wienand Verlag, Köln; 28 Euro im Museumsshop, Buchhandelsausgabe 39,80 Euro.

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Hamlet „Hamlet light“, doch mit Tiefgang Die Shakespearesche Tragödie um den Dänenprinzen verdaulich eingerichtet Inszenierung: Ralf Budde Bühne: Iljas Enkaschew Kostüme: Noëlle-Magali Wörheide Maske: Michaela Döpper Besetzung: Hamlet, Prinz von Dänemark (Robert Flanze), König Claudius, Hamlets Onkel (Alexander Bangen) Königin Gertrude, Hamlets Mutter (Sabine Henke), Polonius (Joachim Rettig) Laërtes, dessen Sohn (Christopher Geiß) Ophelia, Tochter des Polonius (Sophie Schwerter) Horatio (Leon Gleser) Bernardo/Rosencrantz/1. Totengräber (Lars Grube), Marcellus/Güldenstern/2. Totengräber (Lara Sienczak) Filmeinspielung: Der Geist (André Klem) Prolog/Lucianus (Benedict Schäffer) König (Michael Baute) Königin (Elisabeth Wahle)

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Darf man das? Darf man William Shakespeares Drama um den Dänenprinzen Hamlet radikal von den sechs Stunden der Länge der Urfassung auf 2¼ Stunden (inkl. Pause) kürzen? Darf man aus fünf Akten zwei machen? Darf man den Geist des gemeuchelten Königs auf einem Tablet erscheinen lassen? Darf man Hamlet einen Revolver in die Hand drücken? Darf man das weitläufige Intrigenspiel um Ophelia zu wenigen Szenen eindampfen? Darf man Hamlets „Alas poor Yorick!“ ohne dessen Schädel geben? Darf man die Herren Schlegel und Tieck mit eigenen Textfassungen vorführen? Darf man überhaupt dem „Hamlet“ an einer Laienbühne inszenieren? Man darf all das, mehr noch, man muß es geradezu, um zum einen diesen dramatischen Monsterabend verdaulich zu gestalten und - viel wichtiger – zum anderen einem „schnelles“ Theater gewöhnten Publikum das Angebot machen zu können, auch mal einen „schweren“ Klassiker zu konsumieren. Ralf Budde ist das mit seiner mutigen, knackigen Fassung gelungen.

Seine kräftig durchgelüftete, textlich aufgefrischte Inszenierung gab trotz einiger allzu harter Striche der Frage „Sein oder nicht sein“ dennoch die Antwort mit: passt! Das gilt auch und besonders für die Lösung des schwierigen Problems der Geist-Erscheinung von Hamlets Vater per Tablet-Projektion. Duell auf Augenhöhe Auch ein noch so prominentes Stück mit einer noch so zupackenden Regie steht und fällt mit dem Personal, das in der Lage ist, das Publikum bei einem solchen Vorhaben mitzunehmen. Ralf Budde hat aus dem großen Topf des semi-professionellen Wuppertaler TiC-Theaters mit sicherer Hand die wesentlichen Rollen hervorragend besetzen können. In Robert Flanze hat er genau den rachedurstigen Grübler gefunden, den es hier braucht, um trotz überbordender Gefühle nicht zum impulsiven Totschläger zu werden. Auf Augenhöhe mit Alexander Bangen, der dem König Claudius, Brudermörder und verhaßter Onkel, ein hartes, böses Gesicht gibt, ringt Flanze mit diesem quasi


Stirn an Stirn. Ein fesselndes psychologisches Duell. Er hat als betrogener Sohn ganz klar die unwillkürliche Sympathie des Zuschauers. Der Bösewicht hingegen ist da natürlich stets im Hintertreffen. Bangen wetzt diese Scharte brillant aus. Ein packendes Paar, vor dem der Rest zwar nicht Schweigen, so doch aber blass sein müßte, wären da nicht noch Ophelia (Sophie Schwerter) und weitere treffsicher besetzte dramatis personae. Wahnsinn Sophie Schwerters „Wahnsinnsarie“ der gebrochenen Ophelia gehört unbestreitbar zu den Glanzpunkten dieser außergewöhnlichen, spannenden „Hamlet“-Inszenierung. Haben wir sie kurz zuvor noch als jugendlich-elegante, doch verunsicherte höfische Schönheit im verführerischen schwarzen Abendkleid kennengelernt, tritt uns nach der gewalttätigen Auseinandersetzung mit Hamlet, die sie in ihren Grundfesten erschüttert, eine hinreißende Irre entgegen, deren Kleinmut, Ausbrüche, Stimmungsschwankungen ganz hohes Niveau zeigen. Damit könnte die

bemerkenswert wandlungsfähige Darstellerin auch an professionellen Bühnen reüssieren. Großes Kompliment! Ein solches übrigens auch dem Kostümbild dieser beiden Ophelien. Hier übrigens, wie auch an einigen weiteren Stellen müssen dem eingeweihten Zuschauer ob der starken Striche zwangsläufig die gerissenen (sic!) Lücken auffallen. Was den Shakespeare-Fanatiker vielleicht ärgern wird, ist jedoch für eine verdauliche, jedermann zugängliche Fassung unabdingbar. Dem Tiefgang schadet es nicht, denn Zusammenhänge müssen dem Uneingeweihten nicht wirklich fehlen. Shakespearsches Gemetzel und drastische Komik Das für dessen Verhältnisse fast noch harmlose Shakespearsche Gemetzel mit nur Sieben, die auf Kronborgs königlicher Walstatt ihr Leben aushauchen, bleibt nicht aus, gibt aber auch ein wenig Anlaß zum Schmunzeln. So ist Polonius´ Tod hinter dem Vorhang durch Joachim Rettigs leicht Dialekt-gefärbten letzten

Seufzer „Ich bin ermordet“ von großer drastischer Komik und geben auch das spätere dramatische Hinscheiden durch Gift und Klinge in ihrer Überhöhung Stoff zum Abstand vom Ernst der Lage. Die Filmeinspielung des das Mordkomplott Claudius´ offenbarenden Theaterstücks ist mit Plan überzogen wirklich ulkig. Zwei komödiantische Paarungen servieren auch Lara Sienczak und Lars Grube im schnellen Rollenwechsel als servile Güldenstern und Rosencrantz und als die beiden philosophischen Totengräber. Das TiC-Theater serviert mit seinem „Hamlet“ eine sehenswerte, actionreiche Aufarbeitung des klassischen Stoffs – Abendunterhaltung mit Spannung und Drama, sehr dicht an William Shakespeare. Hingehen! Weitere Informationen: www.tic-theater.de Frank Becker Fotos: Martin Mazur

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Fifth Avenue Die Fifth Avenue, ca. 12 km lang, ist sozusagen das Rückgrat des seit 1811 angelegten Straßenmusters von Manhattan mit dem Street-Gerippe nach Osten und Westen, während Downtown weiter südlich noch das Straßenchaos aus früheren Jahrhunderten herrscht. Die berühmte Avenue beginnt im Süden an der 6. Straße, am geschichtsträchtigen Washington Square, begleitet den Central Park östlich auf ganzer Länge, wird nördlich der 120. Straße vom Marcus Grovery Park unterbrochen und endet am Harlem River an der 138. Straße, wobei der Verkehr in umgekehrter Richtung, also von Norden nach Süden fließt.

links: St. Patrick von oben unten: Washington Square

Diese Straße spiegelt die Geschichte und das Leben New Yorks wieder, ist abschnittsweise vielleicht die Luxusmeile der Welt, durchkreuzt aber auch das schwarze Harlem – ehemals gekennzeichnet durch Kriminalität und Drogen- und eine Wanderung offenen Auges über die gesamte Länge lohnt. An einem sonnigen Tag im November lungern auf dem Washington Park Liebespaare auf den Wiesen, sonnen faltige Alt-New Yorker ungeachtet des UV-Krebsrisikos Brust und Rücken und füttern unzählige Tauben – zwischendurch auch die USergraute Variante des Eichhörnchens, das hier heimische Grauhörnchen. Im 18. Jahrhundert Armenfriedhof – viele Opfer der Gelbfieberepidemie in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts wurden hier beerdigt – diente der Platz später als Hinrichtungsstätte, wobei es für einen Galgen nicht reichte, aber die humane Form der Todesstrafe von heute – per Injektion – auch noch nicht üblich war. An der Ulme in der Nordwest-Ecke wurden die Gangster aufgeknüpft und die Schulden gesühnt. Seit ca. 1825 Exerzier- und Paradeplatz

begann zu dieser Zeit die klassizistische Bebauung rund um den Platz. Seit 1893 steht der Washington Arch am Platzrand, sozusagen den Beginn der Fifth Avenue kennzeichnend, ein kleiner Triumphbogen an der Stelle, an der George Washington gegen die Briten um die Unabhängigkeit gekämpft hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich um den Platz herum ein Künstlerviertel. Marcel Duchamps, 1915-19 in den USA, rief 1917 die „freie und unabhängige Republik der Kunst Washington Square aus“. Edward Hopper wohnte hier und definierte mit seinen realistischen Bildern Amerika und seinen way of life. Später bis hin zur Gegenwart siedeln hier die Schönen und Reichen New Yorks und Candace Bushnell beschreibt das verrückte Leben derer, die in One Fifth Avenue (Titel ihres Romans von 2009) leben. Darin geht es um den „american way of life“: viel Geld, Sex, problematische Beziehungen zwischen Lebenspartnern und den Kunstmarkt. Zwischen 23. und 26. Straße erstreckt sich längs der 5. Av. der Madison Square Park, benannt nach James Madison (1751-–

