IPPNW forum 166/2021 – Die Zeitschrift der IPPNW

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Foto: © Erik McGregor / erikmcgregor.com

ippnw forum

das magazin der ippnw nr166 juni 2021 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

– EU-Taxonomie: Streit um die Atomenergie – Rückzug der NATO aus Afghanistan – Eskalation zwischen der Ukraine & Russland

Grund zur Freude: Das UN-Atomwaffenverbot ist in Kraft


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Liebe Mitglieder,


EDITORIAL Ute Rippel-Lau ist Mitglied des Vorstandes der deutschen IPPNW.

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achdem das Inkrafttreten des Atomwaffenverbots auf allen Kontinenten gefeiert worden ist, geht es jetzt um die Umsetzung: um Deutschlands Beitritt zum Atomwaffenverbot und den Abzug der Atomwaffen aus Büchel.

Dr. Brigitte Hornstein berichtet über die geplante Aufrüstung des Atomwaffenstützpunktes und die geplanten Proteste dagegen: Unsere Aktionstage in Büchel stehen kurz bevor und wir laden Sie herzlich ein, am Bildungs- und Kulturprogramm teilzunehmen. IPPNWMitglieder, die sich am Zivilen Ungehorsam in Büchel beteiligt haben, machen auch vor Gericht auf das Unrecht aufmerksam, das Atomwaffen darstellen. Zu diesem Thema haben wir Ernst-Ludwig Iskenius befragt. Noch im Juni soll nach Plänen des Verteidigungsministeriums über die finanzielle Beteiligung am Future Combat Airsystem (FCAS) entschieden werden, dem teuersten europäischen Rüstungsprojekt, das es jemals gab. Wenige wissen: Das FCAS soll ab 2040 die Atomwaffen aus Deutschland und Frankreich tragen. „Diese Dystopie müssen wir verhindern“, meint Ralph Urban, der gemeinsam mit anderen IPPNW-Mitgliedern einen Brief an die Fraktionsspitzen im Bundestag gerichtet hat. Der Friedensforscher Dr. Thomas Roithner berichtet über die Vorbereitung zur ICANStaatenkonferenz in Wien. Österreich, das ein Vorreiter bei der Entstehung des Atomwaffenverbots war, arbeitet auf internationaler Ebene intensiv an der Umsetzung des neuen Vertrages. Der Rechtswissenschaftler Jun Saito schreibt über die ambivalente Haltung Japans zum Thema Atomwaffen. Nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs hatte die japanische Regierung 1967 darauf bestanden, dass Japan mit drei „anti-nuklearen Prinzipien“ atomwaffenfrei bleibt – gleichzeitig hat sie aber offenbar die Anwesenheit von atomar bewaffneten Schiffen der US-Marine in ihren Gewässern stillschweigend geduldet. Ähnlich wie in Deutschland scheint das Credo der nuklearen Abschreckung nicht grundsätzlich in Frage gestellt zu werden. Das Titelfoto vom ICAN Polar Bear Plunge am 1. Januar 2021 hat der Künstler und Fotograf Erik McGregor am Rockaway Beach in New York aufgenommen (siehe S. 20f.). Eine anregende Lektüre wünscht – Ute Rippel-Lau 3


INHALT Ukraine-Russland: Aggression oder Reaktion?

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THEMEN Aggression oder Reaktion? Eskalation zwischen der Ukraine und Russland...............................................................................8 NATO-Rückzug aus Afghanistan................................................................10 Bernard Lown: Eine kurze Würdigung................................................... 12 Zuckerbrot und Peitsche: Internationale Sanktionen ..................14 Grundrechte und Demokratie in Zeiten von Corona......................16

Foto: LianaKr

Wie sicher ist das AKW Beznau?............................................................. 18 EU-Taxonomie: Streit um die Atomenergie........................................ 19

Afghanistan: 20 Jahre NATO-Krieg

SCHWERPUNKT

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Abrüstung ist jetzt unser Recht!.............................................................. 20 Was passiert in Büchel?................................................................................ 22 Deutschland und Frankreich treiben das FCAS voran..................24 ...dann ziehe ich nach Wien....................................................................... 26

Foto: © Kiana Hayeri

Japan und Atomwaffen.................................................................................. 28

WELT Healthcare, not Warfare!............................................................................... 30

FCAS: Nein zu autonomen (atomaren) Waffen!

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RUBRIKEN Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6 Aktion........................................................................................................................31 Gelesen, Gesehen.............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine........................................................................ 33

Foto: Airbus

Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33 4


MEINUNG

Dr. Sabine Farrouh organisiert die Palästina-IsraelReisen der IPPNW.

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Die letzte Gewalteskalation in Israel/ Palästina hat vielfältige Ursachen: Nach Meinung mancher oppositioneller Israelis wurde die Lage von Seiten Netanyahus angeheizt, um eine Regierungsbildung ohne „Bibi“ zu verhindern.

eit Wochen gab es heftige Proteste gegen die drohende Räumung mehrerer palästinensischer Häuser im Viertel Sheikh Jarrah, in denen die palästinensischen Familien zum Teil seit 1948 leben. Israel plant, die palästinensischen Bewohner*innen zu vertreiben und ihre Häuser an jüdische Siedler*innen zu übertragen. Während sich israelische Siedler*innen auf ein Gesetz von 1970 berufen, das die Rückgabe von Eigentum an jüdische Eigentümer*innen erleichtert, sind vertriebene palästinensische Familien gesetzlich daran gehindert, ihr Land und ihre Häuser zurückzufordern. In diesem Jahr fielen der Ramadan und der Jerusalem-Tag zusammen. Die Palästinenser*innen treffen sich traditionell zum Fastenbrechen am Damaskustor, jüdische Israelis feiern die Annexion Jerusalems mit einem provokativen Marsch durch die palästinensische Altstadt. In dieser aufgeheizten Stimmung reagierten die israelischen Streitkräfte unverhältnismäßig auf die heftigen Proteste palästinensischer Jugendlicher – mit dem Einsatz von Tränengas, Betäubungsgranaten und gummibeschichteten Stahlgeschossen, auch innerhalb der Al-Aqsa-Moschee. Nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten verletzten sie dabei ca. 1.000 Palästinenser*innen, davon 735 durch Gummigeschosse. Laut dem Roten Halbmond verlor ein Verletzter ein Auge, zwei Palästinenser erlitten schwere Kopfverletzungen. Anschließend kam es zu dem, was wir seitdem in allen Nachrichtenkanälen gesehen haben. Seit nunmehr 54 Jahren leben die Menschen in den palästinensischen Gebieten unter israelischer Besatzung. In Teilen wurden sie von Israel völkerrechtswidrig annektiert. Der dicht besiedelte Gazastreifen ist einer strengen Blockade von Israel und Ägypten ausgesetzt. Die Grundlagen der jüngsten Gewalteskalation liegen in der jahrzehntelang gegenüber den Palästinenser*innen ausgeübten strukturellen Gewalt und dem fehlenden Willen, diese zu beenden. Statt militärische Eskalation nur als „Recht auf Selbstverteidigung“ zu definieren und zu unterstützen, muss Deutschland gegenüber Israel endlich politische Lösungsschritte einfordern.

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Foto: Michael Schulze von Glaßer

N ACHRICHTEN

Kurdische Aktivistin Nazdar Ecevit von Abschiebung bedroht

Der Medizinprofessor Moritz Mebel ist gestorben

Bundestag billigt Eurodrohne trotz haushaltrechticher Bedenken

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azdar Ecevit ist weiterhin von der Abschiebung aus Deutschland in die Türkei bedroht. Die kurdische Aktivistin stammt aus der Stadt Cizre, die 2015-16 während der vom Staat verhängten Ausgangssperre von türkischen „Sicherheitskräften“ angegriffen und zerstört worden ist. Sie kam 2016 nach Deutschland und stellte einen Asylantrag. Obwohl sie massiver politischer Verfolgung durch den türkischen Staat ausgesetzt ist, wurden ihr Asylantrag sowie ihr Folgeantrag abgelehnt. Im April war die Polizei in ihre Unterkunft bei Kassel eingedrungen, um sie ins Abschiebegefängnis am Frankfurter Flughafen zu bringen. Aufgrund des öffentlichen Drucks und ihres Widerstands wurde die unmittelbar bevorstehende Abschiebung abgebrochen. Eine Woche später wurde Nazdar Ecevit wegen einer anhängigen Petition aus der Abschiebehaft entlassen. „Ihre Abschiebung wäre ein Signal für eine fortschreitende Ignoranz gegenüber Demokratieabbau und staatlicher Repression in der Türkei“, schreiben die IPPNWMitglieder Christa Blum und Elke Schrage in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau. Unter dem Präsidialsystem von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan gebe es keine rechtsstaatliche Justiz. Bei der virtuellen Türkeireise hätten alle Gesprächspartner*innen einhellig berichtet, dass Regierung, Polizei und Justiz zum Repressionsinstrument gegen jede Form von Opposition geworden sind. Mehr dazu: www.fr.de/meinung/ tuerkei-recep-tayyip-erdogan-opposition-asyl-darmstadt-90471504.html

er Medizinprofessor Moritz Mebel ist tot. Der Urologe starb am 21. April 2021 im Alter von 98 Jahren in Berlin. Mebel hatte sich in der DDR als Spezialist für Nierentransplantationen einen Namen gemacht. Mebel studierte in der Sowjetunion Medizin, promovierte in Moskau und ging 1958 in die DDR. Dreißig Jahre lang arbeitete er als Forscher und Urologe. Ab 1962 war er maßgeblich am Aufbau des ersten DDRNierentransplantationszentrums in OstBerlin beteiligt. Von 1982 bis 1988 leitete Mebel die Urologische Klinik der Charité. Ab 1971 gehörte Mebel dem Zentralkomitee der SED an. Auf Beschluss des Ministerrates der DDR übernahm er die Leitung der „Ärzte der DDR zur Verhütung eines Nuklearkrieges“ (1983-1990). Dass von der SED ausgesuchte „Genossen“ eingesetzt wurden und die DDR auf internationalen Kongressen der IPPNW repräsentierten, führte zu heftigen Konflikten mit den IPPNW-Mitgliedern, die der kirchlichen Friedensbewegung angehörten. Mebel, der aus einer jüdischen Familie stammte und 1932 als Kind mit seiner Familie in die Sowjetunion emigriert war, hatte im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Roten Armee gekämpft. Er hat sich bis zuletzt politisch engagiert. Am 8. Mai 2020 mahnte er anlässlich des 75. Jahrestags der Kriegsendes in einem Offenen Brief an Heiko Maas zu mehr Demut gegenüber Russland: „Wir stehen für alle Zeiten in der Schuld des Landes, das im Zweiten Weltkrieg 27 Millionen Menschen verlor. Das scheint hierzulande weitgehend vergessen.“ 6

rotz haushaltsrechtlicher Bedenken hat der Haushaltsausschuss des Bundestages am 14. April 2021 der Entwicklung und Beschaffung der Eurodrohne gemeinsam mit Frankreich, Italien und Spanien zugestimmt. Das Gremium billigte die entsprechende Vorlage des Verteidigungsministeriums in Höhe von 3,1 Milliarden Euro für den Anfangsflugbetrieb einer zukünftigen Eurodrohne. Der Weg für eine Mehrheit in den Koalitionsfraktionen wurde frei, nachdem die Regierungspartner Anfang Februar grundsätzlich grünes Licht für die Beschaffung gegeben hatten. Die SPD hatte auf einem unbewaffneten System bestanden. Friedensaktivist*innen befürchten, dass diese deutsche Festlegung gegenüber Frankreich langfristig keinen Bestand haben wird. Das Verhalten der SPD in dieser Frage scheint zudem inkonsequent: Ende letzten Jahres hatte die Fraktion die Bewaffnung der Heron-TP-Drohne noch mit Verweis auf weiteren Diskussionsbedarf auf Eis gelegt. Das SPD-geführte Finanzministerium kritisierte zudem, dass die Eurodrohne erhebliche Kostenrisiken in sich berge. Finanzstaatssekretärin Hagedorn schrieb, es sei problematisch, dass für die Eurodrohne nach 2025 jährlich ein dreistelliger Millionenbereich erforderlich sei. Es sei völlig unklar, woher diese Gelder stammen sollen. Für sie sei „eine Haushaltsvorsorge nicht erkennbar. Mehr unter: ippnw.de/bit/drohnen


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N ACHRICHTEN

GleichBehandeln fordert Änderung des Aufenthaltsgesetzes

Finnischer Präsident setzt sich für ein OSZE-Gipfeltreffen ein

Weltweiter Zugang zu Impfungen gefordert

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hne Angst zum Arzt zu gehen – das ist in Deutschland für Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus nicht möglich. Ein Bündnis von über 44 zivilgesellschaftlichen Organisationen – darunter die IPPNW, GFF, Ärzte der Welt, Amnesty International, Diakonie, Pro Asyl, AWO – fordert mit der Kampagne „GleichBeHandeln“ daher eine Gesetzesänderung. Die Coronapandemie habe deutlich gemacht, wie wichtig das Recht auf Gesundheitsversorgung ist, sowohl für jeden einzelnen Menschen als auch für die gesamte Gesellschaft. Dieses Recht wird jedoch in Deutschland Hunderttausenden verwehrt. Denn der Paragraph 87 des Aufenthaltsgesetzes verpflichtet das Sozialamt, Personen ohne gültigen Aufenthaltstitel umgehend an die Ausländerbehörde zu melden, wenn sie eine Kostenübernahme für medizinische Leistungen beantragen. Aus der begründeten Angst vor Abschiebung heraus vermeiden es daher Menschen, die teils schon jahrelang in der Mitte unserer Gesellschaft leben, sich ärztlich behandeln zu lassen. Die Folgen: lebensbedrohliche Erkrankungen bleiben unbehandelt, Covid-19-Infektionen werden nicht entdeckt, Schwangere können nicht zur Vorsorgeuntersuchung gehen, Kinder erhalten keine medizinische Grundversorgung. Das Bündnis fordert den Gesetzgeber auf, den Paragraph 87 des Aufenthaltsgesetzes schnellstmöglich zu ändern und ruft alle Parteien auf, sich dafür einzusetzen.

m 8. Mai wurde auch in diesem Jahr in zahlreichen Gedenkveranstaltungen an insgesamt zwischen 60 und 70 Millionen Opfer des Zweiten Weltkrieges erinnert. Die deutsche IPPNW-Sektion unterstützte aus diesem Anlass den Vorschlag des finnischen Präsidenten Sauli Niinistö, ein neues Gipfeltreffen im Geiste der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) einzuberufen. Die KSZE war in den frühen 1970er Jahren gegründet worden als Plattform für politische Entspannung zwischen Ost und West. 1975 fand sie in Finnland statt, wo die sogenannte Schlussakte von Helsinki unterzeichnet wurde. Diese war Grundlage für die Gründung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Niinistö schlägt vor, im Jahr 2025 erneut ein Gipfeltreffen der Großmächte in der finnischen Hauptstadt zu veranstalten, zum fünfzigjährigen Bestehen der OSZE. „Die Entstehung der OSZE war ein historischer Meilenstein. Es kann keine Sicherheit gegen Russland geben, genauso wie es keine Sicherheit gegen die USA oder die NATO gibt. Nachhaltige Sicherheit können wir nur gemeinsam erarbeiten. Dieses Konzept lebt die OSZE vor“, erklärte der IPPNW-Vorsitzende Lars Pohlmeier. Die langjährige Geschichte der OSZE stehe für den Prozess der nuklearen Abrüstung und der Rüstungskontrolle – einem Konzept gemeinsamer Sicherheit.

in Bündnis zivilgesellschaftlicher Akteure – darunter die IPPNW – hat am 19. Mai 2021 eine Kampagne zur Aufhebung des Schutzes von geistigen Eigentumsrechten auf Impfstoffe, Medikamente und andere medizinische Güter zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie gestartet. Unter dem Kampagnenmotto „Sign! – Mensch vor Patent“ soll der politische Druck auf Bundesregierung und EU erhöht werden, sich dem Vorstoß von mehr als 100 Staaten des globalen Südens anzuschließen und sich für den bei der Welthandelsorganisation verhandelten „Waiver“ (Verzichtserklärung) im Rahmen des TRIPS-Abkommens einzusetzen. „Patente dienen vor allem den Interessen der Pharmaindustrie“, so das Bündnis. Sie seien eine große Barriere bei der Ausweitung von Produktionsstandorten und steigerten die Kosten für dringend benötigte Gesundheitsgüter. Die Aussetzung der Patente könne einen bedeutsamen Beitrag zur Eindämmung der größten Gesundheitskrise der letzten 100 Jahre leisten, weil in der Folge dezentraler, schneller und kostengünstiger Impfstoffe produziert werden könnten. Um eine gerechte Verteilung von Impfstoffen zu gewährleisten, brauche es eine massive Steigerung der Produktion. „Während einer globalen Pandemie in nationalen Grenzen zu denken und auf Profite zu schauen, verletzt das Menschenrecht auf Gesundheit vor allem der Menschen im globalen Süden“, erklärte IPPNW-Vorstandsmitglied Carlotta Conrad. Mehr unter: https://makethemsign.eu

Mehr Infos: https://gleichbehandeln.de 7


FRIEDEN

Aggression oder Reaktion? Eskalation des Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland

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n dem militärischen Großmanöver „Defender 2021 Europe“, mit dem die NATO ihre Fähigkeit testet, Truppen in größerem Maßstab zu verlegen, haben vom 1. Mai bis zum 14. Juni 2021 28.000 Soldaten aus 26 Nationen teilgenommen. Schwerpunkt der militärischen Großübung war die Schwarzmeer- und Balkanregion. Deutschland hat sich als Drehscheibe für die Truppentransporte mit 430 Soldat*innen an dem Manöver beteiligt.

king des Globalen Militarisierungsindex belegt es 2019 Platz 22 von 151. Der Militäretat der Ukraine wuchs seit 2014 um 62 Prozent auf 4,6 Milliarden US-Dollar, was einem Anteil von 3,4 Prozent des Bruttoinlandprodukts entspricht“, schreibt das BICC (International Center for Conversion). Bei den Waffenlieferungen erhält die Ukraine vor allem Unterstützung durch die USA, die seit Beginn der Kämpfe militärische Ausrüstung und Waffensysteme geliefert haben.

