Jetzt Gemeinschaft! Es kann nur alle geben.

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Jetzt Gemeinschaft! Es kann nur alle geben.


Fachhochschule Nordwestschweiz Hochschule f端r Gestaltung und Kunst Institut HyperWerk Totentanz 17/18 4051 Basel Schweiz Verlag HyperWerk

Institute for Postindustrial Design Basel, 2013 ISBN-13 978-3-905693-26-3

Es kann nur alle geben

http://publikation13.hyperwerk.ch

Jetzt Gemeinschaft!

Max Spielmann, Andrea Iten, Anka Semmig, Julian Rieken (Hg.): Jetzt Gemeinschaft! Es kann nur alle geben.


Fachhochschule Nordwestschweiz Hochschule f端r Gestaltung und Kunst Institut HyperWerk Totentanz 17/18 4051 Basel Schweiz Verlag HyperWerk

Institute for Postindustrial Design Basel, 2013 ISBN-13 978-3-905693-26-3

Es kann nur alle geben

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Jetzt Gemeinschaft!

Max Spielmann, Andrea Iten, Anka Semmig, Julian Rieken (Hg.): Jetzt Gemeinschaft! Es kann nur alle geben.


Gemeinschaft

01

Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen, zuerst kam der eine und stellte sich neben das Tor, dann kam oder vielmehr glitt so leicht wie ein Quecksilberkügelchen gleitet der zweite aus dem Tor und stellte sich unweit vom ersten auf, dann der dritte, dann der vierte, dann der fünfte. Schließlich standen wir alle in einer Reihe. Die Leute wurden auf uns aufmerksam, zeigten auf uns und sagten: Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen. Seitdem leben wir zusammen, es wäre ein friedliches Leben wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde. Er tut uns nichts, aber es ist uns lästig, das ist genug getan; warum drängt er sich ein, wo man ihn nicht haben will. Wir kennen ihn nicht und wollen ihn nicht bei uns aufnehmen. Wir fünf haben zwar früher einander auch nicht gekannt und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet. Außerdem sind wir fünf und wir wollen nicht sechs sein. Und was soll überhaupt dieses fortwährende Beisammensein für einen Sinn haben, auch bei uns fünf hat es keinen Sinn, aber nun sind wir schon beisammen und bleiben es, aber eine neue Vereinigung wollen wir nicht, eben auf Grund unserer Erfahrungen. Wie soll man aber das alles dem sechsten beibringen, lange Erklärungen würden schon fast eine Aufnahme in unsern Kreis bedeuten, wir erklären lieber nichts und nehmen ihn nicht auf. Mag er noch so sehr die Lippen aufwerfen, wir stoßen ihn mit dem Elbogen weg, aber mögen wir ihn noch so sehr wegstoßen, er kommt wieder. Franz Kafka


Gemeinschaft

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Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen, zuerst kam der eine und stellte sich neben das Tor, dann kam oder vielmehr glitt so leicht wie ein Quecksilberkügelchen gleitet der zweite aus dem Tor und stellte sich unweit vom ersten auf, dann der dritte, dann der vierte, dann der fünfte. Schließlich standen wir alle in einer Reihe. Die Leute wurden auf uns aufmerksam, zeigten auf uns und sagten: Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen. Seitdem leben wir zusammen, es wäre ein friedliches Leben wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde. Er tut uns nichts, aber es ist uns lästig, das ist genug getan; warum drängt er sich ein, wo man ihn nicht haben will. Wir kennen ihn nicht und wollen ihn nicht bei uns aufnehmen. Wir fünf haben zwar früher einander auch nicht gekannt und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet. Außerdem sind wir fünf und wir wollen nicht sechs sein. Und was soll überhaupt dieses fortwährende Beisammensein für einen Sinn haben, auch bei uns fünf hat es keinen Sinn, aber nun sind wir schon beisammen und bleiben es, aber eine neue Vereinigung wollen wir nicht, eben auf Grund unserer Erfahrungen. Wie soll man aber das alles dem sechsten beibringen, lange Erklärungen würden schon fast eine Aufnahme in unsern Kreis bedeuten, wir erklären lieber nichts und nehmen ihn nicht auf. Mag er noch so sehr die Lippen aufwerfen, wir stoßen ihn mit dem Elbogen weg, aber mögen wir ihn noch so sehr wegstoßen, er kommt wieder. Franz Kafka


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Institute for Postindustrial Design HGK FHNW www.hyperwerk.ch

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Institute for Postindustrial Design HGK FHNW www.hyperwerk.ch

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Jetzt G   emeinschaft!

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Ein Jahresthema entsteht Andrea Iten im Gespräch mit Max Spielmann Andrea Iten: Im Oktober 2011 bist Du mit dem HyperWerk-Jahrgang der Dodici nach Senones in die Vogesen gefahren. Weshalb? Max Spielmann: Der Workshop in Senones diente der Vorbereitung des Jahresthemas 2012/13. Der jeweils zukünftige Diplomjahrgang entwickelt mit Mitgliedern der Institutsleitung ein solches Thema für sein Diplomjahr. Wir hatten im Frühjahr 2012 mit der Suche nach einer Thematik begonnen, welche die sehr unterschiedlichen Interessen aller Diplomstudierenden verbindet. Aufgefallen waren mir in den Diskussionen zwei Themen: einerseits die Gespräche zu gesellschaftlich-politischen Fragen. Zu dieser Zeit waren dies das Thema Occupy oder die Freiräume, wie das zu Ende gehende NT-Areal in Basel. Andererseits natürlich die zukünftigen Arbeitssituationen: eine Arbeitsgemeinschaft, eine eigene Firma, oder als Freelancer arbeiten? Dieses zweite Thema lässt sich nicht von den FabLabs, dem Diskurs über neue «Handwerkerstätten» trennen. Etwas erstaunte mich: Sehr häufig waren die Unterschiede der Aufbruchsstimmung von 1968 zur heutigen Situation ein Thema. Da stiessen ganz unterschiedliche Projektionen aufeinander – nicht nur in Bezug auf die Sechziger, sondern auch gegenüber der heutigen Situation. Diese wird zu einem guten Teil ja auch stark medialisiert wahrgenommen. Das eigentliche Thema fanden wir dann über die Annäherung an die individuelle, eigene Lebenssituation. Allen gemeinsam ist ein positives Verhältnis zu den Möglichkeiten der Virtualisierung;

die sozialen Medien, die von Zeit und Ort unabhängige Kommunikation oder die Einfachheit des Zugriffs auf Medien und Informationen. Dazu sammelten wir dann negative Begriffe. Da fanden sich auf dem Flipchart plötzlich Wörter wie Verbindlichkeit, Vertrauen oder Verlässlichkeit. Wir alle waren erstaunt über unsere eigenen «wertkonservativen» Begriffe. Damit war das Thema Gemeinschaft im Ansatz gefunden. AI: Kurz vor Weihnachten desselben Jahres fand dann ein weiterer Workshop mit Orhan Kipcak und mir am selben Ort statt. Was war das Ergebnis? MS: Wir beschäftigten uns sowohl theoretisch mit dem Begriff als auch ganz praktisch mit der inhaltlichen Sortierung. Welche Unterthemen bedient Gemeinschaft? Wie können sich Arbeitsgemeinschaften organisieren? Welche Konsequenzen haben neue Technologien für die Zusammenarbeit? Diese Arbeit führte sehr rasch zur Diskussion der Gemeingüter. Wie werden Güter gemeinsam bewirtschaftet – ob Open-Source-Software oder Kühe auf der Alp, ob die Ressource Wasser oder der gemeinsame Hochleistungsdrucker in einer Arbeitsgemeinschaft? Und da näherten wir uns einem spannenden Feld: Fragen des Besitzes, des Tausches, der gegenseitigen Verpflichtungen. Da tauchen dann wieder die Worte wie Verbindlichkeit, Geben und Nehmen auf. In dieses Feld gehört auch die Diskussion zum bedingungslosen Grundeinkommen. Und natürlich war jetzt der offizielle Titel des Jahresthemas gefunden: Jetzt Gemeinschaft! Es kann nur alle geben.


Jetzt G   emeinschaft!

03

Ein Jahresthema entsteht Andrea Iten im Gespräch mit Max Spielmann Andrea Iten: Im Oktober 2011 bist Du mit dem HyperWerk-Jahrgang der Dodici nach Senones in die Vogesen gefahren. Weshalb? Max Spielmann: Der Workshop in Senones diente der Vorbereitung des Jahresthemas 2012/13. Der jeweils zukünftige Diplomjahrgang entwickelt mit Mitgliedern der Institutsleitung ein solches Thema für sein Diplomjahr. Wir hatten im Frühjahr 2012 mit der Suche nach einer Thematik begonnen, welche die sehr unterschiedlichen Interessen aller Diplomstudierenden verbindet. Aufgefallen waren mir in den Diskussionen zwei Themen: einerseits die Gespräche zu gesellschaftlich-politischen Fragen. Zu dieser Zeit waren dies das Thema Occupy oder die Freiräume, wie das zu Ende gehende NT-Areal in Basel. Andererseits natürlich die zukünftigen Arbeitssituationen: eine Arbeitsgemeinschaft, eine eigene Firma, oder als Freelancer arbeiten? Dieses zweite Thema lässt sich nicht von den FabLabs, dem Diskurs über neue «Handwerkerstätten» trennen. Etwas erstaunte mich: Sehr häufig waren die Unterschiede der Aufbruchsstimmung von 1968 zur heutigen Situation ein Thema. Da stiessen ganz unterschiedliche Projektionen aufeinander – nicht nur in Bezug auf die Sechziger, sondern auch gegenüber der heutigen Situation. Diese wird zu einem guten Teil ja auch stark medialisiert wahrgenommen. Das eigentliche Thema fanden wir dann über die Annäherung an die individuelle, eigene Lebenssituation. Allen gemeinsam ist ein positives Verhältnis zu den Möglichkeiten der Virtualisierung;

die sozialen Medien, die von Zeit und Ort unabhängige Kommunikation oder die Einfachheit des Zugriffs auf Medien und Informationen. Dazu sammelten wir dann negative Begriffe. Da fanden sich auf dem Flipchart plötzlich Wörter wie Verbindlichkeit, Vertrauen oder Verlässlichkeit. Wir alle waren erstaunt über unsere eigenen «wertkonservativen» Begriffe. Damit war das Thema Gemeinschaft im Ansatz gefunden. AI: Kurz vor Weihnachten desselben Jahres fand dann ein weiterer Workshop mit Orhan Kipcak und mir am selben Ort statt. Was war das Ergebnis? MS: Wir beschäftigten uns sowohl theoretisch mit dem Begriff als auch ganz praktisch mit der inhaltlichen Sortierung. Welche Unterthemen bedient Gemeinschaft? Wie können sich Arbeitsgemeinschaften organisieren? Welche Konsequenzen haben neue Technologien für die Zusammenarbeit? Diese Arbeit führte sehr rasch zur Diskussion der Gemeingüter. Wie werden Güter gemeinsam bewirtschaftet – ob Open-Source-Software oder Kühe auf der Alp, ob die Ressource Wasser oder der gemeinsame Hochleistungsdrucker in einer Arbeitsgemeinschaft? Und da näherten wir uns einem spannenden Feld: Fragen des Besitzes, des Tausches, der gegenseitigen Verpflichtungen. Da tauchen dann wieder die Worte wie Verbindlichkeit, Geben und Nehmen auf. In dieses Feld gehört auch die Diskussion zum bedingungslosen Grundeinkommen. Und natürlich war jetzt der offizielle Titel des Jahresthemas gefunden: Jetzt Gemeinschaft! Es kann nur alle geben.


AI: Jetzt Gemeinschaft! Es kann nur alle geben. MS: Institutionell hatte ich die Hoffnung, dass wir Wie ist dieses Thema im HyperWerk aufgenom- uns unserer gesellschaftlichen Funktionen und men worden? Möglichkeiten bewusster werden. Im Alltag gerät man in Gefahr, sich an technischen, formalen, proMS: Grundsätzlich wohl recht positiv. Wir hatten jektspezifischen oder auch theoretischen Details allerdings ein Grundproblem. Der Begriff Gemein- festzubeissen. In Jetzt Gemeinschaft! sah ich eine schaft ist im deutschsprachigen Raum immer noch Möglichkeit, wieder mehr an unserem Grundthema sehr stark von «Volksgemeinschaft», Propaganda zu arbeiten: Was sind die gestalterischen Möglichund Instrumentalisierung besetzt. «Community» keiten innerhalb der Beziehung von Technologie zu geht einfach über die Lippen – bei «Gemeinschaft» Gesellschaft? geraten wir ins Stocken. Individuell wünschte ich mir, dass die DiplomandEtwas kam noch dazu: Wir näherten uns mit ei- Innen ihre Projekte mit dem Jahresthema in Verbinner beobachtenden Haltung dem Thema an. Was dung bringen können. Das Jahresthema also nicht für Arten von Gemeinschaften lassen sich beob- als Verpflichtung empfinden, ein bestimmtes Thema achten? Was sind deren Eigenschaften? Erst dann abzuarbeiten, sondern als Möglichkeit wahrnehmen, kam: Wie kann man gestalterisch mit Gemein- die eigene Arbeit in ein Verhältnis zu sich und der schaften arbeiten? Wie kann man Gemeinschaften Welt zu stellen. Ich denke, dass sich beide Erwarentwickeln? Oft wurde das Thema so verstanden: tungen sehr gut erfüllt haben. Wir sind und bilden eine Gemeinschaft! Das war aber nicht die Fragestellung. Natürlich ist ein AI: Es folgte im Oktober 2012 eine Studienreise Jahresverband von Studierenden eine Gemein- nach Thessaloniki und Istanbul. Sind Themen davon schaft – aber darauf hatten wir nicht wirklich un- in die Diplomarbeiten von Studierenden geflossen? seren Fokus gelegt. MS: Bei der Reise ging es generell um die BeantAI: Inzwischen gibt es Ergebnisse in den verschie- wortung folgender Frage: Wie verhalten sich zivildensten Formaten. Magst Du sie kurz beschreiben? gesellschaftliche Gemeinschaften in der Situation der Krise in Thessaloniki und in dem explodierenMS: 21 Diplomprojekte, die hier vorliegende den Wachstum in Istanbul? Jetzt gibt es natürlich Diplompublikation, die Ausstellung, verschiedene Projekte, die sehr direkt an Erlebnissen in ThessaSeiten- und Folgeprojekte wie Enter Views on Cri- loniki und Istanbul ansetzen. sis – ein europäisches Projekt zu Krise und KreaAber wesentlicher scheint mir die Veränderung tivität. Ich möchte hier speziell ein Teilprojekt, den der Sichtweise. Was heisst Selbstorganisation? Wie Multiweblog zum Jahresthema (http://gemein- füllt man Freiräume? Wo ergeben sich Möglichkeischaft.hyperwerk.ch) nennen. Wir wollen mit die- ten, Lücken für das eigene Handeln zu nutzen? Was sem Blog die Vielfalt der Projekte und die Prozess- bedeutet Freundschaft, Vertrauen? Und vielleicht haftigkeit des Vorgehens zeigen. Es war uns von noch wesentlicher: Welchen Realitäten begegnen Beginn an klar, dass das Problem im Verhältnis wir? Wer hat die Macht über welche Produktion von Qualität und Quantität liegen wird. Erst ab von Realität? einer gewissen Menge von unterschiedlichen BeiWir waren an beiden Orten mit erfahrenen Jourträgen erhält Jetzt Gemeinschaft! ein Gesicht, und nalistinnen unterwegs – hier nochmals ein grosser die Prozesse werden nachvollziehbar. Erst dann Dank an Annita Mordechai in Thessaloniki und erhalten kleinere Beiträge und Randnotizen ihre Gabriele Ohl in Istanbul – und hatten Einblick in Bedeutung innerhalb des assoziativen Netzes. Das gänzlich unterschiedliche Realitäten. ist uns eigentlich gelungen – der Arbeitsaufwand dazu ist jedoch nicht zu unterschätzen. AI: Sind die Ergebnisse der Studierenden davon eher visueller oder narrativer Art? AI: Was hast Du Dir als Ergebnis zum Thema Gemeinschaft vorgestellt? Haben sich Deine Erwar- MS: Die Antworten dazu finden sich auf dem Webtungen erfüllt? log. Als Vorwegnahme: Die Studierenden reagier-

ten eher visuell, sie fotografierten und filmten. In diese visuellen Produkte sind natürlich Geschichten, Narrationen eingeschrieben. Der Umgang mit sprachlich formulierten Narrationen ist nicht einfach. Wir alle befinden uns mit Facebook und Blogs gerade auf der Suche nach neuen Formen, um mündlichen Geschichten eine adäquate schriftliche Form zu geben – näher am mündlichen Erzählen und trotzdem als Text lesbar. AI: Im Rahmen des Jahresthemas hat eine erste Zusammenarbeit mit dem Institut für Sprachkunst der Universität für Angewandete Kunst in Wien stattgefunden. Inwiefern hat sich das Thema in diesen Arbeiten etabliert? MS: Die Studierenden aus Wien haben einen sprachlich geprägten und damit zumeist auch narrativen Zugang zur Welt. Damit stehen ihnen ganz andere Möglichkeiten offen. Sie interessierten sich auch nicht gross für die Potenziale von Arbeitsgemeinschaften oder die Bewirtschaftung von Gemeingütern. Sie suchten stärker nach obskuren Gemeinschaften wie Sekten («Zungenabschneider»), Solidarität vortäuschenden Gemeinschaftsverkäufern («Happy Jack»), oder sie erfanden fiktive Jugendbewegungen. Die Sprache ist eine starke Waffe in der Analyse und beim Zerlegen von Zuständen. Das macht die Zusammenarbeit mit dem Institut für Sprachkunst so spannend – von uns die Medien, die aufbauende Aktion, und von Wien die Sprache und die Lust am Zerschneiden. Das ist jetzt natürlich vereinfacht dargestellt – aber die Richtung stimmt.

Austausches in archaischen Gesellschaften von Marcel Mauss, erstmals 1925 erschienen. Darin beschreibt Marcel Mauss die mélange, die Mischung von Dingen und Seelen, die beim Geben und Nehmen im Zentrum steht, die auch in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts erkennbar war und heute noch ist. Roberto Esposito bezieht sich in seiner Definition von Gemeinschaft ebenso auf Mauss wie David Graeber in seiner Auftrennung von Schuld als moralischer Dimension und Schulden als «virtuell-monetärer» Dimension. Einzig im Commons-Diskurs ist der Bezug nicht so offensichtlich. Das ist aber weniger eine inhaltliche Frage. In der gemeinsamen Bewirtschaftung und deren Verwaltung hat der Austausch eine zentrale Funktion. Die Gemeingüterfrage ist einfach immer noch sehr stark vom ökonomischen und juristischen Diskurs vereinnahmt. Wir beobachten momentan die verschiedensten Formen von Tausch als Bindeglieder zwischen Individuen, sowohl innerhalb von als auch zwischen Gemeinschaften. Überall beschäftigen sich Kooperationen mit Regeln, welche sich nicht oder nur sekundär monetär definieren. Das ist zumindest in unserem Arbeitsbereich immer häufiger anzutreffen. Die Erkenntnis daraus ist einfach: Wir wissen, dass wir an dieser Baustelle weiter arbeiten müssen und auch Aussicht auf eine produktive Arbeit haben.