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1836), dem 4. Präsidenten der Vereinigten Staaten, der zusammen mit Alexander Hamilton und Thomas Jefferson eine wichtige Rolle in der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung gespielt hat. Am Madison Square ragt u. a. das schmale Bügeleisen des Flatiron Buildings (Baujahr 1902) in die Höhe und trat in diesen Tagen in einen Dialog mit den Skulpturen Tony Craggs im Park. Spaziergänge des Lebens (Walks of Life) nennt er die kleine Ausstellung. Der berühmte Sportpalast Madison Square Garden befand sich bis 1925 unmittelbar nördlich des den Namen gebenden Parks (jetzt 33. Str. W/7. Av.). Weitere 10 Block, nördlich (Ecke 34. Straße) sticht das Empire State Building in den Himmel (erbaut 1929, 449 m hoch, 110 Stockwerke, 73 Hochgeschwindigkeitsaufzüge. Die 1500 Stufen bis zum 86. Stock laufen nur Langstreckenläufer beim Empire State Building Run-Up einmal pro Jahr). Die Aussichtsplattformen im 86. bzw. 102. Stock haben Konkurrenz bekommen. Von der Plattform Top-onthe-Rock in rund 260 m Höhe auf dem Rockefeller Center an der 50 SW kann man nämlich das Empire State Building selbst vor der Kulisse des Finanzdistriktes an der Spitze Manhattans sehen, die ganze Stadt zwischen den Flüssen, eine riesige, sehr differenzierte Skulptur, atemberaubend. Dieser Blick ist einer der berühmtesten, die unsere Erde bietet. Nur wenige Blocks nördlich des Empire State Buildings öffnet sich der Blick auf die prächtige New York Public Library von 1911, die mit ihrer bedeutenden Fassade, durch doppelständige korinthische Säulen charakterisiert, neben dem Metropolitan Museum als eines der wenigen großen Bauwerke in New York durch die Horizontale beeindruckt. Die beiden Löwen am Treppenaufgang halten Lärm und Hektik fern von dem Ort der Muße und des Studiums. Sie ist die fünftgrößte Bibliothek der USA mit 90 Filialen im Stadtgebiet von New York. Im Übrigen tobt zwischen der 42. und 60. Straße der Gott des Konsums, der Konsumenten, der oben: Manhattan mit dem Empire State Building Mitte: Straßenhandtänzer unten: Emanuel Leutze, Washington crossing the Delaware

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New Yorker und Touristen vor sich her treibt und über die Avenue schiebt. Wer nicht weiß, wohin mit seinem Geld, kann dieses Problem hier leicht lösen. Tiffany, Gucci, Rodier, der berühmte Apple Store, der Trump Tower und alle andere Luxusschuppen geben sich ein Stelldichein und mitten auf der Avenue zwischen zwei Ampelphasen tanzt der Akrobat im Kopfstand auf den Händen. Zwischen all den Wolkenkratzern ist St. Patrick’s Cathedral mit ihrer Marmorfassade, erbaut 1879, nur zu entdecken, wenn man unmittelbar vor ihr steht. Die größte katholische Kathedrale der USA, aktuell wegen Renovierungsarbeiten vollständig eingerüstet, ist von oben, also vom Top des Rockefeller Centers, in der Tiefe kaum identifizierbar. Die Wolkenkratzer erdrücken gleichsam diese große Kirche. Ein Bild mit Symbolcharakter. An der Ecke zur 53. Str. W beginnt mit dem berühmten Museum of Modern Art, trotz Erweiterungsbauten immer wieder zu klein, die Museumsmeile der 5. Av.. Weiter nördlich spiegelt das Metropolitan Museum, im Kern erbaut 1880 bis 1902, mit seiner riesigen Sammlung die amerikanische Kombination aus Geld und Kultur souverän wieder. Reiche und stinkreiche Mäzene haben gekauft und gestiftet, was das Zeug hält, und für den Eintritt zahlt der Besucher heute das, was ihm der Besuch wert ist. Auf die Frage nach dem wichtigsten Gemälde antwortete der Besucher aus dem Bergischen Land: „Washington crossing the Delaware“ von Emanuel Leutze. Das ist jedenfalls eines der größten Bilder im Museum und pure amerikanische Historie: George Washington Weihnachten 1776 im Befreiungskampf gegen Hessische Truppen der Engländer, gemalt von Emanuel Leutze, ehemals Direktor der Düsseldorfer Kunstakademie, der 1848 zusammen mit anderen den Düsseldorfer „Malkasten“ gegründet hat. Es gibt Experten, die verbreiten, dass eigentlich der Rhein bei Kaiserswerth und nicht der Delaware gemalt worden sei. Von Leutze stammen auch monumentale historische Wandmalereien im Washingtoner Kapitol. oben: Das Guggenheim-Museum Mitte: Feuertreppen an der 5. Av. in Harlem unten: Reklame für das National Black Theater, 5. Av., Harlem

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Er war also als Historienmaler sozusagen für die USA das, was Carl Theodor von Piloty mit seiner „Thusnelda im Gefolge des Germanicus“ für Bayern war. Die Sammlung des Museums ist aber auch darüber hinaus gigantisch und beginnt bei altägyptischer Kunst. Liebling und Maskottchen des Museums ist „William“, das stämmige, blaue Fayence-Nilpferdchen aus der Zeit um 1900 vor Christus. Der Höhepunkt des Museumsbesuchs ist nachher der Blick vom Dachterrassencafé (im Winterhalbjahr geschlossen) in den Centralpark, der wie ein romantisches Landschaftsgemälde mit Photoshop in die Stadtlandschaft kopiert erscheint. Auf der Freitreppe vor dem Museum tummeln sich an sonnigen Tagen die Besucher und suchen Stärkung vor und nach dem Museumsbesuch bei den zahlreichen Imbisswagen am Straßenrand. Nach Überquerung der 5. Av., erreicht der Spaziergänger schräg gegenüber vom Metropolitan, an der Ecke zur 86. Straße die Neue Galerie (wieder eröffnet 2001, gegründet 1968 vom Kunsthändler Serge Sabarsky und Ronald Lauder) in einer neoklassizistischen Villa von 1914. Der Schwerpunkt dieses

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kleinen aber feinen Museums mit ebenfalls wunderbarem Café umfasst deutsche und österreichische Malerei (aber auch Kunsthandwerk) aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aktuell war das Publikum fasziniert von einer Ausstellung mit den freizügigen Werken Egon Schieles. Nicht weit davon entfernt kringelt sich die weiße Schnecke des Guggenheim-Museums (erbaut 1959), welches dem Besucher die Entwicklung der zeitgenössischen Kunst in steigender Spirale zu immer höheren Sphären suggeriert. Kunst und Kommerz ist auf der 5. Av. seit Paul Durand-Ruel ein zentrales Thema, der schon 1884 bei drohendem Konkurs mit 300 impressionistischen Gemälden aus Frankreich fliehen musste und in seiner Galerie viele derselben verkaufen konnte, also den Impressionismus in New York bekannt machte und so seiner Malerklientel in Europa zu Brot und Einkommen verhalf. Auf dem Weg nach Norden entlang der Marmor- und Granitwand der hohen Luxusapartmenthäuser sieht man gegenüber die Jogger wie im Schattenriss hinter dem Zaun des Central Parks laufen.

Endlich kommen dann aber Lücken in die Straßenfront und tatsächlich stehen am nördlichen Ende des Central Parks einzelne Hochhäuser, deutlich niedriger als Midtown. Auf der Parkseite sieht man das Denkmal für Duke Ellington. Hier an der 110. Street beginnt das ehemals schwarze Harlem. Die Grenze zwischen dem weißen und schwarzen Amerika wird hier in der Architektur sichtbar. Marmor und Granit verschwinden von den Hauswänden, statt derer bestimmen zunehmend Feuertreppen das Bild. Seit der Brandkatastrophe von 1911 mit 146 Toten Näherinnen einer Textilfabrik sind Feuertreppen an den Fassaden vorgeschrieben. Harlem ist vielleicht immer noch Mahnmal des Rassismus gegenüber den Afroamerikanern, obwohl Little Rock und der Traum Martin Luther Kings und auch das amerikanische Bürgerrechtsgesetz viele Jahrzehnte zurück liegen. Aber Ferguson ist aktuell! Der Markus-Grovery-Park einige Blocks weiter nördlich durchschneidet die 5. Av. zwischen 120. und 124. Straße Markus 5. Av. Ecke 127 Str East (Harlem)


Grovery war schwarzer Politiker und Anhänger der Rassentrennung. Er glaubte, dass die Schwarzen aus den USA besser zurück nach Afrika ziehen sollten, stammte aus Jamaika, hatte mit Haile Selassie und der Rastafari-Bewegung zu tun, arbeitete zeitweise mit dem Ku-Klux-Klan zusammen und ernannte sich selbst zum Präsidenten Afrikas. Eine schillernde, aber doch einflussreiche Person, nach der dieser Familien- und Kinderpark in Harlem benannt ist. Um den Park herum bestimmen die typischen Brownstone-Reihenhäuser mit ihren Treppenaufgängen das Straßenbild. Brownstone ist ein dunkler Sandstein, der als hochwertiges Baumaterial um 1900 sehr beliebt war. Nördlich des M. Grovery Parks ist die 5. Av. genau so breit wie in ihrem südlichen Teil. Wolkenkratzer sind verschwunden. Reklame, billige Restaurants und Supermärkte, sowie etliche Kirchen in der Straßenfront und Müll auf den Bürgersteigen bestimmen das Bild. In einem großen Behördengebäude neben dem Harlem Hospital Center, welches den gesamten Block zwischen 5. und 6. Avenue ausfüllt, befindet sich der sozialpsychiatrische Dienst.

Und am Ende der 5. Av. wird man die unauffällige Verkehrsinsel mit kleinen Bäumen kaum wahrnehmen. Auf ihr steht ein kleiner Obelisk aus dunklem Granit und goldener Aufschrift. Daneben sitzt ein doppeltoberschenkelamputierter, alter, wegen der Kälte in Decken gehüllter, schwarzer Mann im Rollstuhl. Die Aufschrift erinnert an das 369. Infantry Regiment (colored) und die Maas-Argonnen-Offensive 1918. „Das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren sei schwerer als das der Berühmten“ meinte Walter Benjamin. Das trifft auf die schwarzen Soldaten dieses Infanterie-Regiments aus Harlem – damals gab es noch Rassentrennung in der amerikanischen Armee – sicher zu. Mit dem kleinen Obelisken wird an ein ganzes Regiment und seine Taten erinnert, während der General Sherman, golden, hoch zu Ross, in Begleitung eines Engels über die Plaza (Kreuzung 5. Av. 59. Straße) reitet. Auf Grund des Mutes und militärischen Erfolges dieser Einheit nannte sie sich bald Harlem Hellfighters. Ihre Kühnheit und spektakulären Erfolge in Frankreich am Ende des 1. Weltkriegs wurden nur noch

übertroffen von den kulturellen Erfolgen ihrer berühmten Regimentskapelle und James Reese, die nebenbei sozusagen Ragtime und Jazz nach Frankreich bzw. Europa brachten. Und die Parade für die US-Kriegsheimkehrer nach Ende des 1. Weltkriegs ging über die gesamte 5. Avenue bis hin zu dem kleinen Obelisken und wurde von James Reese und seiner Kapelle angeführt. Damit endet der Spaziergang über die 5. Avenue längs durch Manhattan, bzw. symbolisch quer durch die US-amerikanische Gesellschaft, und wer den Mut aufbringt, an ihrem Ende die verkehrsreiche Stadtautobahn entlang des Harlem Rivers zu überqueren, schaut in den grauen Fluss bzw. nur die dunkle Eisenbahnstahlbrücke, die Manhattan mit der Bronx verbindet. Johannes Vesper

Jogger im Central Park

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Paragraphenreiter Kann ich als Schriftsteller mit Glück Steuern sparen?

