Die Beste Zeit Nr. 22 2013

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Die Kunst muß zu weit gehen Rede zur Eröffnung des Wuppertaler Schauspielhauses von Heinrich Böll am 30. September 1966

Heinrich Böll. 1981. Foto: Wikipedia

Eine leere Bühne, auf der noch nichts gespielt worden ist, noch nichts sich abgespielt hat, ist ein guter Anlaß, ein paar Gedanken zu dem zu äußern, was hier als Bauwerk geboten worden ist und in diesem Bau geboten werden soll: zur Kunst. Ich spreche das große, recht hohl klingende Wort einmal aus, vielleicht ein zweites Mal, und wenn ich also, das Personalpronomen anwendend, von ihr spreche, „sie“ sage oder „die“ – dann wissen Sie, was gemeint ist. Was sie braucht, einzig und allein braucht, ist Material – Freiheit braucht sie nicht, sie ist Freiheit; es kann ihr einer die Freiheit nehmen, sich zu zeigen – Freiheit geben kann ihr keiner; kein Staat, keine Stadt, keine Gesellschaft kann sich etwas darauf einbilden, ihr das zu geben oder gegeben zu haben, was sie von Natur ist: frei. Gegebene Freiheit ist für sie keine, nur die, die sie hat, ist, oder sich nimmt. Wenn sie Grenzen überschreitet – nach wessen Meinung ist ganz und gar gleichgültig – wenn sie zu weit geht, dann merkt sie’s schon: Es wird auf sie geschossen. Wie weit sie gehen darf oder hätte gehen dürfen, kann ihr ohnehin vorher niemand sagen, sie muß also zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit sie gehen darf, wie weit die ihr gelassene Freiheitsleine reicht. Sie bringt nicht nur, bietet nicht nur, sie ist die einzig erkennbare Erscheinungsform der Freiheit auf dieser Erde. Natürlich zieht sie die Freiheit nicht aus der Tasche wie eine Münze, die man wechseln, zu Freiheiten zerstückeln kann, die die Freiheit konsumfähig machen. Ihre Last ist, dass sie Freiheit nur hat, ist, bietet, bringt, wenn das von ihr erst geordnete und geformte (was gleichbedeutend ist mit: erst in Unordnung gebrachte und reformierte) Material erkannt wird: ja, geordnet und geformt, in Unordnung gebracht oder deformiert – nicht eingeordnet und formiert. Das ist es, was die Gesellschaft mit ihr unternimmt: einordnen, formieren in die Marschordnungen der freien Marktwirtschaft hinein – die Freiheit zu Freiheiten zerstückeln. An Stelle von „Gesellschaft“ hätte ich sagen können „Staat“, wenn wir einen hätten; ich erblicke den Staat im

Augenblick nicht; als einer, der mit ihr zu tun hat, also einen gewissen Sinn für Material und Ordnung beziehungsweise für Unordnung hat, beobachte ich dieses Nichtvorhandensein des Staates mit einer aufgeregten Neugierde; dieser Vorgang der vollkommenen, bis ins letzte Detail sich erstreckenden Deformierung des Staates – das ist natürlich ein aufregender Vorgang; einer, der mit ihr zu tun hat, braucht keinen Staat, er weiß aber, dass fast alle anderen ihn brauchen, und so erfüllt ihn dieses Immer-Nichtiger-, Immer-Formloser-Werden mit Entsetzen, weil er fürchten muß, dass da einer kommen wird, kommen soll, erwartet wird, der Ordnung schafft: ein politischer Messias, der klug genug sein wird, ihr alle Freiheiten zu lassen – er weiß auch, dass die ungeheure, eigentlich schon krankhafte Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wird, einer irregeleiteten Sehnsucht nach Ordnung entspringt, die der nichtvorhandene, sich auflösende Staat nicht mehr bietet, die man also bei ihr sucht. Dort, wo der Staat gewesen sein könnte oder sein sollte, erblicke ich nur einige verfaulende Reste von Macht, und diese offenbar kostbaren Rudimente von Fäulnis werden mit rattenhafter Wut verteidigt. Schweigen wir also vom Staat, bis er sich wieder blicken läßt. In diesem Augenblick von ihm zu sprechen, wäre Leichenfledderei oder Nekrophilie – zu beidem. Bin ich nicht veranlagt. Reden wir von dem, was an seine Stelle getreten ist: von dieser unfaßlichen und ebenso fassungslosen Masse, zu der wir alle gehören, von der Gesellschaft. Im übrigen hat ja Samuel Beckett alle Stadien des Vergehens, Verwesens, Verfaulens auf eine Weise ausgedrückt, die ich gewiss nicht übertreffen könnte. „Endspiel“ und „Glückliche Tage“ wären also die aktuellsten Stücke. Gut passt auch für diese Stadt, die Wuppertal heißt, ein Stück mit dem Titel „Die Wupper“: voll Dunkelheit, dunklen Humors, Verhängnis, Untergang, auf diese Stadt geschrieben für sie von ihrer großen Tochter, ein Stück voller Poesie und Schmutz, voller Hoffnung auch – was sich unseren Augen in der Öffentlichkeit bietet, ist ja das perfektadrette Nichts, in seiner Nichtigkeit

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