Russland hatte im April 2021 zwischen 80.000-110.000 Militärs an der ukrainischen Grenze und auf der Krim stationiert. Am 22. April 2021 verkündete der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu ihren Abzug. Bei einem Besuch auf der Krim sagte er, dass das Militärmanöver beendet und die Ziele erreicht seien. Als Grund für die Truppenstationierung verweist Russland unter anderem auf ein Dekret des ukrainischen Präsidenten vom 24. März 2021 zur „De-Okkupation“ und „Wiedereingliederung“ der Krim. Sergej Schoigu bezeichnete die Übungen als Reaktion auf „bedrohliche“ Aktivitäten der NATO.

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eile der Gebiete Donezk und Lugansk entlang der russischen Grenze werden seit knapp sieben Jahren von prorussischen Separatisten kontrolliert. Laut UN-Schätzungen sind bei den Kämpfen zwischen der ukrainischen Armee und den Separatisten bisher mehr als 13.000 Menschen getötet worden. Etwa die Hälfte der ehemals rund sechs Millionen Einwohner*innen der Gebiete sollen die Region bereits verlassen haben. Ein 2015 mit deutsch-französischer Vermittlung vereinbarter Friedensplan wurde nur in Ansätzen umgesetzt. Seit Ende Juli 2020 gilt ein Waffenstillstand, der inzwischen wieder sehr fragil ist. „Der andauernde Gewaltkonflikt im Osten der Ukraine hat zu einer verschärften Militarisierung der Ukraine geführt, so dass das Land heute zu den am höchsten militarisierten Staaten weltweit zählt. Im Ran-

ie ukrainische Regierung verfügt nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums über 195.000 Soldaten, von denen 40.000 am Einsatz in Donbass beteiligt waren. Am 21. April unterzeichnete der Präsident der Ukraine Wolodymyr Selensky ein Gesetz, das eine raschere Einberufung von Reservisten zum Militärdienst erlaubt. Die Ukraine verfügt über eine Reserve von rund 400.000 Soldaten. Anfang März berichtete die OSZE von Truppenbewegungen auf ukrainischer Seite – unter anderem seien Panzer, Raketen und Luftabwehrsysteme verlagert worden. Die Ukraine lässt zudem mehr ausländische Soldaten auf ihrem Gebiet zu. Laut einem Parlamentsbeschluss vom 26. Januar 2021 dürfen sich 2021 bis zu 2.000 US-Soldaten und weitere 2.000 Militärs aus NATO-Staaten dauerhaft im Land aufhalten. Angesichts der neuen Eskalation des Konfliktes warnte der russische Außenminister Sergej Lawrow vor einer weiteren Lieferung türkischer Kampfdrohnen an die Ukraine. Laut Medienberichten sind bereits sechs dieser Drohnen an das Land geliefert worden. Lawrow kritisierte zudem die Entsendung von US-Kriegsschiffen ins Schwarze Meer. Auch Russland liefert Waffen und Kämpfer in die Konfliktregionen. Seit der völkerrechtswidrigen Eingliederung der Krim werden die NATO-Militärstrukturen in Ost- und Zentraleuropa massiv verstärkt. Nach dem Abkommen zwischen Polen und den USA zur verstärkten Zusammenarbeit wurden alleine in 8

Polen elf Standorte ausgebaut und modernisiert. Der Raketenabwehrschirm der USA in Polen, Rumänien und Bulgarien ist einsatzbereit. Die Abwehrsysteme haben nicht nur defensiven Charakter, sondern können zu Einsatzsystemen für konventionelle und atomare Raketen umgebaut werden. Auch wird die Partnerschaft zwischen der NATO und der Ukraine immer enger: So trainieren NATO-Offiziere die ukrainische Armee. Wegen des Konflikts mit Russland hatte die Ukraine 2019 die Mitgliedschaft in der NATO als Ziel in der Verfassung verankert. Kürzlich erklärte Selensky den NATO-Beitritt seines Landes zur einzigen Möglichkeit, den schwelenden Konflikt im Donbass zu lösen. Dabei ist die angestrebte schnellstmögliche Mitgliedschaft in der NATO – unabhängig von den geostrategischen Konsequenzen – nach NATO-Statut nicht möglich. Es lässt eine Mitgliedschaft eines Landes mit kriegerischen Konflikten nicht zu. Eine Stationierung von NATOTruppen in der Ukraine wurde von Russland mehrfach als „Überschreiten einer roten Linie“ bezeichnet. Transatlantische Forderungen zur Aufnahme der Ukraine in die NATO verstärken die Konfrontationspolitik und behindern eine zivile, diplomatische Lösung des Konflikts – für die die Beobachtermission der OSZE eine Grundlage bildet. Im März 2014 setzte der Ständige Rat der OSZE die zivile Sonderbeobachtungsmission Ukraine ein. Im Dezember 2020 waren rund 720 internationale Beobachter*innen aus 44 OSZEStaaten in der Ukraine stationiert. Die Wahl von Wolodymyr Selensky zum Präsidenten bot die Gelegenheit, den Friedensprozess für den Osten des Landes zu beschleunigen. Selensky versprach eine Beilegung des Konflikts in seiner Amtszeit und betonte die Notwendigkeit eines Dialoges mit allen Parteien. Erstmals fanden direkte Verhandlungen zwischen dem ukrainischen und dem russischen Präsidenten statt und das Normandie-Format wurde wiederbelebt. Zudem gab es drei Gefangenenaustausche sowie Truppenabzüge. Ein


vollständiger Waffenstillstand wurde bisher jedoch nicht erreicht. Die ukrainische Regierung ignoriert seit Jahren wesentliche Bestimmungen der Minsker Vereinbarungen. Die im Minsk-II-Vertrag 2015 in Aussicht genommenen Kommunalwahlen in Donezk und Lugansk unter internationaler Kontrolle will man erst zulassen, wenn die Grenze zwischen dem Donbass und Russland unter Kontrolle ukrainischer Grenzorgane steht. Im Abkommen von Minsk ist jedoch vereinbart, dass „die Kontrolle der Staatsgrenze durch die Regierung der Ukraine“ erst am „Tag nach den Kommunalwahlen beginnt.

Auch die Menschenrechtssituation ist besorgniserregend: Die Ukraine belegt Platz 97 von 180 auf der Rangliste der Pressefreiheit. „Wegen des Krieges mit Russland sind zahlreiche russische Medien und Internetseiten in der Ukraine verboten, etlichen ausländischen Korrespondent*innen wird die Einreise verwehrt. Zur Krim und den von den Separatisten kontrollierten Gebieten im Osten der Ukraine haben unabhängige Journalist*innen kaum noch Zugang“, schreibt Reporter ohne Grenzen. Anatoli

„MARCH OF DEFENDERS“: MILITÄRPARADE IN KIEW, 24. AUGUST 2020

Schari, einer der populärsten ukrainischen Video-Blogger mit 2,4 Millionen Abonnent*innen auf Youtube, wurde am 5. März 2021 zum Verhör vor ein Kiewer Gericht geladen. Da der Journalist, der im spanischen Exil lebt, nicht erschien, setzte Kiew ihn auf die Fahndungsliste. In seinen Videos kritisiert Schari das am 16. Januar 2021 in der Ukraine in Kraft getretene Sprachengesetz. Es schreibt vor, dass man in Geschäften und Restaurants kein Russisch, sondern nur noch Ukrainisch sprechen darf. Der ukrainische Geheimdienst erklärte, die Forderung des Bloggers nach Mehrsprachigkeit in der Ukraine sei eine „subversive Aktivität“. Schari ist nicht das einzige Opfer einer zunehmend repressiven Politik der Ukraine. Am 3. Februar 2021 ließ der ukrainische Präsident die oppositionellen Fernsehkanäle 112, NewsOne und ZIK abschalten.

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regierung angesichts der zunehmenden Spannungen zwischen Russland und der NATO ergreifen? Die Politologin Prof. Dr. Hanne-Margret Birckenbach macht darauf aufmerksam, dass Deutschland sich im 2+4-Vertrag verpflichtet habe, die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion zu beachten. Die Bundesregierung könnte feststellen, wie Deutschland den 2+4-Vertrag unter heutigen Bedingungen erfüllen könnte. Ausgangspunkt könnte der sogenannte Palme-Vertrag von 1982 sein: Zu den vereinbarten Maßnahmen gehörten damals u. a. Verhandlungen zum Abbau der strategischen Waffen sowie das Abkommen über die Errichtung einer atomwaffenfreien Zone in Europa. Dieses Konzept der gemeinsamen Sicherheit könnte weiterentwickelt werden. Auf jeden Fall könne Deutschland anregen, Möglichkeiten zur legalen Verweigerung des Militärdienstes zu schaffen – sowohl in der Ukraine als auch in Russland.

underte prorussische Bürger der Ukraine verschwanden seit 2014 in ukrainischen Gefängnissen, worauf Amnesty International wie Human Rights Watch hingewiesen haben. Noch schlechter steht es allerdings um die Pressefreiheit in Russland. Das Land rangiert auf Platz 150 von 180 des Index der Pressefreiheit von Angelika Wilmen Referentim Reporter ohne Grenzen (Stand Mai 2021). ist für Frieden Welche Maßnahmen könnte die Bundesder IPPNW. 9

Foto: LianaKr

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iner der Gründe für das Scheitern von Selenskys Plänen für eine Befriedung des Konfliktes ist zudem der überaus starke Einfluss rechtsradikaler und faschistischer Kräfte auf die Regierung. Aus innenpolitischen Gründen gibt Selensky ihnen immer mehr nach. „Frieden auf der Basis von Minsk-II steht nicht auf der Agenda der politischen Eliten der Ukraine, weder der Regierung noch der Opposition, diese versucht den Präsidenten Selensky mit noch aggressiver Rhetorik vor sich herzutreiben“, schreibt Reiner Braun in einem Beitrag für die Nachdenkseiten. So sind Mitte April 2021 beispielsweise mehrere hundert Menschen durch Kiew gezogen, um des 77-jährigen Jahrestag der Gründung der Waffen-SS-Division Galizien am 28. April 1943 zu gedenken. Mit SS-Symbolen, Flaggen der Ukraine, Blumen und Fahnen von Freiwilligenverbänden zogen die Teilnehmer*innen durch die Straßen. Veranstalter war die rechtsradikale Organisation „Golosiivska Kryivka“.


FRIEDEN

NATO-Rückzug aus Afghanistan Bilanz nach fast 20 Jahren NATO-Krieg Nachdem sie die Entscheidung Washingtons, die US-Truppen bis spätestens 11. September 2021 aus Afghanistan abzuziehen, unter Zugzwang setzte, haben auch die Bundeswehr und die anderen NATOPartner ihren Rückzug begonnen. Die noch knapp 10.000 NATO-Soldat*innen lassen ihr Einsatzgebiet in einem katastrophalen Zustand zurück.

Mission erfüllt? Die deutsche Regierung hatte gehofft, der neue US-Präsident Joe Biden würde den Abzugsbeschluss seines Vorgängers ignorieren und den Kriegseinsatz fortführen. Ein eiliger Abzug sei „fatal“, so Außenminister Heiko Maas, und würde all das gefährden, „was wir in den letzten Jahren erreicht haben.“ Ähnlich kommentierten auch viele Medien das erzwungene Ende des bisher längsten und blutigsten Bundeswehreinsatz. Die Frage der Legalität des Krieges am Hindukusch wird nicht einmal gestreift. Da Afghanistan niemanden angegriffen hatte, war die Invasion, die die USA im Oktober 2001 zum Sturz des Taliban-Regimes begannen, jedoch eindeutig eine völkerrechtswidrige Aggression. Beweise dafür, dass die Anschläge vom 11. September von Afghanistan aus organisiert worden waren, blieb Washington schuldig – eine Auslieferung des als Drahtzieher beschuldigten Osama bin Laden wurde gar nicht erst beantragt. Tatsächlich sind die NATO-Staaten in Afghanistan schon längst gescheitert. Der Rückzug bedeutet nur das Eingeständnis der Niederlage, das viele noch gerne hi-

nausgezögert hätten. Die Taliban kontrollieren schon lange wieder über die Hälfte des Landes und setzen ihren Gegnern im übrigen Teil mächtig zu. Die vom Großteil der Bevölkerung als Besatzer wahrgenommenen NATO-Truppen sind daher überwiegend mit ihrem Selbstschutz beschäftigt und bleiben in ihren Camps. Für jeden deutschen Ausbilder von afghanischen Rekruten müssen beispielsweise, wie die FAZ berichtete, mittlerweile drei, vier Leibwächter abgestellt werden, die verhindern, „dass die Schüler die Instrukteure ermorden.“ Offizielles Ziel des Krieges war es, das Dschihadisten-Netzwerk Al-Qaeda zu zerschlagen, das erstarkte, als die USA ab 1982 mit der Rekrutierung islamistischer Kämpfer gegen die sowjetischen Truppen im Land und die linke Regierung, die sie stützten, begannen. Tatsächlich hat sich infolge der Besatzung und des von hier bis Afrika ausgeweiteten „Krieges gegen den Terror“ die Zahl militanter islamistischer Organisationen und Kämpfer vervielfacht. Der IS operiert mittlerweile auch in afghanischen Gebieten. Verteidigungsministerin Annegret KrampKarrenbauer sieht das Ziel der deutschen Kriegsbeteiligung dennoch erreicht. So habe sich u.a. die Bundeswehr im Kampf bewährt. In diesem Punkt dürften ihr alle, die eine stärkere militärische Rolle Deutschlands anstreben, zustimmen. Deutsche Militäreinsätze im Ausland wurden seither wieder Normalität und mehr als 150.000 deutsche Soldaten haben in Afghanistan nach jahrzehntelanger Zurückhaltung wieder praktische Erfahrung sammeln können. 10

Horrende Kosten Die Gesamtkosten des Krieges belaufen sich nach Berechnungen des „Costs of War Project“ an der Brown University in Boston allein für die USA auf 2.261 Milliarden US-Dollar. Neben den offiziell bereitgestellten 933 Milliarden US-Dollar enthalten sie weitere kriegsbedingte staatliche Ausgaben und die bisherigen Versorgungskosten für Verwundete, Kriegsversehrte und Veteranen. Analoge Berechnungen für Deutschland gibt es leider nicht. Die im Verhältnis dazu bescheiden klingenden 12,5 Milliarden Euro, die offiziell für den bisher blutigsten deutschen Militäreinsatz ausgegeben wurden, stellen sicherlich ebenfalls nur ein Bruchteil der Gesamtkosten dar. Das „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung“ schätzte die gesamten Kosten für die ersten zehn Jahre Krieg bereits im Mai 2010 auf 18 bis 33 Milliarden Euro. Zu den Kriegskosten kommen Dutzende Milliarden, die in den Wiederaufbau des Landes flossen, hauptsächlich in den Aufbau neuer staatlicher Strukturen, der Armee und der Sicherheitskräfte. Ein beträchtlicher Teil davon ist spurlos versickert. Die verbliebenen Milliarden befeuerten, wie der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig im Tagesspiegel erläuterte, „eine Warlord-Kaste, die die Hilfsgelder aufsaugte und unter den Augen des NATO-Militärs mit Bestechung und Waffengewalt die neuen, demokratischen Institutionen kaperte.“ Das „Ergebnis des US/NATO-geführten Afghanistan-Einsatzes“ sei eine „korrupte und kleptokratische Regierung in Kabul“, die auf tönernen Füßen stehe.


Foto: © Kiana Hayeri

DIE NGO „WAR CHILD“ KÜMMERT SICH UM MINDERJÄHRIGE GEFLÜCHTETE, DIE AUS DEM IRAN ZURÜCK NACH AFGHANISTAN ABGESCHOBEN WURDEN (NIMRUS, 11/ 2019).

Unzählige Opfer Erschütternd sind die humanitären „Kosten“. In Afghanistan wurden keine repräsentativen Studien wie im Irak durchgeführt, mit denen man die Gesamtzahl der Opfer abschätzen könnte. Dem „Costs of War Project“ zufolge, das sich auf registrierte Todesfälle stützt, starben in Afghanistan und Pakistan mindestens 238.000 Menschen in direkter Folge von Kriegshandlungen, über 71.000 davon Zivilist*innen. Nach der Analyse in der IPPNW-Studie „Body Count“ ist die tatsächliche Zahl der zivilen Opfer vermutlich fünf- bis achtmal so hoch. Hinzu kommt eine noch weit höhere Zahl von Verwundeten und Millionen von Geflüchteten und Vertriebenen. Von Demokratie, Menschenrechten und den sonstigen hehren humanitären Zielen, mit denen die ständige Fortsetzung des Krieges gerechtfertigt wurde, ist hingegen nichts zu sehen. Die Lebensverhältnisse der Bevölkerung haben sich sogar verschlechtert. 2017 lag der Bevölkerungsanteil der unter der Armutsschwelle lebt, mit 54,5 Prozent auf dem Niveau vor dem Sturz der Talibanherrschaft und ist seither noch gestiegen. Die Covid-19-Krise verschärft die Situation noch. Hilfsorganisationen zufolge sind 13 Millionen Afghan*innen akut von Hunger bedroht.