Mit Glück nicht. Nicht einmal mit Talent. Aber möglicherweise mit einer außergewöhnlichen Lebensleistung. Aber der Reihe nach: Im April erschien im Feuilleton der FAZ eine Reihe von Artikeln, die sich mit dem (finanziellen) Verdienst von Schriftstellern beschäftigten. So betrug das Durchschnittseinkommen britischer Autoren im Jahr 2013 11.000 Pfund (derzeit rd. 15.200 Euro). Aufgrund der von der Künstlersozialkasse für 2014 erhobenen Daten lag das Durchschnittseinkommen der hier Versicherten im Bereich „Wort“ bei etwa 20.000 Euro. Und die Zahl der Quasi-Stipendien in Form befristeter Stadt-, Insel- oder Burgschreiberstellen ist beschränkt.

Susanne Schäfer, Steuerberaterin Geschäftsführerin der Rinke Treuhand GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft/ Steuerberatungsgesellschaft

Wie gut, dass es außerdem Literaturpreise gibt – und die noch dazu reichlich. Da reicht die Bandbreite vom AstroArt-Literaturpreis über den Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar bis zum Zeit-Campus-Literaturwettbewerbspreis. Allein eine kurze InternetRecherche fördert etwa 400 deutsche und 80 internationale Literaturpreise zu Tage. Während allerdings die erste Frage des interessierten Autors sein dürfte: „Wie hoch ist der denn dotiert?“ (AstroArtLiteraturpreis 1.600 Euro, PhantastikPreis 4.000 Euro, Zeit-Campus-Literaturpreis 2.000 Euro), ist die erste Frage seines Steuerberaters „Ist der einkommensteuerpflichtig?“. Und hier ist die Antwort leider eindeutig „Ja!“. Denn der Einkommensteuer unterliegen alle Einnahmen, die der Steuerpflichtige im Rahmen seiner Tätigkeit zur Erzielung von Einkünfte bezogen hat oder, in der unnachahmlichen Formulierung der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main: „Die sowohl Ziel als auch unmittelbare Folge der Tätigkeit des Steuerpflichtigen“ sind, weil „der Preisträger zur Erzielung des Preises ein besonderes Werk geschaffen oder eine besondere Leistung erbracht hat.“

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Nun könnten Idealisten grundsätzlich darüber streiten, ob der Autor sein prämiertes Werk tatsächlich nur verfasst hat, um damit einen Geldpreis zu gewinnen. Angesichts der oben aufgeführten durchschnittlichen Einkommen würden Realisten aber antworten: „Ja, warum denn sonst? Der hat´s ja bitter nötig.“ Und so führen sowohl das Glück als (möglicherweise) auch das Talent, das beim Gewinn des Preises mitgewirkt hat, nicht nur zu einer Mehreinnahme des Autors, sondern auch zu einer Mehreinnahme des Fiskus. Nur ein Preis, den der Autor erhält, um sein Lebenswerk, sein Gesamtschaffen, seine Persönlichkeit oder seine Grundhaltung zu würdigen, ist einkommensteuerfrei. Denn natürlich ist niemand genial, nur um Geld zu verdienen. Weshalb übrigens der Literaturnobelpreis (8.000.000 Schwedische Kronen oder rd. 863.000 Euro) nicht der Einkommensteuer unterliegt. Angesichts der Anzahl deutscher Literaturnobelpreisträger dürfte sich der Verlust der deutschen Finanzbehörden aus dieser Steuerfreistellung aber in Grenzen halten.


Besuch auf der Hardt „Als aber Lamium, der König des Waldes, von der schönen Silene hörte, fand sein Herz keine Ruhe mehr und er sann Tag und Nacht darüber nach, wie er die Prinzessin aus der Hand des mächtigen Helleborus befreien könne. Er rief die Weisen des Landes zusammen und unter dem Silberblatt des vollen Mondes berieten sie sich. Der Meister des Waldes aus dem Volk der Galium ließ schließlich den guten Heinrich rufen. Dieser war des Meisters bester Freund und nach langer, geheimer Unterredung schickte er den Diener los, die Prinzessin zu befreien. Das rote Purpurglöckchen, die Elfenblume und die Sterndolde aber gab ihm der weise Odoratum mit auf den Weg. Sollte der treue Knecht je in Gefahr kommen, so brauche er nur einer jeden der drei Pflanzen einen Tropfen Wasser auf die Blüten zu geben und zugleich käme ihm die nötige Hilfe aus den Tiefen des Meeres, dem Reich der Unsichtbaren oder den Gestirnen des Himmels...“.

Ich sitze am Schreibtisch, doch immer weniger konzentriere ich mich auf meine Arbeit und immer öfter ertappe ich mich dabei, wie ich über den PC hinweg aus dem Fenster schaue und mich in das sanfte Blau dieser ersten schönen Frühlingstage hineinträume. Die Sonne lächelt freundlich und streicht behutsam über das zartgrüne Laub der alten Eiche vor dem Haus. In den vergangenen Tagen gab es vieles zu klären und zu organisieren. Vielleicht sollte ich raus und den Kopf wieder frei kriegen. Die Sonne lockt einfach zu sehr. Ich schalte den Computer aus, packe mir ein Buch und meine Kamera in den Rucksack und mache mich zu Fuß auf den Weg in den botanischen Garten. Was für eine gute Entscheidung! Obwohl es überraschend kalt ist, bin ich froh unterwegs zu sein. Auf der Hardt ist es ruhig und ich sehe nur einige wenige Spaziergänger. Überall sind Gärtner am Werk und mir kommt der Gedanke, dass sie wohl einen der schönsten Arbeitsplätze in Wuppertal ha-

ben. Über den Dächern der Stadt, nahe den Wolken, Blumen zu pflanzen; das scheint mir doch geradezu himmlische Poesie zu sein. Ob sich das auch der Elberfelder Arzt Johann Stephan Anton Diemel gedacht hat, als er zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Begründer einer der ältesten Stadtparks in Deutschland wurde? Der Hardtberg war zu seiner Zeit eine Brachfläche, auf der das Vieh der umliegenden Bauern weidete. Schon lange war der dichte Wald auf dem Bergrücken zwischen Barmen und Elberfeld verschwunden. Der Bevölkerung fehlte das nötige Holz zum Heizen und im Jahr 1807 beschloss der Rat der Stadt Elberfeld die Aufforstung. Diemel setzte sich für die Hardt als Parkanlage ein und schuf damit ein Naherholungsgebiet für die Menschen im engen Tal der Wupper. Bis heute ist sie eine der schönsten Oasen der Stadt und erinnert uns daran, die Dinge des Alltags immer mal wieder von einer höheren Warte aus zu betrachten und lädt ein, zur Ruhe zu kommen. Diese Ruhe, die Gelassenheit,

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und noch viel mehr, finde ich auch in der Skulptur am Diemel-Denkmal. Der Kölner Bildhauer Peter Joseph Imhoff schuf einen ungewöhnlichen Engel. Die Beine überkreuz, eine Hand auf der Inschrift liegend und in der anderen Hand den Äskulapstab haltend, steht er selbstbewusst, mit leisem, fast spöttischem Lächeln da. Es scheint, als traue er den Besuchern nicht zu, dass sie um den Wert der Parkanlage wissen. „Ach Mensch; was weißt du schon von der Schönheit der Dinge“, mag er denken. Im Laufe der Jahre veränderte die Hardt oftmals ihre Gestalt und blieb doch immer ein besonderer Anziehungspunkt. Der Textilfabrikant Engelbert Eller baute sein Wohnhaus 1834 auf diesem schönen Fleckchen Erde. Einige Jahre später ließ er die alte Windmühle durch einen Turm ersetzen. Benannt nach Elisabeth Ludovika von Bayern, der Gattin Friedrichs Wilhelms des IV. von Preußen, diente ihm der Elisenturm auch als Sternwarte. Villa und Turm stehen heute im Herzen des Botanischen Gartens. Zwischen den

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blühenden Blumen und Bäumen wirken sie wie verzaubert. Kleine Wege führen kreuz und quer durch die Anlage. Ruhebänke warten in verwunschenen grünen Ecken auf den Besucher und laden ihn ein, sich dem Zauber dieses Ortes zu öffnen. Hier finde ich auch König Lamium, die schöne Silene und den guten Heinrich. Es sind die botanischen Namen der Pflanzen, die auf den Hinweisschildern zu lesen sind und mir sofort eine andere Welt eröffnen. Ja, hier oben – so scheint es – schläft das Volk der Elfen und Trolle tief unter der Erde und wartet auf das Frühjahr und die wärmende Sonne, die es zu neuem Leben erweckt. Ich nehme mir Zeit. Immer wieder suche ich mir eine Bank und kann mich nicht sattsehen an den bunten Farben der Blumen, am blauen Himmel und den fast schon aufgemalt weißen Wolken. Obwohl das Wetter so schön ist, weht ein frischer kühler Wind und so packe ich schließlich doch Rucksack und Kamera

und gehe gegenüber ins Café Elise. Wie die Orangerie, so ist auch das Café mit seinem Biergarten im Schatten alter Bäume ein kulinarischer Rastplatz, von dem man sich nur schwer wieder loseisen kann. Während ich auf den heißen Kakao warte, geht mein Blick auf die Terrasse des Cafés. Zierliche, wunderschön verwitterte Stühle stehen an kleinen runden Tischen. Eine einzelne Tulpe in einer schlichten Vase trotzt tapfer dem kalten Wind. Und irgendwo im botanischen Garten schnürt der gute Heinrich sein Bündel, um die schöne Silene zu befreien. Anne Fitsch


Komische Kunst André Poloczek – Ein Vierteljahrhundert Komische Kunst

Das paradoxe Denken beim Cartoon-Zeichnen kann auch praktische Lebenshilfe sein. (André Poloczek)