AI: Immer wieder Theater. Im Finkenschlag, einer Aussenstation des Theaters Freiburg, fanden verschiedene Aktionen und Ausstellungen zum Thema Gemeinschaft statt. Wir dürfen ein Zitat von René Pollesch in dieser Publikation benutzen. AI: In einem Kolloquium fand während des Stu- Was kann die Institution Theater zur Gemeindienjahres ein theoretischer Diskurs statt. Welche schaftsbildung beitragen? Erkenntnisse sind ins Jahresthema eingeflossen? MS: Der Theaterraum definiert eine Gemeinschaft MS: Wir versuchten, die verschiedenen theore- und trennt sie zugleich. Alle sind in Ort und tischen Diskurse, den soziologisch-philosophi- Zeit Zeugen einer Geschichte. Doch da ist die schen zu Gemeinschaft, den ökonomisch-juris- Gemeinschaftstrennung zwischen Bühnenraum tisch und ökologisch geprägten zu Gemeingütern, und Zuschauerraum, überwunden wiederum durch und den aktuellen ökonomisch-politischen und den Chor, der uns Zuschauern eine Stimme gibt anthropologischen zu Geld, Schuld und Schulden und gerade dadurch diese Trennung im Auftritt zu verstehen und miteinander zu verzahnen. umso spürbarer macht. Als Schlüsselwerk kam überraschenderweise Wo lässt sich Gemeinschaft besser thematisieeine bestimmte theoretische Arbeit in allen Dis- ren als in diesem heterotopen Raum des Theaters? kursen vor – Die Gabe – Form und Funktion des Zur Gemeinschaftsbildung kann jedoch das


AI: Jetzt Gemeinschaft! Es kann nur alle geben. MS: Institutionell hatte ich die Hoffnung, dass wir Wie ist dieses Thema im HyperWerk aufgenom- uns unserer gesellschaftlichen Funktionen und men worden? Möglichkeiten bewusster werden. Im Alltag gerät man in Gefahr, sich an technischen, formalen, proMS: Grundsätzlich wohl recht positiv. Wir hatten jektspezifischen oder auch theoretischen Details allerdings ein Grundproblem. Der Begriff Gemein- festzubeissen. In Jetzt Gemeinschaft! sah ich eine schaft ist im deutschsprachigen Raum immer noch Möglichkeit, wieder mehr an unserem Grundthema sehr stark von «Volksgemeinschaft», Propaganda zu arbeiten: Was sind die gestalterischen Möglichund Instrumentalisierung besetzt. «Community» keiten innerhalb der Beziehung von Technologie zu geht einfach über die Lippen – bei «Gemeinschaft» Gesellschaft? geraten wir ins Stocken. Individuell wünschte ich mir, dass die DiplomandEtwas kam noch dazu: Wir näherten uns mit ei- Innen ihre Projekte mit dem Jahresthema in Verbinner beobachtenden Haltung dem Thema an. Was dung bringen können. Das Jahresthema also nicht für Arten von Gemeinschaften lassen sich beob- als Verpflichtung empfinden, ein bestimmtes Thema achten? Was sind deren Eigenschaften? Erst dann abzuarbeiten, sondern als Möglichkeit wahrnehmen, kam: Wie kann man gestalterisch mit Gemein- die eigene Arbeit in ein Verhältnis zu sich und der schaften arbeiten? Wie kann man Gemeinschaften Welt zu stellen. Ich denke, dass sich beide Erwarentwickeln? Oft wurde das Thema so verstanden: tungen sehr gut erfüllt haben. Wir sind und bilden eine Gemeinschaft! Das war aber nicht die Fragestellung. Natürlich ist ein AI: Es folgte im Oktober 2012 eine Studienreise Jahresverband von Studierenden eine Gemein- nach Thessaloniki und Istanbul. Sind Themen davon schaft – aber darauf hatten wir nicht wirklich un- in die Diplomarbeiten von Studierenden geflossen? seren Fokus gelegt. MS: Bei der Reise ging es generell um die BeantAI: Inzwischen gibt es Ergebnisse in den verschie- wortung folgender Frage: Wie verhalten sich zivildensten Formaten. Magst Du sie kurz beschreiben? gesellschaftliche Gemeinschaften in der Situation der Krise in Thessaloniki und in dem explodierenMS: 21 Diplomprojekte, die hier vorliegende den Wachstum in Istanbul? Jetzt gibt es natürlich Diplompublikation, die Ausstellung, verschiedene Projekte, die sehr direkt an Erlebnissen in ThessaSeiten- und Folgeprojekte wie Enter Views on Cri- loniki und Istanbul ansetzen. sis – ein europäisches Projekt zu Krise und KreaAber wesentlicher scheint mir die Veränderung tivität. Ich möchte hier speziell ein Teilprojekt, den der Sichtweise. Was heisst Selbstorganisation? Wie Multiweblog zum Jahresthema (http://gemein- füllt man Freiräume? Wo ergeben sich Möglichkeischaft.hyperwerk.ch) nennen. Wir wollen mit die- ten, Lücken für das eigene Handeln zu nutzen? Was sem Blog die Vielfalt der Projekte und die Prozess- bedeutet Freundschaft, Vertrauen? Und vielleicht haftigkeit des Vorgehens zeigen. Es war uns von noch wesentlicher: Welchen Realitäten begegnen Beginn an klar, dass das Problem im Verhältnis wir? Wer hat die Macht über welche Produktion von Qualität und Quantität liegen wird. Erst ab von Realität? einer gewissen Menge von unterschiedlichen BeiWir waren an beiden Orten mit erfahrenen Jourträgen erhält Jetzt Gemeinschaft! ein Gesicht, und nalistinnen unterwegs – hier nochmals ein grosser die Prozesse werden nachvollziehbar. Erst dann Dank an Annita Mordechai in Thessaloniki und erhalten kleinere Beiträge und Randnotizen ihre Gabriele Ohl in Istanbul – und hatten Einblick in Bedeutung innerhalb des assoziativen Netzes. Das gänzlich unterschiedliche Realitäten. ist uns eigentlich gelungen – der Arbeitsaufwand dazu ist jedoch nicht zu unterschätzen. AI: Sind die Ergebnisse der Studierenden davon eher visueller oder narrativer Art? AI: Was hast Du Dir als Ergebnis zum Thema Gemeinschaft vorgestellt? Haben sich Deine Erwar- MS: Die Antworten dazu finden sich auf dem Webtungen erfüllt? log. Als Vorwegnahme: Die Studierenden reagier-

ten eher visuell, sie fotografierten und filmten. In diese visuellen Produkte sind natürlich Geschichten, Narrationen eingeschrieben. Der Umgang mit sprachlich formulierten Narrationen ist nicht einfach. Wir alle befinden uns mit Facebook und Blogs gerade auf der Suche nach neuen Formen, um mündlichen Geschichten eine adäquate schriftliche Form zu geben – näher am mündlichen Erzählen und trotzdem als Text lesbar. AI: Im Rahmen des Jahresthemas hat eine erste Zusammenarbeit mit dem Institut für Sprachkunst der Universität für Angewandete Kunst in Wien stattgefunden. Inwiefern hat sich das Thema in diesen Arbeiten etabliert? MS: Die Studierenden aus Wien haben einen sprachlich geprägten und damit zumeist auch narrativen Zugang zur Welt. Damit stehen ihnen ganz andere Möglichkeiten offen. Sie interessierten sich auch nicht gross für die Potenziale von Arbeitsgemeinschaften oder die Bewirtschaftung von Gemeingütern. Sie suchten stärker nach obskuren Gemeinschaften wie Sekten («Zungenabschneider»), Solidarität vortäuschenden Gemeinschaftsverkäufern («Happy Jack»), oder sie erfanden fiktive Jugendbewegungen. Die Sprache ist eine starke Waffe in der Analyse und beim Zerlegen von Zuständen. Das macht die Zusammenarbeit mit dem Institut für Sprachkunst so spannend – von uns die Medien, die aufbauende Aktion, und von Wien die Sprache und die Lust am Zerschneiden. Das ist jetzt natürlich vereinfacht dargestellt – aber die Richtung stimmt.

Austausches in archaischen Gesellschaften von Marcel Mauss, erstmals 1925 erschienen. Darin beschreibt Marcel Mauss die mélange, die Mischung von Dingen und Seelen, die beim Geben und Nehmen im Zentrum steht, die auch in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts erkennbar war und heute noch ist. Roberto Esposito bezieht sich in seiner Definition von Gemeinschaft ebenso auf Mauss wie David Graeber in seiner Auftrennung von Schuld als moralischer Dimension und Schulden als «virtuell-monetärer» Dimension. Einzig im Commons-Diskurs ist der Bezug nicht so offensichtlich. Das ist aber weniger eine inhaltliche Frage. In der gemeinsamen Bewirtschaftung und deren Verwaltung hat der Austausch eine zentrale Funktion. Die Gemeingüterfrage ist einfach immer noch sehr stark vom ökonomischen und juristischen Diskurs vereinnahmt. Wir beobachten momentan die verschiedensten Formen von Tausch als Bindeglieder zwischen Individuen, sowohl innerhalb von als auch zwischen Gemeinschaften. Überall beschäftigen sich Kooperationen mit Regeln, welche sich nicht oder nur sekundär monetär definieren. Das ist zumindest in unserem Arbeitsbereich immer häufiger anzutreffen. Die Erkenntnis daraus ist einfach: Wir wissen, dass wir an dieser Baustelle weiter arbeiten müssen und auch Aussicht auf eine produktive Arbeit haben.

AI: Immer wieder Theater. Im Finkenschlag, einer Aussenstation des Theaters Freiburg, fanden verschiedene Aktionen und Ausstellungen zum Thema Gemeinschaft statt. Wir dürfen ein Zitat von René Pollesch in dieser Publikation benutzen. AI: In einem Kolloquium fand während des Stu- Was kann die Institution Theater zur Gemeindienjahres ein theoretischer Diskurs statt. Welche schaftsbildung beitragen? Erkenntnisse sind ins Jahresthema eingeflossen? MS: Der Theaterraum definiert eine Gemeinschaft MS: Wir versuchten, die verschiedenen theore- und trennt sie zugleich. Alle sind in Ort und tischen Diskurse, den soziologisch-philosophi- Zeit Zeugen einer Geschichte. Doch da ist die schen zu Gemeinschaft, den ökonomisch-juris- Gemeinschaftstrennung zwischen Bühnenraum tisch und ökologisch geprägten zu Gemeingütern, und Zuschauerraum, überwunden wiederum durch und den aktuellen ökonomisch-politischen und den Chor, der uns Zuschauern eine Stimme gibt anthropologischen zu Geld, Schuld und Schulden und gerade dadurch diese Trennung im Auftritt zu verstehen und miteinander zu verzahnen. umso spürbarer macht. Als Schlüsselwerk kam überraschenderweise Wo lässt sich Gemeinschaft besser thematisieeine bestimmte theoretische Arbeit in allen Dis- ren als in diesem heterotopen Raum des Theaters? kursen vor – Die Gabe – Form und Funktion des Zur Gemeinschaftsbildung kann jedoch das


Theater nichts beitragen; das ist gleich wie bei der Hoffnung auf eine gesellschaftsverändernde Funktion des Theaters. Theater ist Seismograph, und Theaterleute sind mitunter die besten Zeitgeistsurfer – das ist schon sehr viel. AI: Ausblick: Was von diesem Gemeinschaftsprozess ist in einen Forschungsdiskurs geflossen? MS: Wo beginnt Forschung? Wenn wir den Punkt formal bei der Antragstellung für Fördergelder setzen, dann ist die Antwort: Seit Mai 2013, seit unserem ersten Antrag für das vorhin erwähnte Projekt Enter Views on Crisis. Aber eigentlich beginnt die Forschung bei den ersten Gesprächen zu einem zukünftigen Jahresthema. Unser Institut lebt von der Vermengung von Entwurf, Analyse, Produktion und Gebrauch – Forschung ist ein nicht abzutrennender Teil dieser Arbeit. AI: Wo stösst der Begriff der Gemeinschaft als solcher an seine Grenzen? MS: Beim Versuch, Gemeinschaften aktiv bilden zu wollen. Gemeinschaften entstehen. Wir können sie verstehen. Wir können den Organisationsprozess sowie den Umgang mit den gemeinsamen Gütern teilweise unterstützen. Aber da bleibt ein poetischer Akt der Selbstorganisation oder der Autopoiesis – der kann nicht von aussen gesteuert werden. Sonst reden wir nicht über Gemeinschaft. AI: P.S. Was würdest Du David Graeber fragen, wenn er vor Dir sitzen würde? MS: Was ich in solchen Fällen immer tue: Ihn fragen, was er gerne trinken möchte. Mit dieser Gabe beginnt die Durchmischung! Und dann würde ich ihn wohl zu seinen Reiseerlebnissen befragen und Reiseerlebnisse mit ihm austauschen. Er war ja als junger Ethnologe in Madagaskar. Das ist sicher sehr interessant.

Studierende handeln auf dem Jahrmarkt von Senones das Jahresthema 2012 /13 aus.


Theater nichts beitragen; das ist gleich wie bei der Hoffnung auf eine gesellschaftsverändernde Funktion des Theaters. Theater ist Seismograph, und Theaterleute sind mitunter die besten Zeitgeistsurfer – das ist schon sehr viel. AI: Ausblick: Was von diesem Gemeinschaftsprozess ist in einen Forschungsdiskurs geflossen? MS: Wo beginnt Forschung? Wenn wir den Punkt formal bei der Antragstellung für Fördergelder setzen, dann ist die Antwort: Seit Mai 2013, seit unserem ersten Antrag für das vorhin erwähnte Projekt Enter Views on Crisis. Aber eigentlich beginnt die Forschung bei den ersten Gesprächen zu einem zukünftigen Jahresthema. Unser Institut lebt von der Vermengung von Entwurf, Analyse, Produktion und Gebrauch – Forschung ist ein nicht abzutrennender Teil dieser Arbeit. AI: Wo stösst der Begriff der Gemeinschaft als solcher an seine Grenzen? MS: Beim Versuch, Gemeinschaften aktiv bilden zu wollen. Gemeinschaften entstehen. Wir können sie verstehen. Wir können den Organisationsprozess sowie den Umgang mit den gemeinsamen Gütern teilweise unterstützen. Aber da bleibt ein poetischer Akt der Selbstorganisation oder der Autopoiesis – der kann nicht von aussen gesteuert werden. Sonst reden wir nicht über Gemeinschaft. AI: P.S. Was würdest Du David Graeber fragen, wenn er vor Dir sitzen würde? MS: Was ich in solchen Fällen immer tue: Ihn fragen, was er gerne trinken möchte. Mit dieser Gabe beginnt die Durchmischung! Und dann würde ich ihn wohl zu seinen Reiseerlebnissen befragen und Reiseerlebnisse mit ihm austauschen. Er war ja als junger Ethnologe in Madagaskar. Das ist sicher sehr interessant.

Studierende handeln auf dem Jahrmarkt von Senones das Jahresthema 2012 /13 aus.


Die fetten Jahre sind vorbei!

Paradigmenwechsel am Beispiel der Musikindustrie

04 Diplom Donat Kaufmann

DFJSV antwortet mit praktischen Lösungsansätzen, angesiedelt in der Musikindustrie, auf die Frage nach einer wirtschaftlichen Zukunft jenseits von Wachstum und Gewinnmaximierung. Als Gegengewicht zur Praxis dient eine Serie kurzer Essays, innerhalb derer Begriffe rund um die Postwachstumsökonomie ausgeleuchtet und zu meinem Vorgehen in Beziehung gesetzt werden.

Kontext – DFJSV liefert einen Beitrag zum Thema Alternatives Wirtschaften, indem es profitorientierten Prozessen die Idee des Tauschhandels gegenüberstellt. Darüber hinaus zeigt das Projekt den Umgang mit dem individuellen Handlungsspielraum innerhalb eines global operierenden Systems. Inhalt – DFJSV geht hervor aus einem Unbehagen in der Gegenwartskultur, vor dem Hintergrund eines kollabierenden Wirtschaftssystems. Dieses Unbehagen provozierte eine Auseinandersetzung mit Alternativen und mündete schliesslich in einen Impuls, einen gestalterischen Eingriff in mein Umfeld als Musiker. Im Zentrum des Interesses steht der Tauschhandel als zu erforschendes Finanzierungsmodell für junge Bands – gekoppelt an das Fernziel, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Geldflüsse sollen in den Hintergrund gedrängt werden, zugunsten menschlicher Beziehungen. Die Auseinandersetzung führte zur Entwicklung der Online-Tauschbörse Local Supervisor. Sie hat den Zweck, alternative Bezahlformen für Konzerte der Band One Sentence. Supervisor zu etablieren. LS bietet Besuchern die Möglichkeit, ihren Eintritt z.B. in Form von Konzertfotos oder selbstgebackenem Brot zu bezahlen, was einen starken Austausch zur Folge hat und neue Wege eröffnet, Wertschätzung auszudrücken. Parallel zur Entwicklung der Tauschbörse erarbeite ich mir theoretische Grundlagen zur Postwachstumsökonomie sowie zu den Begriffen der Subversion und der Sozialen Plastik. Sie dienen mir als Ausgangspunkte für Essays, die zum Ziel haben, das Projekt zu verorten und die durchlaufenen Prozesse zu schildern und zu reflektieren.

Produkt – DFJSV umfasst Theorie und Praxis. Der praktische Teil des Produkts entspricht der Tauschbörse Local Supervisor, der theoretische ist zusammengefasst in den Essays, die im Anschluss publiziert werden. Gemeinschaft – DFJSV wirkt gemeinschaftsstiftend, indem es Situationen schafft, die Musiker und Publikum einander auf Augenhöhe begegnen lassen. Ursache dafür ist die Reduktion der Geldflüsse. Sie hat zur Folge, dass Beziehungsnetze neu definiert werden, da Geld als Platzhalter für die zwischenmenschliche Beziehung entfällt. Coaches – Anka Semmig, Marc Krebs Kontakt – donat.kaufmann@hyperwerk.ch, www.localsupervisor.ch Team und Dank – Ralf Neubauer, Robin Oster, Dominik Meuter, Kris McGovern


Die fetten Jahre sind vorbei!

Paradigmenwechsel am Beispiel der Musikindustrie

04 Diplom Donat Kaufmann

DFJSV antwortet mit praktischen Lösungsansätzen, angesiedelt in der Musikindustrie, auf die Frage nach einer wirtschaftlichen Zukunft jenseits von Wachstum und Gewinnmaximierung. Als Gegengewicht zur Praxis dient eine Serie kurzer Essays, innerhalb derer Begriffe rund um die Postwachstumsökonomie ausgeleuchtet und zu meinem Vorgehen in Beziehung gesetzt werden.

Kontext – DFJSV liefert einen Beitrag zum Thema Alternatives Wirtschaften, indem es profitorientierten Prozessen die Idee des Tauschhandels gegenüberstellt. Darüber hinaus zeigt das Projekt den Umgang mit dem individuellen Handlungsspielraum innerhalb eines global operierenden Systems. Inhalt – DFJSV geht hervor aus einem Unbehagen in der Gegenwartskultur, vor dem Hintergrund eines kollabierenden Wirtschaftssystems. Dieses Unbehagen provozierte eine Auseinandersetzung mit Alternativen und mündete schliesslich in einen Impuls, einen gestalterischen Eingriff in mein Umfeld als Musiker. Im Zentrum des Interesses steht der Tauschhandel als zu erforschendes Finanzierungsmodell für junge Bands – gekoppelt an das Fernziel, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Geldflüsse sollen in den Hintergrund gedrängt werden, zugunsten menschlicher Beziehungen. Die Auseinandersetzung führte zur Entwicklung der Online-Tauschbörse Local Supervisor. Sie hat den Zweck, alternative Bezahlformen für Konzerte der Band One Sentence. Supervisor zu etablieren. LS bietet Besuchern die Möglichkeit, ihren Eintritt z.B. in Form von Konzertfotos oder selbstgebackenem Brot zu bezahlen, was einen starken Austausch zur Folge hat und neue Wege eröffnet, Wertschätzung auszudrücken. Parallel zur Entwicklung der Tauschbörse erarbeite ich mir theoretische Grundlagen zur Postwachstumsökonomie sowie zu den Begriffen der Subversion und der Sozialen Plastik. Sie dienen mir als Ausgangspunkte für Essays, die zum Ziel haben, das Projekt zu verorten und die durchlaufenen Prozesse zu schildern und zu reflektieren.

Produkt – DFJSV umfasst Theorie und Praxis. Der praktische Teil des Produkts entspricht der Tauschbörse Local Supervisor, der theoretische ist zusammengefasst in den Essays, die im Anschluss publiziert werden. Gemeinschaft – DFJSV wirkt gemeinschaftsstiftend, indem es Situationen schafft, die Musiker und Publikum einander auf Augenhöhe begegnen lassen. Ursache dafür ist die Reduktion der Geldflüsse. Sie hat zur Folge, dass Beziehungsnetze neu definiert werden, da Geld als Platzhalter für die zwischenmenschliche Beziehung entfällt. Coaches – Anka Semmig, Marc Krebs Kontakt – donat.kaufmann@hyperwerk.ch, www.localsupervisor.ch Team und Dank – Ralf Neubauer, Robin Oster, Dominik Meuter, Kris McGovern


Ich bin selbst Frage genug 05

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Ich bin selbst Frage genug 05

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Das Manifest

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Das Manifest

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Ein Zelt geteilter Träume 07

Das Projekt Festival Nomad hat das Ziel, mit eigenen Projekten und Ressourcen partizipative Festivals zu unterstützen und zu bereichern. Die Beiträge regen zum spielerischen Austausch über alltagsrelevante Themen an und schlagen somit eine Brücke zwischen diesen zwei Welten.

Kontext – Mein Projekt bewegt sich im Umfeld partizipativer Kreativfestivals. Solche Events versuchen, die Besucher anzuregen, ein Teil des Geschehens zu werden und aktiv am Gestaltungsprozess mitzuwirken. Sie bieten Raum zur persönlichen und kollektiven Entfaltung der eigenen Kreativität und Kommunikation. Inhalt – Im Verlauf meiner Arbeit habe ich mich in das Thema Traum mit Schwerpunkt auf das luzide Träumen vertieft. Der Traum schien mir ein geeignetes Werkzeug zu sein, um die Welt der Festivals mit dem Alltag zu verbinden, da der Traum allen Menschen täglich zugänglich ist. Vor allem im Zustand des luziden Träumens kann man seine Realität frei nach der eigenen Phantasie gestalten. Somit hat jeder Mensch auch im Alltag die Möglichkeit, einen solchen Kreativraum zu betreten. Mein Hauptanliegen mit Festival Nomad bestand darin, einen intimen Raum zu schaffen, der dazu einlädt, sich über das Träumen auszutauschen und mehr darüber zu erfahren, es sogar vor Ort durch verschiedene Techniken auszuprobieren. Der Austausch der Erfahrungen soll auf unterschiedliche Weisen möglich sein, da jeder Besucher andere Vorlieben und Ausdrucksmöglichkeiten hat. Durch Gespräche, durch das Herstellen von Bildern und abstrakten Symbolen sowie durch das Aufschreiben von Erfahrungen kann direkte, aber auch indirekte Interaktion entstehen. Produkt – Aus meiner persönlichen Traumarbeit kristallisierte sich die Idee eines Traumzeltes heraus. Das Herzstück bildet ein im Zelt angebrachter Schattenbildprojektor. Die Installation ist eigens für dieses Projekt entworfen und hergestellt worden. Der Projektor projiziert Lichtbilder an die Wand, die von den Besuchern selbst als Auseinandersetzung mit ihren Träumen und inneren Bildern hergestellt werden.

Diplom David Baur

Gemeinschaft – Festival Nomad ist an sich eine offene Gemeinschaft, die eigene Ideen und Ansichten in das grössere Umfeld der Festivalgemeinschaft einbringt und somit diese Realität mitgestaltet. Diese bietet eine Plattform, um gängige Umgangsformen zu hinterfragen und neue Wege des Zusammenlebens zu erforschen. Coaches – Max Spielmann, Jonas Mettler Kontakt – david.baur@hyperwerk.ch festivalnomad.ch Team und Dank – Herzlichen Dank für die hilfreiche Mitarbeit: meinem Diplomassistenten Kevin Renz; dem partizipierenden Projekt SunBun von Georg Egli; sowie Tobias, Nathalie, Sandra, Daniel, Gabriel, Fabian und allen anderen, die mir durch interessante Gespräche und Inputs weitergeholfen haben.