Abschiebungen ins Kriegsgebiet Seit 2019 stuft das „Institute for Economics and Peace“ Afghanistan als den unsichersten Staat weltweit ein. Das deutsche Generalkonsulat in Masar-i-Sharif

arbeitet seit einem Anschlag im Jahr 2016 ausschließlich innerhalb des dortigen deutschen Militärlagers. Die deutsche Botschaft hält nach der Zerstörung ihres Gebäudes im Mai 2017 nur noch einen Notbetrieb in Containern aufrecht, die auf dem stark gesicherten Gelände der amerikanischen Botschaft stehen. All dies hält die Bundesregierung jedoch nicht davon ab, das kriegszerrüttete Land als sicher genug für die Rückführung von Geflüchteten zu erklären und Sammelabschiebungen durchführen zu lassen. Von März bis November waren sie zwar aufgrund die Pandemie ausgesetzt worden, wenn auch erst auf Bitten der afghanischen Regierung. Sie wurden aber am 16. Dezember 2020 wieder aufgenommen, genau an dem Tag, an dem hierzulande der harte Lockdown begann.

Mehr Sicherheit ohne USA und NATO Da in den vergangenen Jahren die Kämpfe zwischen den USA und den Taliban das größte Sicherheitsrisiko waren, wird das Land aus Sicht von Reinhard Erös, ehemaliger Oberstarzt und langjähriger Entwicklungshelfer in Afghanistan, durch den Abzug sicherer werden, zumindest in den Regionen, die er kennt. Seine „Kinderhilfe Afghanistan“ betreibt seit 2002 im Osten des Landes, in den Hochburgen der Taliban Krankenhäuser, Waisenhäuser und Schulen. Indem sie alle Projekte mit den religiösen Autoritäten und damit in gewisser Weise mit den Taliban abgesprochen hatten, konnten sie sie in den fast 20 Jahren ungestört durchführen. Erös plädiert sehr dafür, mit den Taliban-Strukturen zu 11

reden, allein schon deshalb, weil diese nun mal an der Macht seien. Zudem gebe es inzwischen eine „neue Generation der Taliban“ und sei der Wandel durch die zunehmende Nutzung der elektronischen Informationsmedien rasant. Strikte islamistische Regeln, wie z.B., dass Frauen sich nicht außerhalb des eigenen Hauses aufhalten und keinen Beruf ausüben dürfen, hätten sich gelockert. Heute gingen auch unter den Taliban 60 Prozent der Mädchen zur Schule. Von Afghanistan gehe keine Bedrohung für westliche Länder aus und solange das so sei, solle man sich in innere Machtfragen des Landes nicht einmischen. Eine solche Zurückhaltung ist allerdings von den westlichen Mächten kaum zu erwarten. Ein Bericht der New York Times deutet daraufhin, dass die USA nun zu einer anderen Form der Kriegsführung übergehen könnten, einem Krieg aus der Ferne, mit Kampfjets und Drohnen sowie verdeckten Spezialeinheiten am Boden. Sie würden nicht verhindern können, dass die Taliban ihre Kontrolle über das Land ausweiten, aber im Zusammenspiel mit den verbündeten Warlords den innerafghanischen Krieg verschärfen und verlängern.

Joachim Guilliard ist Friedensaktivist und freiberuflicher Autor mit dem Schwerpunkt Naher und Mittlerer Osten.


ATOMWAFFEN

„Only those who see the invisible can do the impossible“ Eine kurze Würdigung des IPPNW-Begründers Bernard Lown, der im Juni einhundert Jahre alt geworden wäre

B

ernard Lown wurde am 7. Juni 1921 in Litauen geboren. 1935 emigrierte seine Familie in die USA. Bereits 1945 konnte er mit dem Medizinstudium an der University of Maine beginnen und das klinische Studium an der John Hopkins School of Medicine bis zum M.D. fortsetzen. 1953 wurde er als Arzt im Offiziersrang für den Einsatz in Korea zur Armee eingezogen. Man forderte von ihm eine Erklärung, welchen als ,,subversiv“ eingestuften Bewegungen er angehört habe, da Lown sich während der Studentenzeit in linken sozialen Gruppen engagiert hatte. Er lehnte das Ansinnen ab und wurde darauthin degradiert und in ein Militärhospital in Tacoma (Washington) strafversetzt. Über dieses Jahr sagte Lown später: Es ruinierte ein Jahr meines Lebens und verzögerte meine Karriere um ein Jahrzehnt, aber es machte mich zu einem besseren Arzt“. 1955 konnte er seine klinische Tätigkeit am Peter Bent Brigham Hospital fortsetzen und mit Experimenten zu Ursachen und Therapie gefährlicher Herzrhythmustörungen und des akuten Herztodes beginnen. In Hundeversuchen, bei denen nach Ligatur einer Herzkranzarterie tödliches Kammerflimmern auftrat, fand Lown heraus, dass das Flimmern mit einem Elektroschock beseitigt werden konnte und ein normaler Herzrhythmus wieder einsetzte, obgleich der Coronarverschluss bestehen blieb. Aus diesen Experimenten entwickelte Lown 1962 den GleichstromDefibrillator zur sofortigen Unterbrechung des tödlichen Kammerflimmerns. Das war eine sensationelle Erfindung, die Lown als Kardiologen weltweit bekannt machte. Millionen Menschen wurden seit-

her mit der Defibrillation gerettet, die sonst dem akuten Herztod erlegen wären. Ich werde dieses ,,Wunder“ als junger Oberarzt an der Uniklinik Kiel nie vergessen, als wir mit dem neu erworbenen LownDefibrillator die ersten puls- und bewusstlos gewordenen Herzpatienten mit einem Stromstoß wiederbeleben konnten! 1963 folgten Lowns Erfindung der Elektrokardioversion des Vorhofflimmerns, die Lidocaintherapie gefährlicher Extrasystolie und die erste Einrichtung einer Herz-Überwachungsstation mit kontinuierlicher EKGAbleitung. 1960 kamen mit der zunehmenden Feindschaft zwischen den USA und der Sowjetunion weitere Aufgaben auf Lown zu: Beide Nationen rüsteten ihre Atomwaffen auf, und nahezu wöchentlich fanden Atombombentestexplosionen inden Wüsten Nevadas/USA und in Semipalatinsk/ Kasachstan statt. Der Bevölkerung gegenüber wurden Informationen über radioaktive Verstrahlung und die Auswirkungen einer Atombombe zum Beispiel auf eine amerikanische Stadt vorenthalten. Lown konnte dazu aus Gewissensgründen nicht weiter schweigen, ohne einzuschreiten.

„Never whisper in the

presence of wrong!“ (1981) Er lud Kollegen in seine Wohnung ein und gemeinsam beschlossen sie eine Ärzteorganisation mit dem Namen ,,Physicians for Social Responsibility“ zu gründen. Fortan publizierten sie im New England Journal of Medicine und anderen Zeitungen die wissenschaftlichen Fakten zu den Atombombenabwürfen 1945 über Hiroshima und Nagasaki und den Atom12

bombentests. In der US-amerikanischen Bevölkerung entwickelte sich große Erregung und Entrüstung entstand. Das veranlasste US-Präsident John F. Kennedy und den russischen Generalsekretär Nikita Chruschtschow 1963, einen Vertrag zum Verbot überirdischer Atombombenexplosionen, den Limited Test Ban Treaty, abzuschließen. Nun durfte nur noch unterirdisch getestet werden. Eine gewisse Beruhigung der Bevölkerung stellte sich ein, aber das Wettrüsten ging weiter.

„Wir Ärzte müssen für die noch ungeborenen Generationen sprechen. Wir werden erfolgreich sein, wenn wir Millionen Menschen mit unserer Vision von einer Welt stärken, die von dem Gespenst der Atomwaffen befreit ist.“ (1986) Lown erkannte, dass nur eine alle Blockgrenzen übergreifende Ärztebewegung eine größere politische Wirkung haben würde, um einen Atomkrieg verhüten zu helfen. Deswegen lud er 1978 wieder Kollegen in seine Wohnung – beschlossen wurde diesmal die Gründung der ,,International Physicians for the Prevention of Nuclar War – IPPNW“. Lown wurde zum Vorsitzenden gewählt und bemühte sich sogleich, den ihm von Kardiologenkongressen bekannten Direktor des Herzforschungsinstituts in Moskau, Evgeny Chasow, für die IPPNW zu gewinnen. Der bezweifelte einen Erfolg, aber nach zahlreichen Gesprächen in Moskau gelang es Lown, Chasow und auch die sowjetische Regierung von dem Wert einer großen internationalen Ärztevereinigung zu überzeugen.


LOWN ZU BESUCH IN BERLIN (2009)

Ein erster, noch kleiner IPPNW-Kongress fand 1981 in Virginia statt, ein großer Weltkongress 1982 in Cambridge/UK, und von da an jährliche Weltkongresse in jeweils einem anderen Land im Osten oder Westen, 1986 in Köln. Eine weitere Schilderung der vielen internationalen IPPNW-Aktivitäten und Gespräche Lowns mit bekannten Persönlichkeiten, die zum Friedensnobelpreis 1985 führten, ist hier nicht möglich, aber in Lowns Autobiographie „Ein Leben für das Leben“ interessant zu lesen. Mit dem Prestige des Friedensnobelpreises setzten Lown und seine IPPNW-Kolleg*innen die Friedensaktivitäten zum Abbau der Atomwaffen auf vielen Reisen fort, besonders in Moskau und den europäischen Ländern, aber auch in Kiew, Minsk, Delhi, Bagdad und weiteren Städten. Das Ziel war die Abrüstung der vorhandenen Atomwaffen und die Zusage, keine Atomwaffen neu anzuschaffen.

,,Nur eine emotional erregte Bevölkerung kann den Kurs der Geschichte vom Abgrund wenden.“ (1983) Der Vision Lowns folgte 2007 das langjährige Mitglied des intemationalen IPPNWDirektoriums Dr. Ron McCoy, als er den unerwarteten Vorschlag machte, neben der IPPNW müsse es eine weltweite Bewegung der Zivilgesellschaft mit ihren Hunderttausenden von Mitgliedern geben, die sich quasi als „Tochter“ der IPPNW für die Ächtung und ein Verbot der Atomwaffen engagiere. Gegründet wurde die „lntemational Campaign to Abolish Nuclear Weapons“, die international die Diskussion um ein UNVerbot von Atomwaffen fortsetzte und die Verhandlungen gemeinsam mit Akteuren der Zivilgesellschaft begleitete. 2017 wurde

das Atomwaffenverbot in der UN-Generalversammlung von 122 Staaten gegen die Stimmen der Atomwaffenstaaten verabschiedet. Anlässlich des Inkrafttretens im Januar 2021 haben viele international berühmte Persönlichkeiten ihre Regierungen zur Unterstützung des Atomwaffenverbotsvertrags aufgerufen, darunter auch Bernard Lown in seinem Appell 26 Tage vor seinem Tod. Im New England Journal of Medicine vom 21. Januar 2021 appellierte er an die Ärzteschaft, „den Vertrag zum Verbot von Atomwaffen zu unterstützen, unter der Überschrift: „Die neue Gefahr eines atomaren Holocausts erfordert ärztliches Engagement.“

„Wir dürfen nicht unsere Augen schließen, auf das Gute hoffen und passiv bleiben. Hoffnung ohne Aktion ist hoffnungslos.“ (1987)

nen Büchem sind „The Lost Art of Healing (Die verlorene Kunst des Heilens, 1996), „Prescription for Survival – A Doctor‘s Journal to end Nuclear Madness“ (Ein Leben für das Leben, 2008) und „Heilkunst – Mut zur Menschlichkeit “ (2016) . Zehn Wochen vor seinem Tod schrieb mir Lown vom Krankenbett handschriftlich: „Ich gehe davon aus, dass die ärztliche Friedensbewegung einen bleibenden Effekt auf den Kampf um eine lebenswerte Welt gehabt hat. Sobald man diese Kraft spürt, kann sie einem nicht mehr so einfach weggenommen werden. Sie wird zu einem kraftvollen Vermächtnis“. Und neun Tage vor seinem Tod schrieb ich ihm über ICAN: „It is so good that you as the founder of the worldwide physicians‘ organisation to prevent nuclear war are still alive and can see the fruit of your life saving work: IPPNW and its creation ICAN, and the blessings of your inventions in cardiology“. Bernard Lown war ein Segen für die Menschheit, ein großer Arzt und Humanist. Er wird in Medizin, Wissenschaft und Zeitgeschichte unvergessen bleiben. Der Autor dieser Zeilen hat ab 1982 ganz eng mit Bernard Lown zusammengearbeitet und mit ihm viele IPPNW-Reisen und Aktivitäten unternommen. Meine Frau Monika, ebenfalls IPPNWMitglied, und ich waren mit ihm und seiner zwei Jahre früher verstorbenen Frau Louise in engster Freundschaft verbunden.

Neben Lowns Kampf für das Atomwaffenverbot wären noch viele Aktivitäten darzustellen: Gemeinsam mit anderen gründete er unter anderem „SatelLife“, eine Non-Profit-Organisation, die den Gesundheitsbereich in Ländern des globalen Südens mit Satelliten-Technologie unterstützte – dort, wo der Zugang durch schlechte Kommunikation, wirtschaftliche Bedingungen oder Katastrophen eingeschränkt war. Er gründete auch zwei „Bernard-Lown-Stiftungen“ für Angehörige des Gesundheitssektors in Entwicklungsländern, um ihnen ein einjähriges Studium an der Harvard Medical School zu ermöglichen. Er engagierte sich für eine US-Ärztebewegung, die sich gegen profitorientierte Medizin wendete und hielt Prof. Dr. Ulrich Gottstein ist Kurse fur eine nicht-invasive Medizin im Ehrenvorsitzender von ihm gegründeten „Lown Cardiovascular der deutschen Center“ an der Harvard School. Unter seiIPPNW. 13


SOZIALE VERANTWORTUNG

Zuckerbrot und Peitsche Internationale Sanktionen: Ein Überblick über Anwendung und Auswirkungen

Internationale Sanktionen sind ein in der Friedensbewegung umstrittenes Instrument. Wohl nicht zufällig, denn sie sind zwischen zivilen, gewaltfreien Mitteln der Konfliktbearbeitung und militärischen Maßnahmen einzuordnen. Sie sind Zwangsmaßnahmen, die in der Regel ohne direkte militärische Gewalt auskommen – manchmal mit der Ausnahme der militärischen Überwachung der Einhaltung von Sanktionsbestimmungen. Während viele Sanktionen als unberechtigt kritisiert werden, werden andererseits aus den Bewegungen heraus auch immer wieder Forderungen nach Sanktionen gegen bestimmte Staaten erhoben.

S

anktionen können unterschiedliche Maßnahmen umfassen. Besonders hervorzuheben sind Waffenembargos, Handelseinschränkungen für Im- und Exporte bestimmter oder aller Waren, Sperren von Fördermitteln (z.B. Mittel der Entwicklungszusammenarbeit von Deutschland für Brasilien wegen der Urwaldzerstörung), Einschränkungen des Reiseverkehrs (z.B. der USA gegenüber Kuba), Ausschluss von internationalen Veranstaltungen und internationalen politischen Gruppen (z.B. der Ausschluss von Russland aus den G8 wegen seiner Einmischung in der Ukraine oder von russischen Sportteams aus internationalen Sportveranstaltungen wegen vergangener Dopingvergehen), diplomatische Maßnahmen (Abzug oder Ausweisung von Botschafter*innen und Botschaftspersonal zum Beispiel, wie jüngst zwischen Tschechien und Russland) und natürlich auch Strafverfolgung durch internationale Gerichte (Internationaler Strafgerichtshof).

regimes gegen 14, die Europäische Union gegen 33 Staaten und Entitäten laufen. Es sind auch nicht nur Staaten, die in diesem Feld aktiv sind. Auch Verbände und zivilgesellschaftliche Organisationen praktizieren Sanktionen, die in der Regel als Boykott bezeichnet werden. Besonders bekanntes Beispiel ist der Boykott von Waren aus Südafrika während des Apartheidregimes oder die – in Deutschland umstrittene – BDS-Kampagne, die zum Boykott von in den palästinensischen Gebieten von israelischen Firmen produzierten Waren und zu staatlichen Sanktionen gegen Israel aufruft.

Entwicklung des Instruments Besonders die 1990er Jahre, das Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Krieges, werden als Jahrzehnt der Sanktionen bezeichnet, in der weltweit mehr als 50 neue uni- und multilaterale Sanktionen gegen einzelne Länder verhängt wurden. Dies waren meist umfassende Sanktionen, die auf die gesamte Wirtschaft des Ziellandes zielten. Ihre Effektivität war sehr gering, sie verursachten enorme Kosten für die Zielländer und verschlechterten drastisch die humanitäre Situation der Bevölkerung (und oft auch deren Nachbarn), aber führten nicht zu einer Verhaltensänderung bei den Entscheidungsträgern.

Im Rahmen sogenanter „smarter Sanktionen“ sind besonders Reisebeschränkungen und das Sperren von Auslandskonten bestimmter ausgewählter Politiker*innen zu nennen. Umgekehrt kann die Zusage von Unterstützung als positive Sanktion dazu genutzt werden, ein bestimmtes Verhalten eines Staats zu erwirken. Im Englischen wurde dafür der Begriff „sticks and carrots“ geprägt – der Esel wird mit einem Stock angetrieben oder mit einer Möhre gelockt.