Der mit Wupperwasser getaufte Maler und Zeichner, Karikaturist und Illustrator André Poloczek (55), ein überzeugter Arrenberger, der unter dem Kürzel „POLO“ zu den besten deutschen Cartoonisten zählt, erreicht mit der 2 g leichten Zeichenfeder etwas, das von unschätzbarem therapeutischem Wert ist: er schenkt uns eins ums andere Schmunzeln oder herzliches Lachen. Längst ist er neben seinem Urgroßonkel Wilhelm Neumann-Torborg (1856-1917), der 1903 das auf dem Elberfelder Kirchplatz wiedererrichtete Armenpflege-Denkmal geschaffen hatte, in die Wikipedia-Liste der berühmten Wuppertaler eingezogen. Dass Wuppertal mit Künstlern wie Chlodwig Poth, Eugen Egner und Jorgo Schäfer eine große Tradition der gezeichneten Satire und somit einen guten Boden dafür hat, sei am Rande erwähnt. Aus seinem Atelier an der FriedrichEbert-Straße – mit Wupperblick und Schwebebahn-Vorbeiflug im 3-Minuten Takt – gehen die Bilder ins Land, die schon so viele Menschen zu eben diesem Lachen gebracht haben, Leser von

„Titanic“, „Eulenspiegel“ (um nur einige zu nennen) werden es wissen. Sein „Anton von der Gathe“ (zuerst in den Wupper Nachrichten, später in der Wuppertaler Rundschau) war 20 Jahre lang Kult, wenn auch ein Ölberger, ähnlich die monatlichen „Tuffis“ im Satire-Magazin „iTalien“. Sicher hat manch einer auch schon eins seiner 13 Bücher, die (nach den Erstlingen „Arsch auf Grundeis“ und „Walther – Teufelspakt und Minnesang“, die Anfang der 90er im Semmel Verlach erschienen sind) in der Mehrzahl beim Lappan Verlag erschienen sind, in den Händen gehabt und nicht wieder hergeben wollen. Das ist zu verstehen, denn sie sind von tiefem Humor, der mitunter auch beißenden Spott und scharfe Satire enthält. „Schadenfreude ist die reinste, aber auch die einfachste“, sagt POLO, „das ist mir meist zu wenig.“ Diesen Grundsatz hält er ein und ist zufrieden, wenn das Lachen ein Erkenntnis-Lachen ist: „Dann stimmt die Pointe!“. Große Erfolge waren 1997 das geradezu prophetische „Die Post geht an Foto links: Jörg Lange Foto unten: Frank Becker

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die Börse“, 1998 das ultimative VW-Buch „Echt Käfer“ (beide mit Ari Plikat) und 2001 „Mama, was ist ein Klugscheißer?“, Humorstandards sind seine Bücher der Reihe „Cartoons für...“ und ebenfalls bei Lappan seine regelmäßige Mitwirkung bei der Serie „Beste Bilder“ und bei „Coole Bilder“. POLO-Cartoons erscheinen auch im Carlsen Verlag („Verboten!“), im Holzbaum Verlag („Cartoons über Katzen“) und seit 1990 im „Karicartoon“-Kalender des Espresso-Verlages. Wer übrigens mal eine bittere Pille aus der Apotheke holen muß, kann sich die von Fall zu Fall auch mit POLOs Cartoons versüßen: Seit 2000 ist POLOs jährlicher Kalender „Heitere Apotheken-Welt“ der Renner im legalen Drogenhandel. Dauerhaft lauern seine Cartoons und Postkarten in den Buchläden auf Lachhungrige. Die Welt kann der Schüler von F.K. Waechter und F.W. Bernstein („…sie haben mir in die Wiege gewitzelt.“), der nun selbst zur Bundesliga der heiteren Graphik zählt, zwar mit seinen urkomischen, bisweilen erfrischend albernen Cartoons nicht besser machen, aber

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man erträgt sie lachend leichter. Dazu dienen dem „gelernten“ Germanisten als augenzwinkernd benutzte Mittel Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Seine erste Liebe galt übrigens der Malerei, und diese Liebe hält. Er ist ein großer VermeerVerehrer. Da ist POLOs „Gitarrenspielerin“ als Tribut an den alten Holländer nur logische Konsequenz. Was viele gar nicht wissen, ist, dass er so ganz nebenbei ein vorzüglicher Portrait-Karikaturist ist, der die Großen der deutschen Literatur einmal zu seinem Lieblingsthema gemacht hatte. Hermann Hesse, Heinrich Böll, Günther Grass, Hanns Dieter Hüsch oder Joachim Ringelnatz zum Beispiel hat er mit scharfem Blick und spitzer Feder in limitierter Auflage köstlich aufgespießt. Längst sieht er sich nicht mehr „nur“ als Cartoonist, sondern als jemand, der als Maler, Graphiker, Autor und Fotograf „Komische Kunst“ macht. Der Liebe zur Literatur sind solch beziehungsreiche Werke wie die graphische Sprachspielerei „Der Turmbau zu Brabbel“ und die Graphik „Franz Kafkas erstes Auto“ geschuldet. Und er versucht stets Neues. POLOs schwarz-weiße Aktstudien in der Tradition

chinesischer Tuschmalerei – allerdings mit einer Zahnbürste gemalt, sind von großer Delikatesse. POLO arbeitet diszipliniert gerne auch tief in der Nacht, weil er dann ungestört ist, in seiner Humorwerkstatt und legt Wert auf das Handwerk. Er gehört zu den wenigen, die - wenn auch nicht ausschließlich - noch mit der Zeichenfeder und dem Tuschefäßchen arbeiten, und er ist ständig auf der Jagd nach dem raren Werkzeug, damit das heitere Werk gelinge. 1996 wurde er mit dem 1. Preis beim Berliner Karikaturensommer belohnt, vergleichbar mit dem Deutschen Kleinkunstpreis, sozusagen der „Oscar“ der Zeichner, 2002 in Dresden mit dem mit 5.000,- Euro dotierten 2. Platz im „Deutschen Karikaturenpreis“. Seit 2008 nimmt er jährlich am Prerower Karikaturensommer teil, einer Open-AirAusstellung; 2010 schmückte einer seiner Cartoons den Titel des begleitenden Katalogs – und auch die „Caricatura“ in Kassel sieht POLO gerne als ständigen Gast. Sein Strich wird erkannt und geschätzt, auch von privaten Auftraggebern,


‘ran, x-mag, metallzeitung, Rat Aktuell und in den Musenblättern. Zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen u.a.: Deutscher Karikaturenpreis Dresden (seit 15 Jahren regelmäßig), 4. Triennale Greiz, Kunst in der Karikatur, Mannheim, Caricatura Kassel, Ironimus, Köpenicker und Berliner Karikaturensommer (1992-’98), „Frag Papa!“ Berlin, Hann. Münden und Riesa, Lichtenberg Connection, „Zeichenlust und Kartengier“, München, Speyer, Neuss, 1. Österreichisches Karikaturenfestival 1999, Feldkirchen, „Schreckliche Bilder“ Berlin, Cartoonair am Meer 2007-2011, Zahlreiche Cartoon-Postkarten, Buchillustrationen und Veröffentlichungen in Cartoon-Sammelbänden und -Kalendern. Noch bis 25. Mai ist im Wilhelm Busch-Museum Hannover eine von WP Fahrenberg kuratierte Ausstellung zum Leben und Werk von Georg Christoph Lichtenberg zu sehen, an der sich die Crème der deutschen Cartoonisten beteiligt, POLO ist natürlich dabei. Preise: 1994 Sonderpreis des Regierenden Bürgermeisters von Berlin beim ‚Köpenicker Karikaturensommer‘ Dritter Preis beim ‚Ironimus ‘94‘ 1996 Erster Preis beim ‚Berliner Karikaturensommer‘ 2002 2. Platz beim „Deutschen Karikaturenpreis“ der Sächsischen Zeitung 2010 Sieger beim Prerower Sommer Weitere Informationen unter: www.polo.cartoon.de denn er arbeitet auch als Illustrator und Werbegraphiker. Von der Wuppertaler „Junior Uni“ mag man halten, was man will – zwei Kurse/ Seminare aber werten seit dem Wintersemester 2014/15 das dortige Programm auf: Cartoon-Zeichnen mit André Poloczek. Überhaupt hat POLO den Schritt auf die vermittelnde Ebene gemacht, er gibt seit 2013 Comic-Zeichenkurse, hielt 2013/14 ein Cartoon-Kolleg in der Galerie von Jürgen Grölle und dozierte 2014 bei der Sommerakademie für Komische Kunst in Kassel.

Wenn POLO nicht zeichnet, greift er zur Entspannung zur E-Gitarre (Rock/ Blues). Was ihm gegen den Strich geht? „Die äußerst unangenehme Vorstellung, mal keinen Stift und kein Papier bei sich zu haben.“

Frank Becker

Cartoons, Karikaturen, Comics und Illustrationen erschienen bisher u.a. in: Der Rabe, Die Mitbestimmung, Eulenspiegel, Finanztest, Frankfurter Rundschau, GEO Saison, iTALien, Konkret, Kowalski, mare, Maxi, Stern, Süddeutsche Zeitung, taz, titanic, Nebelspalter, Top Magazin, Wuppertaler Rundschau,

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Neue Kunstbücher vorgestellt von Thomas Hirsch Zur rechten Zeit am rechten Ort Wer war Sigmar Polke? Sigmar Polke ist schwer zu fassen. Noch bis 5. Juli zeigt das Museum Ludwig in Köln einen Überblick über das Werk des bedeutenden Künstlers, der in erster Linie mit seiner Malerei bekannt ist, aber genauso Fotografien, Filme, Zeichnungen, Objekte angefertigt hat. Polke, geboren 1941 in Oels/Schlesien, studiert bei Götz und Hoehme in Düsseldorf, lange selbst Professor in Hamburg, seit 1978 – und nach mehreren Jahren auf dem Gaspelshof bei Willich – in Köln lebend und dort 2010 gestorben, trat zunächst als Mitglied der Gruppe „Kapitalistischer Realismus“ – mit Fischer-Lueg, Kuttner und Gerhard Richter – in Erscheinung. Später wurde er zur Documenta eingeladen und bespielte den deutschen Pavillon auf den Biennalen in São Paulo und Venedig. Ausgezeichnet wurde er u. a. mit dem Schwitters-Preis in Hannover, dem Goldenen Löwen der Biennale Venedig, dem Amsterdamer Erasmus-Preis und dem Premium Imperiale. Seine weltweite Anerkennung ist um so bemerkenswerter, als sich Polkes Werk gängigen Kategorien entzieht. Es kennzeichnet sich vor allem durch seine Haltung, mit dem Zusammenwirken von doppelbödigem Humor und von handwerklichem Experiment.