Ein Zelt geteilter Träume 07

Das Projekt Festival Nomad hat das Ziel, mit eigenen Projekten und Ressourcen partizipative Festivals zu unterstützen und zu bereichern. Die Beiträge regen zum spielerischen Austausch über alltagsrelevante Themen an und schlagen somit eine Brücke zwischen diesen zwei Welten.

Kontext – Mein Projekt bewegt sich im Umfeld partizipativer Kreativfestivals. Solche Events versuchen, die Besucher anzuregen, ein Teil des Geschehens zu werden und aktiv am Gestaltungsprozess mitzuwirken. Sie bieten Raum zur persönlichen und kollektiven Entfaltung der eigenen Kreativität und Kommunikation. Inhalt – Im Verlauf meiner Arbeit habe ich mich in das Thema Traum mit Schwerpunkt auf das luzide Träumen vertieft. Der Traum schien mir ein geeignetes Werkzeug zu sein, um die Welt der Festivals mit dem Alltag zu verbinden, da der Traum allen Menschen täglich zugänglich ist. Vor allem im Zustand des luziden Träumens kann man seine Realität frei nach der eigenen Phantasie gestalten. Somit hat jeder Mensch auch im Alltag die Möglichkeit, einen solchen Kreativraum zu betreten. Mein Hauptanliegen mit Festival Nomad bestand darin, einen intimen Raum zu schaffen, der dazu einlädt, sich über das Träumen auszutauschen und mehr darüber zu erfahren, es sogar vor Ort durch verschiedene Techniken auszuprobieren. Der Austausch der Erfahrungen soll auf unterschiedliche Weisen möglich sein, da jeder Besucher andere Vorlieben und Ausdrucksmöglichkeiten hat. Durch Gespräche, durch das Herstellen von Bildern und abstrakten Symbolen sowie durch das Aufschreiben von Erfahrungen kann direkte, aber auch indirekte Interaktion entstehen. Produkt – Aus meiner persönlichen Traumarbeit kristallisierte sich die Idee eines Traumzeltes heraus. Das Herzstück bildet ein im Zelt angebrachter Schattenbildprojektor. Die Installation ist eigens für dieses Projekt entworfen und hergestellt worden. Der Projektor projiziert Lichtbilder an die Wand, die von den Besuchern selbst als Auseinandersetzung mit ihren Träumen und inneren Bildern hergestellt werden.

Diplom David Baur

Gemeinschaft – Festival Nomad ist an sich eine offene Gemeinschaft, die eigene Ideen und Ansichten in das grössere Umfeld der Festivalgemeinschaft einbringt und somit diese Realität mitgestaltet. Diese bietet eine Plattform, um gängige Umgangsformen zu hinterfragen und neue Wege des Zusammenlebens zu erforschen. Coaches – Max Spielmann, Jonas Mettler Kontakt – david.baur@hyperwerk.ch festivalnomad.ch Team und Dank – Herzlichen Dank für die hilfreiche Mitarbeit: meinem Diplomassistenten Kevin Renz; dem partizipierenden Projekt SunBun von Georg Egli; sowie Tobias, Nathalie, Sandra, Daniel, Gabriel, Fabian und allen anderen, die mir durch interessante Gespräche und Inputs weitergeholfen haben.


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Fremd in der Stadt

Wenn wir nicht in unserem gewohnten Umfeld sind, beginnen wir, Dinge zu bebildern oder so aufzuzeichnen, dass sie zu Erinnerungsstücken werden. Zu solchen, die sich in die Zukunft übermitteln lassen. Was geschieht, wenn 50 junge Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt gemeinsam eine Ausstellung ausrichten? Diese Frage stellte sich uns in Thessaloniki. Und die Antworten, die wir mittendrin erhielten, stimmten nachdenklich. War es nicht so, als hätte die Zukunft schon stattgefunden? Als würde sich das Rad der Zeit rückwärts drehen? Was bleibt? Ein blinder Fleck. Und unsere Bilder. Fremde in der Stadt.

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Fremd in der Stadt

Wenn wir nicht in unserem gewohnten Umfeld sind, beginnen wir, Dinge zu bebildern oder so aufzuzeichnen, dass sie zu Erinnerungsstücken werden. Zu solchen, die sich in die Zukunft übermitteln lassen. Was geschieht, wenn 50 junge Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt gemeinsam eine Ausstellung ausrichten? Diese Frage stellte sich uns in Thessaloniki. Und die Antworten, die wir mittendrin erhielten, stimmten nachdenklich. War es nicht so, als hätte die Zukunft schon stattgefunden? Als würde sich das Rad der Zeit rückwärts drehen? Was bleibt? Ein blinder Fleck. Und unsere Bilder. Fremde in der Stadt.

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Gemeinschaft!

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Verschont uns. Gemeinschaft. Ganz alleine stehend scheint das Wort in sich zu ruhen. Das Schriftbild? Vorne und hinten hoch, in der Mitte eine Mulde. So stellt der Begriff keine Forderung. Es zieht ihn in keine Richtung. Er ist mit nichts besetzt. So eignet er sich für die Beschreibung eines Zustandes. In Franz Kafkas Prosastück Gemeinschaft treten fünf Personen hintereinander aus einem Haus. Ein Zufall. Es ist ihnen nichts gemein. Doch mit der Beschreibung durch Aussenstehende ändert sich alles: «Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen.» Was ändert sich? Die fünf beginnen, zusammen zu leben. Vielleicht lebten sie schon früher zusammen. Sie waren aus demselben Haus gekommen. Nun nehmen sie sich als Gemeinschaft wahr. Durch wen? Durch die Zuschreibenden? Ja. Aber auch durch die sechste Person, von der sich die fünf abgrenzen. In der Abgrenzung erschliesst sich diese Gemeinschaft. Die fünf nehmen sich jetzt als Gemeinschaft wahr. Der Begriff Gemeinschaft verliert seine Unschuld, und es stehen Forderungen im Raum. Die Forderung, Gemeinschaft nach innen zu sein, und die Forderung, sich als Gemeinschaft nach aussen abzugrenzen. Seid Gemeinschaft! Wir, die Fünf, Familie Müller, die Pfingstadventisten, der Turnverein, die Rockband, die Yogagruppe, das Skilager, die Wandergruppe, die Arbeitsgenossenschaft oder gar der Jagdverein. Ein Schritt von unausgesprochen Gelebtem, einem Teil der Lebenswelt, zum ausgesprochenen Definierten, einem Teil des gesellschaftlichen Systems. Die Gemeinschaft der Fünf ist jetzt definiert, sie wird mit Eigenschaften versehen. «In Wahrheit vereint all diese Konzeptionen die unreflektierte Voraussetzung, dass die Gemeinschaft eine ‹Eigenschaft› – proprietà – der in ihr zusammengeführten Subjekte sei: ein Attribut, eine Bestimmung, ein Prädikat, das sie als ein und

derselben Gesamtheit zugehörig auszeichnet. Oder auch eine durch ihre Union erzeugte ‹Substanz›. In jedem Fall wird sie als eine Qualität begriffen, die zu ihrer Natur als Subjekt hinzutritt und sie zu Subjekten auch von Gemeinschaft macht. Zu mehr Subjekten. Subjekten einer Wesenheit, die grösser, höherstehend oder gar besser ist als die einfache individuelle Identität – die aber dennoch in jener entspringt und letztendlich deren Spiegelbild ist.» (Esposito 2004a, 8) Die Forderung nach Gemeinschaft und die Zuschreibung von Eigenschaften sind zwei Elemente, die aus dem in sich ruhenden Begriff Gemeinschaft ein soziales, ein politisches oder ein gesellschaftliches Projekt machen. In diesem Prozess dringt eine «Eigenschaft» in den «Körper» einer Gruppe ein, bemächtigt sich ihrer, und die GEMEINSCHAFT entsteht. Gross geschrieben, ohne Mulde – keinesfalls in sich ruhend. Fatal ist nur, dass dieser Prozess weg von Gemeinschaft führt und den Raum öffnet für alle möglichen Instrumentalisierungen, für Projektionen, für utopische Projekte, für politische Forderungen und religiöse Heilsversprechen. Für Zwang und Eingrenzung bis hin zu moralischen Imperativen. Sei gut, sei brav, sei Gemeinschaft! Wird Gemeinschaft nicht als Teil der konkreten Lebenswelt verstanden, wird der Begriff zur Hydra – gegen die Begriffsdeutungen lässt sich nicht mehr ankämpfen, jede Auseinandersetzung führt zu neuen Verzerrungen. Roberto Esposito arbeitet wohl deshalb in Communitas den Begriff Gemeinschaft konsequent etymologisch ab. Im Zentrum des Wortes communitas steht munus. Das Wort hat mehrere Bedeutungen. Es meint sowohl Pflicht als auch Amt. «Wie uns die komplexe, aber zugleich eindeutige Etymologie, die wir beigezogen haben, anzeigt, ist das munus, das die communitas miteinander teilt, weder ein Eigentum noch eine


Gemeinschaft!

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Verschont uns. Gemeinschaft. Ganz alleine stehend scheint das Wort in sich zu ruhen. Das Schriftbild? Vorne und hinten hoch, in der Mitte eine Mulde. So stellt der Begriff keine Forderung. Es zieht ihn in keine Richtung. Er ist mit nichts besetzt. So eignet er sich für die Beschreibung eines Zustandes. In Franz Kafkas Prosastück Gemeinschaft treten fünf Personen hintereinander aus einem Haus. Ein Zufall. Es ist ihnen nichts gemein. Doch mit der Beschreibung durch Aussenstehende ändert sich alles: «Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen.» Was ändert sich? Die fünf beginnen, zusammen zu leben. Vielleicht lebten sie schon früher zusammen. Sie waren aus demselben Haus gekommen. Nun nehmen sie sich als Gemeinschaft wahr. Durch wen? Durch die Zuschreibenden? Ja. Aber auch durch die sechste Person, von der sich die fünf abgrenzen. In der Abgrenzung erschliesst sich diese Gemeinschaft. Die fünf nehmen sich jetzt als Gemeinschaft wahr. Der Begriff Gemeinschaft verliert seine Unschuld, und es stehen Forderungen im Raum. Die Forderung, Gemeinschaft nach innen zu sein, und die Forderung, sich als Gemeinschaft nach aussen abzugrenzen. Seid Gemeinschaft! Wir, die Fünf, Familie Müller, die Pfingstadventisten, der Turnverein, die Rockband, die Yogagruppe, das Skilager, die Wandergruppe, die Arbeitsgenossenschaft oder gar der Jagdverein. Ein Schritt von unausgesprochen Gelebtem, einem Teil der Lebenswelt, zum ausgesprochenen Definierten, einem Teil des gesellschaftlichen Systems. Die Gemeinschaft der Fünf ist jetzt definiert, sie wird mit Eigenschaften versehen. «In Wahrheit vereint all diese Konzeptionen die unreflektierte Voraussetzung, dass die Gemeinschaft eine ‹Eigenschaft› – proprietà – der in ihr zusammengeführten Subjekte sei: ein Attribut, eine Bestimmung, ein Prädikat, das sie als ein und

derselben Gesamtheit zugehörig auszeichnet. Oder auch eine durch ihre Union erzeugte ‹Substanz›. In jedem Fall wird sie als eine Qualität begriffen, die zu ihrer Natur als Subjekt hinzutritt und sie zu Subjekten auch von Gemeinschaft macht. Zu mehr Subjekten. Subjekten einer Wesenheit, die grösser, höherstehend oder gar besser ist als die einfache individuelle Identität – die aber dennoch in jener entspringt und letztendlich deren Spiegelbild ist.» (Esposito 2004a, 8) Die Forderung nach Gemeinschaft und die Zuschreibung von Eigenschaften sind zwei Elemente, die aus dem in sich ruhenden Begriff Gemeinschaft ein soziales, ein politisches oder ein gesellschaftliches Projekt machen. In diesem Prozess dringt eine «Eigenschaft» in den «Körper» einer Gruppe ein, bemächtigt sich ihrer, und die GEMEINSCHAFT entsteht. Gross geschrieben, ohne Mulde – keinesfalls in sich ruhend. Fatal ist nur, dass dieser Prozess weg von Gemeinschaft führt und den Raum öffnet für alle möglichen Instrumentalisierungen, für Projektionen, für utopische Projekte, für politische Forderungen und religiöse Heilsversprechen. Für Zwang und Eingrenzung bis hin zu moralischen Imperativen. Sei gut, sei brav, sei Gemeinschaft! Wird Gemeinschaft nicht als Teil der konkreten Lebenswelt verstanden, wird der Begriff zur Hydra – gegen die Begriffsdeutungen lässt sich nicht mehr ankämpfen, jede Auseinandersetzung führt zu neuen Verzerrungen. Roberto Esposito arbeitet wohl deshalb in Communitas den Begriff Gemeinschaft konsequent etymologisch ab. Im Zentrum des Wortes communitas steht munus. Das Wort hat mehrere Bedeutungen. Es meint sowohl Pflicht als auch Amt. «Wie uns die komplexe, aber zugleich eindeutige Etymologie, die wir beigezogen haben, anzeigt, ist das munus, das die communitas miteinander teilt, weder ein Eigentum noch eine


Zugehörigkeit. Es ist kein Haben, sondern im Gegenteil eine Schuld, ein Pfand, eine zu-gebende-Gabe. Und somit dasjenige, was ein Fehlen hervorrufen wird, im Begriff ist, ein Fehlen zu werden, es potentiell schon ist. Die Subjekte der Gemeinschaft sind durch ‹Schulden› vereint – in dem Sinne, wie man sagt: Ich schulde dir etwas», aber nicht ‹Du schuldest mir etwas› – das sie nicht vollständig Herren ihrer selbst sein lässt.» (Esposito 2004a, 16)

Das Nehmen als Zwang zum Geben, die Durchmischung von Sozialem und Materiellem ist in das MitSein, die Gemeinschaft existenziell eingebunden.

«Das munus ist die Verpflichtung, die man gegenüber dem anderen eingegangen ist und die zu angemessener Entpflichtung mahnt. Die Dankesschuld, die neuerliches Geben einfordert.» (Esposito 2004/1, 14) Wohin führt uns das? Zunächst ins Mittelalter oder in die Agrargesellschaft, in ein bäuerliches System von gegenseitigen Verpflichtungen. Der romantisch besetzte Alpenraum leuchtet uns entgegen. Die gemeinsamen Allmenden, die Alpen (oder Almen), der gemeinsame Wald, das gemeinsame Wasser, aber auch die allgegenwärtigen verwandtschaftlichen Beziehungssysteme, verknüpft mit materiellen und immateriellen Gütern. Aber interessanterweise landen wir auch in der Gegenwart – besser gesagt, bei der aufkommenden nächsten Gesellschaft. In den sozialen Medien, im Carsharing, in FabLabs, in einer fragmentierten Gesellschaft, zusammengehalten durch Netze von Verpflichtungen. Diese Bilder sind ebenfalls besetzt – vielleicht nicht wirklich romantisch, letztlich auch nicht utopisch. Positivistisch gesehen: einfach mit der Neugierde auf das Zukünftige besetzt. Kulturpessimistisch gesehen: getragen von den Ängsten vor einer hedonistischen Gesellschaft, die langsam auf den Abgrund zusteuert. Vielleicht müssen wir genauer lesen und einen Schritt zur Seite tun. Denn all diese genannten

Bilder führen unweigerlich zu den Diskussionen vom «Verlust der Gemeinschaft» und damit genau zu derjenigen Hydra, von der wir wegkommen wollten. Die Diskussion wird seit Ferdinand Tönnies’ grundlegendem Werk Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) geführt, und sie ist mit der Zeit nicht besser geworden. Die Industrialisierung, die Globalisierung zerstören die Gemeinschaften, so der Grundtenor. Gemeinschaft ist auch hier Forderung, mit einer Eigenschaft besetzt, die es zu erreichen gilt, dass sie sich vom Rest der Gesellschaft abhebt oder sich dem «System» entgegenstellt. Und damit ist der gesamte Diskurs faul, er missachtet die fundamentale Tatsache, dass der Mensch ein soziales Wesen ist – dass das MitSein, die Gemeinschaft ständig erfahren wird. Sie wird nicht gemacht, sie ist als solche. «Man kann (die Gemeinschaft) nicht herstellen, man erfährt sie (oder die Erfahrung macht uns aus).» (Nancy 1988, 69) Also: nochmals Roberto Esposito genauer lesen. Da steht Folgendes: «Ich schulde dir etwas!» Ab wann hat die Dankesschuld, die ein neuerliches Geben bedingt, ihre Bedeutung? Die Frage leitet sich bei Esposito von Marcel Mauss’ Werk Die Gabe ab und führt direkt zurück: «Man mischt die Seelen unter die Dinge, man mischt die Dinge unter die Seelen. Man mischt die Leben, und siehe da: jede der miteinander vermischten Personen und Sachen tritt aus ihrer Sphäre heraus und mischt sich von neuem: dies genau ist der Vertrag und der Austausch.» (Mauss 1978, 39) Das Nehmen als Zwang zum Geben, die Durchmischung von Sozialem und Materiellem ist in das Mit-Sein, die Gemeinschaft existenziell eingebunden. «Deshalb kann die Gemeinschaft nicht als ein Körper, eine Korporation gedacht werden, worin die Individuen zu einem grösseren Individuum verschmelzen. Ebensowenig aber kann sie als ein gegenseitiges intersubjektives ‹Erkennen› verstanden werden, worin sie sich zur Bestätigung ihrer anfänglichen Identität spiegeln. Als ein kollektives Band, das irgendwann auf den Plan trat, um vor dem getrennte Individuen miteinander zu verbinden. Die Gemeinschaft ist kein Modus des Seins – oder ebensowenig des ‹Tuns› – des individuellen Subjekts. Sie ist nicht sein Wuchern, seine

Vervielfältigung. Sondern seine Exposition gegenüber dem, was seine Abgeschlossenheit unterbricht und es nach aussen kehrt – ein Strudel, eine Synkope, ein Spasmus in der Kontinuität des Subjekts.» (Esposito 2004a, 17f) Mit dem simplen «Gehen wir heute abend gemeinsam ins Kino?», dem Bezahlen einer Runde gemeinsam getrunkener Getränke fängt alles an. «Das nächste Mal zahle dann ich!» Verschont uns mit der Forderung nach Gemeinschaft! Verschont uns aber nicht mit Fragen wie: Wie funktionieren Gemeinschaften? Wie gehen wir mit gemeinsamen Gütern um? Welche Regeln entwickeln und benutzen wir? Wie hängen Schuld und Schulden zusammen? Dazu Jetzt Gemeinschaft! Es kann nur alle geben. Max Spielmann

Literatur Böckelmann, Janine; Morgenroth, Claas (Hg.): Politik der Gemeinschaft. Bielefeld, 2008. Därmann, Iris: Theorien der Gabe. Hamburg, 2010. Esposito, Roberto: Communitas. Berlin, 2004a. Esposito, Roberto: Immunitas.. Berlin, 2004b. Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. In: ders.: Soziologie und Anthropologie. Bd. II. Hg. Wolf Lepenies/ Henning Ritter. Frankfurt am Main/Berlin/Wien, 1978. Kafka, Franz: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa aus dem Nachlass. Frankfurt am Main, 2010, S. 373. Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft. Stuttgart, 1988. Nancy, Jean-Luc: Singulär plural sein. Zürich, 2012. Rosa, Hartmut (Hg.): Theorien der Gemeinschaft. Hamburg, 2010. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischen Culturformen. Berlin, 1887. Nachdruck Darmstadt, 1991. Woznicki, Krystian: Wer hat Angst vor Gemeinschaft? Berlin, 2009.


Zugehörigkeit. Es ist kein Haben, sondern im Gegenteil eine Schuld, ein Pfand, eine zu-gebende-Gabe. Und somit dasjenige, was ein Fehlen hervorrufen wird, im Begriff ist, ein Fehlen zu werden, es potentiell schon ist. Die Subjekte der Gemeinschaft sind durch ‹Schulden› vereint – in dem Sinne, wie man sagt: Ich schulde dir etwas», aber nicht ‹Du schuldest mir etwas› – das sie nicht vollständig Herren ihrer selbst sein lässt.» (Esposito 2004a, 16)

Das Nehmen als Zwang zum Geben, die Durchmischung von Sozialem und Materiellem ist in das MitSein, die Gemeinschaft existenziell eingebunden.