Nachden im Irak nach offiziellen Zahlen der UNO in dieser Zeit mindestens 500.000 Kinder in Folge der ökonomischen Sanktionen starben, veränderten die Vereinten Nationen aufgrund der Kritik an den Folgen die Technik der Sanktionen und man ging über zu sogenannten „smarten“ Sanktionen. Sie sollen sich direkt

Weiterhin gibt es unterschiedliche Träger von Sanktionen. Es können einzelne Staaten, Staatenbündnisse oder die Vereinten Nationen sein. Zur Zeit hat z.B. der UN-Sicherheitsrat Sanktions14


Foto: © Caritas Internationalis

LEBENSMITTELVERTEILUNG AN BEDÜRFTIGE IN AL-JAZMATI AND JABAL BADRO, SYRIEN. DIE SANKTIONEN GEGEN DAS LAND BEHINDERN DEN WIEDERAUFBAU UND TRAGEN ZUR VERSCHÄRFUNG DER ARMUT BEI.

» Ein „Kollateralschaden“ für die Zivilbevölkerung des betroffenen Landes sollte ausgeschlossen werden können bzw., falls er doch eintritt, die Sanktion umgehend aufgehoben werden.

gegen die Regierenden des sanktionierten Landes wenden und versuchen, die Bevölkerung von den Folgen auszusparen. Letzteres gelingt allerdings nur sehr unvollkommen.

» Es braucht eine klare „Theorie des Wandels“, das heißt, eine Analyse, was die Sanktionen bewirken sollen.

Bewertung

» Vor Verhängung der Sanktion sollte eine klar formulierte „Exit Strategy“ vorliegen, d.h. Klarheit darüber, wann und wie die Sanktionen auch wieder aufgehoben werden sollen.

Es gibt eine Reihe von Einwänden gegen Sanktionen als Instrument internationaler Politik: Neben ihrer oft konstatierten, gleichzeitig umstrittenen Wirkungslosigkeit gehören dazu, dass autoritäre Regierungen durch sie eher gestärkt werden (Effekt des „Rally around the Flag“ angesichts des Drucks von außen), dass sie den Aufbau von Eigenkapazitäten der betroffenen Länder fördern, notwendigen Dialog verhindern, internationale Spannungen verschärfen, doch weiter die Ärmsten treffen, nicht die Regierungen (die Situation im Iran in der Coronakrise ist dafür ein gutes Beispiel), auch die Wirtschaft der sanktionsverhängenden Staaten schädigen, leicht umgangen werden können (das gilt besonders für Waffenembargos) oder eine Kriegspartei indirekt unterstützen. Dazu kommt, dass oftmals konkrete Analysen und die Definition von Zielen fehlen, sondern Sanktionen verhängt werden, um Missbilligung auszudrücken oder der Öffentlichkeit zu zeigen, dass „man was tut“.

» Wichtig ist, gesichtswahrende Ausstiege für beide Seiten zu überlegen. » Es sollte geprüft werden, ob positive Sanktionen (also Angebote) nicht zu demselben Ergebnis führen würden. » Es dürfen keine Maßnahmen beschlossen werden, die ein schleichendes Abrutschen in Militärinterventionen befürchten lassen. » Die Sanktionen dürfen keine Maßnahmen beinhalten, die Dialog verhindern oder erschweren. Denn Dialog muss bei Konflikten intensiviert, nicht gestoppt werden. Wichtig ist z.B., die diplomatischen Beziehungen aufrechtzuerhalten.

Bei dem Artikel handelt es sich um eine aktualisierte, gekürzte Fassung eines Infopapieres, das der BSV 2019 veröffentlicht hat: https://soziale-verteidigung.de/system/files/internationale_sanktionen_web.pdf

Zudem ist immer wieder zu beobachten, dass es meist viel einfacher ist, Sanktionen zu verhängen, als sie zu stoppen. Dennoch gibt es Sanktionen, die aus friedenspolitischer Sicht sinnvoll erscheinen: Gerade Waffenembargos dürften aus friedenspolitischer Sicht immer als sinnvoll erachtet werden, reichen aber angesichts von asymmetrischen Konflikten allein oft nicht aus und sind auch nicht nur auf Krisenfälle zu beschränken. Waffenexporte sollten grundsätzlich verboten werden. Bei anderen Formen von internationalen Sanktionen sollten zumindest folgende Bedingungen erfüllt sein:

Dr. Christine Schweitzer ist Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung (BSV), Mitarbeiterin im Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung und Redakteurin des Friedensforums.

» Die UN sollte der einzige staatlich-internationale Akteur sein, der Sanktionen verhängen darf. 15


SOZIALE VERANTWORTUNG

Grundrechte und Demokratie in Zeiten von Corona Gedanken und Thesen zum Ausnahmezustand, zu „neuer Normalität“ und den Folgen Bei dem folgenden Text handelt es sich lediglich um Auszüge aus dem Originalreferat des Autors. Dieses finden Sie unter dem Kurzlink: ippnw.de/bit/vortrag-goessner

I

ch möchte mit einer persönlichen Bemerkung beginnen: Ich habe mich im Frühjahr 2020 sehr schwer getan, Corona-Abwehrmaßnahmen bürgerrechtlich zu hinterfragen und öffentlich Kritik daran zu üben – und zwar wegen der durchaus realen Befürchtung, am Ende als „Corona-Verharmloser“ dazustehen, als unsolidarischer „Grundrechtsfreak“. Geht es doch bei Corona [...] um nicht weniger als um „Leben und Tod“ und bei den Abwehrmaßnahmen um „Gesundheits- und Lebensschutz“ sowie um „Solidarität“. Und so kam es, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung den Lockdown und die ergriffenen Schutzmaßnahmen als „alternativlos“ akzeptierte [...] Angesichts der überwiegenden Akzeptanz beispielloser staatlicher Eingriffe bis hinein in höchstpersönliche Bereiche fühlte ich mich regelrecht gedrängt, meine Ängste zu überwinden und zu handeln: Mit meinen skeptischen Gedanken und zuspitzenden Thesen zum alptraumhaften Corona-Ausnahmezu­stand, zur absehbar „neuen Normalität“ und den mutmaßlich katastrophalen Folgeschäden wollte ich dazu beitragen, in dieser bedrückenden Zeit großer Unsicherheit frühzeitig bürgerrechtliche Orientierung zu bieten für eine offene, für eine kritische und kontroverse Debatte. [...] 1. Das Corona-Virus gefährdet nicht allein Gesundheit und Leben von Menschen, sondern schädigt auch elementare Grundund Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie – und zwar „dank“ jener gravierenden Abwehr- und Schutzmaßnahmen, die dem erklärten und wichtigen Ziel dienen sollen, das weitgehend privatisierte und krank gesparte Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren sowie Gesundheit und Leben besonders gefährdeter Menschen zu schützen. Maßnahmen,

die jedoch gleichzeitig tief in das alltägliche und private Leben aller Menschen eingreifen – mit dramatischen Langzeitfolgen [...] 2. Tatsächlich erlebten wir im Frühjahr 2020 einen partiellen Lockdown, wie wir ihn bislang nicht kannten. Dieser von Bundes- und Landesregierungen verhängte „Ausnahmezustand“ – nach Novellierung des Infektionsschutzgesetzes Ende März 2020 „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ genannt – beeinträchtigte unser aller Leben. [...] Die Aussicht auf einen Dauer-Lockdown in unterschiedlichen Härtegraden schien nicht mehr undenkbar, denn das Corona-Virus wird uns mitsamt seinen Mutationen wohl noch länger begleiten und gefährden. [...] 3. Wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik haben Bundes- und Landesregierungen aus Gründen des Gesundheitsschutzes mit exekutiven Verordnungen elementare Grund- und Freiheitsrechte der gesamten Bevölkerung massiv eingeschränkt. Betroffen sind: allgemeines Persönlichkeitsrecht, Recht auf Freizügigkeit, auf Bewegungs- und Handlungsfreiheit, auf Bildung, auf Versammlungs-, Meinungs-, Kunst- und Religionsfreiheit, der Schutz von Ehe, Familie und Kindern, Freiheit der Berufsausübung, Gewerbe- und Reisefreiheit usw. Das private, familiäre, gesellschaftliche, soziale, schulische, kulturelle, religiöse und in weiten Teilen wirtschaftliche Leben eines ganzen Landes ist stark heruntergefahren worden und kommt partiell zum Erliegen. Mit gravierenden gesundheitlichen, psychischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Folgen, unzähligen Existenzvernichtungen und weiteren schweren Langzeitschäden in der gesamten Gesellschaft [...] .

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4. Es ist hierzulande mit durchaus sinnvollen Schutzregeln zwar zeitweise vieles richtig gemacht worden, aber leider auch manches nachlässig, verzögert oder falsch gewichtet, zu wenig differenziert und nicht verhältnismäßig. Es gibt zumindest begründete Zweifel an der Angemessenheit mancher der oft zu pauschal und willkürlich verhängten Lockdown-Maßnahmen auf einer weitgehend ungesicherten Datengrundlage. So etwa im Fall der Isolation sterbenskranker Menschen in Alten- und Pflegeheimen, die ihre Angehörigen nicht mehr sehen durften oder bei der Verhängung so mancher Kontakt- und Ausgangssperren, Beherbergungs-, „Verweil-“ und anderer Verbote. Mit regionalem, lokalem und besonders zielgruppenorientiertem Vorgehen unter Einbeziehung von Gemeinwohlbelangen hätten wohl viele Schäden und persönliches Elend verhindert werden können. Das gilt vor allem hinsichtlich des vernachlässiguten Schutzes besonders gefährdeter alter und vorerkrankter Menschen, der ambulanten Pflegebereiche sowie der Altenund Pflegeheime, der späteren Hotspots. 5. Die Justiz hob in weit über 100 Fällen staatliche Corona-Maßnahmen wegen Rechts- oder Verfassungswidrigkeit wieder auf. Allein das müsste zu denken geben. Die Gerichte mahnen mit Blick auf die jeweils aktuelle Corona-Infektionslage [...] immer wieder eine differenziertere Betrachtung und Behandlung der jeweiligen Einzelfälle sowie seriöse Verhältnismäßigkeitsprüfungen an. [...] 6. Bei all dem sollte ohnehin Berücksichtigung finden, was angesichts so manch einseitiger, rein virologischer Politikberatung der Regierungen gelegentlich zu kurz kommt: Auch soziale Verwerfungen und gesundheitliche Folgen, die durch rigide Restriktionen unseres täglichen Lebens verursacht werden, müssen in eine verfassungsrechtlich gebotene differenzieren-


Foto: Koshu Kunii / unsplash

de und transparente Abwägung zwischen Freiheitsrechten, Gesundheit und Leben einbezogen werden. Denn das Grundgesetz kennt kein „Supergrundrecht Gesundheit“, das alle anderen Grundrechte gnadenlos in den Schatten stellt. Allein die Menschenwürde gilt absolut, die im Zuge der Corona-Restriktionen dennoch in manchen Fällen gehörig verletzt worden ist. Auch die (Über-)Lebenschancen (in) einer Gesellschaft, insbesondere auch für sozial benachteiligte Menschen und Personengruppen sind bei notwendigen Rechtsgüter-Abwägungen angemessen zu berücksichtigen. Gesundheitsschutz und Freiheitsrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, Menschenleben nicht gegen Menschenrechte. [...] 7. Die „Corona-Krise“ hat über diese Problematik hinaus schon längst zu einer Demokratie- und Rechtsstaatskrise geführt. Der frühere Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier hat gar vor einer „Erosion des Rechtsstaats“ gewarnt. Diese Entwicklung zeigt sich besonders krass an der exekutiven Missachtung der parlamentarischen Demokratie und an einer Selbstentmachtung der Volksvertretungen. Denn Bundestag und Bundesrat haben mit den Novellierungen des Infektionsschutzgesetzes dem exekutiven Durchregieren per Dekret selbst zugestimmt. [...] 8. Um diesen Ausnahmezustand der parlamentarischen Demokratie zu beenden, müssen Bundestag und Länderparlamente zwingend an Beratungen und auch Entscheidungen über Corona-Abwehr- und Schutzmaßnahmen beteiligt werden. Nur so sind Entscheidungen demokratisch legitimiert und kontrolliert. [...] 9. Am 21. April 2021 erlebten wir mit der abermaligen Novellierung des Infektionsschutzgesetzes (Bundesnotbremse) durch den Bundestag einen gewissen Kurswechsel – aber nicht so sehr aus der Mitte des Bundestags initiiert, sondern von Bundeskanzlerin und Bundesregierung. [...] Die Kritik an dieser Novellierung lässt sich so zusammenfassen: Wir haben es mit einer teilweisen Entmachtung der Landesregierungen zu tun – zu Lasten des Föderalismus, einer Grundfeste der verfassungs-

mäßigen Ordnung der Bundesrepublik zur Machtbegrenzung, und zugunsten zentralistischer Tendenzen. Die Inzidenzwerte als Auslöser von Beschränkungsmaßnahmen sind nicht wirklich nachvollziehbar und evidenzbasiert. Die gesetzlich verordneten Regeln sind starr vorgegeben und müssen von den Bundesländern, Kreisen und Kommunen 1:1 umgesetzt werden. Sie können also nicht differenziert verhängt werden, was es den jeweiligen Bundesländern unmöglich macht, eigenständig, eigenverantwortlich und lageangepasst zu reagieren und damit den Härtegrad der Maßnahmen selbst zu bestimmen. [...]

disziplinärer Kommissionen oder Pandemieräte in Bund und Ländern unter zivilgesellschaftlicher Beteiligung plädieren, die längst schon hätten eingerichtet werden müssen. Sie sollten die Politik in der „Corona-Krise“ kritisch begleiten sowie Erforderlichkeit, Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit staatlicher Abwehrmaßnahmen und ihre sozialen, gesundheitlichen, psychischen, kulturellen und wirtschaftlichen Folgen aufarbeiten und evaluieren. [...] Im Übrigen ist eine längerfristige Strategie mit wissenschaftlich begleiteten, ausdifferenzierten und praktikablen Stufenplänen und Modellprojekten überfällig [...] .

10. Jetzt noch ein Blick in die Zukunft, verbunden mit ein paar Warnhinweisen: Der Ausnahmezustand im modernen Präventionsstaat tendiert dazu, auch nach erfolgter Krisenbewältigung zum rechtlichen Normalzustand zu mutieren. Dies kann zu einer gefährlichen Beschleunigung des längst eingeschlagenen Kurses in Richtung eines Sicherheits-, Kontroll- und Überwachungsstaats führen, der mit der in CoronaZeiten beschleunigten Digitalisierung noch zusätzlich befördert wird. Diese Tendenz [...] hat sich nach 9/11 schon deutlich gezeigt – zuletzt mit der Entfristung der „Antiterrorgesetze“ aus den Jahren 2002 ff., die Freiheitsrechte stark beschneiden und längst schon als „Notstandsgesetze für den Alltag“ qualifiziert werden können. [...]

13. Während der „Corona-Krise“ treten Missstände, Strukturmängel und Fehlentwicklungen in dieser Gesellschaft, ihrer Wirtschaft, ihrem Gesundheitswesen und weit darüber hinaus besonders krass zu Tage. Deshalb muss es auch darum gehen, Perspektiven für überfällige gesellschaftliche, gesundheitspolitische, soziale, ökonomische, ökologische und friedenspolitische Strukturveränderungen zu entwickeln und umzusetzen [...]. Und ganz besonders wichtig: Der bereits angesprochenen, ohnehin starken sozialen Spaltung, die sich in der Krise weiter verschärft, muss endlich mit geeigneten Maßnahmen begegnet werden. Denn diese Spaltung ist ein Krankheitsfaktor und -beschleuniger ersten Ranges – für die betroffenen sozial benachteiligten Menschen und Personengruppen sowie für die gesamte Gesellschaft.

11. Deshalb ist höchste Wachsamkeit geboten, damit sich der neue gesundheitspolitische Ausnahmezustand nicht allmählich normalisiert – schließlich ist längst die Rede von „neuer Normalität“ auf unbestimmt lange Zeit, in der Freiheit obrigkeitsstaatlich „gewährt“ oder auch wieder entzogen werden kann. [...] 12. Zum Abschluss möchte ich noch für die Einrichtung unabhängiger und inter17

Dr. Rolf Gössner ist Jurist, Publizist und Mitherausgeber des „Grundrechte-Report zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“.


ATOMENERGIE

35 KM BIS ZÜRICH, 10 KM BIS ZUR DEUTSCHEN GRENZE: DAS AKW BEZNAU

Wie sicher ist das AKW Beznau? Schweizer Landesregierung verhindert Schließung von Pannenmeiler

Nach dem Urteil des Schweizer Bundesgerichts hätte das AKW Beznau schon 2012 vom Netz gehen müssen. Seit 2015 fordern Anwohner*innen im aargauischen Döttingen, das älteste AKW der Welt müsse endlich abgeschaltet werden.