Sigmar Polke – Alibis, 328 S. mit 260 Farbabb., Broschur, 28,5 x 24 cm, Prestel, 49,95 Euro

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Es gibt die besonders von Realismus und Sprache bestimmten Arbeiten, die sich der deutschen Gesellschaft etwa mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte zuwenden, und die späteren semi-abstrakten Malereien, die neue Techniken und Verfahren erkunden. Die Monographie, die nun zur Kölner Ausstellung bei Prestel erschienen ist, vertieft diese Inhalte, indem sie die mediale Vielfalt betont und der Wirkung von Polke auf jüngere Künstlergenerationen nachgeht. Und sie unternimmt die Innensicht. Dazu ist Polke selbst auf den fotografischen Aufnahmen zu sehen: beim Fotografieren im Straßenverkehr, bei der Arbeit im Atelier. Unterstützt wird dies durch sinnvolle graphische Lösungen, so dass ein Buch entstanden ist, das der Komplexität von Polke selbst und den Kurvaturen seines Werkes gerecht wird – und auf jeden Fall reizvoller als die etwas lahme Ausstellung in Köln ist. Gerade in seinen lapidaren Werken verweist Polke spielerisch auf die Anweisung von „höheren Wesen“ – und entzieht sich damit dem Kult um den schöpferischen Künstler … Aber warum wurde der eine berühmt und der andere nicht? Die Polke-Monographie erwähnt sein Umfeld zwischen Düsseldorf und Köln und auf dem Gaspelshof, wo ebenso Achim Duchow, Katharina Sieverding und Chris Kohlhöfer gearbeitet haben. Auch Memphis Schulze war hier zeitweilig tätig, als

Memphis Schulze, 292 S. mit 120 s/w und 280 üwg. marginalen Farbabb., Hardcover, 31 x 24 cm, Snoeck, 48 Euro

Autodidakt, der sich neben der Kunst der Musik zugewandt hat, überhaupt Phänomene der Pop Art aufgriff. Seine Bilder, die sich häufig aus Überlagerungen von Motiven aus Printmedien konstituieren und ironisch das gesellschaftliche Geschehen in Deutschland kommentieren, bewegen sich in ihren Sujets und ihrem Impetus zwischen Picabia und natürlich Polke. Vielleicht sind sie mehr eine Strategie als ein Stil. Aber wie eigenständig, wie gut und wichtig ist das? Unlängst ist nun eine erste umfassende Monographie zu diesem Künstler erschienen, der 1944 als Jürgen Schulze geboren und schon 1993, nach einem Schlaganfall, seine Tätigkeit beenden musste. 2008 ist er dann gestorben. Das Buch ist atmosphärisch angelegt und mehr indirekt; es versucht die Aura und das Umfeld zu definieren, in dem Memphis Schulze gearbeitet hat. Es beinhaltet etliche Fotos, die auf Parties und Eröffnungen aufgenommen wurden, wobei die Akteure (und die Anlässe) nicht genannt werden, Schulze ist hier allgegenwärtig, auch der junge Polke und Imi Knoebel zu erkennen. Daraus wird ein etwas sentimentales Erinnerungsbuch, bei dem die Kunstwerke – trotz des gründlich vermittelnden Textes – leider zu kurz kommen. Schade, dass sie nicht für sich sprechen dürfen! Mitunter scheint es, als illustrierten sie die Szenefotos – erst im hinteren Teil werden sie dann als Werkverzeichnis allzu kleinformatig, aber erhellend gewürdigt. Und doch ist damit ein Anfang in der Rezeption gemacht. Eine Folge ist, dass Schulzes Malereien vor kurzem in einer Galerie in Düsseldorf ausgestellt worden sind: Deutlich wurde dort, dass er in seiner Zeit zu den Guten und Kreativen der Düsseldorfer Kunstszene gehörte. Bei Imi Knoebel – einem weiteren Protagonisten der „goldenen“ Jahrzehnte im Rheinland – muss man über all das nicht reden. So souverän wie das Werk des in Düsseldorf lebenden Künstlers ist, so überzeugend sind auch die Publikationen, die er mit seiner Frau Carmen meist selbst gestaltet. Knoebel wird derzeit besonders in der weiteren Region mit Ausstellungen gewürdigt, in Krefeld und in Düsseldorf. Vor kurzem ist seine Retrospektive im Kunstmuseum Wolfsburg zu Ende


Imi Knoebel – Werke 1966-2014, 328 S. mit 700 üwg. farb. Abb., Hardcover, 31,5 x 24 cm, Kerber, 58 Euro gegangen, und aus Anlass dieser Ausstellung ist eine umfassende Monographie erschienen. Knoebel, geboren 1940 in Dessau, gehört zu den international bekanntesten gegenstandsfreien Künstlern aus Deutschland. Er thematisiert die Farbe, die er in Bezug zur Form setzt, im Verhältnis auch zum Raum und zur Wand. Die Form tritt aber auch ohne eine (hinzugefügte) Farbigkeit auf – also im Materialton – und das Bewundernswerte ist, dass Knoebel immer zu ganz neuen, überraschenden Lösungen findet. Dies ist auch in Wolfsburg gelungen, wo Knoebel Wände in die Ausstellungshalle eingefügt hat und so einen systematischen Blick auf sein Werk aus fünf Jahrzehnten ermöglichte. Aber wie stellt man unter veränderten Bedingungen, nämlich als Buch, diese Werke selbst vor? Wie wird man dieser Komplexität mit den gegenseitigen Verweisen auf das eigene Werk gerecht? In der chronologischen Übersicht, die um zeitgleiche Artikel ergänzt ist, aber auch persönliche Statements von Weggefährten und Aufnahmen der Wolfsburger Ausstellung enthält, liegt eine ebenso kritisch historische wie persönliche Objektivierung vor – ganz im Sinne des Werkes. Zur rechten Zeit am rechten Ort war Giorgio Vasari (1511-1574), der Maler und Architekt aus Arezzo, der mit seinen eigenen Werken bekannt und mit seinen

„Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten“ berühmt wurde. In der Tat kennen wir nur durch Vasari die Biographien etlicher italienischer Renaissance-Künstler und ihre Arbeitsbedingungen, wobei manches aus Vasaris Feder anekdotisch zu verstehen, also mehr Erfindung als Wahrheit ist. Derartige Klärungen gehören zu den Anliegen der „Edition Vasari“, der kritischen, neu übersetzten Gesamtausgabe seiner Schriften, die vom Wagenbach Verlag herausgegeben wird. Seit 2004 publiziert der Berliner Verlag die einzelnen Viten im handlichen Taschenbuchverlag, dabei fein in der Ausstattung. Zu den jüngsten Veröffentlichungen gehören Vasaris Darlegungen zum Florentiner Maler Domenico Ghirlandaio und des Buchmalers Gherardo di Giovanni: Hier ist der Umfang der Lebensbeschreibungen – und im übrigen der Bebilderung durch den Verlag – auch als Hinweis auf die allgemeine Wertschätzung zu seiner Zeit (und heute) zu verstehen. Während Gherardo von Vasari nur mit ein paar Seiten bedacht wird, wird Ghirlandaio mit seinen Fresken wie auch seinen Bürgerporträts ausführlich vorgestellt. Und, wie schön, dass sein Bildnis der Giovanna

Tonabuoni eine eigene Abbildungsseite erhalten hat. Ein weiterer Band widmet sich den Bildhauern und Architekten des 13. und 14. Jahrhunderts. Im Zentrum stehen Nicola und sein Sohn und Schüler Giovanni Pisano, von denen die Marmorkanzel im Baptisterium zu Pisa bzw. im Siener Dom stammen. Auch Andrea Pisano wird ausführlicher gewürdigt. Neben der üblichen sinnvollen knappen Einleitung fällt bei diesem Buch allerdings der Umfang des Anhanges auf, der bald 150 Seiten umfasst – das ist dann wirklich als Quelle für die Wissenschaft gedacht. Vasari selbst schreibt im Plauderton und aus der Praxis des Künstlers, der er war. Das ist anschaulich, sogar unterhaltsam und lehrreich auf hohem Niveau – Wagenbach ist dafür der richtige Verlag.

Giorgio Vasari, Das Leben der Bildhauer und Architekten des Duecento und des Trecento, 260 S. mit 31 teils farb. Abb., Broschur, 19 x 12 cm, Wagenbach, 16, 90 Euro

Giorgio Vasari, Das Leben des Domenico Ghirlandaio und des Gherardo di Giovanni, 96 S. mit 22 teils farb. Abb., Broschur, 19 x 12 cm, Wagenbach, 12,90 Euro

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Geschichtsbücher, Buchgeschichten Vorgestellt von Matthias Dohmen

Eiferer und Gelehrte Geschichte des Sozialismus: Ein weites Feld schreitet die Historikerin Helga Schultz ab, und manchem mag es scheinen, sie äußere sich über längst vergessene Zeiten. Der gegenwärtig herrschende Konservativismus, schreibt sie selbst, möchte „die sozialistische Tradition insgesamt auf die Müllhalde kippen“. Verfrüht, meint die Autorin. Und führt Persönlichkeiten ins Feld, die von 1880 bis 1980 – so der ungefähre zeitliche Rahmen – Geschichte geprägt haben. Die Geschichte der Literatur und der englischen Fabier wie George Bernard Shaw, den Vielvölkerstaat Jugoslawien wie Josip Broz Tito, das schwedische Volksheim wie das Ehepaar Myrdal oder die 1968er-Studentenbewegung wie Herbert Marcuse. Überaus anschaulich und lebendig porträtiert Schultz ferner Jean Jaurès, einen französischen Sozialisten, den Marx- und Bernstein-Freund Karl Kautsky, den polnischen Diktator Józef Klemens Piłsudski, der seine Karriere in einer sozialistischen Organisation begann, den bulgarischen Bauernführer Alexander Stanbolijski, Stalins Widersacher Leo Trotzki und drei weitere Protagonisten. Was den Parteiführern und Ideologen des hingeschiedenen realsozialistischen Lagers ein Gräuel war, nimmt Schultz als Verheißung: „Im Rückblick scheint es naheliegender, die Stärke des Sozialismus nicht in der Einheit und Reinheit seiner Lehre, sondern in der