«Das munus ist die Verpflichtung, die man gegenüber dem anderen eingegangen ist und die zu angemessener Entpflichtung mahnt. Die Dankesschuld, die neuerliches Geben einfordert.» (Esposito 2004/1, 14) Wohin führt uns das? Zunächst ins Mittelalter oder in die Agrargesellschaft, in ein bäuerliches System von gegenseitigen Verpflichtungen. Der romantisch besetzte Alpenraum leuchtet uns entgegen. Die gemeinsamen Allmenden, die Alpen (oder Almen), der gemeinsame Wald, das gemeinsame Wasser, aber auch die allgegenwärtigen verwandtschaftlichen Beziehungssysteme, verknüpft mit materiellen und immateriellen Gütern. Aber interessanterweise landen wir auch in der Gegenwart – besser gesagt, bei der aufkommenden nächsten Gesellschaft. In den sozialen Medien, im Carsharing, in FabLabs, in einer fragmentierten Gesellschaft, zusammengehalten durch Netze von Verpflichtungen. Diese Bilder sind ebenfalls besetzt – vielleicht nicht wirklich romantisch, letztlich auch nicht utopisch. Positivistisch gesehen: einfach mit der Neugierde auf das Zukünftige besetzt. Kulturpessimistisch gesehen: getragen von den Ängsten vor einer hedonistischen Gesellschaft, die langsam auf den Abgrund zusteuert. Vielleicht müssen wir genauer lesen und einen Schritt zur Seite tun. Denn all diese genannten

Bilder führen unweigerlich zu den Diskussionen vom «Verlust der Gemeinschaft» und damit genau zu derjenigen Hydra, von der wir wegkommen wollten. Die Diskussion wird seit Ferdinand Tönnies’ grundlegendem Werk Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) geführt, und sie ist mit der Zeit nicht besser geworden. Die Industrialisierung, die Globalisierung zerstören die Gemeinschaften, so der Grundtenor. Gemeinschaft ist auch hier Forderung, mit einer Eigenschaft besetzt, die es zu erreichen gilt, dass sie sich vom Rest der Gesellschaft abhebt oder sich dem «System» entgegenstellt. Und damit ist der gesamte Diskurs faul, er missachtet die fundamentale Tatsache, dass der Mensch ein soziales Wesen ist – dass das MitSein, die Gemeinschaft ständig erfahren wird. Sie wird nicht gemacht, sie ist als solche. «Man kann (die Gemeinschaft) nicht herstellen, man erfährt sie (oder die Erfahrung macht uns aus).» (Nancy 1988, 69) Also: nochmals Roberto Esposito genauer lesen. Da steht Folgendes: «Ich schulde dir etwas!» Ab wann hat die Dankesschuld, die ein neuerliches Geben bedingt, ihre Bedeutung? Die Frage leitet sich bei Esposito von Marcel Mauss’ Werk Die Gabe ab und führt direkt zurück: «Man mischt die Seelen unter die Dinge, man mischt die Dinge unter die Seelen. Man mischt die Leben, und siehe da: jede der miteinander vermischten Personen und Sachen tritt aus ihrer Sphäre heraus und mischt sich von neuem: dies genau ist der Vertrag und der Austausch.» (Mauss 1978, 39) Das Nehmen als Zwang zum Geben, die Durchmischung von Sozialem und Materiellem ist in das Mit-Sein, die Gemeinschaft existenziell eingebunden. «Deshalb kann die Gemeinschaft nicht als ein Körper, eine Korporation gedacht werden, worin die Individuen zu einem grösseren Individuum verschmelzen. Ebensowenig aber kann sie als ein gegenseitiges intersubjektives ‹Erkennen› verstanden werden, worin sie sich zur Bestätigung ihrer anfänglichen Identität spiegeln. Als ein kollektives Band, das irgendwann auf den Plan trat, um vor dem getrennte Individuen miteinander zu verbinden. Die Gemeinschaft ist kein Modus des Seins – oder ebensowenig des ‹Tuns› – des individuellen Subjekts. Sie ist nicht sein Wuchern, seine

Vervielfältigung. Sondern seine Exposition gegenüber dem, was seine Abgeschlossenheit unterbricht und es nach aussen kehrt – ein Strudel, eine Synkope, ein Spasmus in der Kontinuität des Subjekts.» (Esposito 2004a, 17f) Mit dem simplen «Gehen wir heute abend gemeinsam ins Kino?», dem Bezahlen einer Runde gemeinsam getrunkener Getränke fängt alles an. «Das nächste Mal zahle dann ich!» Verschont uns mit der Forderung nach Gemeinschaft! Verschont uns aber nicht mit Fragen wie: Wie funktionieren Gemeinschaften? Wie gehen wir mit gemeinsamen Gütern um? Welche Regeln entwickeln und benutzen wir? Wie hängen Schuld und Schulden zusammen? Dazu Jetzt Gemeinschaft! Es kann nur alle geben. Max Spielmann

Literatur Böckelmann, Janine; Morgenroth, Claas (Hg.): Politik der Gemeinschaft. Bielefeld, 2008. Därmann, Iris: Theorien der Gabe. Hamburg, 2010. Esposito, Roberto: Communitas. Berlin, 2004a. Esposito, Roberto: Immunitas.. Berlin, 2004b. Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. In: ders.: Soziologie und Anthropologie. Bd. II. Hg. Wolf Lepenies/ Henning Ritter. Frankfurt am Main/Berlin/Wien, 1978. Kafka, Franz: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa aus dem Nachlass. Frankfurt am Main, 2010, S. 373. Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft. Stuttgart, 1988. Nancy, Jean-Luc: Singulär plural sein. Zürich, 2012. Rosa, Hartmut (Hg.): Theorien der Gemeinschaft. Hamburg, 2010. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischen Culturformen. Berlin, 1887. Nachdruck Darmstadt, 1991. Woznicki, Krystian: Wer hat Angst vor Gemeinschaft? Berlin, 2009.


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Etienne Blatz, Linolschnitt, 2013 (Workshop Druckwerkstatt)

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Etienne Blatz, Linolschnitt, 2013 (Workshop Druckwerkstatt)

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Über die Eigenfrequenz von 13 Luftschlössern Diplom Eliane Gerber

Ästhetisch forschend befasse ich mich mit dem Imaginären: Mit Spekulationen, Luftschlössern und Entwürfen, mit den Produkten unserer Vorstellungskraft. Ich prüfe das Imaginäre als Antithese zum traditionellen Wissensbegriff und frage nach seiner Schnittstelle zur sozialen Aussenwelt. Gedanklicher Ansatz ist das Gemeingut: Lässt sich das Imaginäre vergemeinschaften? Kontext – Über das Konkrete hinaus zu blicken, zu imaginieren ist wichtiger Bestandteil jedes Entwurfsprozesses. So erschliessen wir uns neue Handlungsmöglichkeiten. Wie teilen wir sie? Ästhetische Forschungsmethoden erprobend, reflektiere ich meine Rolle als Gestalterin im Kontext sozialer Interaktion.

Produkt – Von der Forschungsarbeit bleibt ein Archiv aus Bildern, Skizzen, Texten, Begriffen, Metaphern, Thesen und Fragen. Auf diesem Archiv will ich weiter aufbauen, sehe ich die Arbeit doch eher als Auftakt meiner Beschäftigung mit dem Thema denn als Schlussakkord. Die Ergebnisse sind online zugänglich.

Inhalt – Inwiefern lässt sich das Imaginäre, das Erdachte, das Vorgestellte vergemeinschaften? Diese Frage ist Basis, Triebfeder und Orientierungspunkt meiner Arbeit. Die Suche nach Antworten und Thesen führt mich rasch an die Grenzen dessen, was ich verbalsprachlich fassen kann. Wo ich mit Worten nicht weiterkomme, experimentiere ich mit Skizzen und Bildrecherchen. Werkzeuge, die ich sonst im gestalterischen Entwurfsprozess einsetze, nutze ich, um gewohnte Denkmuster zu identifizieren, sie zueinander in Bezug zu setzen und gezielt zu verändern. Die Analyse des so gesammelten Bildmaterials erlaubt es, die Metaphern, die gedanklichen Konzepte und die begrifflichen Dimensionen dahinter sichtbar zu machen und darauf aufbauend weiterzudenken. Im Anschluss an dieses eher suchende Vorgehen verknüpfe ich die vorliegenden Bruchstücke. Meine Überlegungen bündle ich in einem essayistischen Comic und verschaffe mir so einen narrativen Zugang zu konkreten Thesen. Um die gezogenen Schlüsse in einem Gesamtkontext zu verorten, führe ich eine Literaturrecherche durch und befrage Silke Helfrich in einem Experteninterview zum Thema Gemeingut. Abschliessend diskutiere ich die Ergebnisse und den durchlaufenen Forschungsprozess.

Gemeinschaft – Etwas zu vergemeinschaften heisst, eine Ressource zu Gemeingut zu machen. Zu einem Gut also, das alle Mitglieder einer Gemeinschaft gemeinsam beanspruchen, nutzen und pflegen. Es heisst, gemeinschaftlich zu teilen. Teilen wir unsere Entwürfe von Wirklichkeit, erweitern wir den Raum dessen, was möglich ist. Coaches – Anka Semmig, Dr. Yeboaa Ofosu Kontakt – eliane.gerber@hyperwerk.ch, gemeinschaft.hyperwerk.ch/eliane-gerber Team und Dank – Anka Semmig und Dr. Yeboaa Ofosu danke ich für die engagierte Projektbetreuung. Für ihre Mitarbeit und ihr Interesse danke ich Johanna Mehrtens, Florian Bitterlin, Nathalie Fluri, Benedict Dackweiler, Julia Geiser, Markus Schmet, Adrian Demleitner und Dimitri Gerber. Ein weiterer Dank geht an Silke Helfrich für das geduldige Beantworten meiner Fragen.


Über die Eigenfrequenz von 13 Luftschlössern Diplom Eliane Gerber

Ästhetisch forschend befasse ich mich mit dem Imaginären: Mit Spekulationen, Luftschlössern und Entwürfen, mit den Produkten unserer Vorstellungskraft. Ich prüfe das Imaginäre als Antithese zum traditionellen Wissensbegriff und frage nach seiner Schnittstelle zur sozialen Aussenwelt. Gedanklicher Ansatz ist das Gemeingut: Lässt sich das Imaginäre vergemeinschaften? Kontext – Über das Konkrete hinaus zu blicken, zu imaginieren ist wichtiger Bestandteil jedes Entwurfsprozesses. So erschliessen wir uns neue Handlungsmöglichkeiten. Wie teilen wir sie? Ästhetische Forschungsmethoden erprobend, reflektiere ich meine Rolle als Gestalterin im Kontext sozialer Interaktion.

Produkt – Von der Forschungsarbeit bleibt ein Archiv aus Bildern, Skizzen, Texten, Begriffen, Metaphern, Thesen und Fragen. Auf diesem Archiv will ich weiter aufbauen, sehe ich die Arbeit doch eher als Auftakt meiner Beschäftigung mit dem Thema denn als Schlussakkord. Die Ergebnisse sind online zugänglich.

Inhalt – Inwiefern lässt sich das Imaginäre, das Erdachte, das Vorgestellte vergemeinschaften? Diese Frage ist Basis, Triebfeder und Orientierungspunkt meiner Arbeit. Die Suche nach Antworten und Thesen führt mich rasch an die Grenzen dessen, was ich verbalsprachlich fassen kann. Wo ich mit Worten nicht weiterkomme, experimentiere ich mit Skizzen und Bildrecherchen. Werkzeuge, die ich sonst im gestalterischen Entwurfsprozess einsetze, nutze ich, um gewohnte Denkmuster zu identifizieren, sie zueinander in Bezug zu setzen und gezielt zu verändern. Die Analyse des so gesammelten Bildmaterials erlaubt es, die Metaphern, die gedanklichen Konzepte und die begrifflichen Dimensionen dahinter sichtbar zu machen und darauf aufbauend weiterzudenken. Im Anschluss an dieses eher suchende Vorgehen verknüpfe ich die vorliegenden Bruchstücke. Meine Überlegungen bündle ich in einem essayistischen Comic und verschaffe mir so einen narrativen Zugang zu konkreten Thesen. Um die gezogenen Schlüsse in einem Gesamtkontext zu verorten, führe ich eine Literaturrecherche durch und befrage Silke Helfrich in einem Experteninterview zum Thema Gemeingut. Abschliessend diskutiere ich die Ergebnisse und den durchlaufenen Forschungsprozess.

Gemeinschaft – Etwas zu vergemeinschaften heisst, eine Ressource zu Gemeingut zu machen. Zu einem Gut also, das alle Mitglieder einer Gemeinschaft gemeinsam beanspruchen, nutzen und pflegen. Es heisst, gemeinschaftlich zu teilen. Teilen wir unsere Entwürfe von Wirklichkeit, erweitern wir den Raum dessen, was möglich ist. Coaches – Anka Semmig, Dr. Yeboaa Ofosu Kontakt – eliane.gerber@hyperwerk.ch, gemeinschaft.hyperwerk.ch/eliane-gerber Team und Dank – Anka Semmig und Dr. Yeboaa Ofosu danke ich für die engagierte Projektbetreuung. Für ihre Mitarbeit und ihr Interesse danke ich Johanna Mehrtens, Florian Bitterlin, Nathalie Fluri, Benedict Dackweiler, Julia Geiser, Markus Schmet, Adrian Demleitner und Dimitri Gerber. Ein weiterer Dank geht an Silke Helfrich für das geduldige Beantworten meiner Fragen.


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Der Finkenschlag 15

Inga Schonlau und Wolfgang Klüppel vom Theater Freiburg im Breisgau, haben für zwei Spielzeiten den Finkenschlag, eine ehemalige Quartierskneipe im Freiburger Stadtteil Haslach bespielt. Inga, künstlerische Leitung und Dramaturgin der Tanzsparte, und Wolfgang, Finkenschlag-Kurator, entdeckten den verlassenen kleinen Flachbau mitten in einem Wohnquartier bei ihren Streifzügen durchs Quartier. Die Tanzsparte des Theaters hatte bereits eine Reihe performativer Aktionen in Haslach durchgeführt, bevor sie für zwei Jahre den Finkenschlag bezog und spezielle, spartenübergreifende Formate just für diesen Ort entwickelte. Für jeweils vier Wochen waren Tänzerinnen und Tänzer aus aller Welt als Artists in Residence eingeladen, denen das Häuschen gleichzeitig als Unterkunft, Proberaum und Bühne

diente. Neben tänzerischen Performances gab es Talkshows, Erlebnis-Vorträge mit einem Soziologen über Alltag in der Stadt, sonntäglichen Tanztee, einen Literatursalon und vieles mehr. Anka Semmig sprach mit Inga und Wolfgang über das Thema Gemeinschaft und ihre Erfahrungen im Finkenschlag. Anka Semmig: Ihr habt jetzt zwei Jahre lang den Finkenschlag als einen experimentellen, temporären und spartenübergreifenden Ort des Theaters Freiburg bespielt. War Gemeinschaft dabei ein Thema für Euch? Inga Schonlau: Nicht in dem Sinne, dass wir explizit und andauernd Gemeinschaftsthemen bearbeitet hätten. Aber ich erinnere mich sehr gut, dass

Über Gemeinschaft an einem ungewöhnlichen Ort

es am Anfang, als wir eine Reihe von Künstlern eingeladen hatten, Formate für den Finkenschlag zu entwickeln, um die Frage eines gemeinsamen Punkts ging. Das wir war da durchaus ein Thema, auch die Frage wer dieses wir ist und wie wir damit umgehen wollen. Einem Wir-Konzept wollten sich aber nicht alle von vornherein einfach so anschliessen. Der Finkenschlag ist auf jeden Fall kein Ort, der sich Begriffe wie Partizipation auf die Fahnen schreibt oder eine bestimmte Mission in die Welt tragen will. Vielmehr geht es darum, immer wieder Leute einzubeziehen, auch da, wo es erst einmal nicht dieselben Eintrittsformen gibt wie bei anderen Gelegenheiten, wo ein Raum ist, den man nicht Theater nennen kann, der aber auch kein reiner Kunstraum ist und auf gar keinen Fall ein

reiner Sozialraum, an dem einfach viele Leute zusammenkommen. Letztendlich hat sich dann herausgestellt, dass es doch immer wieder um Gemeinschaftsaspekte ging, aber um Gemeinschaften, die nicht in eine Schublade passen oder auch nicht im kalkulierten Sinne eintreten. Wolfgang war jemand, als reale Figur, aber auch mit gewissen fiktionalen Anteilen, der ganz viele Verknüpfungen hergestellt hat, auch sehr ungewöhnliche Verknüpfungen zwischen eher klassischen Institutionen und künstlerischen Prozessen. Er ist also auch jemand, der Gemeinschaft initiiert hat. Wolfgang Klüppel: Am Anfang haben wir sehr stark versucht, uns zu vernetzen. Zum Beispiel war ich beim Runden Tisch in Haslach dabei. Ge-


Der Finkenschlag 15

Inga Schonlau und Wolfgang Klüppel vom Theater Freiburg im Breisgau, haben für zwei Spielzeiten den Finkenschlag, eine ehemalige Quartierskneipe im Freiburger Stadtteil Haslach bespielt. Inga, künstlerische Leitung und Dramaturgin der Tanzsparte, und Wolfgang, Finkenschlag-Kurator, entdeckten den verlassenen kleinen Flachbau mitten in einem Wohnquartier bei ihren Streifzügen durchs Quartier. Die Tanzsparte des Theaters hatte bereits eine Reihe performativer Aktionen in Haslach durchgeführt, bevor sie für zwei Jahre den Finkenschlag bezog und spezielle, spartenübergreifende Formate just für diesen Ort entwickelte. Für jeweils vier Wochen waren Tänzerinnen und Tänzer aus aller Welt als Artists in Residence eingeladen, denen das Häuschen gleichzeitig als Unterkunft, Proberaum und Bühne

diente. Neben tänzerischen Performances gab es Talkshows, Erlebnis-Vorträge mit einem Soziologen über Alltag in der Stadt, sonntäglichen Tanztee, einen Literatursalon und vieles mehr. Anka Semmig sprach mit Inga und Wolfgang über das Thema Gemeinschaft und ihre Erfahrungen im Finkenschlag. Anka Semmig: Ihr habt jetzt zwei Jahre lang den Finkenschlag als einen experimentellen, temporären und spartenübergreifenden Ort des Theaters Freiburg bespielt. War Gemeinschaft dabei ein Thema für Euch? Inga Schonlau: Nicht in dem Sinne, dass wir explizit und andauernd Gemeinschaftsthemen bearbeitet hätten. Aber ich erinnere mich sehr gut, dass

Über Gemeinschaft an einem ungewöhnlichen Ort

es am Anfang, als wir eine Reihe von Künstlern eingeladen hatten, Formate für den Finkenschlag zu entwickeln, um die Frage eines gemeinsamen Punkts ging. Das wir war da durchaus ein Thema, auch die Frage wer dieses wir ist und wie wir damit umgehen wollen. Einem Wir-Konzept wollten sich aber nicht alle von vornherein einfach so anschliessen. Der Finkenschlag ist auf jeden Fall kein Ort, der sich Begriffe wie Partizipation auf die Fahnen schreibt oder eine bestimmte Mission in die Welt tragen will. Vielmehr geht es darum, immer wieder Leute einzubeziehen, auch da, wo es erst einmal nicht dieselben Eintrittsformen gibt wie bei anderen Gelegenheiten, wo ein Raum ist, den man nicht Theater nennen kann, der aber auch kein reiner Kunstraum ist und auf gar keinen Fall ein

reiner Sozialraum, an dem einfach viele Leute zusammenkommen. Letztendlich hat sich dann herausgestellt, dass es doch immer wieder um Gemeinschaftsaspekte ging, aber um Gemeinschaften, die nicht in eine Schublade passen oder auch nicht im kalkulierten Sinne eintreten. Wolfgang war jemand, als reale Figur, aber auch mit gewissen fiktionalen Anteilen, der ganz viele Verknüpfungen hergestellt hat, auch sehr ungewöhnliche Verknüpfungen zwischen eher klassischen Institutionen und künstlerischen Prozessen. Er ist also auch jemand, der Gemeinschaft initiiert hat. Wolfgang Klüppel: Am Anfang haben wir sehr stark versucht, uns zu vernetzen. Zum Beispiel war ich beim Runden Tisch in Haslach dabei. Ge-


meinschaft sollte entstehen können, gleichzeitig wollten wir Gemeinschaft in Haslach abbilden. Es gab aber auch viele Ressentiments von Haslacher Gruppierungen. Wir bleiben schlussendlich doch die Künstler, die ein bisschen komisch sind und einen bestimmten Ruf haben. Die Leute, die angedockt haben am Finkenschlag, waren oft die mit einer kulturellen oder auch politischen Affinität.