D

er Vorwurf: Das Atomkraftwerk würde einem sehr starken Erdbeben nicht standhalten, es könnte eine gefährliche Menge an Radioaktivität austreten. In seinem Urteil stellte das Schweizer Bundesgericht am 23. April 2021 fest: Das AKW Beznau hätte schon 2012 vom Netz genommen werden müssen, da es im Falle eines Erdbebens der Störfallkategorie 2 den entsprechenden Strahlendosiswert von einem Millisievert nicht eingehalten hätte. Das ENSI, die Schweizer Atomaufsichtsbehörde, habe „seine ihm gesetzlich übertragene Aufgabe, als nukleare Aufsichtsbehörde darüber zu wachen, dass die nukleare Sicherheit bei den bestehenden Kernkraftwerken während der ganzen Laufzeit gewährleistet bleibt (…), ungenügend wahrgenommen und damit sein technisches Ermessen in bundesrechtswidriger Weise ausgeübt.“

U

m einer gerichtlichen Schließung des ältesten AKWs der Welt in Beznau zuvorzukommen, hatte die Schweizer Landesregierung im Februar 2019 die vom ENSI angestrebten Änderungen der Strahlenschutzbestimmungen mittels Revision der Kernenergieverordnung ohne Rücksicht auf den geltenden Bevölkerungsschutz durchgeführt. Damit wurden die Grenzwerte im Strahlenschutz bei Atom

unfällen erheblich verschlechtert und noch legitimiert. Einerseits ist nicht mehr das Risiko für die Bevölkerung entscheidend, sondern nur die Ursache der Freisetzung. Diese ist das einzige Kriterium zur gesetzlichen Außerbetriebnahme eines AKWs in der Schweiz. Das sind nach den neuen Regelungen Ausfälle in der Gewährleistung der Kernkühlung. Andererseits lässt die neue Verordnung zu, dass Ereignisse mit einer Häufigkeit von 1:10, also durchschnittlich alle zehn Jahre vorkommen können, zu einer Verstrahlung der Bevölkerung von 100 Millisievert und mehr führen dürfen, sofern sie nicht durch ein Versagen der Kernkühlung verursacht sind. Ansonsten gilt der Höchstwert von 100 Millisievert für Ereignisse, wie sie alle 10.000 Jahre vorkommen. (Quelle: Schweizerische Energiestiftung) Eine Verstrahlung der Bevölkerung von 100 Millisievert entspricht einer Notfallexpositionssituation – diese kann die Bevölkerung langfristig – also für mehrere Jahrzehnte – treffen und ihr bisheriges Leben unmöglich machen. Wie die Unfälle von Tschernobyl und Fukushima zeigen, ist der Übergang von einer „Notfallexpositionssituation“ zu einer „bestehenden Expositionssituation“ einzig eine Definitionsfrage. Hier werden die Grundsätze des Strahlenschutzes (Rechtfertigung, Dosisbegrenzung, Optimierung) und des 18

Vorsorgeprinzips missachtet. Bei einem Störfall wären die Konsequenzen europaweit dramatisch. Nach einem Super-GAU der Schweizer Atomreaktoren wären laut der Untersuchungsergebnisse des Genfer Biosphäreninstituts über hunderttausend Strahlenopfer in Europa zu erwarten – der größte Teil wahrscheinlich in einem der Nachbarländer. Die sozialen ökologischen und ökonomischen Folgen wären von keinem Staat zu bewältigen.

N

ach neuesten epidemiologischen Studien werdem die Auswirkungen der Strahlung im Niedrigdosisbereich auch von der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) um den Faktor 10 bis über 100 unterschätzt – eine Überarbeitung der internationalen Schutzrichtlinien ist dringend erforderlich. Auch in der Schweiz wäre die Anerkennung wissenschaftlicher Erkenntnisse zu ionisierender Strahlung ein wichtiger Schritt – so Claudio Knüsli von der PSR/IPPNW Schweiz anlässlich des 35. Jahrestages von Tschernobyl.

Claudia Richthammer ist Mitglied des AK Atomenergie.


Collage. AKW Brokdorf: Sebaso / CC BY 2.0, Hand mit Geld: Pexels;

Taxonomie: Streit um die Atomenergie Der Konflikt um das Greenwashing fossiler Energien spitzt sich zu

Stuft die EU-Taxonomie, das neue Regelwerk für „grüne Investitionen“ in Europa, die Atomenergie bald als nachhaltig ein?

S

ie stellt ein umfassendes Regelwerk für nachhaltige grüne Investitionen dar: die EU-Taxonomie. In dem Regelwerk werden technische Kriterien festgelegt, die Unternehmen erfüllen müssen, um von der EU das Label „grüne Investition“ zu erhalten. Die Taxonomie soll Unternehmen und Finanzanlegern helfen zu beurteilen, ob ihre Investitionen tatsächlich nachhaltig sind. Sie sollen, so die für Finanzdienstleistungen, Finanzstabilität und die Kapitalmarktunion zuständige Kommissarin Mairead McGuinness einen Beitrag dazu leisten, „eine grundlegende Wende im Finanzwesen herbeizuführen.”

B

isher sind 13 Branchen in den Taxonomie-Richtlinien erfasst, die 80 Prozent der EU-Wirtschaft abdecken. Doch die Frage, ob auch Atomkraft und Gas als nachhaltig gelten, ist seit Jahren umstritten. Die Entscheidung über diese beide Energieerzeugungsformen wurde in den Herbst verschoben. Ein Skandal ist, dass eine Expertengruppe vom Joint Research Center in Karlsruhe (JRC) Atomkraft als nachhaltig einstufte. Ihre Aussage lautet: Atomkraft schade der menschlichen Gesundheit oder der Umwelt nicht mehr als andere Stromerzeugungstechnologien, die bereits in der Taxonomie aufgeführt sind. Auch die

Endlagerung des Atommülls in einem tiefengeologischen Endlager sei sicher. Die zuständige Abteilung des JRC, die für das Gutachten verantwortlich ist, wird unter anderem von der Europäischen Atomgemeinschaft EURATOM finanziert wird. Zusätzlich wirken im Hintergrund mächtige Lobbyverbände der Atomenergie wie Foratom („The voice of the European nuclear industry“) und der Gasindustrie. Ein Ziel beider Lobbyverbände ist es, unter dem Label grüner Investition den mittels Atomkraft oder Gas erzeugten Wasserstoff als „grünen Wasserstoff“ zu deklarieren. Auch für Frankreich muss in Betracht gezogen werden, dass es wie Großbritannien und Russland europäische Atommacht ist. Diese drei Staaten haben ein besonderes Interesse an der Weiterführung von Atomenergie. Der Generaldirektor von Foratom, Yves Desbazaille, hat zuvor für EDF, den französischen Staats- und Atomkonzern gearbeitet.

den Weltmarkt beliefern, wenn in Europa zunehmend alternde AKWs vom Netz gehen. Die Aufweichung der Taxonomie-Regeln ist gefährlich. Gerade jetzt, nach dem neuen Urteil des BVG zum Klimaschutz braucht es klare Regeln auf europäischer Ebene für eine nachhaltige Wirtschaft und für konsequenten Klimaschutz. Atomenergie schadet der Gesundheit, sie ist nicht nachhaltig und sie bewirkt, dass die industrielle Basis für Atomwaffen in Europa aufrechterhalten werden kann.

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un wollen sich verschiedene Antiatomgruppen in Deutschland für eine Kampagne zusammenschließen, denn die Bundesregierung spielt in der Frage, ob Atomkraft mit in die EU-Taxonomie aufgenommen wird, eine zentrale Rolle. Die Gefahr ist, dass Deutschland einen „schmutzigen Deal“ machen könnte. Ein Teil der Politiker*innen befürwortet auch die Aufnahme von fossilem Gas in die EU-Taxonomie. Deshalb fordert die IPPNW von der Bundesregierung, sowohl Atomkraft als auch fossiles Gas von der EU-Taxonomie auszunehmen.

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ass besonders Atommächte ein großes Interesse an der Fortsetzung des Betriebs von Atomkraftwerken in Europa haben, illustrierte erst jüngst das geplante Joint Venture von Framatome und dem Rosatom-Tochterkonzern TVEL. Beide Staatskonzerne wollen demnächst die Brennelementefabrik in Lingen gemeinsam weiter betreiben und gemeinsam 19

Dr. Angelika Claußen ist Co-Vorsitzende der deutschen IPPNW.


ATOMWAFFENVERBOT

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Foto: © Erik McGregor / erikmcgregor.com

urz vor dem Inkrafttreten: Mit einem „Eisbärsprung“ in den Atlantik haben ICAN-Mitglieder in New York das Jahr eingeläutet und ihren Stadtrat aufgefordert, ein lokales Abrüstungsgesetz auf den Weg zu bringen.


Foto: © ICAN

Weitere Fotos von ICAN international finden Sie hier: https://flickr.com/photos/icanw

Abrüstung ist jetzt unser Recht! Das Atomwaffenverbot wird auf allen Kontinenten gefeiert

BUJUMBURA

Foto: © Jacques Ntibarikure

IDAHO NATIONAL LABORATORY

HAMBURG

Foto: © Ingrid Schilsky

Foto: © Jon Sadler

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as Inkrafttreten des UN-Atomwaffenverbotsvertrages wurde am 22. Januar in vielen Ländern und Städten gefeiert. Vor dem Idaho National Laboratory posierten Umweltaktivist*innen der Snake River Alliance. Die NGO warnt vor Gefahren, die von dem Atomlabor für die Umwelt ausgehen. Unter dem Laborgelände, wo unter anderem Atomwaffen wiederaufbereitet werden, liegt der zweitgrößte Grundwasserleiter Nordamerikas, der 300.000 Menschen in der Region mit Trinkwasser beliefert. Bujumbura (Burundi): Hier feierte die „Colonie des Pionniers du Développement“ das Atomwaffenverbot. CPD ist eine soziale Organisation, die sich für Friedenserziehung und die Rehabilitation von Frauen und Kindern einsetzt, die Opfer von Konflikten geworden sind. Hamburg: Mit Seeleuten aus Kiribati und Tuvalu, die wegen der Corona-Pandemie gestrandet waren, hat die Hamburger Pazifikgruppe das Inkrafttreten gefeiert. Zur Aufführung kamen traditionelle Tänze aus Kiribati. Neun pazifische Inselnationen haben das Atomwaffenverbot schon sehr früh ratifiziert. Die Hamburger IPPNW, ICAN, das Pazifik-Netzwerk und örtliche Friedensgruppen haben sich bei den diplomatischen Vertretern dieser Staaten bedankt und sie zu einer virtuellen Festveranstaltung eingeladen (Dokumentation siehe S. 30).

21


Was passiert in Büchel? Interview mit Dr. Brigitte Hornstein zum geplanten Umbau des Atomwaffenstützpunktes

Was ist bekannt über die Pläne, Büchel als Atomwaffenstandort auszubauen und die Atombomber nach Nörvenich umzuziehen? Ab Juni 2022 bis Februar 2026 sollen die Soldat*innen und Flugzeuge aus Büchel nach Nörvenich ausgelagert werden. Der Fliegerhorst soll parallel zum geplanten Kauf neuer Atombomber „modernisiert“ werden – das bedeutet nach einem Bericht der Rheinzeitung die Sanierung der Flugbetriebsflächen und -einrichtungen und den Neubau verschiedener Anlagen für insgesamt 259 Millionen Euro. Die Menschen in der Region Nörvenich müssen nach Angaben der Bundesregierung während dieser Zeit jährlich mit 18.000 militärischen Flugbewegungen rechnen. Was mit den Bomben in dieser Zeit passieren soll, unterliegt der Geheimhaltung – eine Anfrage von Linksparteiabgeordneten aus dem März 2021 diesbezüglich wurde von der Bundesregierung nicht beantwortet.

Was für Aktionen plant Ihr in Büchel? Auch in diesem Sommer zeigen in Büchel verschiedene Gruppen Präsenz. Vor den IPPNW-/ICAN-Aktionstagen wird am 3. Juli der Kirchentag in Büchel sein, und im Anschluss wird eine Gruppe von internationale Aktivist*innen vor Ort protestieren. Unsere Planung für die IPPNW-/ ICAN-Aktionstage ist natürlich von der Coronasituation abhängig – wir hoffen, dass unser Protestcamp mit Workshops zu verschiedenen Inhalten wie letztes Jahr stattfinden kann. Wir wollen in Büchel am 7. Juli wieder den Geburtstag des Atom-

waffenverbots feiern. Unser Ziel ist, die Basis der Proteste zu verbreitern, indem wir der Kultur mehr Raum geben und mit Kunststudierenden der Universität der Künste Berlin zusammenarbeiten. Wir wollen neue Wege finden, die Sinne anzusprechen, um unser politisches Thema zu transportieren. Am 10. Juli 2021 ist ein Workshop zur Kampagne „Sicherheit neu denken“ geplant, was ich persönlich sehr gut finde. Bei dieser Kampagne geht es nicht nur um Krieg und Frieden, sondern auch um gerechte Außenhandelsbeziehungen, zivile Konfliktbearbeitung und langfristig um die Vision eines Landes, das keine Bundeswehr mehr braucht. Die Schritte zu diesem Ziel werden relativ konkret dargestellt. „Sicherheit neu Denken“ beinhaltet einen positiven Ausblick, den die Teilnehmer*innen hoffentlich in ihren Alltag mitnehmen können.

Wie kann die Antiatomwaffenbewegung ihren Radius erweitern? Wichtig ist für uns die Zusammenarbeit mit verschiedensten Kooperationspartner*innen. Ein Beispiel ist Prof. Karl Hans Bläsius von der FH Trier als langjähriger Experte aus dem Bereich Künstliche Intelligenz. Er hat sich für unsere Gerichtsprozesse als Atomwaffen-Sachverständiger zur Verfügung gestellt. Er versucht das Thema in verschiedene Kreise einzubringen, z.B. bei Musiker*innen, um breitere Teile der Bevölkerung anzusprechen. Gerade das Thema „Atomkrieg aus Versehen“ ist ein wichtiger Punkt, weil es über die humanistischen und als „emotional“ belächelten Argumente gegen einen Atomkrieg hinausgeht und die technische Entwicklung 22

in den Blick nimmt, die mit harten Fakten daherkommt: Diese Entwicklung führt uns in eine erschreckende Zukunft, wo kaum noch Vorwarnzeit besteht, um einen vermeintlichen Angriff, der auch ein technisch ausgelöster Fehlangriff sein kann, zu prüfen und zu überlegen, ob man reagiert oder nicht. Die Waffensysteme sind auf Reaktion gepolt – der Mensch hat kaum noch die Möglichkeit, einzugreifen. Diesen Schwerpunkt in der Argumentation halte ich neben juristischen, humanistischen und medizinischen Ansätzen für besonders wichtig,

Du wurdest wegen der Teilnahme an einem „Go-in“ verurteilt – wie geht das Verfahren weiter? Bei unserem Berufungsprozess in Koblenz wurde die Verurteilung zu 30 Tagessätzen u.a. wegen „Hausfriedensbruchs“ bestätigt – ich habe Revision dagegen eingelegt und bin optimistisch bezüglich des Ausgangs. Das neue Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum „Klimapaket“ rügt die Bundesregierung, weil die nicht zu Ende gedachten Maßnahmen in Zukunft eine Bürde für die jungen Menschen sein werden. Das Bundesverfassungsgericht betont eine Unumkehrbarkeit und die starken Einschränkungen der Freiheit und Gesundheit der kommenden Generationen, die notwendig sein werden, wenn jetzt nicht zukunftsweisend gehandelt wird: Genauso wäre es aber auch bei einem Atomkrieg. Auf diesen Sachverhalt hat mein Anwalt seine Argumentation ausgelegt. Wir sind zuversichtlich, dass diese Argumentation vor Gericht Erfolg haben kann.


ATOMWAFFENVERBOT

„Statt der Atomwaffen wird der Versammlungsleiter angeklagt!“ Wegen zivilen Ungehorsams vor Gericht

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Was sind für Dich zentrale Forderungen hinsichtlicher Bundestagswahl? Ich persönlich wünsche mir eine Regierung, die die nukleare Teilhabe beendet und einen mutigen Schritt nach vorne geht. Als wichtiger europäischer Staat kann Deutschland ein Zeichen setzen, die Atombomben aus Deutschland abziehen lassen und die Regelungen aus dem Atomwaffenverbot umsetzen, also die Finanzierung, den Transport und logistische Unterstützung von Atomwaffen unterbinden. Deutschland kann medizinisch und finanziell einen Beitrag dazu leisten, die Opfer weltweiter Atomwaffenversuche zu entschädigen, die immer noch auf Wiedergutmachung warten. Ich erwarte von der neuen Bundesregierung auch einen Verzicht auf Auslandseinsätze und eine klare Ausrichtung auf zivile Konfliktlösung. Wichtig ist: Zivile Konfliktprävention muss weit im Vorfeld passieren – man darf nicht warten, bis nur noch die militärische Option möglich ist. Ein Beispiel ist für mich die Situation 2014 im Irak, als die Jesiden in Sindschar vom IS angegriffen wurden: Zu diesem Zeitpunkt kam natürlich jede Hilfe zu spät. Wenn man hier im Vorfeld anders gehandelt hätte, hätte es den IS überhaupt nicht gegeben – viele Entwicklungen, die zu dieser zugespitzten Situation führten, hätte man mit Weitblick und politischen Willen sicherlich anders handhaben und beeinflussen können. Anmeldung zu den Aktionstagen von IPPNW und ICAN unter: https://buechel.nuclearban.de

üchel, 2018: Im Rahmen der jährlich stattfindenden IPPNWWoche hatten wir eine tägliche Mahnwache auf dem Kreisel vor dem Haupttor des Fliegerhorstes Büchel ordnungsgemäß angemeldet. So auch am 18. Juni um sechs Uhr. An diesem Tag allerdings waren auch kreative Aktionen Zivilen Ungehorsams gegen die völkerrechtswidrige atomare Teilhabe Deutschlands angekündigt. Die angemeldete Mahnwache hatten wir gegen 7:30 Uhr beendet. Später setzte sich eine andere Gruppe von Demonstrant*innen für eine kurze Zeit vor das Haupttor. Ich als Leiter der schon beendeten Versammlung wurde später angeklagt, weil ich diese Blockade nicht verhindert hätte. Als Akt des Zivilen Ungehorsams hätte diese aber gar nicht angemeldet werden können. Das Amtsgericht Cochem hat mich 2019 zu 70 Tagessätzen verurteilt – mit der Begründung, ein Versammlungsleiter sei auch verantwortlich für das, was nach der Versammlung geschehe.