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Vielfalt seiner Ausprägungen zu suchen.“ Und listig fragt sie: „Ist Variantenvielfalt nicht allgemeines Prinzip der Evolution?“ (Zitate bis hierhin S. 3). Die Alleinherrschaft der Bolschewiki, von Lenin auf den Weg gebracht, kommt ihr als die „Ursünde der Revolution und Geburtsfehler der sozialistischen Ordnung“ vor (S. 265). Mit viel Empathie und kenntnisreich beschreibt sie das Leben von Wladimir Medem, der auf seinem Grabstein in New York zu Recht eine „Legende der jüdischen Arbeiterbe-wegung“ genannt wird und der fast so vergessen ist wie der „Allgemeine jüdische Arbeiterbund von Litauen, Polen und Russland“ (kurz Bund), dem er angehörte (S. 203). Ist die Utopie doch links und sozialistisch? Trotzig erklärt Schultz, Atlas, die berühmte Figur aus der griechischen Mythologie, könne „die Welt nicht nur auf der rechten Schulter tragen“ (S. 484). Helga Schultz, Europäischer Sozialismus – immer anders. Karl Kautsky - George Bernard Shaw - Jean Jaurès - Józef Piłsudski - Alexander Stambolijski - Wladimir Medem - Leo Trotzki - Otto Bauer - Andreu Nin - Josip Broz Tito - Herbert Marcuse - Alva und Gunnar Myrdal, Berlin: BMV 2014, 554 S., 59,00 Euro

Widerstand und Anpassung Geschichte der Arbeiterbewegung: Endlich ist Bd. 13 der „Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts“ da. Michael Schneider, der bereits die Jahre 1933 bis 1939 beleuchtet hatte (Titel: „Unterm Hakenkreuz“), hat ein wirkliches Grundlagenwerk geschaffen. Die Rahmenbedingungen der sozialen und politischen Existenz waren andere in der Zeit nach der so genannten Machtergreifung als in den Jahren des Krieges, das eine weitgehend stabilisierte nationalsozialistische Herrschaft sah. Es war so – der Herausgeber der Reihe, Gerhard A. Ritter, unterstreicht es in seinem Vorwort –, „dass der überwiegende Teil der Arbeiter den NS-Staat nicht als Fremdherrschaft empfand“ (S. 15). Stichworte sind hier „Betriebs-“ und „Volksgemeinschaft“ sowie „Kraft durch Freude“. Die drei Hauptkapitel heißen „Mobilmachung: Um die Einbindung der Arbeiterschaft in die Kriegführung“, „Arbeiterleben im Krieg“ und „Politischer Widerstand: Arbeiterbewegung in Exil und Illegalität“. Gerade beim Letztgenannten bemüht sich Schneider um eine „wägende Einschätzung“ des kommunistischen, des sozialdemokratisch-sozialistischen und des bürgerlich-militärischen Widerstands. Unnützerweise polemisiert er in diesem Zusammenhang gegen die zuletzt von Hans Coppi vertretene


These, der Widerstand der Arbeiter sei hierzulande „vergessen“ (S. 899 f.), eine Einschätzung, die für die „allgemeine“ Historiographie weiter Bestand hat. Schneider kommt generell zu dem Schluss, dass die Arbeiterbewegung 1945 noch einmal „revitalisiert“ werden konnte, aber in den 1950er- und 1960er-, spätestens aber den 1970er-Jahren (alte Bundesrepublik) und Ende der 1980erJahre (DDR) ihr Ende fand (S. 1350 f.). Die These ist zwar populär, kann aber bestritten werden. Im Westen jedenfalls war die alte Arbeiterjugendkultur nach dem Zweiten Weltkrieg mausetot, „was wohl auch auf den Einfluss des Nationalsozialismus auf die Vorstellungswelt breiter Kreise der Arbeiterschaft zurückzuführen“ sei (S. 1350). – Zur Aufmachung, der Bilderauswahl und den zahlreichen Kurzbiographien muss man Autor und Verlag gratulieren. Michael Schneider, In der Kriegsgesellschaft. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1939 bis 1945, Bonn: J. H. W. Dietz 2014, 1509 S. (=Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, 13), 98,00 Euro

Politik betrachtet. Tatsache ist doch, dass die Schulden, die zurückgeführt werden sollten, explodieren, dass eine vorgebliche Wachstumsstrategie die Wirtschaft in den europäischen Randstaaten nach unten gedrückt hat und – auch in diesem Zusammenhang – Deutschland, Schweden und Österreich „in der einen oder anderen Weise Gefahr“ laufen, „ihre Stärken einzubüßen“ (S. 29). Wie die Kletten hängen sie zusammen: „Eine allmähliche Überwindung der chronischen Krise in der EU ist nur möglich, wenn es in einzelnen Ländern einen Kurswechsel gibt“, der aber nur möglich ist bei grünem Licht „oder zumindest Tolerierung auf der Ebene der europäischen Institutionen“ (S. 8). Integration oder Spaltung Geschichte Europas: Es wird viel diskutiert und noch mehr schwadroniert über die ökonomische und politische Zukunft unseres Kontinents. In seinem einleitenden Beitrag stützt sich Herausgeber Steffen Lehndorff auf den US-amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, der 2010 mit Blick auf die gerade überwunden geglaubte weltweite Wirtschaftskrise die Feststellung traf: „Die Fundamentalisten des freien Marktes haben sich in allem geirrt – doch jetzt dominieren sie die politische Szene noch gründlicher als zuvor“ (zit. S. 7). Das kommt dabei heraus, wenn man das „Vertrauen der Märkte“ oder „der Anleger“ als den archimedischen Punkt der

Gut angebunden:

Steffen Lehndorff (Hrsg.), Spaltende Integration. Der Triumph gescheiterter Ideen in Europa – revisited: Zehn Länderstudien, Hamburg: VSA 2014, 349 Seiten, 24,80 Euro

015 14. Juni 2 ot tesdienst pen-Air-G 11 Uhr – O ng ru h ostümfü 13 Uhr – K of H d n um Haus u

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Von der Korrumpierung jeder Moral

Michel Houellebecq – „Unterwerfung“ Aus dem Französischen von Norma Cassau, Bernd Wilczek © 2015 Dumont Buchverlag, 272 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, Lesebändchen 22,99 Euro – ISBN 978-3-8321-9795-7 Weitere Informationen www.dumont-buchverlag.de/

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Die Eroberung Spaniens durch die Mauren und die Türkenkriege mit ihren Stürmen auf Wien sind Geschichte. Heute hat der Einfluß des Islam auf die westliche Kultur durch Zuwanderung intensive gesellschaftliche und politische Formen angenommen. Der Islam gibt sich hier wie in Frankreich politisch moderat. Dazu ein Zitat des Kabarettisten Dieter Nuhr: „Der Islam ist ausschließlich dann tolerant, wenn er keine Macht hat, und wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass es bei uns so bleibt.“ Vor allen hat Frankreich durch seine Kolonialgeschichte einen hohen Anteil längst auch politisch aktiver islamischer Bevölkerung, will sagen Männer. Frauen sind im Islam ohne jede Bedeutung. Diese von arabischen Erdölstaaten unterstützten politischen Kräfte gewinnen zunehmend Einfluss, vor allem auf das unzufriedene französisch-islamische Wahlvolk. Das nimmt Michel Houellebecq in seinem im Jahr 2022 spielenden Roman „Unterwerfung“ zum Anlass für die Fiktion eines Wahlsieges der Partei der Muslim-Brüder. So raffiniert wie der Aufbau der Story ist ihr umwerfend perfider Schluss – womit ich perfide hier als hohes Lob verstanden wissen möchte. Der Literaturwissenschaftler und Universitätsprofessor Francois, in dessen Rolle Houellebecq schlüpft, führt als Weinkenner und Gourmet ein gutes Leben in mäßigem Wohlstand, sexuell zufriedenstellend durch wechselnde Verhältnisse mit Studentinnen und eine begehrliche Liebe zu der jüdischen Studentin Myriam ausgefüllt. Die französischen Präsidentschaftswahlen (vor realpolitischem Hintergrund), in denen sowohl den Muslim-Brüdern wie auch der Front National Chancen winken, beobachtet er in gewohnter Dekadenz mit der Spannung, mit der er auch ein Pferderennen verfolgen würde. Der über den naturalistisch-dekadenten Schriftsteller Huysmans promovierte Wissenschaftler, der sich zumindest argumentativ nach Huysmans auszurichten scheint, bemerkt die mögliche Wende, jedoch nicht die unmöglich erscheinende Koalition zwischen den Muslimbrüdern und einer nationalkonservativen Partei, was schließlich die Sozialisten nach blu-

tigen Straßenkämpfen (die Houellebecq nur andeutet) zu einer Koalition mit den Muslimen zwingt, um die Front National von der Regierungsverantwortung fernzuhalten. Houellebecq erzählt schlüssig, schöpft nüchtern und ohne Übertreibung den möglichen Folgenkatalog aus: jüdische, weibliche und nicht islamkonforme Hochschullehrer verlieren ihre Ämter, Juden wie Myriams Familie emigrieren nach Israel, wer Geld hat, transferiert es ins Ausland. Saudisches Geld wird in den französischen Staats- und Bildungsapparat gepumpt, die Konversion zum Islam wird mit hoch dotierten Posten belohnt. Binnen kurzer Zeit wandelt sich das Gesellschaftsbild Frankreichs zu einer scheinbar moderaten islamischen Gesellschaft. Die Medien unterliegen einer Zensur, Bildungseinrichtungen werden islamisiert, Frauen aus dem öffentlichen Leben entfernt, die hübschen Mädchen im Straßenbild von Paris verschwinden unter „Reformkleidung“. Männer der Führungsebene werden durch hohe Gehälter, das Versprechen der Mehrehe und die absolute Macht über die Frauen korrumpiert und zur Konversion gedrängt – und lassen sich korrumpieren. Francois beobachtet das mit staunendem Widerwillen, bis… So zynisch und raffiniert Houellebecq all das erst auf den zweiten Blick erkennen lässt, den Leser in trügerische moralische Sicherheit wiegt, ihm den Spiegel der erniedrigenden Selbsterkenntnis schließlich triumphierend vors Gesicht hält, ist im höchsten Grade gekonnt. Der Dialog zwischen Francois und dem erfolgreichen Konvertiten Robert Rediger ist Kernstück und intellektuelles Glanzlicht des Romans. Es ist ein literarisch wie gesellschaftspolitisch wichtiges Buch, das zu Recht in der westlichen Welt Aufmerksamkeit und in islamischen Ländern Widerspruch findet – denn was im Buch noch Fiktion ist, ist dort Realität und Tradition. Auf Michel Houellebecq und Dieter Nuhr zu hören, kann nicht schaden. Frank Becker


Kulturnotizen

Programm Juni / Juli 2015 Juni 2015 So 31. 5. 2015, 19:00 Uhr / Opernhaus // SAX FOR FUN meets FLIEGER // powerd by Sparda-Bank // SAX FOR FUN – das Wuppertaler Saxophonorchester unter der Leitung von Thomas Voigt freut sich auf ein gemeinsames Konzert mit der bekannten Cover Rockband FLIEGER im Wuppertaler Opernhaus. // Auch die Musiker der bekannten Band sind stolz auf die beiden ungewöhnlichen Auftritte am 31. Mai und 1. Juni im Opernhaus. Das hat es europaweit noch nie gegeben!