kamen ins Gespräch. Künstler und Publikum liessen beim gemeinsamen Essen sozusagen die Hüllen fallen, die übliche Distanz wurde aufgelöst. Ein Finkenschlag-Besuch bedeutete meistens nicht, zu einer Vorstellung zu kommen und danach wieder zu verschwinden, sondern man traf sich oft vorher, redete miteinander, erlebte dann gemeinschaftlich etwas und sprach danach wieder weiter. Man kann es so sagen: Der Finkenschlag ist ein Ort, an dem man sich einlässt auf KonAS: Es scheint ein Paradox zu sein: Wenn du dich fusionen und heterogene Publikumsschichten, vernetzt, versuchst du ja auch, Gemeinschaft- und darauf, nicht zu wissen, was als nächstes lichkeit herzustellen, Gemeinsinn zu initiieren – passiert. gleichzeitig kann man das auch nicht von aussen an jemanden herantragen. AS: Ihr habt jetzt viele Erfahrungen gemacht, was so ein Ort wie der Finkenschlag leisten kann, WK: Ja, von aussen zu kommen ist schwierig. Da wo aber auch Grenzen sind. entsteht schnell die Befürchtung, dass man für eine Theatermaschine, die etwas Soziales machen will, IS: Es gab Abende hier, die sehr gut besucht waren eingespannt werden soll. Was will das Theater in und sehr berührend waren, aber es kam auch vor, Haslach? Diese Frage wurde uns oft gestellt. Wir dass man viel vorbereitet hatte und eine Verandiskutierten auch immer wieder, wer denn da staltung nicht so aufgenommen wurde, wie wir wohin integriert werden soll, das Theater nach uns das erhofft hatten. Die meisten, die mehrmals Haslach oder Haslach ins Theater, welche Art von hier waren, sprachen aber davon, dass es sehr Geschichten erzählt werden soll. besondere Erfahrungen waren im Finkenschlag. Ich möchte nicht unbedingt von Utopien sprechen, AS: Die Veranstaltungen, die ihr im Finkenschlag aber es braucht Orte, die erst einmal eine starke initiiert habt, umfassen eine sehr grosse Bandbrei- Behauptung in die Welt setzen, die etwas anderes te, von sehr eigenwilligen künstlerischen Aktio- versuchen und auch Spass daran haben. Der Finnen, die sich um die Umgebung und den Ort gar kenschlag ist ja aus einer Lust heraus entstanden nicht kümmern, bis zu Aktionen, bei denen ihr und nicht aus einer wohlgemeinten Überlegung. sehr weit auf das Quartier zugeht. Entsprechend Auch uns hat immer wieder überrascht, was pasgross ist auch die Bandbreite des Publikums: Je siert. Ich hab diesen Ort selbst als unkalkulierbare nach Veranstaltung sind ganz unterschiedliche Sache empfunden, aber genau das hat mir gefalMenschen gekommen. Ich finde das sehr bemer- len. Wir konnten leichtere Zugänge ermöglichen kenswert. Dabei sind auch Gemeinschaftserleb- als sonst am Theater. nisse ganz besonderer Art entstanden. WK: Wir hatten unterschiedlichste Leute hier WK: Ein Beispiel für eine starke künstlerische Po- zu verschiedenen Veranstaltungen, trotzdem war sition, die im Finkenschlag bezogen wurde, ist der es nicht so, dass bestimmte Leute immer wieder aus Israel stammende Ruby Edelmann. Er hat als kamen. Manchmal prallten auch verschiedene Artist in Residence als erstes eine Fahne mit Juden- Milieus aufeinander: Als die Künstlergruppe stern aufs Dach des Finkenschlags gestellt. Das Beaster Quartett sich vorstellte und auf einem hat ungeheuer kontroverse Reaktionen nach sich sehr hohen Niveau über Kunst sprach, hörte ich gezogen und einige im Quartier sehr provoziert. einige im Publikum kichern. Es war klar, dass Andererseits hatten wir Formate wie Badish Sushi, ihnen das absurd erschien. eine Mischung aus sehr phantasievoller Kulinarik und künstlerischen Darbietungen. Da kamen ganz IS: Ich denke, wichtig war unsere Bereitschaft, verschiedene Menschen, sassen an einem Tisch und uns auf unterschiedlichste Menschen einzulassen,

auch solche, die wir selbst als konservativ ansehen. Haslach ist ein ziemlich durchschnittlicher Stadtteil, auch wenn in bestimmten Gegenden ein Ghetto-Mythos gepflegt wird. Diese ganz unterschiedlichen Menschen zu kreuzen ist etwas, das von allen viel fordert. WK: Es stellt dein Selbstverständnis in Frage, weil immer wieder Rollenkonfusionen entstehen und du dich vergewissern musst, welchen thematischen Faden du gerade verfolgst. Immer wieder fragte ich mich: Wer bin ich da jetzt gerade? Manchmal entsteht dann aber auch eine ganz eigene, starke Lebendigkeit, wie bei der ersten Talkshow, die erst einmal einfach mit einer Behauptung begann: Man nimmt eine Kamera, projiziert das, was gerade geschieht, auf eine mit drei klapprigen Leisten simulierte Leinwand, und plötzlich sind da zwanzig Kinder, die glauben, das wird jetzt live im ZDF übertragen. Jeder konnte für sich eine Auftrittsmusik wählen, draussen waren ein roter Teppich und Lichterketten, und dann setzte man sich, um zu reden. Es passierte Chaos, aber die Leute lachten. Um neun kam dann die auf sieben eingeladene ehemalige Wirtin des Finkenschlags und begann sofort zu erzählen. Das war eine ganz eigene Art von Lokalkolorit, die dadurch entstand, auf eine sehr lebendige Art und Weise. AS: Der Finkenschlag als ein Ort, der immer wieder neu erzählt, mit unterschiedlichen Phantasmen gefüllt wurde, der verschiedenste Milieus und Menschen zusammen zu bringen und dabei Identitäten, Erwartungen, Konzepte in Frage stellt oder erweitert. IS: Es ist etwas Einzigartiges entstanden, das nur an diesem Ort passieren konnte und so nicht einfach an einem anderen wiederholt werden kann. AS: Vielen Dank für das Gespräch.


meinschaft sollte entstehen können, gleichzeitig wollten wir Gemeinschaft in Haslach abbilden. Es gab aber auch viele Ressentiments von Haslacher Gruppierungen. Wir bleiben schlussendlich doch die Künstler, die ein bisschen komisch sind und einen bestimmten Ruf haben. Die Leute, die angedockt haben am Finkenschlag, waren oft die mit einer kulturellen oder auch politischen Affinität.

kamen ins Gespräch. Künstler und Publikum liessen beim gemeinsamen Essen sozusagen die Hüllen fallen, die übliche Distanz wurde aufgelöst. Ein Finkenschlag-Besuch bedeutete meistens nicht, zu einer Vorstellung zu kommen und danach wieder zu verschwinden, sondern man traf sich oft vorher, redete miteinander, erlebte dann gemeinschaftlich etwas und sprach danach wieder weiter. Man kann es so sagen: Der Finkenschlag ist ein Ort, an dem man sich einlässt auf KonAS: Es scheint ein Paradox zu sein: Wenn du dich fusionen und heterogene Publikumsschichten, vernetzt, versuchst du ja auch, Gemeinschaft- und darauf, nicht zu wissen, was als nächstes lichkeit herzustellen, Gemeinsinn zu initiieren – passiert. gleichzeitig kann man das auch nicht von aussen an jemanden herantragen. AS: Ihr habt jetzt viele Erfahrungen gemacht, was so ein Ort wie der Finkenschlag leisten kann, WK: Ja, von aussen zu kommen ist schwierig. Da wo aber auch Grenzen sind. entsteht schnell die Befürchtung, dass man für eine Theatermaschine, die etwas Soziales machen will, IS: Es gab Abende hier, die sehr gut besucht waren eingespannt werden soll. Was will das Theater in und sehr berührend waren, aber es kam auch vor, Haslach? Diese Frage wurde uns oft gestellt. Wir dass man viel vorbereitet hatte und eine Verandiskutierten auch immer wieder, wer denn da staltung nicht so aufgenommen wurde, wie wir wohin integriert werden soll, das Theater nach uns das erhofft hatten. Die meisten, die mehrmals Haslach oder Haslach ins Theater, welche Art von hier waren, sprachen aber davon, dass es sehr Geschichten erzählt werden soll. besondere Erfahrungen waren im Finkenschlag. Ich möchte nicht unbedingt von Utopien sprechen, AS: Die Veranstaltungen, die ihr im Finkenschlag aber es braucht Orte, die erst einmal eine starke initiiert habt, umfassen eine sehr grosse Bandbrei- Behauptung in die Welt setzen, die etwas anderes te, von sehr eigenwilligen künstlerischen Aktio- versuchen und auch Spass daran haben. Der Finnen, die sich um die Umgebung und den Ort gar kenschlag ist ja aus einer Lust heraus entstanden nicht kümmern, bis zu Aktionen, bei denen ihr und nicht aus einer wohlgemeinten Überlegung. sehr weit auf das Quartier zugeht. Entsprechend Auch uns hat immer wieder überrascht, was pasgross ist auch die Bandbreite des Publikums: Je siert. Ich hab diesen Ort selbst als unkalkulierbare nach Veranstaltung sind ganz unterschiedliche Sache empfunden, aber genau das hat mir gefalMenschen gekommen. Ich finde das sehr bemer- len. Wir konnten leichtere Zugänge ermöglichen kenswert. Dabei sind auch Gemeinschaftserleb- als sonst am Theater. nisse ganz besonderer Art entstanden. WK: Wir hatten unterschiedlichste Leute hier WK: Ein Beispiel für eine starke künstlerische Po- zu verschiedenen Veranstaltungen, trotzdem war sition, die im Finkenschlag bezogen wurde, ist der es nicht so, dass bestimmte Leute immer wieder aus Israel stammende Ruby Edelmann. Er hat als kamen. Manchmal prallten auch verschiedene Artist in Residence als erstes eine Fahne mit Juden- Milieus aufeinander: Als die Künstlergruppe stern aufs Dach des Finkenschlags gestellt. Das Beaster Quartett sich vorstellte und auf einem hat ungeheuer kontroverse Reaktionen nach sich sehr hohen Niveau über Kunst sprach, hörte ich gezogen und einige im Quartier sehr provoziert. einige im Publikum kichern. Es war klar, dass Andererseits hatten wir Formate wie Badish Sushi, ihnen das absurd erschien. eine Mischung aus sehr phantasievoller Kulinarik und künstlerischen Darbietungen. Da kamen ganz IS: Ich denke, wichtig war unsere Bereitschaft, verschiedene Menschen, sassen an einem Tisch und uns auf unterschiedlichste Menschen einzulassen,

auch solche, die wir selbst als konservativ ansehen. Haslach ist ein ziemlich durchschnittlicher Stadtteil, auch wenn in bestimmten Gegenden ein Ghetto-Mythos gepflegt wird. Diese ganz unterschiedlichen Menschen zu kreuzen ist etwas, das von allen viel fordert. WK: Es stellt dein Selbstverständnis in Frage, weil immer wieder Rollenkonfusionen entstehen und du dich vergewissern musst, welchen thematischen Faden du gerade verfolgst. Immer wieder fragte ich mich: Wer bin ich da jetzt gerade? Manchmal entsteht dann aber auch eine ganz eigene, starke Lebendigkeit, wie bei der ersten Talkshow, die erst einmal einfach mit einer Behauptung begann: Man nimmt eine Kamera, projiziert das, was gerade geschieht, auf eine mit drei klapprigen Leisten simulierte Leinwand, und plötzlich sind da zwanzig Kinder, die glauben, das wird jetzt live im ZDF übertragen. Jeder konnte für sich eine Auftrittsmusik wählen, draussen waren ein roter Teppich und Lichterketten, und dann setzte man sich, um zu reden. Es passierte Chaos, aber die Leute lachten. Um neun kam dann die auf sieben eingeladene ehemalige Wirtin des Finkenschlags und begann sofort zu erzählen. Das war eine ganz eigene Art von Lokalkolorit, die dadurch entstand, auf eine sehr lebendige Art und Weise. AS: Der Finkenschlag als ein Ort, der immer wieder neu erzählt, mit unterschiedlichen Phantasmen gefüllt wurde, der verschiedenste Milieus und Menschen zusammen zu bringen und dabei Identitäten, Erwartungen, Konzepte in Frage stellt oder erweitert. IS: Es ist etwas Einzigartiges entstanden, das nur an diesem Ort passieren konnte und so nicht einfach an einem anderen wiederholt werden kann. AS: Vielen Dank für das Gespräch.


Jetzt Gemeinschaft! Zu Gast im Finkenschlag

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Jetzt Gemeinschaft! Zu Gast im Finkenschlag

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Die multimediale Bühne 17

Diplom Julian Gresenz

Ich beobachte das Arbeitsumfeld des Theaters Basel und untersuche, welche Auswirkungen Medien dort auf die Arbeitsgemeinschaft haben. Ich richte also meine gestalterische Perspektive auf die Arbeitsabläufe und beobachte, wie die mediale Ebene im Theater einund umgesetzt wird. Aus dieser Untersuchung entwickle ich eigene Thesen zu Arbeitsorganisation und Medieneinsatz im Theater.

Kontext – Die technischen Fortschritte im Medienbereich beeinflussen zunehmend die Entstehung zeitgenössischer Theaterinszenierungen. Auf der Bühne werden heute musikalische, filmische und performative Elemente miteinander verbunden. Dies bedeutet einen grossen Aufwand für die Theater. Ist es das wert? Inhalt – Wie kann ich als Videokünstler beim Entstehungsprozess eines Theaterstücks mitwirken und darauf Einfluss nehmen? Welche sozialen Konsequenzen hat die Verwendung von Medien im Theater für die Mitwirkenden? Diese Fragen sind Hauptgegenstand meines Projekts. Neben meinen Beobachtungen während der Proben und Vorstellungen der Inszenierungen Angst und Don Karlos dienen mir auch persönliche Interviews mit den Beteiligten als Untersuchungsgrundlage. Von den Schauspielern und Regisseuren erfahre ich, wie sie mit der medialen Ebene umgehen und was sie für ein Verhältnis zu den technischen Effekten entwickelt haben: Was macht es für einen Unterschied, direkt auf der Bühne oder über eine Live-Kamera-Projektion zu spielen? Was verändert sich an der Geschichte des Stücks, wenn man mit vorproduzierten Video- oder Audioaufnahmen arbeitet? Wie sieht das Theater in Zukunft aus? Als Prozessgestalter nutze ich die gesammelten Eindrücke und Erfahrungen, um den Entstehungsprozess eines Theaterstücks grundlegend zu überdenken und in einer neuen Arbeitsform eine eigene Performance namens Hyperpunks entstehen zu lassen. Dabei experimentiere ich mit verschiedenen medientechnischen Lösungen wie MadMapper, Harmonizer, Video-

mixer etc. Schlussendlich werde ich die verschiedenen Arbeitsweisen vergleichen und ihre Vor- und Nachteile zeigen. Produkt – Als Produkt entsteht jeweils eine Dokumentation der drei Produktionen (Don Karlos, Angst, Hyperpunks) in Form von Text, Bildern und Video. Neben der Dokumentation meiner Recherche zu zeitgenössischem Theater mit Medien entstehen zudem ein Bühnenbild (Dome) und Kostüme für die Hyperpunks-Performance sowie Sound- und Bildmaterial. Gemeinschaft – Die multimediale Bühne experimentiert mit einer gemeinschaftlichen Arbeitsweise und untersucht gleichzeitig, wie der Einsatz von Medien Arbeitsgemeinschaften am Theater und ihre Organisation beeinflusst. Coaches – Anka Semmig, Uwe Heinrich, Dominik Ziliotis Kontakt – julian.gresenz@hyperwerk.ch gemeinschaft.hyperwerk.ch/julian-gresenz Team und Dank – Simon Burkhalter, Nico Herzig, Gidon Schvitz, Gabriel Meisel, Till Zehnder, Brad Decker, Manuel Miglioretto, Kevin Renz, Jonas Grieder, Davide Maniscalco, Julian Koechlin, Birkan Cam, Jason Will Emer und Jonathan Meïer Moncler


Die multimediale Bühne 17

Diplom Julian Gresenz

Ich beobachte das Arbeitsumfeld des Theaters Basel und untersuche, welche Auswirkungen Medien dort auf die Arbeitsgemeinschaft haben. Ich richte also meine gestalterische Perspektive auf die Arbeitsabläufe und beobachte, wie die mediale Ebene im Theater einund umgesetzt wird. Aus dieser Untersuchung entwickle ich eigene Thesen zu Arbeitsorganisation und Medieneinsatz im Theater.

Kontext – Die technischen Fortschritte im Medienbereich beeinflussen zunehmend die Entstehung zeitgenössischer Theaterinszenierungen. Auf der Bühne werden heute musikalische, filmische und performative Elemente miteinander verbunden. Dies bedeutet einen grossen Aufwand für die Theater. Ist es das wert? Inhalt – Wie kann ich als Videokünstler beim Entstehungsprozess eines Theaterstücks mitwirken und darauf Einfluss nehmen? Welche sozialen Konsequenzen hat die Verwendung von Medien im Theater für die Mitwirkenden? Diese Fragen sind Hauptgegenstand meines Projekts. Neben meinen Beobachtungen während der Proben und Vorstellungen der Inszenierungen Angst und Don Karlos dienen mir auch persönliche Interviews mit den Beteiligten als Untersuchungsgrundlage. Von den Schauspielern und Regisseuren erfahre ich, wie sie mit der medialen Ebene umgehen und was sie für ein Verhältnis zu den technischen Effekten entwickelt haben: Was macht es für einen Unterschied, direkt auf der Bühne oder über eine Live-Kamera-Projektion zu spielen? Was verändert sich an der Geschichte des Stücks, wenn man mit vorproduzierten Video- oder Audioaufnahmen arbeitet? Wie sieht das Theater in Zukunft aus? Als Prozessgestalter nutze ich die gesammelten Eindrücke und Erfahrungen, um den Entstehungsprozess eines Theaterstücks grundlegend zu überdenken und in einer neuen Arbeitsform eine eigene Performance namens Hyperpunks entstehen zu lassen. Dabei experimentiere ich mit verschiedenen medientechnischen Lösungen wie MadMapper, Harmonizer, Video-

mixer etc. Schlussendlich werde ich die verschiedenen Arbeitsweisen vergleichen und ihre Vor- und Nachteile zeigen. Produkt – Als Produkt entsteht jeweils eine Dokumentation der drei Produktionen (Don Karlos, Angst, Hyperpunks) in Form von Text, Bildern und Video. Neben der Dokumentation meiner Recherche zu zeitgenössischem Theater mit Medien entstehen zudem ein Bühnenbild (Dome) und Kostüme für die Hyperpunks-Performance sowie Sound- und Bildmaterial. Gemeinschaft – Die multimediale Bühne experimentiert mit einer gemeinschaftlichen Arbeitsweise und untersucht gleichzeitig, wie der Einsatz von Medien Arbeitsgemeinschaften am Theater und ihre Organisation beeinflusst. Coaches – Anka Semmig, Uwe Heinrich, Dominik Ziliotis Kontakt – julian.gresenz@hyperwerk.ch gemeinschaft.hyperwerk.ch/julian-gresenz Team und Dank – Simon Burkhalter, Nico Herzig, Gidon Schvitz, Gabriel Meisel, Till Zehnder, Brad Decker, Manuel Miglioretto, Kevin Renz, Jonas Grieder, Davide Maniscalco, Julian Koechlin, Birkan Cam, Jason Will Emer und Jonathan Meïer Moncler


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Platz nehmen! Verortung eines Unorts 19

Gemeinschaft kann nur entstehen, wo es Räume gibt. Die aber sind in unseren Städten knapp geworden. Mit einer performativen Intervention im Stadtraum erkundeten Studierende Räume, die übrig bleiben: Was passiert, wenn wir die übersehenen Plätze als Lebensraum reklamieren? Unorte Unorte sind eine ungeschminkte Realität jeder Stadt und begegnen uns in unterschiedlichster Gestalt. Während manche von ihnen Anlass zu öffentlichem Ärgernis geben, passieren wir sie nicht selten, ohne etwas zu bemerken. Die fragmentierte Entwicklung und zunehmende Verbauung unserer urbanen Lebensräume führen zu einer Verdichtung solcher Orte. Korridore, Garagen, ungenutzte Flächen, Unterführungen, Brücken – Orte, die für die Bewohner einer Stadt eigentlich nicht attraktiv sind, prägen unser Stadtbild. Doch Unorte sind nicht nur störende Elemente im Stadtbild. Raum ist gebaute Struktur, in der wir leben, und damit auch Produkt und Produzent, vor allem von sozialen Widersprüchen. Ballonfahrt: Feldforschung im Stadtraum Der erste Teil der Aktion bestand aus einer Feldforschung im Stadtraum. Es ging darum, Unorte in Basel aufzusuchen und zu beschreiben. In Anlehnung an den roten Google-Pin, der bei Google Maps die gesuchten Orte markiert, sollten bunte Luftballons die Unorte anzeigen und sichtbar machen. Der Stadtrundgang zeigte, dass Basel ein Platz-Problem hat: Die meisten erfassten Unorte sind Plätze und öffentliche Freiräume, die wegen ihrer negativen Ausstrahlungen nicht zum Verweilen einladen und dadurch in Widerspruch zu ihrer eigentlichen Funktion stehen. Occupy Barfi! Im zweiten Teil der Aktion ging es darum, mit einfachen gestalterischen und performativen Mitteln auf die gefunden Unorte aufmerksam zu machen wie auch die Sinnlichkeit des Unraums zu

aktivieren und zu optimieren. Es geht nicht darum, die Welt zu verschönern, sondern sie sinnlich und sinnvoll auszukosten. Eine performative Aktion auf dem Barfüsserplatz («Barfi»), einem der größten öffentlichen Plätze im Zentrum der Stadt, sollte ein Zeichen setzen und auf die Problematik des Unorts hinweisen. Trotz seiner Größe und zentralen Lage wird der Platz wegen seiner undurchdachten Gestaltung von der Öffentlichkeit kaum genutzt. Die Aktion bestand darin, an verschiedenen Stellen drei weisse Stühle zu platzieren. An jedem Stuhl waren bunte, mit Helium gefüllte und mit Occupy-Masken drapierte Luftballons angebunden. Die Occupy-Maske ist als Aufruf zu verstehen, diesen zentralen öffentlichen Ort zu beanspruchen, zu nutzen und mitzugestalten. Gleichzeitig kann die Performance als Aufforderung verstanden werden, sich hinzusetzen, sich Zeit zu nehmen und gegen den Strom zu schwimmen. Julian Rieken