14 Uhr im Landgericht Koblenz statt. Geplant ist an diesem Tag eine Mahnwache vor Ort. Möglichst viele sind aufgerufen, ein öffentliches Zeichen zu setzen. Aktionen des Zivilen Ungehorsams sind angesichts des drohenden Massenmordes durch Atomwaffen durchaus berechtigt, auch wenn sie nicht legal sind. Die unterschiedlichen Aktionsformen dürfen nicht in einen Topf geworfen und juristisch verfolgt werden. Ansonsten steht zu befürchten, dass in Zukunft vom Versammlungsgesetz gedeckte Proteste wegen drohender juristischer Verfolgung nicht mehr angemeldet und durchgeführt werden können. Bundesweit sehen wir derzeit Angriffe auf das Versammlungsrecht. So sieht etwa der Entwurf für das neue Versammlungsgesetz in Nordrhein-Westfalen vor, dass Versammlungsleiter*innen zukünftig belangt werden können, wenn Demos anders ablaufen, als sie vorher angemeldet waren. Weitere Verfahren stehen noch aus. Für uns sind sie ein Mittel, um auch vor Gericht eine Klärung des Unrechts zu fordern, das hier in Büchel geschieht. Von der Büchel-17-Gruppe wurden, soviel ich weiß, mehrere Teilnehmer*innen zu Strafen von 30, manche sogar zu 60 Tagessätzen verurteilt. Auch hier wird es weitere Berufungsverfahren geben. Vier Verfassungsklagen gegen Atomwaffen wurden bis jetzt nicht angenommen. Bußgeldverfahren gegen IPPNW- und ICAN-Mitglieder aus dem Sommer 2018 hat das Amtsgericht Bonn inzwischen bis auf einen Fall eingestellt. Nur eine Person wurde verurteilt, hat aber bis jetzt nichts mehr vom Gericht gehört.

Offensichtlich soll hier ein abschreckendes Signal gesetzt werden, um Anmeldungen von Protestveranstaltungen zu erschweren. Ich habe mich vor Gericht nicht ausdrücklich von der Aktion am Tor distanziert, dafür aber klargestellt, dass Mahnwachen und ziviler Ungehorsam ganz verschiedene Aktionsformen sind, auch wenn sie inhaltlich das gleiche Ziel haben. Ich bin gegen dieses Fehlurteil in Berufung gegangen – mein Ziel ist, freigesprochen zu werden, damit hier kein Präzedenzfall entsteht. Mein Berufungsprozess ist von März auf den 1. Dezember 2021 verlegt worden – er findet um

Ernst-Ludwig Iskenius ist IPPNW-Mitglied und bereitet die Aktionswoche mit vor.

Das Interview führte Regine Ratke. 23


ATOMWAFFENVERBOT

Autonome (atomare) Waffensysteme stoppen! Deutschland und Frankreich treiben das Future Combat Air System voran

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Zum Beispiel meldete 1983 ein Satellit des russischen Frühwarnsystems fünf angreifende Interkontinentalraketen. Der diensthabende russische Offizier Stanislaw Petrow hielt einen Angriff der Amerikaner mit nur fünf Raketen aber für unwahrscheinlich und entschied, dass es sich um einen Fehlalarm handeln müsste. Für die Entscheidung, den Alarm nicht weiterzuleiten, ist Petrow als „der Mann, der die Welt gerettet hat“, bekannt und vielfach ausgezeichnet worden, u.a. mit dem World Citizen Award der UN.

m 23. Juni 2021 soll der Haushaltsausschuss des Bundestages über die weitere Finanzierung der Entwicklung des Future Combat Air Systems (FCAS) abstimmen. FCAS besteht aus einem neuartigen Kampfjet mit Tarnkappen-Technologie, begleitenden Drohnenschwärmen und einer Vernetzung durch eine „Gefechts-Cloud“ – wie Netzpolitik schreibt. FCAS wird von Frankreich, Spanien und Deutschland gemeinsam entwickelt. Alleine die Entwicklungskosten werden auf über 100 Milliarden Euro geschätzt, die Gesamtkosten könnten sich auf 500 Milliarden Euro belaufen.

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er Einstieg in die Entwicklung des FCAS soll zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem die Welt mit den Folgen der CoronaPandemie und der Klimakatastrophe zu kämpfen hat. Internationale Zusammenarbeit und Solidarität sind das Gebot der Stunde. Die für das FCAS veranschlagten Milliarden brauchen wir dringend für eine ökologisch-soziale Transformation. Stattdessen wird erwogen, angesichts der immensen Entwicklungskosten von über 100 Milliarden Euro, diese nicht aus dem Verteidigungsetat, sondern „über einen anderen Topf zu finanzieren“ (Reinhard Brandl, Mitglied im Verteidigungs- und Haushaltsausschuss des Bundestages). Die Gesamtkosten des Waffensystems werden so hoch sein, dass diese nach einem Dokument des französischen Senats nur durch Rüstungsexporte gedeckt werden können.

Laut einem öffentlichen Dokument des französischen Parlaments soll FCAS „sowohl die französische(n) Atomwaffe(n) als auch die von Deutschland implementierte(n) NATO-Atomwaffe(n) tragen“ können. Deutschland, Frankreich und Spanien wollen sich mit FCAS eine Vorreiterrolle in der autonomen Kriegsführung sichern. „Das militärische Ziel ist es, über eine Kampfüberlegenheit in der Luft auch den Krieg an Land und auf dem Meer zu gewinnen“, schreibt Lühr Henken von der Informationsstelle Militarisierung.

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or dem Hintergrund eines drohenden Wettrüstens im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI), wie es die Entwicklung des FCAS skizziert, ist davon auszugehen, dass es letztlich notwendig zu einem System mit autonomen Waffen weiterentwickelt wird. Es liegt in der Logik dieser Waffen, die längere Reaktionszeit des Menschen durch die kürzere der künstlichen Intelligenz zu ersetzen. Unter Umständen wird die Umwandlung zu autonomen Waffen durch das einfache Auswechseln der Software möglich sein.

Zu FCAS wird gelegentlich mit dem Hinweis argumentiert, dass der Tornado veraltet sei und ersetzt werden müsse. FCAS ist aber mehr als nur ein neuartiger Kampfjet, nämlich ein mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz betriebenes System, das auch Atomwaffen tragen soll und von Drohnen-Schwärmen begleitet wird. FCAS ist nach Worten des Luftwaffeninspekteurs „das größte europäische Rüstungsprojekt überhaupt“.

„Der Einstieg in diese Technologie führt auf eine schiefe Ebene, an deren Ende Computer und nicht mehr Menschen über den Waffeneinsatz, Leben und Tod entscheiden“, so Dr. Jakob Foerster, der zur Künstlichen Schwarmintelligenz forscht. Zunehmende Automatisierung bis hin zur Autonomie von Waffensystemen könnte im Rahmen einer Eskalationsspirale unkontrollierbar in einen sogenannten „Flash War“ führen, heißt es im Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu Technikfolgenabschätzung Autonomer Waffensysteme vom 21. Oktober 2020. Im Kalten Krieg gab es wiederholt nukleare Fehlalarme, die nur durch menschliches Überlegen und Entscheiden aufgedeckt wurden, so dass die atomare Katastrophe ausblieb.

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ach dem schon erwähnten französischen Senatsbericht wird FCAS „das gesamte Verteidigungsinstrument auf europäischer Ebene strukturieren“, und zwar für den Zeitraum des geplanten Einsatzes von 2040 bis wahrscheinlich 2080. Es soll ein „Rotes Team“ aus „Science-Fiction-Autor*innen oder Zukunftsforscher*innen gebildet“ werden, um die Anpassungsfähigkeit von FCAS an „neue und unvorhersehbare“ Szenarien zu überprüfen. Katastrophenszenarien werden so ein Wettrüsten antreiben, das diese Szenarien im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung bestätigen wird. Im Bericht zur Technikfolgenab24


schätzung Autonomer Waffensysteme (Bundestagsdrucksache 19/23672 vom 21.10.20) wird ausgeführt, dass durch potente autonome Waffensysteme auch das strategische Gleichgewicht zwischen den Atomwaffenstaaten massiv infragegestellt und dadurch nukleare Abrüstung unmöglich gemacht werden könnte.

Veranstaltungen

„Es wäre vorstellbar, dass sehr potente autonome Waffensysteme (AWS) zukünftig als konventionelle Erstschlagwaffen zur Zerstörung gegnerischer Nuklearwaffenarsenale eingesetzt werden könnten, die mögliche Ziele (Raketensilos oder mit Nuklearwaffen bestückte U-Boote) selbstständig aufklären, in deren Nähe unentdeckt verweilen und auf Befehl koordiniert diese Ziele angreifen und zerstören. AWS könnten auch als Trägerplattformen für Atomwaffen verwendet werden, beispielsweise in Form von autonomen Unterwasserfahrzeugen. Diese könnten schneller, überraschender und koordinierter als bisherige Trägersysteme zuschlagen und vorhandene Verteidigungsmaßnahmen aushebeln. Eine solche Nutzung von AWS würde die strategische Stabilität massiv infrage stellen. Dies wiederum könnte weitere nukleare Abrüstung unmöglich machen und eine Ära nuklearer Modernisierung oder gar nuklearer Aufrüstung einläuten“, schreiben die Autoren Reinhard Grünwald und Christoph Kehl.

17. Juni 2021, 18 Uhr online Bewaffnete Drohnen: Mehr Sicherheit – mehr Frieden? Ev. Akademie Villigst, mit Susanne Grabenhorst, IPPNW Impuls: Anja Dahlmann, Projektleiterin International Panel on the Regulation of Autonomous Weapons (iPRAW), Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin,

29. Juni 2021, 18 Uhr, online Online-Hearing „Eurodrohne und FCAS“ Veranstalter: Arbeitskreis gegen bewaffnete Drohnen

anschließend Diskussion u.a. mit Susanne Grabenhorst; Wolfgang Hellmich, MdB SPD, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag; Dr. Dirck Ackermann, leitender Militärdekan, Evangelische Seelsorge in der Bundeswehr.

Programm und Anmeldung unter: www.kircheundgesellschaft.de/veranstaltungen

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m Fazit des Berichts heißt es: „Derzeit existiert ein Fenster von Möglichkeiten, um mit einem international abgestimmten, zielgerichteten Vorgehen die möglichen Gefahren einzuhegen, die AWS mit sich bringen könnten. Dieses Fenster schließt sich sukzessive mit fortschreitender technologischer Entwicklung und der kontinuierlichen Integration autonomer Funktionen in Waffensysteme aller Art.“ Es erscheine „dringend geboten, diese Herausforderung unverzüglich anzugehen und Lösungen zu entwickeln. Weitere Informationen: ippnw.de/bit/drohnen PPROTESTAKTION VON DFG-VK UND IPPNW GEGEN DIE EURODROHNE, MÄRZ 2021. Ralph Urban und Ute Rippel-Lau sind Mitglieder des IPPNW-Vorstandes. 25

Grafik: Airbus

PRODUKTWERBUNG VON AIRBUS FÜR FCAS


ATOMWAFFENVERBOT

...dann ziehe ich nach Wien! Der Atomwaffenverbotsvertrag und die Rolle Österreichs

Eigentlich ist es – um gleich damit herauszurücken – fast schon etwas peinlich: als Friedensforscher der österreichischen Außenpolitik in Sachen Atomwaffenverbot nahezu unkritisch gegenüberzustehen. Österreich stand bei der Konzeption und Ausarbeitung des Verbotsvertrages in der ersten Reihe und wird vom 12.–14. Januar 2022 die erste Staatenkonferenz in Wien ausrichten. „Atomfreies Österreich“ Die neutralen Staaten in Europa waren stets Impulsgeber für atomare Abrüstung und Rüstungskontrolle. In Österreich war und ist auch die zivile Nutzung von Kernenergie seit jeher hochgradig unpopulär: in der Volksabstimmung 1978 wurde die Inbetriebnahme des fertiggestellten AKW Zwentendorf vereitelt. Atomwaffen waren ein wichtiger Grund, warum in der Bevölkerung der in den 1990ern debattierte NATO-Beitritt nicht auf Gegenliebe stieß. Die Friedensbewegung befürchtete 1999 nach dem NATO-Beitritt Ungarns, dass Atomwaffen durch Österreich transportiert werden könnten. Die gestartete Petition führte in einem Allparteienantrag zum „Bundesverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich“. Atomwaffen dürfen demnach „nicht hergestellt, gelagert, transportiert, getestet oder verwendet werden.“ Auch die zivile Nutzung ist per Verfassungsgesetz untersagt. Trotz der umfassenden gesetzlichen Regelung blieben Atomwaffen auf der Agenda der Zivilgesellschaft. Die Kundgebungen zu den Jahrestagen des Abwurfes der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki genossen über Dekaden eine breite gesellschaftliche Unterstützung. Eine wichtige Kritik der Hiroshima-Tage war, dass die Atomwaffenstaaten ihrer

Verpflichtung zur vollständigen Abrüstung gemäß Artikel VI des Nichtweiterverbreitungsvertrages (NPT) nicht nachkamen.

Humanitäre Initiative Die Konferenzen von Oslo, Nayarit und Wien der Jahre 2013 und 2014 verdeutlichten die humanitären Konsequenzen von Atomwaffen. Dass die medizinischen, sozialen, wirtschaftlichen oder ökologischen Folgen unkontrollierbar sind, führte zur Ansicht, dass Atomwaffen verboten werden müssten. Diplomatische, wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Debatten ergänzten sich. Österreich warb bei rund 130 Staaten erfolgreich für den „Humanitarian Pledge“, der in Verhandlungen bei den Vereinten Nationen mündete. In Fragen Atomwaffenpolitik ist es zweifellos ein Wechsel im Diskurs, dass die Mehrheit den Ton vorgibt: „Ja, dürfen’s denn des?“ war in einem anderen Zusammenhang die Frage des Habsburgerkaisers Ferdinand. Ja, sie dürfen. Nicht nur der Rückzug von Investmentgesellschaften aus Atomwaffendeals und der Druck der USA auf einzelnen Staaten, Ratifikationen zum Vertrag zurückzuziehen, sprechen dafür, dass der Vertrag mehr als nur Symbolwirkung hat. „Auch bei anderen Waffengattungen, von Chemiewaffen bis Biologiewaffen über Antipersonenminen 26

und Streumunition wurde zuerst ein völkerrechtliches Verbot als Basis für die Eliminierung dieser Waffen etabliert“, so Botschafter Alexander Kmentt, seit 2021 Leiter der Abteilung Abrüstung im Außenministerium. Könnten auf diesem Weg auch autonome Waffensysteme ohne menschliche Kontrolle international verboten werden?

EU-Position 122 Staaten nahmen am 7. Juli 2017 ein rechtlich bindendes Instrument an, welches Entwicklung, Erprobung, Besitz, Transport, Anwendung oder Drohung mit der Anwendung von Atomwaffen verbietet. Von den damals 28 EU-Mitgliedstaaten waren 22 auch NATO-Mitglieder. Die NATO-Staaten – die Niederlande war die Ausnahme – blieben den Verhandlungen fern und beklagten später, dass der Vertrag ohne die Atomwaffenstaaten keine Wirkung hätte. Das EU-Parlament hatte eine Entschließung angenommen, nach der sich die Staaten konstruktiv beteiligen sollten. Nicht zum ersten Mal haben diese Staaten eine NATO-Meinung und eine davon unterscheidbare EU-Meinung. Bislang haben innerhalb der EU nur die Neutralen Österreich, Irland und Malta den Vertrag ratifiziert. Die Neutralität ist – sofern sie für aktive Friedenspolitik klug und engagiert genützt wird – mehr als nur eine Nichtmitgliedschaft in der NATO.


Österreich engagiert sich nicht nur für den Verbotsvertrag und verweist auf ein Verfassungsgesetz, sondern stellt dies in der Amtssitzpolitik (Wien als Sitz der Atomenergiebehörde IAEA oder der nuklearen Teststopporganisation CTBT PrepCom) und als Gastgeber von Verhandlungen (IranAbkommen, New-START-Gespräche) unter Beweis. Auch das aktuelle Regierungsprogramm dokumentiert das Engagement um den „Einsatz für eine Welt ohne Atomwaffen“ und appelliert an die Staatengemeinschaft, den Atomwaffenverbotsvertrag zu ratifizieren. Der Botschafter i. R. Thomas Hajnoczi, der bis Ende 2020 im Außenministerium für Abrüstung zuständig war, erklärt: „Durch den Vertrag werden zudem die Sicherheitsabkommen der Atomenergiebehörde (IAEA) gestärkt“. Ein Gutachten des Deutschen Bundestages sieht den Nichtweiterverbreitungsvertrag und den Atomwaffenverbotsvertrag „weniger in einem rechtlichen Konkurrenz-, als in einem Komplementärverhältnis zueinander stehen.“ Hajnoczi blickt auf die Verhandlungen zurück und führt aus, es sei größte Sorgfalt darauf gelegt worden, dass der TPNW im vollen Einklang mit dem NPT steht.“ Außenpolitische Fragen sind in Österreich auch außerhalb der Pandemie nicht im Rampenlicht. Das Inkrafttreten des Verbotsvertrages wurde weder parteipolitisch noch medial besonders gewürdigt. Lediglich ein Video des Außenministeriums, welches die humanitären Folgen eines fiktiven Abwurfes einer Atombombe über

Wien veranschaulichen sollte, führte zu massiver Kritik: Es sei unverantwortlich, den von der Pandemie psychisch so belasteten Menschen auch noch Angst vor einem Atombombenabwurf zu machen, so politische Mitbewerber der Opposition und zahlreiche Kommentator*innen. Das außenpolitische Leuchtturmprojekt wurde zum innenpolitischen Irrlicht. „Österreich“, so der Schauspieler Helmut Qualtinger einst, „ist ein Labyrinth, in dem sich jeder auskennt“.