Beginn ist jeweils um 19 Uhr. Die Karten kosten Euro 15,- (erm. Euro 6,-) // Infos: www.saxforfun.org und www.fliegerlive.de Mi 3. 6. 2015, 19:30 Uhr // Theater am Engelsgarten // Mondlicht und Magnolien / Komödie von Ron Hutchinson // Deutsch von Katharina Abt und Daniel Karasek Weitere Aufführungen: 5. 6. 2015, 19:30 Uhr, 7. 6. 2015 16:00 Uhr, 17. 6. 2015, 19:30 Uhr, 19. 6. 2015, 19:30 Uhr, 27. 6. 2015, 19:30 Uhr, Theater am Engelsgarten Fr 5. 6. 2015, 19:30 Uhr - 22:30 Uhr /// Opernhaus // Don Giovanni // Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) // Dramma giocoso in zwei Akten; Libretto von Lorenzo da Ponte Er ist der Mann, dem die Frauen vielleicht besser nicht vertrauen sollten: der

spanische Edelmann Don Giovanni. Laut den Aufzeichnungen seines Dieners Leporello umfasst die chronique scandaleuse dieses Herren alleine in Spanien 1003 Techtelmechtel; hinzu kommen diverse Liebschaften im europäischen Ausland... Der deutsche Dichter E. T. A. Hoff mann nannte Don Giovanni schlichtweg „die Oper aller Opern“. Weitere Aufführungen: 6. 6. 2015, 19:30 Uhr - 22:30 Uhr, 7. 6.2015, 16:00 Uhr 19:00 Uhr, jeweils im Opernhaus Sa 6. 6. 2015, 22:45 Uhr / Opernhaus // Chucky & Jones – Apr´Opera /// AfterOper-Brit-Sit-Up-Comedy im Anschluss an „Don Giovanni“ So 7. 6. 2015, 11:00 Uhr / Kronleuchterfoyer Opernhaus // Liedmatinée // mit Peter Paul (Bariton) und Jens Holzkamp (Piano) Di 9. 6. 2015, 20:00 Uhr / Ankerpunkt / Berufe am Theater // Theaterpädagogik /// Das Schauspiel der Wuppertaler Bühnen bietet mit der Reihe „Berufe am Theater“ die Möglichkeit, sich über die vielfältigen Berufsbilder zu informieren, die am Theater zu finden sind: Von der Schauspielerin bis zum Maskenbildner, vom Souffleur bis zur Bühnentechnikerin – wir stellen sie vor und informieren über die Tätigkeit und den Ausbildungsweg. /// Aufgrund der begrenzten Plätze wird unter schauspiel@wuppertalerbuehnen.de um Anmeldung gebeten. Mi 10. 6. 2015 19:30 Uhr / Theater am Engelsgarten /// Supergute Tage /// Nach dem Roman von Mark Haddon, Bühnenfassung von Simon Stephens, Deutsch von Barbara Christ

Weitere Vorstellungen: 11. 6. 2015, 11:00 Uhr, 20. 6. 2015 19:30 Uhr, 21:20 Uhr, 21. 6. 2015 18:00 Uhr - 19:50 Uhr

Do 11. 6. 2015, 17:00 Uhr / City-Kirche Elberfeld /// Das literarische Solo /// mit Thomas Braus: Prof. Unrat, Teil 3 Do 11. 6. 2015, 18:00 Uhr // Kronleuchterfoyer Opernhaus /// Kamingespräch /// Unser Gast: Rainer Widmann, Verkehrsplaner Fr 12. 6. 2015, 19:30 Uhr / Theater am Engelsgarten /// Michael Kohlhaas /// nach Motiven von Heinrich von Kleist // Visitenkarte: Daniel Kamen /// Michael Kohlhaas ist der Mann, der „in einer Tugend ausschweift“, Räuber und Mörder wird aus beleidigter Rechtschaffenheit. Kleist zeigt ihn als mustergültigen Staatsbürger, den der Staat selbst in die Gesetzlosigkeit drängt und ihn so zum furchtbaren Rächer macht. //

Wie weit darf der Einzelne gehen, um seine berechtigten Ansprüche zu verfolgen? Diese so aktuelle Frage kommt als dramatisches Szenario der Wahrheitsfindung auf die Bühne. Weitere Vorstellung: 24. 6. um 19:30 Uhr Sa 13. 6. 2015, 19:30 Uhr // Theater am Engelsgarten / Tagebuch eines Wahnsinnigen von Nikolai Gogol // mit Thomas Braus // Im Anschluss: Visitenkarte: Thomas Braus / Die Visitenkarten sind ganz persönliche Werkstattabende der Mitglieder des Schauspielensembles der Wuppertaler Bühnen. Die SchauspielerInnen stellen sich in der Spielzeit 2014/15 mit Szenen, Stücken, selbst kreierten musikalischen Abenden, Gesang etc. vor. Sa 13. 6. 2015, 19:30 Uhr / Opernhaus / Vollmond /// Tanztheater Wuppertal Pina Bausch /// Weitere Vorstellungen: 14. 6. 2015, 18:00 Uhr, 15.6., 17. 6. 18. 6. 19. 6. 2015, jeweils um 19:30 Uhr

Do 25. 6. 2015, 19:30 Uhr Uhr /// Theater am Engelsgarten /// Visitenkarte Uwe Dreysel Kaffee & Vodka - ein Liederabend

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Kulturnotizen

Do 25. 6. 2015, 19:30 Uhr / Opernhaus / Kontakthof /// Tanztheater Pina Bausch /// Weitere Aufführungen: 26., 27., 29. und 30. Juni, jeweils um 19.30 Uhr Fr 26. 6. 2015, 19:30 Uhr // Theater am Engelsgarten /// Nightradio /// Visitenkarte: Stefan Walz /// „Guten Abend meine Damen und Herren, hier ist Nightradio, wir bringen Sie sicher durch die Nacht!“ Stefan Walz rockt, grooved und swingt, romantisch, fetzig, beschwingt und bluesig. Er singt vom Mond, von der Liebe, von Sehnsucht, Bier, Eifersucht, von Einsamkeit und vom Glück. Er ist eine Radiostation, die in die Nacht sendet. Er nimmt Sie mit auf die Reise, gut gelaunt und mit Herz. Juli 2015 Mi 1. 7. 2015, 10:00 Uhr - 18:00 Uhr / Foyer Opernhaus /// Briefmarke Pina Bausch /// Zum 75. Geburtstag ///

Ersttagspostamt und Präsentation der Pina Bausch Foundation Do 2. 7. 2015, 18:00 Uhr / Kronleuchterfoyer Opernhaus /// Kamingespräch /// Gast: Prof. Dr. Uwe Schneidewind, Geschäftsführer des Wuppertal Instituts

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Mi 3. 6. 2015, 19:00 Uhr // Historische Stadthalle // Abschlusskonzert der Schulpartnerschaft »Sommernachtsträume« // mit: LVR-Förderschule, Schule Nordpark Sa 6. 6. 2015, 12:00 Uhr / City-Kirche Elberfeld /// Ohrenöffner – Musik im Gespräch /// Das Instrument der Engel: Die Harfe im Porträt So 7. 6. 2015, 18:00 Uhr / Historische Stadthalle /// 4. Orgel-Akzent /// Mo 8. 6. 2015, 20:00 Uhr / Historische Stadthalle /// 6. Kammerkonzert Rosen Rusinov, Posaune / Csaba Rabi, Posaune / Alexander Apfler, Posaune / Ulrich Oberschelp, Posaune // Portraitkonzert Posaune Die vier Posaunisten des Sinfonieorchesters Wuppertal // Mit Musik aus fünf Jahrhunderten – von der Renaissance bis zum Jazz Do 11.06.2015 10:00 Uhr / Historische Stadthalle /// 4. Schulkonzert /// Igor Strawinski »Der Feuervogel« // Martin Schacht und Gerald Hacke, Konzeption und Moderation // Sinfonieorchester Wuppertal, Moritz Gnann, Leitung Eines Tages begibt sich Ritter Iwan auf die Jagd, denn er möchte den Feuervogel fangen. Dabei verirrt er sich im Wald. Er überspringt eine Mauer und plötzlich befindet er sich in einem Zaubergarten. Igor Strawinskis Ballett ist eines der wunderbarsten Werke auf der Bühne und im Konzert. /// Für 5. und 6. Klassen Weitere Aufführungen: 12. und 17. 6., jeweils um 12.00 Uhr

Traum /// Barbara Overbeck, Moderation / Sinfonieorchester Wuppertal, Anja Bihlmaier, Leitung // Mit Musik von Maurice Ravel aus »Ma Mére l’oye« Für Märchenerzähler ab 6 Jahren So 14. 6. 2015, 16:00 Uhr / Theater am Engelsgarten /// Sing and Swing /// Konzert des Kinder- und Jugendchores der Wuppertaler Bühnen // Zum Ende der Spielzeit präsentiert der Chor die Früchte seiner Arbeit. Musik aus allen Stilen, allen Zeiten und aus aller Welt 21. 6. 2015, 11:00 Uhr / Historische Stadthalle // 10. Sinfoniekonzert // Sinfonieorchester Wuppertal, Toshiyuki Kamioka, Leitung // Geändertes Programm Peter Tschaikowski, Ballettmusik zu »Schwanensee« muss leider entfallen. /// Neues Programm: Gustav Mahler Sinfonie Nr. 6 a-Moll // Die 6. Sinfonie ist das wohl größte Rätsel, welches Gustav Mahler seiner Nachwelt hinterlassen hat. Sie entzieht sich sämtlichen Deutungs- und Erklärungsversuchen aller Mahler-Interpreten. Unumstritten ist die hohe Emotionalität, Verzweiflung und Tragik, die sich in ihrer Musik finden lässt. Im Gegensatz zu seinen anderen Sinfonien ist seine Sechste auch die einzige Sinfonie mit „negativem Ausgang“ – während alle anderen Sinfonien in strahlenden, oft triumphierenden Dur-Akkorden enden, verhallt diese in einem verzweifelt-pessimistischen Moll. Gustav Mahler scheint in seiner 6. Sinfonie sein eigenes Schicksal antizipiert zu haben, sie wird darum häufig als autobiografisches Werk gewertet. Diese Wertung unterstützte auch Mahlers Frau Alma, sie schrieb über seine 6. Sinfonie: „Kein Werk ist ihm so unmittelbar aus dem Herzen geflossen wie dieses“. Konzerteinführung Montag 19 Uhr mit Prof. Dr. Lutz-Werner Hesse Weitere Aufführung: 22. 6., 20,00 Uhr