Platz nehmen! Verortung eines Unorts 19

Gemeinschaft kann nur entstehen, wo es Räume gibt. Die aber sind in unseren Städten knapp geworden. Mit einer performativen Intervention im Stadtraum erkundeten Studierende Räume, die übrig bleiben: Was passiert, wenn wir die übersehenen Plätze als Lebensraum reklamieren? Unorte Unorte sind eine ungeschminkte Realität jeder Stadt und begegnen uns in unterschiedlichster Gestalt. Während manche von ihnen Anlass zu öffentlichem Ärgernis geben, passieren wir sie nicht selten, ohne etwas zu bemerken. Die fragmentierte Entwicklung und zunehmende Verbauung unserer urbanen Lebensräume führen zu einer Verdichtung solcher Orte. Korridore, Garagen, ungenutzte Flächen, Unterführungen, Brücken – Orte, die für die Bewohner einer Stadt eigentlich nicht attraktiv sind, prägen unser Stadtbild. Doch Unorte sind nicht nur störende Elemente im Stadtbild. Raum ist gebaute Struktur, in der wir leben, und damit auch Produkt und Produzent, vor allem von sozialen Widersprüchen. Ballonfahrt: Feldforschung im Stadtraum Der erste Teil der Aktion bestand aus einer Feldforschung im Stadtraum. Es ging darum, Unorte in Basel aufzusuchen und zu beschreiben. In Anlehnung an den roten Google-Pin, der bei Google Maps die gesuchten Orte markiert, sollten bunte Luftballons die Unorte anzeigen und sichtbar machen. Der Stadtrundgang zeigte, dass Basel ein Platz-Problem hat: Die meisten erfassten Unorte sind Plätze und öffentliche Freiräume, die wegen ihrer negativen Ausstrahlungen nicht zum Verweilen einladen und dadurch in Widerspruch zu ihrer eigentlichen Funktion stehen. Occupy Barfi! Im zweiten Teil der Aktion ging es darum, mit einfachen gestalterischen und performativen Mitteln auf die gefunden Unorte aufmerksam zu machen wie auch die Sinnlichkeit des Unraums zu

aktivieren und zu optimieren. Es geht nicht darum, die Welt zu verschönern, sondern sie sinnlich und sinnvoll auszukosten. Eine performative Aktion auf dem Barfüsserplatz («Barfi»), einem der größten öffentlichen Plätze im Zentrum der Stadt, sollte ein Zeichen setzen und auf die Problematik des Unorts hinweisen. Trotz seiner Größe und zentralen Lage wird der Platz wegen seiner undurchdachten Gestaltung von der Öffentlichkeit kaum genutzt. Die Aktion bestand darin, an verschiedenen Stellen drei weisse Stühle zu platzieren. An jedem Stuhl waren bunte, mit Helium gefüllte und mit Occupy-Masken drapierte Luftballons angebunden. Die Occupy-Maske ist als Aufruf zu verstehen, diesen zentralen öffentlichen Ort zu beanspruchen, zu nutzen und mitzugestalten. Gleichzeitig kann die Performance als Aufforderung verstanden werden, sich hinzusetzen, sich Zeit zu nehmen und gegen den Strom zu schwimmen. Julian Rieken


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Eine vertikale Teefarm

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Diplom Yannick Frich

In Zusammenarbeit mit dem Verein Neubasel, den Schweizerischen Rheinhäfen (SRH) und dem Urban AgriCulture Netz Basel (UANB) werden drei Container auf der Klybeckinsel am Basler Rheinufer aufgestellt und umgenutzt. Die Container am Hafen sind die Basisstation einer urbanen Teefarm. Vom Anbau über die Verarbeitung bis zum Konsum geschieht alles in diesen Containern. Die vertikale Fläche, die die aufeinandergestellten Container ergeben, dient als Experimentierfläche, um verschiedene vertikale Bepflanzungsmöglichkeiten zu erproben. Kontext – Eine der Reaktionen auf die morbide Lebensmittelindustrie ist die urbane Landwirtschaft, von der inzwischen sogar Konzerne wie die Syngenta Kenntnis nehmen. Dieses Interesse zeigt, dass solche Bürgerinitiativen an Bedeutung gewinnen, auch wenn wir hierzulande nicht an Lebensmittelknappheit leiden. Anders als anderswo auf der Welt geht es hier also nicht um Hunger – vielmehr wird das Konsumverhalten an sich in Frage gestellt. Aus diesen Rahmenbedingungen erschliesst sich die Fragestellung meines Diplomprojekts TEE: RITORIUM. Wie kann eine Bevölkerung, die nicht an Lebensmittelknappheit leidet, für das Thema der globalen Lebensmittelverteilung, des Konsums und der Produktion sensibilisiert werden? Inhalt – Urbane Landwirtschaft – «Ernten wo man isst», oder in meinem Fall «Ernten wo man trinkt» – ist also der wegweisende Inhalt meines Projekts. Die Arbeit an diesem Thema fokussierte in der Umsetzung vor allem auf den Grundgedanken, Lebensmittel lokal, sozial vertretbar und ökologisch zu produzieren. Zentral ist auch die Beziehung, die der Konsument so zum Produzenten, aber auch zur produzierten Ware aufbaut. Nach vielen Gesprächen, sorgfältiger Recherche und Konzeptionierung ist so die Idee der urbanen Teefarm TEE:RITORIUM entstanden. Längere Zeit war ich auf der Suche nach einem Stück Allmende in der Stadt, um einen klassischen Gemeinschaftsgarten umzusetzen. Der Garten sollte mir als Experimentierfläche dienen, um verschiedene Strategien zur Partizipation zu untersuchen. Aus offensichtlichem Mangel an Frei-

raum in der Stadt bin ich auf die vertikale Bepflanzung gestossen und habe das Konzept der vertikalen Teefarm entwickelt. Ein Konzept, das mit wenig Allmendfläche auskommt und dennoch eine grosse Anbaufläche erzeugt. Produkt – Neben der Möglichkeit, als Konsument einen Einblick in die Produktion der konsumierten Ware zu erhalten, bietet das Projekt TEE:RITORIUM einen grossen symbolischen Wert: Es erzählt die ganze Geschichte. So wird symbolisch und pragmatisch die Probematik des hiesigen Lebensmittelkonsums thematisiert. Gemeinschaft – Die Gemeinschaft ist die tragende Kraft in dieser Art von Gartenhaltung. Die Gemeinschaft steht im Zentrum der meisten urbanen Gartenprojekte. Das Projekt TEE:RITORIUM steht aber nur indirekt in Zusammenhang mit dieser Art von Gemeinschaft, denn das Projekt ist nicht als herkömmlicher Gemeinschaftsgarten anzusehen. Der Wert der Instant Production, einer Produktion vor Ort, steht im Vordergrund, und nicht die direkte Partizipation. Coaches – Max Spielmann, Bastiaan Frich, Fabian Müller Kontakt – yannick.frich@gmai.com Team und Dank – Bastiaan Frich, Tilla Künzli, Fabian Müller, Klaus Bernhard


Eine vertikale Teefarm

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Diplom Yannick Frich

In Zusammenarbeit mit dem Verein Neubasel, den Schweizerischen Rheinhäfen (SRH) und dem Urban AgriCulture Netz Basel (UANB) werden drei Container auf der Klybeckinsel am Basler Rheinufer aufgestellt und umgenutzt. Die Container am Hafen sind die Basisstation einer urbanen Teefarm. Vom Anbau über die Verarbeitung bis zum Konsum geschieht alles in diesen Containern. Die vertikale Fläche, die die aufeinandergestellten Container ergeben, dient als Experimentierfläche, um verschiedene vertikale Bepflanzungsmöglichkeiten zu erproben. Kontext – Eine der Reaktionen auf die morbide Lebensmittelindustrie ist die urbane Landwirtschaft, von der inzwischen sogar Konzerne wie die Syngenta Kenntnis nehmen. Dieses Interesse zeigt, dass solche Bürgerinitiativen an Bedeutung gewinnen, auch wenn wir hierzulande nicht an Lebensmittelknappheit leiden. Anders als anderswo auf der Welt geht es hier also nicht um Hunger – vielmehr wird das Konsumverhalten an sich in Frage gestellt. Aus diesen Rahmenbedingungen erschliesst sich die Fragestellung meines Diplomprojekts TEE: RITORIUM. Wie kann eine Bevölkerung, die nicht an Lebensmittelknappheit leidet, für das Thema der globalen Lebensmittelverteilung, des Konsums und der Produktion sensibilisiert werden? Inhalt – Urbane Landwirtschaft – «Ernten wo man isst», oder in meinem Fall «Ernten wo man trinkt» – ist also der wegweisende Inhalt meines Projekts. Die Arbeit an diesem Thema fokussierte in der Umsetzung vor allem auf den Grundgedanken, Lebensmittel lokal, sozial vertretbar und ökologisch zu produzieren. Zentral ist auch die Beziehung, die der Konsument so zum Produzenten, aber auch zur produzierten Ware aufbaut. Nach vielen Gesprächen, sorgfältiger Recherche und Konzeptionierung ist so die Idee der urbanen Teefarm TEE:RITORIUM entstanden. Längere Zeit war ich auf der Suche nach einem Stück Allmende in der Stadt, um einen klassischen Gemeinschaftsgarten umzusetzen. Der Garten sollte mir als Experimentierfläche dienen, um verschiedene Strategien zur Partizipation zu untersuchen. Aus offensichtlichem Mangel an Frei-

raum in der Stadt bin ich auf die vertikale Bepflanzung gestossen und habe das Konzept der vertikalen Teefarm entwickelt. Ein Konzept, das mit wenig Allmendfläche auskommt und dennoch eine grosse Anbaufläche erzeugt. Produkt – Neben der Möglichkeit, als Konsument einen Einblick in die Produktion der konsumierten Ware zu erhalten, bietet das Projekt TEE:RITORIUM einen grossen symbolischen Wert: Es erzählt die ganze Geschichte. So wird symbolisch und pragmatisch die Probematik des hiesigen Lebensmittelkonsums thematisiert. Gemeinschaft – Die Gemeinschaft ist die tragende Kraft in dieser Art von Gartenhaltung. Die Gemeinschaft steht im Zentrum der meisten urbanen Gartenprojekte. Das Projekt TEE:RITORIUM steht aber nur indirekt in Zusammenhang mit dieser Art von Gemeinschaft, denn das Projekt ist nicht als herkömmlicher Gemeinschaftsgarten anzusehen. Der Wert der Instant Production, einer Produktion vor Ort, steht im Vordergrund, und nicht die direkte Partizipation. Coaches – Max Spielmann, Bastiaan Frich, Fabian Müller Kontakt – yannick.frich@gmai.com Team und Dank – Bastiaan Frich, Tilla Künzli, Fabian Müller, Klaus Bernhard


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Ägyptens Generation Facebook nimmt einen zweiten Anlauf 23

Die ägyptische Revolution des 25. Januar im Jahr 2011 war massgeblich durch die Generation Facebook geprägt. Beim politischen Neuaufbau wurde sie dann an den Rand gedrängt. Mit der Tamarod-Rebellion am 30. Juni setzte sie zu einem zweiten Anlauf an. Als am 3. Juli der ägyptische Armeechef General Abdel-Fattah al-Sisi verkündete, dass das Militär den politischen Transformationsprozess für die kommenden Monate steuern würde, war an seiner Seite auch ein junger Mann mit ausgewaschenem Polo-Shirt, Turnschuhen und einer traditionellen, arabischen Keffiyeh um den Hals geschlungen. Der 28-jährige Mohammed Badr ist Mitbegründer und Sprecher von Tamarod – Arabisch für Rebellion –, der Initiative, die im Laufe von zwei Monaten über 22 Millionen Unterschriften für den Rücktritt von Präsident Mohammed Morsi gesammelt hatte. Ihrem Aufruf zu Massenkundgebungen am 30. Juni, dem einjährigen Amtsjubiläum des frei gewählten Staatsoberhauptes, leisteten zwischen 14 und 17 Millionen Ägypterinnen und Ägypter Folge – mehr als bei der Revolution vor zwei Jahren je auf der Strasse gewesen waren. Die Generäle kamen ihrer Forderung nach, setzten Morsi ab und nahmen die Zügel wieder selbst in die Hand. Mit Laptops und Mobiltelefonen Zwei junge Journalisten und ein Student, ausgerüstet nur mit Laptops und Mobiltelefonen, hatten in nur zwei Monaten eine Massenbewegung im ganzen Land ausgelöst. Sie hatten geschafft, woran die zersplitterten Oppositionsparteien in den letzten zwei Jahren kläglich gescheitert waren. Sie wollten eine Brücke sein zwischen dem Volk und der Opposition, hatten die Tamarod-Initianten erklärt. Das ist ihnen eindrücklich gelungen. Nach der Revolution vom 25. Januar, mit der der damalige Präsident Hosni Mubarak gestürzt wurde, ist es zum zweiten Mal die Generation Facebook, die die entscheidenden Impulse dafür gibt, wie die politischen Weichen in Ägypten gestellt werden. Sie sprechen deshalb auch von der Revolution des 30. Juni. Das erste Mal, dass ich die Verbindung von Revolution und Internet bewusst wahrgenommen habe, war etwa ein halbes Jahr bevor in Tunesien

der arabische Frühling seinen Anfang nahm. Während eines Nachtessens in der libyschen Hauptstadt Tripolis erklärte mir ein junger Mann, für seine Generation habe das Internet in den vergangenen zehn Jahren eine Revolution bedeutet, weil es viele Mauern eingerissen und viele neue Möglichkeiten eröffnet habe. Als ich dann am 25. Januar 2011 die vielen Tausende von jungen Leuten auf dem Tahrir-Platz sah, kamen mir die Worte von Mohammed Ahmeida wieder in den Sinn. Und in den folgenden 18 Tagen sollte sich zeigen, dass das Internet die Macht hat, Politik zu verändern. Für diesen Dienstag, den «Tag der Polizei», hatten mehrere Gruppierungen über Facebook zu Demonstrationen im Stadtzentum und zu einem «Tag des Zorns» aufgerufen. Sie hatten sich auf die einfache Losung verständigt: Freiheit, Gerechtigkeit, Bürgerrechte. Die treibende Kraft war die Generation Facebook, die in Ägypten zu 90 Prozent zwischen 12 und 34 Jahren alt ist und tendenziell der gut ausgebildeten Mittelklasse angehört. Sie ist nicht nur jung, sondern auch technologieversessen und unerschrocken. Als die Revolution ausbrach, gab es in Ägypten rund 24 Millionen Internetanschlüsse, das heisst etwa 30 Prozent der Bevölkerung waren vernetzt. Das ist im internationalen Vergleich nicht sehr viel. Aber die Steigerungsrate ist mit jährlich 40 Prozent eindrücklich. Zudem ist Ägypten das am stärksten mit Facebook vernetzte Land der Region, und die Dynamik ist ungebrochen. Während der jüngsten Ereignisse stieg zum Beispiel die Zahl der regelmässigen Follower der Facebook-Seite der Tageszeitung al-Ahram in wenigen Tagen von 1,1 auf über 1,3 Millionen. Unfreiheiten überwinden Die Rolle von Facebook und Internet in dieser ersten virtuellen Revolution lässt sich recht gut definieren. «Das Internet setzt die Region in Flammen», formulierte einmal der Regionalmanager von Google. Die explosive Kraft dieses Mediums hat gleich mehrere Ursachen. Per Definition beruht das Facebook auf dem Konzept der virtuellen Organisation, das heisst, eine informelle Gemeinschaft bildet sich über eine Ad-hoc-Struktur, um ein spezielles Ziel zu erreichen. Sie überschreitet geographische Grenzen, um Aktivisten


Ägyptens Generation Facebook nimmt einen zweiten Anlauf 23

Die ägyptische Revolution des 25. Januar im Jahr 2011 war massgeblich durch die Generation Facebook geprägt. Beim politischen Neuaufbau wurde sie dann an den Rand gedrängt. Mit der Tamarod-Rebellion am 30. Juni setzte sie zu einem zweiten Anlauf an. Als am 3. Juli der ägyptische Armeechef General Abdel-Fattah al-Sisi verkündete, dass das Militär den politischen Transformationsprozess für die kommenden Monate steuern würde, war an seiner Seite auch ein junger Mann mit ausgewaschenem Polo-Shirt, Turnschuhen und einer traditionellen, arabischen Keffiyeh um den Hals geschlungen. Der 28-jährige Mohammed Badr ist Mitbegründer und Sprecher von Tamarod – Arabisch für Rebellion –, der Initiative, die im Laufe von zwei Monaten über 22 Millionen Unterschriften für den Rücktritt von Präsident Mohammed Morsi gesammelt hatte. Ihrem Aufruf zu Massenkundgebungen am 30. Juni, dem einjährigen Amtsjubiläum des frei gewählten Staatsoberhauptes, leisteten zwischen 14 und 17 Millionen Ägypterinnen und Ägypter Folge – mehr als bei der Revolution vor zwei Jahren je auf der Strasse gewesen waren. Die Generäle kamen ihrer Forderung nach, setzten Morsi ab und nahmen die Zügel wieder selbst in die Hand. Mit Laptops und Mobiltelefonen Zwei junge Journalisten und ein Student, ausgerüstet nur mit Laptops und Mobiltelefonen, hatten in nur zwei Monaten eine Massenbewegung im ganzen Land ausgelöst. Sie hatten geschafft, woran die zersplitterten Oppositionsparteien in den letzten zwei Jahren kläglich gescheitert waren. Sie wollten eine Brücke sein zwischen dem Volk und der Opposition, hatten die Tamarod-Initianten erklärt. Das ist ihnen eindrücklich gelungen. Nach der Revolution vom 25. Januar, mit der der damalige Präsident Hosni Mubarak gestürzt wurde, ist es zum zweiten Mal die Generation Facebook, die die entscheidenden Impulse dafür gibt, wie die politischen Weichen in Ägypten gestellt werden. Sie sprechen deshalb auch von der Revolution des 30. Juni. Das erste Mal, dass ich die Verbindung von Revolution und Internet bewusst wahrgenommen habe, war etwa ein halbes Jahr bevor in Tunesien

der arabische Frühling seinen Anfang nahm. Während eines Nachtessens in der libyschen Hauptstadt Tripolis erklärte mir ein junger Mann, für seine Generation habe das Internet in den vergangenen zehn Jahren eine Revolution bedeutet, weil es viele Mauern eingerissen und viele neue Möglichkeiten eröffnet habe. Als ich dann am 25. Januar 2011 die vielen Tausende von jungen Leuten auf dem Tahrir-Platz sah, kamen mir die Worte von Mohammed Ahmeida wieder in den Sinn. Und in den folgenden 18 Tagen sollte sich zeigen, dass das Internet die Macht hat, Politik zu verändern. Für diesen Dienstag, den «Tag der Polizei», hatten mehrere Gruppierungen über Facebook zu Demonstrationen im Stadtzentum und zu einem «Tag des Zorns» aufgerufen. Sie hatten sich auf die einfache Losung verständigt: Freiheit, Gerechtigkeit, Bürgerrechte. Die treibende Kraft war die Generation Facebook, die in Ägypten zu 90 Prozent zwischen 12 und 34 Jahren alt ist und tendenziell der gut ausgebildeten Mittelklasse angehört. Sie ist nicht nur jung, sondern auch technologieversessen und unerschrocken. Als die Revolution ausbrach, gab es in Ägypten rund 24 Millionen Internetanschlüsse, das heisst etwa 30 Prozent der Bevölkerung waren vernetzt. Das ist im internationalen Vergleich nicht sehr viel. Aber die Steigerungsrate ist mit jährlich 40 Prozent eindrücklich. Zudem ist Ägypten das am stärksten mit Facebook vernetzte Land der Region, und die Dynamik ist ungebrochen. Während der jüngsten Ereignisse stieg zum Beispiel die Zahl der regelmässigen Follower der Facebook-Seite der Tageszeitung al-Ahram in wenigen Tagen von 1,1 auf über 1,3 Millionen. Unfreiheiten überwinden Die Rolle von Facebook und Internet in dieser ersten virtuellen Revolution lässt sich recht gut definieren. «Das Internet setzt die Region in Flammen», formulierte einmal der Regionalmanager von Google. Die explosive Kraft dieses Mediums hat gleich mehrere Ursachen. Per Definition beruht das Facebook auf dem Konzept der virtuellen Organisation, das heisst, eine informelle Gemeinschaft bildet sich über eine Ad-hoc-Struktur, um ein spezielles Ziel zu erreichen. Sie überschreitet geographische Grenzen, um Aktivisten


zusammenzubringen. Sie ist in der Lage, Millionen Anhänger zu mobilisieren, und das alles mit nur ganz geringen Kosten und wenig technischem Aufwand. Facebook bringt gleichgesinnte Fremde zusammen. Die Interaktion ist anonym und augenblicklich. Man bezeichnet es darum manchmal auch als Freiheitskanal. Im Falle der Revolution des 25. Januar hat es vor allem Aktivisten aus allen politischen Spektren erlaubt, einander zu finden. In einem Land, in dem Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit extrem eingeschränkt waren, waren diese Faktoren besonders wichtig. Das Internet hat aus passiven Zuhörern und Lesern Menschen gemacht, die sich einmischen und mitreden. Der Kreis wurde schnell so gross, dass auch die bisherigen Mainstream-Medien, also die grossen Zeitungen sowie staatliche und private Fernsehkanäle, gezwungen waren, sich mit diesen Themen zu befassen. «Wir haben ihnen unsere Agenda aufgezwungen», sagte ein junger Facebook-Aktivist. Revolution auch ohne Facebook Einig sind sich die treibenden Kräfte, dass es auch ohne Facebook eine Revolution gegeben hätte. Als Beweis führen sie die Tatsache an, dass in den entscheidenden Tagen nach dem Ausbruch der ersten grossen Demonstrationen das Internet in Ägypten während fünf Tagen abgeschaltet und während zwei Tagen sogar die Mobiltelefone tot waren. Trotz dieser Einschränkung wurde der Schneeball immer grösser. Facebook war nicht die Ursache der Revolution, sondern hat die Bewegung entfacht, angefeuert, beschleunigt und am Leben gehalten. Tatsächlich haben 84 Prozent der Ägypter in den 18 turbulenten Tagen das Fernsehen als wichtigste Informationsquelle bezeichnet und nur sechs Prozent das Internet. Diese Eigenschaften von Internet und Facebook haben dazu geführt, dass die Revolution des 25. Januar ganz eigene Charakteristika hatte. Es gab keine Ideologie und keine Religion; keine Führung, und die Jungen spielten eine tragende Rolle. Auf dem Tahrir-Platz und bei den Demonstrationen im ganzen Land waren Ägypter aus allen gesellschaftlichen Schichten, und man sah keine ideologischen Parolen oder Parteiembleme, nur