Zivilgesellschaftliche Erwartung

Rund um die Vertragsstaatenkonferenz sind NGO-Aktivitäten geplant, die einen Austausch zwischen Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Diplomatie und Öffentlichkeit intensivieren sollen. Im Zentrum dabei: ein starkes Verbot, um – wie es der Vertrag selbst ausdrückt – „diese Waffen vollständig zu beseitigen“. Mit dem Vertrag ist eine überaus wichtige Etappe genommen und – wie Alexander Kmentt ausführt – „ein Paradigmenwechsel in den internationalen Bemühungen, das Atomwaffenproblem zu regeln.“ Aber es bleiben auch Fragen offen. Soll ein neues EU-Kampfflugzeugsystem mit US-amerikanischen Atomwaffen bestückt werden? Wie können die Mehrheiten in der Bevölkerung für vollständige Abrüstung in der Politik besser verankert werden? Sicherheitspolitik ohne Massenvernichtungswaffen weiter zu denken, bleibt eine zentrale Herausforderung.

Die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) engagiert sich im Hinblick auf die erste Staatenkonferenz im Jänner 2022 in einem breiten Bündnis dafür, dass die im Vertrag vorgesehene Hilfe für Opfer von Atomwaffeneinsätzen und -tests sowie Maßnahmen zur Sanierung der Umwelt der kontaminierten Gebiete (Artikel 6) konkretisiert werden. Neben dem wichtigen Ziel der Verbreite- Gustav Mahler meinte „Wenn die Welt einrung der Unterstützung durch die Staaten mal untergehen sollte, ziehe ich nach Wien, sind auch vertragstechnische Fragen zu denn dort passiert alles 50 Jahre später.“ klären: welche Regeln gelten, wenn Atom- In Fragen des Verbots von Atomwaffen ist waffenstaaten abrüsten und dem Vertrag Wien der Welt jedenfalls ein Stück voraus. beitreten? Wie kann – mit Blick auf die Damit die Welt nicht untergeht. sicherheitspolitische Großwetterlage – Vertrauen in Abrüstungsprozesse gestärkt werden? Der Fokus auf Opferschutz und Thomas Roithner ist Umweltsanierung zeigt auch, dass Si- Friedensforscher, Privatdozent für cherheit nicht nur aus nationalstaatlicher PolitikwissenSicht betrachtet wird, sondern der Begriff schaft an der „menschliche Sicherheit“ prägend ist. Die Universität Wien Türe zu Verhandlungen in Wien ist nicht und Mitarbeiter im nur für Vertragsstaaten, sondern auch für Versöhnungsbund Österreich: www. Beobachterstaaten offen. thomasroithner.at 27

Foto: © Alex Papis / ICAN

Umfassendes Engagement

AM WIENER HELDENPLATZ UNTERSTÜTZEN IPPWN ÖSTERREICH, ICAN ÖSTERREICH UND DER ÖSTERREICHISCHE VERSÖHNUNGSBUND DIE AUSRICHTUNG VON GESPRÄCHEN ZU NEW START – JUNI 2020.

Foto: © privat

Foto: © Thomas Roithner

„ABRÜSTUNG“ EINER ATOMRAKETE AUF DEM STEPHANSPLATZ – HIROSHIMATAG 2020


ATOMWAFFENVERBOT

Japan und Atomwaffen Geschichte eines ambivalenten Verhältnisses

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m August 1945 haben die USA Atombomben auf die Städte Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Damit ist Japan das einzige Land, in dem Atomwaffen bis jetzt zum Einsatz gekommen sind. Auch wenn die Bevölkerung Atomwaffen überwiegend ablehnt, bleibt das Verhältnis des Landes zu Atomwaffen ambivalent. Diese Ambivalenz resultiert aus den Sicherheitsdilemmata von Japans Nachkriegsgeschichte: Während im Land ab den 50er Jahren US-amerikanische Atomwaffen stationiert waren, wurden 1967 drei „Anti-Nuklearprinzipien“ bzw. Anti-Atomwaffen-Prinzipien etabliert.

Nachdem Japan 1945 durch die Alliierten besetzt worden war, erhielt es 1952 mit dem Friedensvertrag von San Francisco formell seine Souveränität zurück. Die Insel Okinawa und einige weitere, kleinere Inseln waren immer noch vollständig unter amerikanischer Besatzung und damit auch in Regierungsgewalt. Die Situation in Asien war weiterhin instabil und damit eine Herausforderung für das neu gegründete Japan. Beispiele sind der Koreakrieg und die Auseinandersetzung um Taiwan in den 1950er Jahren. In dieser Situation stützte sich die japanische Regierung auf die Sicherheitsgarantien der USA.

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S-amerikanische Atomwaffen spielten durchgängig eine wichtige Rolle für die Sicherheitspolitik Japans. Schon 1953 entsandten die USA ihren ersten atomwaffenfähigen Flugzeugträger, die USS Oriskany, nach Japan. Zusätzlich fing die Regierung Eisenhower an, Atomwaffen

in Japan zu stationieren. Auf US-Stützpunkten auf der Hauptinsel wurden Bestandteile von Atomwaffen gelagert. Von etwa 1954 an bis zur Rückgabe Okinawas an Japan 1972 wurden 18 verschiedene Typen einsatzbereiter Atomwaffen auf die Insel gebracht. Freigegebene US-Regierungsdokumente belegen, dass dies zum Höhepunkt 1967 etwa 1.300 Waffen betraf.

ments setzten eine Resolution durch, die ein Verbot der militärischen Nutzung der Atomenergie beinhaltete. Zudem starteten Frauen im Tokioer Stadtteil Suginami eine Unterschriftenaktion, um die Welt über den japanischen Wunsch nach einem Verbot von Atom- und Wasserstoffwaffen zu informieren. An dieser beteiligten sich in ganz Japan 32 Millionen Menschen, also mehr als ein Drittel der Bevölkerung.

Parallel dazu etablierte und verhärtete sich die Haltung der japanischen Bevölkerung gegen Atomwaffen. 1952, erst sieben Jahre nach Hiroshima und Nagasaki, erfuhr die Öffentlichkeit Details über Auswirkungen und Folgen der Atombombenabwürfe, nachdem die amerikanische Besatzungsbehörde GHQ ihre Zensur zu diesem Thema aufgehoben hatte. Ein weiterer Vorfall am 1. März 1954 trieb mehr Menschen in das anti-nukleare Lager. 23 Fischer waren mit dem Kutter „Daigo Fukuryu Maru“ vor der Küste des BikiniAtolls unterwegs, während dort gleichzeitig der US-amerikanische Atomwaffentest „Bravo“ stattfand. Die Explosion war weitaus stärker als ursprünglich berechnet. Obwohl sie sich außerhalb der offiziell deklarierten Gefahrenzone befanden, erkrankten die Mitglieder der Besatzung an schwerer Strahlenkrankheit – der Funker Aikichi Kuboyama, der schon vor dem Vorfall an Leberversagen gelitten hatte, verstarb sechs Monate später.

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Anschließend kam es zu einem Umbruch in der japanischen Politik. Lokale Regierungen und beide Kammern des Parla28

uch aufgrund dieses öffentlichen Drucks gaben die USA die Stationierung von Atomwaffenteilen auf dem japanischen Festland auf. Die vermutete Stationierung von Atomwaffen auf japanischen Inseln beunruhigte die Regierung und machte es erforderlich, das Thema in die Verhandlungen um eine Rückgabe mit einzubeziehen. 1967 verkündete der damalige Premierminister Eisaku Sato in der Unterhauskammer die drei „Anti-Nuklearprinzipien“ Japans. Nach den Prinzipien verpflichtet sich Japan, (1) keine Atomwaffen zu besitzen, (2) keine Atomwaffen herzustellen (3) und die Einfuhr von Atomwaffen nach Japan nicht zuzulassen. 1974 wurde Sato mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, unter anderem für diese drei Prinzipien. In der japanischen Originalversion ist explizit klar, dass die Prinzipien auch für die noch zurückzugebenden Inseln gelten sollen. In der Bevölkerung erfuhren die Prinzipien Zustimmungs-


PSEUDOZIZEERIA MAHA / PALE GRASS BLUE BUTTERFLY

Foto: Dennis Amith / CC BY-NC 2.0

HIROSHIMA MIT DEM A-BOMB DOME (2019)

raten von über 70 Prozent. Gleichzeitig zweifelten die Menschen schon früh daran, dass die Regierung sie vollständig befolgen würde. Während die Einhaltung der ersten beiden Prinzipien bis heute unstrittig ist, steht die Einhaltung des dritten Prinzips in Frage. Das Problem dabei waren US-amerikanische, potentiell atomar bewaffnete Kriegsschiffe in japanischen Häfen. Die japanische Regierung hatte explizit erklärt, dass eine „Einfuhr“ jede Durchfahrt durch japanische Territorien und Hoheitsgewässer einschließe. Daraus folge, dass mit Atomwaffen ausgestattete amerikanische Schiffe keine japanischen Häfen anlaufen konnten.

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bwohl Schiffe der US-Marine regelmäßig japanische Häfen anliefen, war das Vertrauen in die erklärten Prinzipien zunächst weitgehend intakt. Selbst als der ehemalige US-Offizier La Rocque im Ruhestand und der ehemaliger amerikanischeBotschafter in Japan Reischauer erklärten (1974 und 1981), dass eine mündliche Vereinbarung atomwaffenfähige Schiffe in japanischen Häfen erlauben würde, wies die Regierung diese Anschuldigungen zurück – mit folgender Argumentation: Nach den zusätzlichen Ausführungen (Records of Discussion) zu den Sicherheitsabkommen hätten die USA größere Änderungen an ihrer Ausrüstung in Japan in „Vorabberatungen“ besprechen müssen. Solche „Größeren Änderungen an der Ausrüstung“ beinhalten auch die Einfuhr von Atomwaffen. Da solche „Vorabberatungen“ nie stattgefunden hätten, seien alle japanischen Regierungen davon

ausgegangen, dass keine Atomwaffen in Japan waren und die Anti-Nuklearprinzipien eingehalten worden seien. 2009 wurden weitere Informationen bekannt. Nach Berichten eines Journalisten bestätigten vier pensionierte Vizeminister des Außenministeriums die Existenz einer geheimen Sondervereinbarung. Ein Expertenausschuss, der von einer neuen japanischen Regierung mit der Untersuchung der „geheimen Abkommen“ beauftragt wurde, fand zwar keine Belege dafür, konnte aber die US-amerikanische Interpretation der Abkommen klären. Die oben erwähnten Records of Discussions enthielten eine weitere Klausel, die besagte, dass sich neue Regeln nicht auf die bereits praktizierte Verfahrensweise auswirken würden. Der damalige Botschafter hatte dem japanischen Außenminister angedeutet, dies gelte auch für das Einlaufen von Schiffen in Häfen. Da US-Schiffe japanische Häfen bereits mit Atomwaffen angelaufen hätten, ginge dies auch in Zukunft. Die USA hätten keine Notwendigkeit für „Vorabberatungen“ gesehen, und ihre Schiffe waren mutmaßlich weiterhin atomar bewaffnet. Zumindest konnte die ursprüngliche Logik der Regierung zur Atomwaffenfreiheit nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Expertenkommission kritisierte die vorherigen japanischen Regierungen, da sie nicht versucht hatten, die beiden unterschiedlichen Interpretationen zusammenzuführen. Seit 1991 ist die Diskussion darüber, ob es in Japan Atomwaffen und/oder atomwaffenfähige Schiffe gibt, hinfällig. Damals hat US-Präsident George W. Bush 29

durch die Presidential Nuclear Initiative den Einsatz aller nicht strategischen Atomwaffen auf Schiffen, U-Booten und landgestützten Marinefliegern eingestellt. Das Sicherheitsdilemma und die daraus entstehende Ambivalenz halten bis heute an. Im letzten Jahr erklärte der japanische Premierminister Yoshihide Suga vor der UN-Generalversammlung: „Hiroshima und Nagasaki dürfen sich niemals wiederholen. Diesen festen Entschluss verinnerlichend hält Japan an den drei Anti-Nuklearprinzipien fest und engagiert sich mit Nachdruck für die Verwirklichung einer Welt ohne Atomwaffen.“ Andererseits ist Yoshihide Suga erst im April 2021 mit US-Präsident Joe Biden vor die Kamera getreten, der erklärte, die USA würden Japans Verteidigung mit allen Mitteln unterstützen, „auch mit Atomwaffen“. Gegen die unbeständige Realität der Region hält die japanische Regierung den „nuklearen Schirm“ der USA noch immer für notwendig und will derzeit dem Atomwaffenverbotsvertrag nicht beitreten. Und das, obwohl viele Umfragen konsistent zeigen, dass sich fast 60 Prozent der Menschen für einen Beitritt aussprechen.

Jun Saito ist Rechtswissenschaftler und absolviert derzeit den Masterstudiengang Peace and Security Studies in Hamburg.


WELT

Healthcare, not Warfare! Neuigkeiten aus der internationalen IPPNW

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ie neu gewählten vier Co-Präsidenten der IPPNW repräsentieren vier Kontinente: Dr. Arun Mitra (Indien), Dr. Sally Ndung’u (Kenia), Prof. Tilman Ruff (Australien), Dr. Carlos Umana (Costa Rica). Für sie stehen Themen wie die Weiterentwicklung des Atomwaffenverbotsvertrags (AVV), die weltweit steigenden Rüstungsausgaben in Zeiten der Covid-19-Pandemie und der Klimawandel im Vordergrund. Der Beitritt vieler weiterer Staaten zum Atomwaffenverbotsvertrag zu fördern und globale Abrüstung Klimawandel und Gesundheit voranzutreiben, ist ihr Credo. Auf Bitte von Dr. Alexander Kmentt, des Leiters der Abteilung für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nonproliferation im österreichischen Außenministerium, der den Atomwaffenverbotsvertrag in der UNO maßgeblich voranbrachte, hat unser IPPNW-Co-Präsident Tilman Ruff ein Argumentationspapier formuliert, wie der AVV beim ersten Treffen zur Überprüfung des AVV weiter an Struktur gewinnen kann und welche Aufgaben und Strukturen im Rahmen der internationalen Abrüstungsdebatte dauerhaft auf UNO-Ebene zu implementieren sind. Alle IPPNW-Sektionen arbeiten jetzt daran, dass ihre jeweiligen Regierungen an der ersten Konferenz des AVV im Januar 2022 nach Wien kommen. Sally Ndung’u und Carlos Umana setzen sich in Afrika und Lateinamerika dafür ein, dass diejenigen Staaten, die den AVV schon unterschreiben haben, ihn jetzt ratifizieren. Arun Mitra führte 2020 eine Südasien-Videokonferenz durch, in der die Bedrohung durch das Wettrüsten, die atomare Bedrohung, Covid-19 und den Klimawandel diskutiert wurde.

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Mit Grußbotschaften auf dem IPPNWJahrestreffen zugeschaltet: Carlos Umana, Sally Ndung‘u, Arun Mitra, Anastasia Medvedeva und Tilman Ruff.

nsere US-Sektion (PSR) konzentriert sich zurzeit auf eine Kampagne an Präsident Biden zu Abrüstung, insbesondere nuklearer Abrüstung und Verzicht auf den AtomwaffenErsteinsatz in der US-Nuklearstrategie. Sie skandalisieren die monströse Summe von 740 Milliarden Dollar, die für das Jahr 2021 noch von der Trump-Administration geplant worden war. Die Regierung Biden führe das Wettrüsten weiter, 754 Milliarden seien für 2022 geplant. Deshalb fordert die PSR von Präsident Biden deutliche Abrüstungsschritte. 30

„Die USA haben allein im Jahr 2019 mehr als 35 Milliarden US-Dollar für Atomwaffen ausgegeben. Das bedeutet, dass man mit den Ausgaben eines einzigen Jahres 300.000 Intensivbetten, 35.000 Beatmungsgeräte und die Gehälter von 150.000 Krankenpfleger*innen und 75.000 Ärzt*innen finanzieren könnte. Diese Zahlen zeigen, dass wir als internationale Gemeinschaft das Thema Sicherheit neu überdenken müssen.“ (Molly McGinty, PSR) Für die europäischen IPPNW-Sektionen wurde zwei Co-Präsidentinnen gewählt: Marianne Begemann aus den Niederlanden und Angelika Claußen aus Deutschland. Im Rahmen der Koalition „Nukefree Europe“ organisieren sie in Webinar-Formaten den Austausch und den Weg, um in den vier Ländern Belgien, Deutschland, Italien und Niederlande die nukleare Teilhabe gemeinsam zu beenden. Lobbyarbeit einerseits und direkte Aktionen und internationale Proteste an den US-Militärbasen Büchel, Kleine Brogel und Voelkel werden dieses Jahr im September stattfinden.

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in zweites Projekt, das die Co-Präsidentinnen mit den beiden europäischen Studierendenvertreter*innen Ella Faiz (Frankreich) und Dirk Hoogenkamp (Niederlande) aufbauen wollen, sind gemeinsame europäische Summer Schools zu Atomwaffen, Frieden, Klimawandel und „Sicherheit neu Denken“. Sie sollen in Zusammenarbeit mit verschiedenen Universitäten aus europäischen Ländern stattfinden und vor allem bei europäischen Studierenden das Interesse an den IPPNW-Themen wecken.

Dr. Angelika Claußen ist Co-Vorsitzende der deutschen IPPNW.


AKTION

MANNHEIM

LANDSBERG / LECH

Protest für Frieden Ostermarsch 2021 im kleinen und größeren Rahmen

Foto: aaa West

I

n vielen Städten konnten im April die Ostermärsche für Frieden und Abrüstung stattfinden. Viele Gruppen machten auf das Atomwaffenverbot aufmerksam, nicht zuletzt mithilfe der roten Flaggen und Banner, die in der IPPNW-Geschäftsstelle bestellt werden konnten. Ausprobiert wurden in diesem Jahr auch alternative Veranstaltungskonzepte wie Menschenketten am Flatterband oder Fahrraddemos, um die Abstände besser einhalten zu können. So radelten in Gronau ca. 100 Demonstrant*innen vom Bahnhof zur Urananreicherungsanlage, wo die Ärztin Brigitte Hornstein in einer Rede darauf hinwies, dass die URENCO und das ETC Jülich derzeits in vielen Ländern in neue Atomprojekte einsteigen: „Atomenenergie birgt immer auch die Gefahr eines Atomkrieges.“ Das zeige sich derzeit u.a. an den Plänen der USA und Großbritanniens, ihre Atomwaffenarsenale aufzustocken.