14. 6. 2015, 11:00 Uhr / Hist- Stadthalle // 4. Familienkonzert - Dornröschens

Sa 27. 6. 2015, 20:00 Uhr / Laurentiusplatz /// Open-Air-Gala ///

Spielplan Juni/Juli 2015


Termine des Verbandes deutscher Schrifsteller Bergisches Land (VS) und der Autorengemeinschaft „Literatur im Tal“ und ihrer Mitglieder Juni 2015

Sanierung: Von der Heydt-Museum bis August 2015 geschlossen Ausstellungsbetrieb in der Von der Heydt-Kunsthalle Barmen läuft wie gewohnt weiter

kommenen, begrenzten und instabilen Natur, sein Verhältnis zu sich, zu seiner Umgebung, zu anderen Menschen und zur Gesellschaft. Ihr Thema ist die Ambiguität der menschlichen Psyche. Indem sie „psychologische Räume“

Freitag, 5. Juni 2015, 19.30 Uhr: Literatur auf der Insel. Gast: Alex Capus. Moderation: Torsten Krug, Katrina Schulz. Café Ada, Wiesenstraße 6, Wuppertal-Elberfeld. Samstag, 6. Juni 2015, 18.00 Uhr: Lesung von Safeta Obhodjas nach dem Büchermarkt in der Pauluskirche. Moderation: Jürgen Kasten. Pauluskirche, Pauluskirchstraße 8, WuppertalUnterbarmen. Montag, 8. Juni 2015, 19.30 Uhr: 12. Öffentliche Werkstattlesung mit Dorothea Müller, Günter Wülfrath, Angelika Zöllner. Moderation: Hermann Schulz. Eintritt frei. Literaturhaus Wuppertal, Friedrich-Engels-Allee 83, Wuppertal-Unterbarmen. Dienstag, 9. Juni 2015, 16.00 Uhr: Lesung von Sibyl Quinke im Rahmen der Autorenlesungen der Friedrich-SpeeAkademie. Eintritt frei. Literaturhaus Wuppertal, Friedrich-Engels-Allee 83, Wuppertal-Unterbarmen. Dienstag, 23. Juni 2015, 19.00 Uhr: Gesprächskonzert – Voraufführung Epimetheus oder Die Geburt der Hoffnung aus der Musik, Kantate v. Siegfried Matthus, Text von Dorothea Renckhoff. Ruhr-Universität Bochum, Auditorium Maximum. Mittwoch, 24. Juni 2015, 20.00 Uhr: Uraufführung Epimetheus oder Die Geburt der Hoffnung aus der Musik, Kantate von Siegfried Matthus, Text von Dorothea Renckhoff. Ruhr-Universität Bochum, Auditorium Maximum.

Wegen technischer Sanierungsmaßnahmen bleibt das Von der Heydt-Museum von April bis August 2015 geschlossen. Die Klimaanlage, die mittlerweile 30 Jahre alt ist, muss erneuert werden. Da die Bauarbeiten alle Etagen betreffen, werden sie in einer kompakten Maßnahme durchgeführt, bei der kein Ausstellungsbetrieb möglich ist. Das Von der Heydt-Museum wurde zuletzt von 1986 bis 1989 umfassend saniert. Der Ausstellungsbetrieb der Von der Heydt-Kunsthalle Barmen läuft wie gewohnt weiter. Dort findet auch das Programm der Museumspädagogik statt. Ab September präsentieren wir Bilder der Sammlung. Die große Ausstellung „Weltkunst – Von Buddha bis Picasso: Die Sammlung Eduard von der Heydt“ eröffnet am 27. September 2015 Von der Heydt-Kunsthalle Vorschau – Ausstellung Maike Freess 30. August 2015 – 3. Januar 2016 Ausgangspunkt der Arbeiten von Maike Freess ist der Mensch in seiner unvoll-

entwirft, analysiert die Berliner Künstlerin (geb. 1965) Verhaltensmuster, Rituale, gesellschaftliche Normen und Zwänge. Maike Freess arbeitet in verschiedenen Medien wie Zeichnung, Fotografie, Videoinstallation, Skulptur sowie Installation. In der Ausstellung zeigt sie die Kunstgattungen eng miteinander verwoben und ermöglicht durch dieses Wechselspiel immer wieder neue Sichtweisen auf ein fokussiertes Thema. Noch bis 26. Juni 2015 2 mal Ulle Hees

Juli 2015 Samstag, 4. Juli 2015, 18.00 Uhr: Lesung von Arnim Juhre nach dem Büchermarkt in der Pauluskirche. Moderation: Jürgen Kasten. Pauluskirche, Pauluskirchstraße 8, WuppertalUnterbarmen.

Maike Freess, Should I stay 3, 2001

Maike Freess, Die Aufgabe, 2014

Ausstellung Menschenbilder Skizzen, Zeichnungen, Plastiken Verwaltungsgebäude Elberfeld (Rathaus Elberfeld), Neumarkt 10 42105 Wuppertal Öffnungszeiten : Mo. – Do. 8 – 17 Uhr, Fr. 8 – 14 Uhr

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Kulturnotizen Ausstellung Proben im Atelier Arbeiten auf Papier: Musiker und Tänzerinnen ort - Peter Kowald Gesellschaft, Luisenstraße 116, 42103 Wuppertal Öffnungszeit: Mi. 18-20 h, Sa. 16-20 h

Ulle Hees 2012, Foto Birgit Pardun Eine Veranstaltung von ort e.V. und Kulturbüro der Stadt Wuppertal Wuppertal ist bunt – Benefizparty für die Flüchtlinge in unserer Stadt Am 19. Juni 2015 veranstalten die drei Soroptimist Clubs Wuppertal ab 19 Uhr in der Alten Papierfabrik Wuppertal eine Benefizparty für jugendliche Flüchtlinge. Es spielt die Latin Session Band, Regina Advento vom Pina Bausch Tanztheater tanzt, und es gibt eine Auktion mit wertvollen Sachspenden und Dienstleistungen, die Wuppertaler Unternehmen gespendet haben. Später legt DJ Tim auf. Ende offen. Wuppertal ist eine offene und gastfreundliche Stadt. Menschen aus allen Ländern der Welt leben hier seit vielen Jahren Tür an Tür. Jetzt kommen viele Menschen

Duisburg Landschaftspark Traumzeit-Festival 19. – 21. Juni 2015

nach Wuppertal, die die Strapazen einer lebensgefährlichen Flucht auf sich genommen haben, weil sie in ihrer Heimat durch Verfolgung, Unterdrückung und Krieg in größte Not geraten sind. Wenn sie in Wuppertal ankommen, haben sie oft Unsägliches durchgemacht. Die OASE ist ein Treffpunkt für die Bewohner der Siedlung Gustav-Heinemann-Straße in Wuppertal-Elberfeld; hier finden Angebote speziell für Migranten und Migrantinnen statt, z. B. Treffpunkt internationale Frauengruppe, Sprachcafé, Deutschkurse. Darüber hinaus kümmert sich die OASE seit geraumer Zeit um Flüchtlinge und sorgt dafür, dass sie in Wuppertal Schutz und Ruhe finden. Die Mitarbeiter der OASE helfen den Familien, in ihrem neuen Lebensumfeld zurechtzukommen. In ganz besonderem Maße kümmern sie sich dabei um die Kinder der Flüchtlingsfamilien und um Jugendliche, die sich alleine auf die Flucht begeben haben. Neben Sprach- und Integrationskursen gibt es Hausaufgabenhilfen und Freizeit- und Sportangebote. Ziel ist es, die oft traumatisierten jungen Menschen zu integrieren, ihnen eine Perspektive zu geben und zu zeigen, dass sie in Wuppertal willkommen sind. Nach und nach werden sie behutsam in die bestehenden Kinder- und Jugendgruppen der Bewohnergruppe OASE integriert. Benefizparty: 19. Juni 2015 ab 19 Uhr in der Alten Papierfabrik, Friedrich-EbertStraße 130, 42117 Wuppertal. Karten im Vorverkauf 15,00 Euro (bei Friseur Bredtmann, Friedrich-Ebert-Straße 62 und Berliner Straße 158), an der Abendkasse 20,00 Euro. Informationen & Kontakt: Ina Kiesewetter / Telefon: 0170 5402882 / Mail: inakiesewetter@web.de

Drei Tage aktuelle Musik in einem einzigartigen Ambiente – auf diese einfache

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Formel lässt sich das Traumzeit-Festival bringen. Rund 40 Bands stellen auf vier Bühnen einen Mix aus ambitioniertem Pop, Indie-Rock, Singer/Songwriter, Neo-Folk, Electro und Jazz vor. Die von der Stadt Duisburg und der Duisburg Marketing GmbH organisierte Traumzeit 2015 findet vom 19. - 21. Juni im Landschaftspark Duisburg-Nord statt. Entstanden ist Traumzeit 1997 als stilistisch offenes Festival mit den Schwerpunkten Jazz und Weltmusik. Heute zeigt sich das Festival deutlich verjüngt und rückt kreativen Pop ins Zentrum. Geblieben ist der Blick über enge Stilgrenzen hinaus und die Suche nach kreativen Potenzialen und musikalischen Querdenkern jenseits des Mainstreams. Das Line Up in der Übersicht: Freitag, 19. 6. 2015: Calexico / Olli Schulz & Band / Wanda / Laing / Talisco / Teitur / L'aupaire / Maggie Bjorklund Samstag, 20. 6. 2015: Sophie Hunger / Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi / Bilderbuch / Josef Salvat / Philipp Dittberner / Zoot Woman / Niels Frevert & Band / Heisskalt / OK Kid / Joris / Sonntag, 21.6.2015: Dotan / Benjamin Clementine / Leslie Clio / Kensington / Kovacs / East Cameron Folkcore / Mine / The Majority Says / The Atrium / uva. Ein Tagesticket ist für 35 Euro erhältlich, das Festivalticket für 80 Euro (jeweils plus Gebühren). www.traumzeit-festival.de


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