die ägyptische Fahne als Symbol der Revolution und demonstrativ wurde die Einheit zwischen Muslimen und Christen zelebriert. In der Facebook-Revolution gab es auch keine intellektuellen Helden, wie zum Beispiel 1989 in der Tschechoslowakei den Schrifsteller Vaclav Havel. In Ägypten gibt es bis heute keine solche Figur, die während der Revolution bekannt geworden wäre und jetzt eine tragende Rolle bei der politischen Neugestaltung spielte. Viele der bekannteren Facebook-Aktivisten gehörten zur ersten Generation der ägyptischen Blogger. Dieses Phänomen kam am Nil etwa im Jahr 2005 richtig ins Rollen. Auch die erste Generation der Blogger waren junge Leute, die sich in einem System, in dem der Berichterstattung der traditionellen Medien enge Grenzen gesetzt waren, neue Freiheiten herausgenommen hatten. Sie griffen Themen auf wie Korruption, Wahlfälschung, Polizeibrutalität oder sexuelle Belästigung und wurden schnell zu einer alternativen Informationsquelle. Die Regierung reagierte regelmässig mit Repression, vor allem mit Verhaftungen. Ein Fuss im Cyberspace, einer auf dem Boden Viele von ihnen hatten einen Fuss im Cyberspace und einen auf dem Boden, wie es einer der bekanntesten Blogger einmal formulierte. Das heisst, die Blogger waren schon Aktivisten, bevor die Technologie dermassen in den Vordergrund gerückt ist. Zum Beispiel waren sie aktiv in der Demokratiebewegung Kifaya – arabisch für «genug». Kifaya ist 2004 entstanden und hatte über die Jahre eine Reihe von Protesten organisiert, etwa gegen die geplante Machtvererbung von Mubarak an seinen Sohn Gamal. Kifaya zeigt, dass die Facebook-Revolution nicht aus dem Nichts entstanden ist. Sie hatte Vorläufer. Die Jugendbewegung des 6. April entstand im Frühjahr 2008 zur Unterstützung eines Streiks in einer Textilfabrik. Die Mitglieder führten viele politische Debatten und organisierten einen Generalstreik. Kifaya und 6. April waren entscheidend an der Mobilisierung zum 25. Januar und jetzt auch wieder zum 30. Juni beteiligt. Die Revolution des 25. Januar hat auch Facebook und den Umgang damit selbst verändert. Wurde Facebook vor der Revolution vor allem

zu Unterhaltungszwecken genutzt, ist es jetzt in erster Linie ein Medium, um Nachrichten weiterzuleiten. Nach der Revolution waren alle wichtigen Akteure gezwungen, sich dieses Instrumentes zu bedienen – die Armee und der Ministerpräsident eingeschlossen. Vorzüge verkehren sich in Nachteile Was in den Monaten nach der Revolution folgte, nämlich der politische Transformationsprozess, zeigte eindrücklich, was Facebook und die Facebook-Generation können, wo ihre Grenzen sind und wo die jungen Aktivisten schlicht versagt haben. Facebook ist ein ideales Instrument, um zu mobilisieren und Bewusstsein zu schaffen – aber wenn es darum geht, Politik zu gestalten, verkehren sich seine Vorzüge eher in Nachteile. Die Jungen, denen auch die Erfahrung fehlte, haben sich in viele Gruppen aufgespalten. Sie haben es nicht geschafft, eine gemeinsame Führung zu etablieren und klar definierte Ziele und Strategien festzulegen. Niemand war da, der die Verantwortung übernommen hätte. Das wäre aber nötig gewesen, denn mit der Revolution hatte sich auch die Rolle der Jugendlichen verändert. Ihre Gefolgschaft waren jetzt nicht mehr nur ein paar Aktivisten, sondern die Massen. Es ist auch erstaunlich, dass nach der Revolution keine neuen Führer gereift sind. Sie seien immer noch in der prä-revolutionären Phase, während sie sich an die Spitze hätten stellen sollen, hat ein Politologe festgestellt. Die Jungen wurden deshalb schnell von den etablierten Politikern und Parteien an den Rand gedrängt. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen waren sie chancenlos. Mahmoud Salem, einer der jungen Aktivisten, der ohne Erfolg für eine neue libarale Partei kandidiert hatte, zog in einem seiner Blogs eine selbstkritische Bilanz: Der grösste Fehler sei gewesen, dass man in einer arroganten und idealisierenden Haltung die Menschen vergessen und alle Energie auf den politischen Kampf verwendet habe. Die Revolutionäre hätten sich vom Volk entfernt, weil ihre Prioritäten verschieden gewesen seien. «Wir haben ihnen Hoffnung für die Zukunft verkauft, während andere ihnen Geld und Nahrungsmittel gaben, um jetzt zu überleben»,

schrieb er wörtlich. Auch ein Generationenkonflikt war ganz offensichtlich. Viele gewöhnliche Ägypter hatten schnell genug von den endlosen Protesten und wollten sich lieber auf einen normalen Alltag besinnen können. Die Jugend war aber viel radikaler – sie wollte keine faulen Kompromisse eingehen und keine halben Sachen machen. Immer neue Graswurzel-Initiativen Man tut der Jugend aber unrecht, wenn man ihren «revolutionären» Erfolg nur am Gewinn von politischen Mandaten misst. Tatsache ist, dass es in Ägypten keine Organisation, keine Institution und kaum eine Firma gibt, die nicht durchgeschüttelt wird. Die Menschen verlangen ihre Rechte und pochen darauf, dass korrupte Kader abgesetzt werden. Es gab ständig neue Graswurzel-Initiativen, etwa «Die Militärs sind Lügner» oder kurz «Kazeboun». Das waren Demokratie- und Menschenrechtsaktivisten, die mit Leinwand und Projektor durch die Strassen zogen und Videos von Greueltaten und Menschenrechtsverletzungen der Soldaten zeigten. Die Kampagne wurde spontan im Internet lanciert und hatte sich rasch über das ganze Land verbreitet. Auch dies war eine unorganisierte, dezentralisierte Bewegung ohne Hierarchie. Nach diesem Muster gibt es unzählige Initiativen, die sich für die verschiedensten Ziele, etwa auch die Schaffung von Arbeitsplätzen oder den Verzicht auf den Kauf von Produkten aus Militärfirmen einsetzen. Die Menschen haben jetzt das Gefühl, dass sie etwas verändern können. Das letzte und erfolgreichste Beispiel ist Tamarod. Wie die am 25. Januar 2011 lancierte FacebookRevolution ausgehen wird, ist immer noch offen. Am 30. Juni wurde ein zweiter Anlauf genommen. Treibende Kraft war wiederum die Revolutionsjugend der Generation Facebook gewesen, die in den letzten Jahren als Wächter und Korrektiv agiert hat. Ob sie es beim zweiten Mal schaffen, den politischen Neuaufbau Ägyptens an einflussreicher Stelle mitzugestalten – das wird sich erst in den kommenden Monaten zeigen. Mohammed Badr hat jedenfalls schon angedeutet, dass er sich einmal vorstellen könnte, Präsident zu werden. Astrid Frefel, Kairo


zusammenzubringen. Sie ist in der Lage, Millionen Anhänger zu mobilisieren, und das alles mit nur ganz geringen Kosten und wenig technischem Aufwand. Facebook bringt gleichgesinnte Fremde zusammen. Die Interaktion ist anonym und augenblicklich. Man bezeichnet es darum manchmal auch als Freiheitskanal. Im Falle der Revolution des 25. Januar hat es vor allem Aktivisten aus allen politischen Spektren erlaubt, einander zu finden. In einem Land, in dem Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit extrem eingeschränkt waren, waren diese Faktoren besonders wichtig. Das Internet hat aus passiven Zuhörern und Lesern Menschen gemacht, die sich einmischen und mitreden. Der Kreis wurde schnell so gross, dass auch die bisherigen Mainstream-Medien, also die grossen Zeitungen sowie staatliche und private Fernsehkanäle, gezwungen waren, sich mit diesen Themen zu befassen. «Wir haben ihnen unsere Agenda aufgezwungen», sagte ein junger Facebook-Aktivist. Revolution auch ohne Facebook Einig sind sich die treibenden Kräfte, dass es auch ohne Facebook eine Revolution gegeben hätte. Als Beweis führen sie die Tatsache an, dass in den entscheidenden Tagen nach dem Ausbruch der ersten grossen Demonstrationen das Internet in Ägypten während fünf Tagen abgeschaltet und während zwei Tagen sogar die Mobiltelefone tot waren. Trotz dieser Einschränkung wurde der Schneeball immer grösser. Facebook war nicht die Ursache der Revolution, sondern hat die Bewegung entfacht, angefeuert, beschleunigt und am Leben gehalten. Tatsächlich haben 84 Prozent der Ägypter in den 18 turbulenten Tagen das Fernsehen als wichtigste Informationsquelle bezeichnet und nur sechs Prozent das Internet. Diese Eigenschaften von Internet und Facebook haben dazu geführt, dass die Revolution des 25. Januar ganz eigene Charakteristika hatte. Es gab keine Ideologie und keine Religion; keine Führung, und die Jungen spielten eine tragende Rolle. Auf dem Tahrir-Platz und bei den Demonstrationen im ganzen Land waren Ägypter aus allen gesellschaftlichen Schichten, und man sah keine ideologischen Parolen oder Parteiembleme, nur

die ägyptische Fahne als Symbol der Revolution und demonstrativ wurde die Einheit zwischen Muslimen und Christen zelebriert. In der Facebook-Revolution gab es auch keine intellektuellen Helden, wie zum Beispiel 1989 in der Tschechoslowakei den Schrifsteller Vaclav Havel. In Ägypten gibt es bis heute keine solche Figur, die während der Revolution bekannt geworden wäre und jetzt eine tragende Rolle bei der politischen Neugestaltung spielte. Viele der bekannteren Facebook-Aktivisten gehörten zur ersten Generation der ägyptischen Blogger. Dieses Phänomen kam am Nil etwa im Jahr 2005 richtig ins Rollen. Auch die erste Generation der Blogger waren junge Leute, die sich in einem System, in dem der Berichterstattung der traditionellen Medien enge Grenzen gesetzt waren, neue Freiheiten herausgenommen hatten. Sie griffen Themen auf wie Korruption, Wahlfälschung, Polizeibrutalität oder sexuelle Belästigung und wurden schnell zu einer alternativen Informationsquelle. Die Regierung reagierte regelmässig mit Repression, vor allem mit Verhaftungen. Ein Fuss im Cyberspace, einer auf dem Boden Viele von ihnen hatten einen Fuss im Cyberspace und einen auf dem Boden, wie es einer der bekanntesten Blogger einmal formulierte. Das heisst, die Blogger waren schon Aktivisten, bevor die Technologie dermassen in den Vordergrund gerückt ist. Zum Beispiel waren sie aktiv in der Demokratiebewegung Kifaya – arabisch für «genug». Kifaya ist 2004 entstanden und hatte über die Jahre eine Reihe von Protesten organisiert, etwa gegen die geplante Machtvererbung von Mubarak an seinen Sohn Gamal. Kifaya zeigt, dass die Facebook-Revolution nicht aus dem Nichts entstanden ist. Sie hatte Vorläufer. Die Jugendbewegung des 6. April entstand im Frühjahr 2008 zur Unterstützung eines Streiks in einer Textilfabrik. Die Mitglieder führten viele politische Debatten und organisierten einen Generalstreik. Kifaya und 6. April waren entscheidend an der Mobilisierung zum 25. Januar und jetzt auch wieder zum 30. Juni beteiligt. Die Revolution des 25. Januar hat auch Facebook und den Umgang damit selbst verändert. Wurde Facebook vor der Revolution vor allem

zu Unterhaltungszwecken genutzt, ist es jetzt in erster Linie ein Medium, um Nachrichten weiterzuleiten. Nach der Revolution waren alle wichtigen Akteure gezwungen, sich dieses Instrumentes zu bedienen – die Armee und der Ministerpräsident eingeschlossen. Vorzüge verkehren sich in Nachteile Was in den Monaten nach der Revolution folgte, nämlich der politische Transformationsprozess, zeigte eindrücklich, was Facebook und die Facebook-Generation können, wo ihre Grenzen sind und wo die jungen Aktivisten schlicht versagt haben. Facebook ist ein ideales Instrument, um zu mobilisieren und Bewusstsein zu schaffen – aber wenn es darum geht, Politik zu gestalten, verkehren sich seine Vorzüge eher in Nachteile. Die Jungen, denen auch die Erfahrung fehlte, haben sich in viele Gruppen aufgespalten. Sie haben es nicht geschafft, eine gemeinsame Führung zu etablieren und klar definierte Ziele und Strategien festzulegen. Niemand war da, der die Verantwortung übernommen hätte. Das wäre aber nötig gewesen, denn mit der Revolution hatte sich auch die Rolle der Jugendlichen verändert. Ihre Gefolgschaft waren jetzt nicht mehr nur ein paar Aktivisten, sondern die Massen. Es ist auch erstaunlich, dass nach der Revolution keine neuen Führer gereift sind. Sie seien immer noch in der prä-revolutionären Phase, während sie sich an die Spitze hätten stellen sollen, hat ein Politologe festgestellt. Die Jungen wurden deshalb schnell von den etablierten Politikern und Parteien an den Rand gedrängt. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen waren sie chancenlos. Mahmoud Salem, einer der jungen Aktivisten, der ohne Erfolg für eine neue libarale Partei kandidiert hatte, zog in einem seiner Blogs eine selbstkritische Bilanz: Der grösste Fehler sei gewesen, dass man in einer arroganten und idealisierenden Haltung die Menschen vergessen und alle Energie auf den politischen Kampf verwendet habe. Die Revolutionäre hätten sich vom Volk entfernt, weil ihre Prioritäten verschieden gewesen seien. «Wir haben ihnen Hoffnung für die Zukunft verkauft, während andere ihnen Geld und Nahrungsmittel gaben, um jetzt zu überleben»,

schrieb er wörtlich. Auch ein Generationenkonflikt war ganz offensichtlich. Viele gewöhnliche Ägypter hatten schnell genug von den endlosen Protesten und wollten sich lieber auf einen normalen Alltag besinnen können. Die Jugend war aber viel radikaler – sie wollte keine faulen Kompromisse eingehen und keine halben Sachen machen. Immer neue Graswurzel-Initiativen Man tut der Jugend aber unrecht, wenn man ihren «revolutionären» Erfolg nur am Gewinn von politischen Mandaten misst. Tatsache ist, dass es in Ägypten keine Organisation, keine Institution und kaum eine Firma gibt, die nicht durchgeschüttelt wird. Die Menschen verlangen ihre Rechte und pochen darauf, dass korrupte Kader abgesetzt werden. Es gab ständig neue Graswurzel-Initiativen, etwa «Die Militärs sind Lügner» oder kurz «Kazeboun». Das waren Demokratie- und Menschenrechtsaktivisten, die mit Leinwand und Projektor durch die Strassen zogen und Videos von Greueltaten und Menschenrechtsverletzungen der Soldaten zeigten. Die Kampagne wurde spontan im Internet lanciert und hatte sich rasch über das ganze Land verbreitet. Auch dies war eine unorganisierte, dezentralisierte Bewegung ohne Hierarchie. Nach diesem Muster gibt es unzählige Initiativen, die sich für die verschiedensten Ziele, etwa auch die Schaffung von Arbeitsplätzen oder den Verzicht auf den Kauf von Produkten aus Militärfirmen einsetzen. Die Menschen haben jetzt das Gefühl, dass sie etwas verändern können. Das letzte und erfolgreichste Beispiel ist Tamarod. Wie die am 25. Januar 2011 lancierte FacebookRevolution ausgehen wird, ist immer noch offen. Am 30. Juni wurde ein zweiter Anlauf genommen. Treibende Kraft war wiederum die Revolutionsjugend der Generation Facebook gewesen, die in den letzten Jahren als Wächter und Korrektiv agiert hat. Ob sie es beim zweiten Mal schaffen, den politischen Neuaufbau Ägyptens an einflussreicher Stelle mitzugestalten – das wird sich erst in den kommenden Monaten zeigen. Mohammed Badr hat jedenfalls schon angedeutet, dass er sich einmal vorstellen könnte, Präsident zu werden. Astrid Frefel, Kairo


24 Die Welt ist Klang Eigentlich hatten die beiden Freiburger Filmemacher Alex und Johannes einen Film über die Kairoer Musikszene drehen wollen. Unversehens gerieten sie dann aber in den Arabischen Frühling. Musiker unterschiedlichster Art haben sie trotzdem getroffen, ihre Musik gehört und mit ihnen über die gegenwärtige Situation in Ägypten, ihre Hoffnungen und Enttäuschungen gesprochen. So ist der Film Tracks of Cairo zu einem Zeitzeugnis der Geschehnisse 2011/12 in Kairo geworden. Die beiden Regisseure haben einige Filmstills Jetzt Gemeinschaft! zur Verfügung gestellt. Film: Alexander Brief, Johannes Roskamm: Tracks of Cairo (2012) (www.movimientos.net/cairo)


24 Die Welt ist Klang Eigentlich hatten die beiden Freiburger Filmemacher Alex und Johannes einen Film über die Kairoer Musikszene drehen wollen. Unversehens gerieten sie dann aber in den Arabischen Frühling. Musiker unterschiedlichster Art haben sie trotzdem getroffen, ihre Musik gehört und mit ihnen über die gegenwärtige Situation in Ägypten, ihre Hoffnungen und Enttäuschungen gesprochen. So ist der Film Tracks of Cairo zu einem Zeitzeugnis der Geschehnisse 2011/12 in Kairo geworden. Die beiden Regisseure haben einige Filmstills Jetzt Gemeinschaft! zur Verfügung gestellt. Film: Alexander Brief, Johannes Roskamm: Tracks of Cairo (2012) (www.movimientos.net/cairo)


Salam Youssri, Leiter eines Chorprojekts in Kairo

ÂŤWas die Politik nicht ver mag, vermag die Kunst.Âť Salam Youssri, Leiter eines Chorprojekts in Kairo


Salam Youssri, Leiter eines Chorprojekts in Kairo

ÂŤWas die Politik nicht ver mag, vermag die Kunst.Âť Salam Youssri, Leiter eines Chorprojekts in Kairo


Wenn Heimat Heimat bliebe

In meinem Diplomprojekt a(way) erstelle ich Portraits von jungen Erwachsenen, die am Anfang ihrer Berufskarriere stehen, sich jedoch aufgrund der beschränkten Möglichkeiten im eigenen Land gezwungen fühlen auszuwandern. Die Herausforderung dabei ist, herauszufinden, was denn ihre eigentlichen Wünsche wären, falls sie die Wahl hätten zu bleiben.

25

Arbeitsmigranten in Europa Diplom Mannik Keng

Kontext – Als in der Schweiz geborener Kambodschaner kenne ich meine ursprünglichen Wurzeln nicht und bin ohne sie aufgewachsen. Im Grunde genommen habe ich eine fremde Kultur als meine eigene Kultur angenommen. Mich erschreckt der Gedanke, seine Heimat verlassen und sich anderen kulturellen Werten unterordnen zu müssen, obwohl man doch eigene hat und schätzt.

Gemeinschaft – Mit a(way) verbinde ich zwei Jahresthemen: das Jahresthema Upstream des Vorjahres, das sich mit dem Thema Fremdheitserfahrungen befasst hat, und das aktuelle Jahresthema Jetzt Gemeinschaft!, das ich durch meine Arbeit in Litauen behandle. Ich werde aus der Nähe beobachten, wie sich Menschen bereit machen, ihre Gemeinschaft für ein anderes Leben hinter sich zu lassen, und herausfinden, was sich ändern müsste, damit sie ihre Gemeinschaft nicht Inhalt – Mich interessiert dabei der Entscheidungs- verlassen müssten. moment bei der Auswanderung eines Hochschulabgängers oder auch einer Person mit Berufserfahrung. Coaches – Jan Knopp, Den Beweggrund und den Prozess, die hinter der für Jean-Paul Olivier und Johanna Götz das eigene Leben so einschneidenden Entscheidung stehen, alles hinter sich zu lassen, möchte ich sichtbar Kontakt – mannik.keng@hyperwerk.ch machen. Wie hat die Person diese Zeit des Entscheides erlebt, was sind ihre Gründe, und wie hat sie sich Team und Dank – Besonderer Dank geht an Fabian vorbereitet? Mich interessiert deshalb auch, ob sie Zaehner, Niculin Barandun, Diana Pfammatter, Benjasich über alternative Auswege Gedanken gemacht hat. min Bänziger, Amina Jael Tanner, Gabriel Meisel, Rasa Was müsste sich ändern, damit gut ausgebildete Per- Urbonaite und Povilas Ambrasas sonen im eigenen Land blieben? Auf der Suche nach Interviewpartnern für a(way) bin ich auf Litauen gestossen – ein Land, das mit aller Kraft den Anschluss an die westeuropäischen Länder sucht, jedoch noch immer nicht attraktiv genug ist, um die jungen Litauerinnen und Litauer in ihrer Heimat zu halten. Produkt – Das Produkt wird eine Dokumentation des Weges der jungen Erwachsenen und ihres Auswanderungsprozesses in Bild und Text.


Wenn Heimat Heimat bliebe

In meinem Diplomprojekt a(way) erstelle ich Portraits von jungen Erwachsenen, die am Anfang ihrer Berufskarriere stehen, sich jedoch aufgrund der beschränkten Möglichkeiten im eigenen Land gezwungen fühlen auszuwandern. Die Herausforderung dabei ist, herauszufinden, was denn ihre eigentlichen Wünsche wären, falls sie die Wahl hätten zu bleiben.

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Arbeitsmigranten in Europa Diplom Mannik Keng

Kontext – Als in der Schweiz geborener Kambodschaner kenne ich meine ursprünglichen Wurzeln nicht und bin ohne sie aufgewachsen. Im Grunde genommen habe ich eine fremde Kultur als meine eigene Kultur angenommen. Mich erschreckt der Gedanke, seine Heimat verlassen und sich anderen kulturellen Werten unterordnen zu müssen, obwohl man doch eigene hat und schätzt.