GRONAU

HERFORD 31


G ELESEN

Der Stoff, aus dem wir sind

Hommage an Hans-Peter Dürr

Mit diesem Buch will Fabian Scheidler den dunklen „Schleier, den die technokratische Ideologie über die Welt und das menschliche Dasein geworfen hat“, lüften und damit die tödliche Logik hinter Klima- und Umweltkatastrophe freilegen.

Im Mai 2021 zeigte das International Uranium Filmfestival mit Unterstützung des Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro 34 „atomare“ Filme und machte sie kostenlos online zugänglich.

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D

chwerpunkt dabei war eine Retrospektive der besonders relevanten Filmen der letzten Jahre. Brasilien- und Lateinamerika-Premiere feierte Claus Biegerts Film „Vom Sinn des Ganzen: Das Netz des Physikers Hans-Peter Dürr“. Am 15. Oktober 2020 war der Dokumentarstreifen Eröffnungsfilm des 10. International Uranium Film Festvals in Berlin.

azu entführt er seine Leser*innen auf eine Exkursion in 400 Jahre Entwicklungsgeschichte der Naturwissenschaften und der Zivilisation, nicht trocken Wissenschaftsgeschichte, immer gespickt mit praktischen Beispielen. Faszinierend knapp zwei Seiten zu Corona, in denen er den Natur-fressenden Raubbau des Menschen überzeugend als maßgeblich für die Ausbreitung solcher Pandemien skizziert.

Der Physiker Hans-Peter Dürr (1929-2014), Nachfolger von Werner Heisenberg am Max-Planck-Institut in München, lebte im Spannungsfeld zwischen den Physikern Edward Teller und Josef Rotblat. Teller und Rotblat gehörten zum „Manhattan Project“ in Los Alamos, wo unter der Leitung von Robert Oppenheimer jene Bomben konstruiert wurden, mit denen die USA 1945 Hiroshima und Nagasaki zerstörten. Beide gingen entgegengesetzte Wege: Teller wurde als „Vater der Wasserstoffbombe“ bekannt, Rotblat erhielt den Friedensnobelpreis für die Gründung der „Pugwash-Bewegung“. Dazwischen steht Dürr: Als Doktorand bei Teller, ohne dessen Hintergründe zu kennen, später glühender Verehrer von Rotblat und Anhänger von Pugwash. Von Werner Heisenberg zum Nachfolger ernannt, leitet er das Max-Planck-Institut für Astrophysik und mischt gleichzeitig in der Friedensbewegung mit. Er macht sich Feinde - und viele neue Freunde.

Der Stoff, aus dem der Schleier ist, setzt sich zusammen aus einem mechanistischen Weltbild und Herrschaft des Geldes. Am Beginn der 400 Jahre steht der Versuch vor allem der Physik, zu zeigen, dass die Natur berechenbaren – und beherrschbaren – Gesetzen folgt. Vorherrschend wird das Bild einer Lego-Welt mit beliebig austauschbaren und neuer Nutzung zuzuführenden Bausteinen, die Natur als bloßes Objekt. Und zeitgleich die Entstehung es kapitalistischen Weltsystems mit Eröffnung der ersten Aktiengesellschaft und der ersten dauerhaften Wertpapierbörse. Inzwischen hat die Verbindung von endloser Geldvermehrung, staatlichem Expansionsdrang und rasanter technischer Entwicklung die kapitalistische „Megamaschine“ zum dynamischsten und aggressivsten System der Weltgeschichte gemacht. Rational und wissenschaftlich begründet ist das alles mitnichten. Vor knapp hundert Jahren wurde durch die Erkenntnisse der Quantenphysik und der modernen Biologie die Idee einer Welt als zusammensetzbarer maschinenartiger Existenz widerlegt. Zum Vorschein gekommen ist eine Welt, die „ein unauftrennbares Gewebe ist, in dem es keine Einzelteile, sondern nur Beziehungen“ gibt, eine Welt, die auf Verbundenheit, Selbstorganisation, Empathie und Kreativität beruht. Gesellschaftliches Leben, das der Katastrophe etwas entgegensetzen will, muss diese Beziehungen durch einen grundlegenden Wandel der Gesellschaft teilen. Eine sehr lohnende, spannend vielseitig Lektüre.

Hans-Peter Dürr stand der deutschen IPPNW sehr nahe, war unserem Gründungsmitglied Horst-Eberhard Richter sehr verbunden und hielt Vorträge auf unseren Friedenskongressen. Zu Wort kommt in dem Film auch die IPPNW-Vorsitzende Angelika Claußen. Claus Biegert ist Journalist, Filmemacher und Autor. Er hat mit seinen Werken die Umwelt- und die Anti-Atombewegung unterstützt. Beim World Uranium Hearing 1992 in Salzburg war er Mitbegründer des „Nuclear Free Future Award“, den die IPPNW seit Jahren unterstützt.

Fabian Scheidler: Der Stoff, aus dem wir sind. Piper Verlag, München 2021, 304 S., gebundene Ausgabe 20,- €, ISBN 9783492070607

Claus Biegert: Vom Sinn des Ganzen: Das Netz des Physikers Hans-Peter Dürr, Deutschland 2020. www.biegert-film.de, freier Zugang zum Uraniumfilmfestival unter: https://vimeo.com/showcase/uranium2021

Jürgen Sendler

Angelika Wilmen

32


G EDRUCKT

TERMINE

Argumente gegen Atompropaganda Getarnt als unabhängige Bürgerinitiative, macht „Nuklearia“ mit gezielt vorgeschobenen Klimaschutzargumenten Propaganda für die Atomindustrie. Die Organisation gewinnt medial und politisch an Präsenz und wird inzwischen sogar zu Anhörungen in den Bundestag eingeladen. Prof. Alfred Böcking hat für

die IPPNW elf Gegenargumente mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Thema „ionisierende Strahlung“ zusammengestellt – ein Leitfaden für alle, die sich konstruktiv mit den irreführenden Behauptungen von Nuklearia auseinandersetzen wollen. Download unter: ippnw. de/bit/strahlenfakten

Atomwaffen sind verboten! Die Broschüre dokumentiert die Festveranstaltung und Aktivitäten der IPPNW-ICAN-Gruppe Hamburg zum Inkrafttreten des Atomwaffenverbots. Mit Redebeiträgen der Zweiten Hamburger Bürgermeisterin, der Hamburger Konsuln von Palau, Samoa, Costa Rica und Kasachstan sowie des Botschafters von Österreich in Berlin.

40 Seiten, für 1,- Euro zu bestellen unter shop.ippnw.de Als PDF unter: www.icanw.de/ican-hamburg

Flyer: Abrüstung wählen

JUNI 15.6. Online-Vortragsreihe, 18 Uhr – Strahlende Zukunft am ITH? Mit: Angela Wolff (ausgestrahlt) und Dr. Jörg Schmid (IPPNW) 17.6. Bewaffnete Drohnen: Mehr Sicherheit – mehr Frieden? Ev. Akademie Villigst, online Mit Susanne Grabenhorst, IPPNW www.kircheundgesellschaft.de/ veranstaltungen

JULI 8.7. Flaggentag der Mayors4Peace 9.-11.7. Fliegerhorst Büchel: IPPNW- und ICAN-Aktionstage Infos: buechel.nuclearban.de 24.7. Berlin & online Taking Action in uncertain Times: Steps towards Systemic Change at the Intersection of Climate & Health 25.-31.7. Global Health Summer School: Climate Crisis, Violent Conflict and Health, Berlin

AUGUST

A4-Flyer zur Stationierung der Atomwaffen in Büchel und den Forderungen der IPPNW zum Atomwaffenverbot. Zu bestellen gegen Spende unter shop.ippnw.de

6. & 9.8. Aktionen zu den Hiroshima- & Nagasaki-Jahrestagen

SEPTEMBER 5.9. Menschenkette gegen Atomwaffen in Büchel

G EPLANT Das nächste Heft erscheint im September 2021. Das Schwerpunktthema ist:

Sicherheit neu denken

18.9. #HandinHand Rettungskette für Menschenrechte www.rettungskette-ulm-neu-ulm.de

Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 167 /September 2021 ist der 31. Juli 2021. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

Weitere Informationen unter: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine

IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS Herausgeber: Internationale Ärzte für die

zugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag

Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer

enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete

Verantwortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland

Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung

Redaktion: Ute Watermann (V.i.S.d.P.), Angelika

der Redaktion oder des Herausgebers. Nach-

Wilmen, Regine Ratke, Lara-Marie Krauße

drucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung.

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum,

Redaktionsschluss für das nächste Heft:

Körte­straße 10, 10967 Berlin,

31. Juli 2021

Tel.: 030 6980 74 0, Fax 030 693 81 66,

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de,

E-Mail: ippnw@ippnw.de, www.ippnw.de,

Layout: Regine Ratke; Druck: DDL Berlin

Bankverbindung: Bank für Sozialwirtschaft,

Papier: Circle Offset, Recycling & FSC.

Kto-Nr. 2222210, BLZ 100 20 500,

Bildnachweise: S. 6 Mitte: SpreeTom/CC BY-SA

IBAN: DE39 1002 0500 0002 2222 10,

3.0, S.7 Mitte: Foto:

BIC: BFSWDE33BER

Kremlin.ru / CC BY 4.0

Das Forum erscheint viermal jährlich. Der Be33

Ä nder ung: 29.5.- 9.6.2022

IPPNW-Begegnungsreise Palästina/Israel Die Reise musste leider auf 2022 verschoben werden. Weitere Infos: ippnw.de / bit / reise


G EFRAGT

6 Fragen an … Lucky Maisanye

… Klima- und Anti-Kohleaktivist aus Südafrika

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Du bist Klima- und Anti-Kohleaktivist in Südafrika. Wie sieht Eure Arbeit aktuell aus? Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt derzeit darin, das Umweltbewusstsein von Jugendlichen in der Schule und außerhalb der Schule zu stärken. Wir arbeiten mit weiterführenden Schulen aus meiner Gemeinde zusammen, wo jede Schule einen „Enviro Club“ hat, eine Gruppe von interessierten Schüler*innen und verantwortlichen Lehrer*innen. Die Enviro-Clubs der Schulen arbeiten in Projekten zu den Themen Globales Lernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung, Gemüseanbau, Bewusstseinsbildung unter Gleichaltrigen usw.

Was bedeutet Klimagerechtigkeit für dich? Lokale Bergbaugemeinden haben die Gesamtkontrolle und den vollen Zugang zu den mineralischen Ressourcen, die unter der Erde in der Umgebung ihrer Gemeinden abgebaut und reserviert werden. Derzeit haben wir hier extreme negative Auswirkungen und trotzdem sind viele Menschen, die in der Nähe von Kohleminen und Kraftwerken leben, selbst ohne Strom. Der Strom geht in große Städte oder die Kohle wird in andere Länder wie Deutschland exportiert. In unseren Bergbaugemeinden werden arme und farbige Menschen dazu verdonnert, in der Nähe von Kohleminen und Kohlekraftwerken zu wohnen und allen Formen der Verschmutzung ausgesetzt zu sein. Wir sehen also hier vielfältige Formen der Diskriminierung.

2

Was hat dich zu deinem Aktivismus gebracht? Das Beobachten und Erkennen der enormen negativen Auswirkungen des Kohleabbaus auf meine eigene Gesundheit und mein Wohlbefinden, meine Umgebung und die Umwelt. Ich fand es schwierig, mich zu entscheiden, zu ignorieren und nicht zu handeln, mich zu organisieren.

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Du hast zwei Jahre in Deutschland gelebt und gearbeitet. Was kann die deutsche Klimabewegung von der südafrikanischen lernen? Wir können in der Lage sein, uns mit minimalen oder gar keinen Ressourcen zu organisieren, die uns zur Verfügung stehen.

3

Wir schauen derzeit verstärkt auf die Verbindung von Klimakrise und Gesundheit. Inwiefern ist das für deine Arbeit relevant? Der Kohleabbau und die Erzeugung von Kohleenergie hat großen Anteil an den Ursachen der Klimakrise. Die Auswirkungen der Klimakrise wie Überschwemmungen, Meeresanstieg, Dürre usw. haben direkte Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen. Wir können auch die direkten negativen Auswirkungen innerhalb unserer Gemeinden hier in Mpumalanga sehen. Die Luftqualität ist als Folge des Bergbaus und der Kohlekraftwerke sehr schlecht. In meiner Gemeinde leiden viele Menschen an Krankheiten wie Asthma, Nebenhöhlenentzündungen und Tuberkulose. Und unsere Wasserqualität ist schlecht aufgrund der Verschmutzung aus der Quelle durch den Kohleabbau, durch saure Grubenwässer aus verlassenen Kohleminen und der Erzeugung von Kohleenergie.

6

Was motiviert dich in deinem Aktivismus? Die Erkenntnis, dass, wenn wir nichts tun, um die Umweltverschmutzung und ihre Auswirkungen auf kommunaler Ebene anzusprechen und das Bewusstsein dafür zu schärfen, auch nichts getan wird, um die Kohlenstoffemissionen der Bergbauunternehmen zu reduzieren.

Lucky Maisanye wird vom 25.-31. Juli 2021 als Dozent bei der Global Health Summer School in Berlin zu Gast sein. Das Interview führte Laura Wunder. 34


ANZEIGEN

IPPN W-Ka mpag ne zur Bund estag swahl:

Sie haben die Wahl – wir die Rezepte! Ende Juni starten wir als IPPNW eine Imagekampagne zur Bundestagswahl, um unsere Rezepte einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen und in die Politik einzubringen. Ziel ist zudem, neue Mitglieder, Förderer, Unterstützer*innen und Spender*innen zu gewinnen.

Kam pfd roh nen sto ppe n!

brauchen eine grundsätzliche politische, wirtschaftliche und soziale Neuausrichtung. Nur so lässt sich eine gemeinsame, friedliche Zukunft auf diesem Planeten erreichen. Eine Regierung, egal welcher Zusammensetzung, kann diesen Systemwechsel nicht alleine schaffen.

Die Welt liegt auf der Intensivstation. Die Existenz der Menschheit und des Lebens auf der Erde werden durch die Klimakrise und durch Atomwaffen bedroht – und auch die Pandemie zeigt uns: Wissenschaft, Transparenz und eine funktionierende Zivilgesellschaft sind wichtiger Abrüstung wählen – denn je. Wählen alleine reicht Unser Rezept: Dem Atomnicht! waffenverbot beitreten Wir können am 26. September 2021 zwar eine neue Regierung wählen, aber wir

Frieden wählen – Unser Rezept: Kampfdrohnen stoppen

Menschenrechte wählen – Unser Rezept: Abschiebungen nach Afghanistan stoppen Klimaschutz wählen – Unser Rezept: CO2Fußabdruck der Bundeswehr transparent machen Energiewende wählen – Unser Rezept: Gronau und Lingen stilllegen

Weitere Informationen ab Ende Juni unter: www.ippnw-wahlrezepte.de


IPPNW- & ICANAKTIONSCAMP BÜCHEL 6.– 11. Juli 2021 6.7. Dien stag Bikes not Bomb s! Ankunft der FahrradSternf ahrt in Büchel

7.7. Mitt woc h Gebur tstags feier: Der Atomwaffenverbots vertrag wird 4 Jahre alt Konzert: Nicole Mercier

8.7. Donnerstag Workshops Vorbereitung Aktionstag

9.7. Freitag

Auf dem Fliegerhorst in Büchel trai-

Aktionstag: bunter Prote st

nieren Bundeswerhrpilot*innen regel-

Konzert: Pablo Miro

mäßig den Abwurf von US-Atombomben. Mit dieser Praxis der „nuklearen Teilhabe“ handelt die Bundesregie-

10.7. Sam stag Work shops Wanderung um den Fliegerhors t Performance: Sachiko Hara

rung eindeutig gegen geltendes Völkerrecht.

Seid dabei! Vom 6.–11. Juli wollen wir in Büchel laut und sichtbar den Abzug der dort stationierten Atombomben

11. 7. Sonntag Theater !

Atomwaffen abziehen!

fordern – mit Workshops, Musik, Tanz, Theater und Aktionen.

Ausklang

Theaterprob en & Gastspiel (Donnerstag -Sams tag) Mit: Sachiko Hara, Schau spielhaus Hamburg

ICAN DEUTSCHLAND

2017 NOBEL PEACE PRIZE

Mehr Infos & Anmeldung: bueche l.nuclearban.de


Articles inside

Japan und Atomwaffen

5min
pages 28-29

Gelesen, Gesehen

2min
page 32

Healthcare, not Warfare

2min
page 30

Was passiert in Büchel?

6min
pages 22-23

dann ziehe ich nach Wien

5min
pages 26-27

Deutschland und Frankreich treiben das FCAS voran

4min
pages 24-25

Abrüstung ist jetzt unser Recht

1min
pages 20-21

EU-Taxonomie: Streit um die Atomenergie

2min
page 19

Zuckerbrot und Peitsche: Internationale Sanktionen

4min
pages 14-15

Bernard Lown: Eine kurze Würdigung

6min
pages 12-13

NATO-Rückzug aus Afghanistan

5min
pages 10-11

Nachrichten

6min
pages 6-7

Wie sicher ist das AKW Beznau?

2min
page 18

Grundrechte und Demokratie in Zeiten von Corona

6min
pages 16-17

Meinung

1min
page 5
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