Gemeinschaft – Mit a(way) verbinde ich zwei Jahresthemen: das Jahresthema Upstream des Vorjahres, das sich mit dem Thema Fremdheitserfahrungen befasst hat, und das aktuelle Jahresthema Jetzt Gemeinschaft!, das ich durch meine Arbeit in Litauen behandle. Ich werde aus der Nähe beobachten, wie sich Menschen bereit machen, ihre Gemeinschaft für ein anderes Leben hinter sich zu lassen, und herausfinden, was sich ändern müsste, damit sie ihre Gemeinschaft nicht Inhalt – Mich interessiert dabei der Entscheidungs- verlassen müssten. moment bei der Auswanderung eines Hochschulabgängers oder auch einer Person mit Berufserfahrung. Coaches – Jan Knopp, Den Beweggrund und den Prozess, die hinter der für Jean-Paul Olivier und Johanna Götz das eigene Leben so einschneidenden Entscheidung stehen, alles hinter sich zu lassen, möchte ich sichtbar Kontakt – mannik.keng@hyperwerk.ch machen. Wie hat die Person diese Zeit des Entscheides erlebt, was sind ihre Gründe, und wie hat sie sich Team und Dank – Besonderer Dank geht an Fabian vorbereitet? Mich interessiert deshalb auch, ob sie Zaehner, Niculin Barandun, Diana Pfammatter, Benjasich über alternative Auswege Gedanken gemacht hat. min Bänziger, Amina Jael Tanner, Gabriel Meisel, Rasa Was müsste sich ändern, damit gut ausgebildete Per- Urbonaite und Povilas Ambrasas sonen im eigenen Land blieben? Auf der Suche nach Interviewpartnern für a(way) bin ich auf Litauen gestossen – ein Land, das mit aller Kraft den Anschluss an die westeuropäischen Länder sucht, jedoch noch immer nicht attraktiv genug ist, um die jungen Litauerinnen und Litauer in ihrer Heimat zu halten. Produkt – Das Produkt wird eine Dokumentation des Weges der jungen Erwachsenen und ihres Auswanderungsprozesses in Bild und Text.


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Vom Logos zu den Logos 27

Gemeinschaften stellen sich immer auch in Bildern oder Symbolen dar oder verweisen auf sich durch Zeichen. Damit vergewissern sie sich ihrer selbst und werden für andere erkennbar. Das Seminar Gemeinschaft – Bilder, Symbole, Zeichen, das im Studienjahr 2012/13 von Regine Halter im HyperWerk durchgeführt wurde, ging von dieser Überlegung aus und untersuchte dabei die Veränderung von Gemeinschaften – und damit die Veränderung ihrer symbolischen Werte. Das folgende Gespräch greift einzelne Aspekte des Seminars auf, ohne es indes vollständig nachzuzeichnen. Regine Halter (RH): Die Familie ist nach wie vor eine der mächtigsten Formen von Gemeinschaft, und das – in unterschiedlicher Ausprägung – in westlichen Kulturen ebenso wie in östlichen, südlichen oder nördlichen. Wir haben uns im Seminar deshalb intensiv mit der Betrachtung und Analyse von Familienbildern beschäftigt, zunächst in der Malerei, dann auch in der Fotografie, wobei wir uns vor allem mit den inszenierten Familienbildern von Jamie Diamond befassten. Unsere Arbeit drehte sich über weite Strecken um diese ganz bestimmte Form von Gemeinschaft, um ihre symbolische Repräsentation und deren Brechung. Wichtig war dies für die Diskussion moderner Übergangsformen von Gemeinschaft, die uns in erster Linie interessierten. Es kann ja nie um eine Definition von Gemeinschaft und den dazugehörenden Symbolen gehen, in einer naiven Zuordnung à la «das ist eine Gemeinschaft und das ist ihr Symbol». Dieses Vorgehen ist statisch und wäre eine Art Memory-Spiel – was gehört wozu? Das kann man natürlich auch machen, ist aber doch eher unergiebig.

Es geht darum, dass das Symbolische durch die Auflösung eines darunterliegenden Wertesystems aus den Fugen gerät. Wir gingen davon aus, dass sich die Familie, besser: ihr hoher symbolischer Wert als der einer gesellschaftlich konstitutiven Gemeinschaft in der Auflösung befindet. Nicht, dass sie verschwindet, sondern dass ihr symbolisches Kapital, um mit Bourdieu zu sprechen, tendenziell erodiert. Ein wichtiges Buch auf

unserer Reise durch das Thema der Familie und ihrer sich verändernden Bedeutung war Beyond the Family von Meike Kröncke.1 Unsere Ausgangshypothese war, dass die Dinge in Bewegung sind und sich insofern auflösen. Dadurch verändern sich die symbolischen Werte und Ebenen. Es geht dabei zunächst nicht um eine bildhafte Darstellung oder um ein Artefakt, das dann analysiert werden sollte, nicht um anschauliche Symbole als Objekte welcher Art auch immer. Es geht darum, dass das Symbolische durch die Auflösung eines darunterliegenden Wertesystems aus den Fugen gerät. Ralf Neubauer (RN): Für mich spielt sich die Diskussion um Gemeinschaft immer noch vor dem Hintergrund der Gegenüberstellung von Gesellschaft und Gemeinschaft ab, also vor dieser Tönnies’schen Dichotomie.2 Wo Gesellschaft das Übergeordnete, das Kalte, das Reglementierte ist, die Leute, die man gar nicht kennt. Gemeinschaft ist demgegenüber etwas, wo ich in meiner Individualität aufgehoben sein möchte, ein Wunschbild. Familie ist eine spezielle Form von Gemeinschaft, in die man hineingeboren ist und zu der man, wohl oder übel, eine Zeit lang gehört. Heutzutage bis man 18 ist. Früher aber war man auf ewig dazu verdammt, und Ausbrüche waren riskant und sogar Gegenstand von Literatur. Das waren Geschichten, die erzählenswert waren. Mit dem Aufkommen von immer mehr bürgerlicher Freiheit und der Möglichkeit, als Individuum aufzutreten, löst sich Familie auf. Weil du immer mehr in der Lage bist, dir deine Gemeinschaft zu suchen. Die Gemeinschaft als etwas Ideales, etwas Utopisches geradezu. Das ist für mich die Skala, auf der das aufgespannt ist. Und die Gemeinschaft ist immer in Gefahr, starr zu werden.

Sobald man Ein- und Ausschlussregeln macht, kann es schnell passieren, dass Mitglieder der Gemeinschaft damit in Konflikt kommen und das Gemeinschaftliche an der Gemeinschaft dann zugunsten des Gesellschaftlichen zurücktritt. Jede Art von Ketzerei und abweichendem Verhalten wird eventuell sanktioniert. Dann gibt‘s immer irgendwelche Herbergsväter und Blockwarte, die sagen, jetzt müssen wir das aber so machen und da geht’s lang. Ich erinnere mich, wie ich mich in einer meiner früheren Wohngemeinschaften mal zu so was aufgeschwungen habe.

Und die Gemeinschaft ist immer in Gefahr, starr zu werden. RH: Zum Blockwart?! RN: Zum Herbergsvater. – Gemeinschaft ist ein oft ideales Bild, das der als unzulänglich empfundenen Realität entgegengehalten wird. Man redet auch oft von der «wahren» Gemeinschaft, gegenüber der «unwahren» Gemeinschaft. RH: Was wäre denn eine «unwahre» Gemeinschaft? RN: Gestern kam im Deutschlandfunk ein Bericht über bestimmte vatikanische Orden. Einer davon wird geführt von einem Boss der kalabrischen ’Ndrangheta. Ein vielfacher Mörder, der da von Johannes Paul eingesetzt wurde, zum Ritter des Ordens des Heiligen Lukas oder so. Es sind ja jetzt auch einige Leute aus der Vatikanbank verhaftet worden. Das sind Abgründe, die dahinter lauern. Ich als jemand, der nicht zu dieser


Vom Logos zu den Logos 27

Gemeinschaften stellen sich immer auch in Bildern oder Symbolen dar oder verweisen auf sich durch Zeichen. Damit vergewissern sie sich ihrer selbst und werden für andere erkennbar. Das Seminar Gemeinschaft – Bilder, Symbole, Zeichen, das im Studienjahr 2012/13 von Regine Halter im HyperWerk durchgeführt wurde, ging von dieser Überlegung aus und untersuchte dabei die Veränderung von Gemeinschaften – und damit die Veränderung ihrer symbolischen Werte. Das folgende Gespräch greift einzelne Aspekte des Seminars auf, ohne es indes vollständig nachzuzeichnen. Regine Halter (RH): Die Familie ist nach wie vor eine der mächtigsten Formen von Gemeinschaft, und das – in unterschiedlicher Ausprägung – in westlichen Kulturen ebenso wie in östlichen, südlichen oder nördlichen. Wir haben uns im Seminar deshalb intensiv mit der Betrachtung und Analyse von Familienbildern beschäftigt, zunächst in der Malerei, dann auch in der Fotografie, wobei wir uns vor allem mit den inszenierten Familienbildern von Jamie Diamond befassten. Unsere Arbeit drehte sich über weite Strecken um diese ganz bestimmte Form von Gemeinschaft, um ihre symbolische Repräsentation und deren Brechung. Wichtig war dies für die Diskussion moderner Übergangsformen von Gemeinschaft, die uns in erster Linie interessierten. Es kann ja nie um eine Definition von Gemeinschaft und den dazugehörenden Symbolen gehen, in einer naiven Zuordnung à la «das ist eine Gemeinschaft und das ist ihr Symbol». Dieses Vorgehen ist statisch und wäre eine Art Memory-Spiel – was gehört wozu? Das kann man natürlich auch machen, ist aber doch eher unergiebig.

Es geht darum, dass das Symbolische durch die Auflösung eines darunterliegenden Wertesystems aus den Fugen gerät. Wir gingen davon aus, dass sich die Familie, besser: ihr hoher symbolischer Wert als der einer gesellschaftlich konstitutiven Gemeinschaft in der Auflösung befindet. Nicht, dass sie verschwindet, sondern dass ihr symbolisches Kapital, um mit Bourdieu zu sprechen, tendenziell erodiert. Ein wichtiges Buch auf

unserer Reise durch das Thema der Familie und ihrer sich verändernden Bedeutung war Beyond the Family von Meike Kröncke.1 Unsere Ausgangshypothese war, dass die Dinge in Bewegung sind und sich insofern auflösen. Dadurch verändern sich die symbolischen Werte und Ebenen. Es geht dabei zunächst nicht um eine bildhafte Darstellung oder um ein Artefakt, das dann analysiert werden sollte, nicht um anschauliche Symbole als Objekte welcher Art auch immer. Es geht darum, dass das Symbolische durch die Auflösung eines darunterliegenden Wertesystems aus den Fugen gerät. Ralf Neubauer (RN): Für mich spielt sich die Diskussion um Gemeinschaft immer noch vor dem Hintergrund der Gegenüberstellung von Gesellschaft und Gemeinschaft ab, also vor dieser Tönnies’schen Dichotomie.2 Wo Gesellschaft das Übergeordnete, das Kalte, das Reglementierte ist, die Leute, die man gar nicht kennt. Gemeinschaft ist demgegenüber etwas, wo ich in meiner Individualität aufgehoben sein möchte, ein Wunschbild. Familie ist eine spezielle Form von Gemeinschaft, in die man hineingeboren ist und zu der man, wohl oder übel, eine Zeit lang gehört. Heutzutage bis man 18 ist. Früher aber war man auf ewig dazu verdammt, und Ausbrüche waren riskant und sogar Gegenstand von Literatur. Das waren Geschichten, die erzählenswert waren. Mit dem Aufkommen von immer mehr bürgerlicher Freiheit und der Möglichkeit, als Individuum aufzutreten, löst sich Familie auf. Weil du immer mehr in der Lage bist, dir deine Gemeinschaft zu suchen. Die Gemeinschaft als etwas Ideales, etwas Utopisches geradezu. Das ist für mich die Skala, auf der das aufgespannt ist. Und die Gemeinschaft ist immer in Gefahr, starr zu werden.

Sobald man Ein- und Ausschlussregeln macht, kann es schnell passieren, dass Mitglieder der Gemeinschaft damit in Konflikt kommen und das Gemeinschaftliche an der Gemeinschaft dann zugunsten des Gesellschaftlichen zurücktritt. Jede Art von Ketzerei und abweichendem Verhalten wird eventuell sanktioniert. Dann gibt‘s immer irgendwelche Herbergsväter und Blockwarte, die sagen, jetzt müssen wir das aber so machen und da geht’s lang. Ich erinnere mich, wie ich mich in einer meiner früheren Wohngemeinschaften mal zu so was aufgeschwungen habe.

Und die Gemeinschaft ist immer in Gefahr, starr zu werden. RH: Zum Blockwart?! RN: Zum Herbergsvater. – Gemeinschaft ist ein oft ideales Bild, das der als unzulänglich empfundenen Realität entgegengehalten wird. Man redet auch oft von der «wahren» Gemeinschaft, gegenüber der «unwahren» Gemeinschaft. RH: Was wäre denn eine «unwahre» Gemeinschaft? RN: Gestern kam im Deutschlandfunk ein Bericht über bestimmte vatikanische Orden. Einer davon wird geführt von einem Boss der kalabrischen ’Ndrangheta. Ein vielfacher Mörder, der da von Johannes Paul eingesetzt wurde, zum Ritter des Ordens des Heiligen Lukas oder so. Es sind ja jetzt auch einige Leute aus der Vatikanbank verhaftet worden. Das sind Abgründe, die dahinter lauern. Ich als jemand, der nicht zu dieser


katholischen Christengemeinschaft gehört, finde, dass so etwas der Vorstellung von Gemeinschaft ins Gesicht schlägt. RH: Du unterlegst ein Idealbild von Gemeinschaft, welches allen positiven Werten, die uns dazu einfallen, entspricht, also Zusammengehörigkeit, Solidarität, Geborgenheit usw. Und wenn dabei so eine mafiotische Struktur herauskommt, dann schaudert es einen natürlich, weil darin das Ideal von Gemeinschaft pervertiert wird. Dieses Auseinanderfallen von Ideal und Wirklichkeit finde ich sehr wichtig, und zwar wird damit der Motor zur immer neuen Bildung von Gemeinschaft benannt. Das Ideal ist niemals zu erreichen, denn sonst bräuchte es keine Religion mehr, keine Heilsversprechen, die ja nur durch das irrsinnige Versprechen funktionieren, dass es dieses Ideal von Gemeinschaft tatsächlich irgendwo gäbe. Das macht dann den ideologischen Charakter solcher Behauptungen aus. Familien haben in der Regel immer irgendwo eine Leiche im Keller oder definieren sich immer wieder auch über Ausgrenzung, zum Beispiel in der Form von Bestrafung einzelner Familienmitglieder. Das sind dann die schwarzen Schafe. Das ist für mich ein weiterer wichtiger Aspekt zum Thema Gemeinschaft: Wie versichert sie sich immer wieder ihrer selbst? Das ist nur über die Abgrenzung von Anderen möglich. Das Versprechen des Kommunismus zum Beispiel, das Paradies auf Erden einzurichten – dieses Versprechen ist nicht realisierbar. Aber wir streben danach, begnügen uns in der Zwischenzeit halt mit solchen profanen Gemeinschaften wie zum Beispiel der Familie oder ihren Ersatzformen.

Der Forscher hat mit leuchtenden Augen verkündet, dass wir in Zukunft nicht mehr arbeiten müssen, dass die Maschinen alles tun werden. RN: Du sagst, es funktioniert immer über Ausgrenzung oder Abgrenzung. Wenn das so ist, dann gibt es, glaube ich, gar keine echte Gemeinschaft. RH: Was meinst du mit «echte» Gemeinschaft? RN: Eine Gemeinschaft, die nicht über Ausgrenzung funktioniert. RH: Gibt es Beispiele dafür? RN: Das ist der utopische Gehalt dieses Begriffs, der dann in den religiösen Kern des Christentums hineinreicht. Jeder ist dein Nächster. Oder sogar: Liebe deine Feinde.

RH: Aber wir sind uns einig, dass es das nicht gibt. RN: Dann hätten wir das Problem, dass es überhaupt keine echten Gemeinschaften gibt. Benedikt Achermann (BA): Vielleicht ist eine «echte» Gemeinschaft ja gerade dadurch definiert, dass sie ausgrenzt oder sich abgrenzt. Das existiert real. Daneben gibt es eine utopische Vorstellung. Vielleicht ist in der utopischen Vorstellung die Menschheit gemeint, zu der wir einfach dazugehören. Was sich aber auch wieder speziesistisch gegenüber den Tieren abgrenzt. Da löst sich der utopische Ansatz also wieder auf.

Das ist so ein Mitnahmeeffekt des Wir, und ein paar stehen dann aber im Dunkeln. RN: Wenn man sich die Commons-Diskussion anschaut oder philosophische Texte liest, dann wird von wir gesprochen, und da geht’s dann um die ganze Menschheit. Technische Innovation wird auch gern angepriesen mit «Wir werden…» usw. Ich erinnere mich an ein YouTube-Filmchen aus einem Forschungslabor, wo an laufenden Robotern geforscht wird. Der Forscher hat mit leuchtenden Augen verkündet, dass wir in Zukunft nicht mehr arbeiten müssen, dass die Maschinen alles tun werden. Wer sind die Wir? Wo sind die, die nicht wir sind? Das ist so ein Mitnahmeeffekt des Wir, und ein paar stehen dann aber im Dunkeln. Aber gerade du, Beni, als Veganer, oder der Buddhist möchte, dass alles Leben befreit wird. Und Franz Kafka vor dem Aquarium, der sagt, jetzt, als Vegetarier, kann er die Fische in Frieden betrachten.3 Diese Art von Gemeinschaftsbildung wird entgrenzt auf alles Leben, hat ein gewisses utopisches Potenzial und hat auch mit Barmherzigkeit zu tun. Ich glaube, die fortwährende Geste des Nichtausgrenzens – die ist kennzeichnend für Gemeinschaft.

Du stellst es jetzt als defizient dar – wir müssen uns halt irgendwie anstrengen. RH: Es gibt keine «wahre» oder «echte» Gemeinschaft! Nicht in dem Sinne, dass wir die Idee von ihr mit ihrer Wirklichkeit verwechseln sollten. Aber das heisst nicht, dass das Ideal der Wirklichkeit geopfert würde. Im Gegenteil, es feuert uns immer wieder an. Und auch das Ideal von Gemeinschaft ist nicht unveränderlich, sondern unterliegt einer permanenten Revision – wie kann es in

unsere gesellschaftliche Wirklichkeit eingreifen, wo sind seine Bilder unbrauchbar geworden, welche Erfahrungen haben wir mit seiner konkreten Realisierung gemacht? Die Behauptung eines fixen Ideals von Gemeinschaft ist dagegen pure Ideologie.

Es gibt keine «wahre» oder «echte» Gemeinschaft! RN: Das ist natürlich so. Das ist die HeubündelGeschichte. Das Heubündel vor dem Maul des Esels. Man läuft dem Bündel immer hinterher. Das ist aber auch gut und richtig so. Ich habe damit kein Problem. Du stellst es jetzt als defizient dar – wir müssen uns halt irgendwie anstrengen. RH: Der polnische Philosoph Zygmunt Bauman hat die Frage der «wahren» und «realen» Gemeinschaft in Bezug auf Tönnies so kommentiert: «Die real existierende Gemeinschaft wird weniger eine Insel des ‚natürlichen Verständnisses’ oder ein ‚Wärmekreis’ sein, in dem man die Fäuste sinken lassen und das Kämpfen einstellen kann, sondern eher eine Festung, die ständig von (nicht selten unsichtbaren) äusseren Feinden belagert und zugleich immer wieder von internen Streitigkeiten erschüttert wird – und wer Geborgenheit, Vertrauen und Ruhe suchte, wird seine Zeit stattdessen auf Schutzwällen und Gefechtstürmen verbringen müssen.»4 Das ist eine klare Diagnose zur real existierenden Gemeinschaft. Es ist nicht der Ort des Paradieses oder Friedens. Zygmunt Bauman macht auch darauf aufmerksam, dass Tönnies seinen Begriff von Gemeinschaft, den er in

BA: Vielleicht können wir an dieser Stelle wieder an die Symbole oder symbolischen Werte solcher Gemeinschaften anknüpfen? Die ’Ndrangheta will ja in die katholische Kirche rein, weil sie dann ein grösseres Netz und mehr Einfluss hat, weil sie dann von gesellschaftlich besser abgesicherten Werten oder vom symbolischen Kapital der Kirche getragen ist. RN: Und weil sie ungestört Geld waschen kann. BA: Das steht dann hinter dem behaupteten Ideal. Was mich dabei aber vor allem interessiert, ist nicht die Kirche oder die Mafia, sondern das symbolische Kapital. Ich plädiere jetzt für einen ganz harten Bruch. Ich frage mich, wie solche Brechungen symbolischer Werte, von denen schon die Rede war, zu verstehen sind. Wie sieht es damit in der Popkultur aus, womit wir uns im Seminar ja auch befasst haben? Wie wird dort mit Symbolen umgegangen? Da werden sehr viele Symbole aufgegriffen, sei es in den RapVideos, sei es vor allem auch in den Musikvideos. Es gibt zum Beispiel die Gruppe Jus†ice aus Frankreich, die elektronische Musik macht. Die haben als Symbol ein riesiges Kreuz, wollen sich damit aber ganz offensichtlich nicht als Christen darstellen. Im Video Stress laufen Jugendliche in Bomberjacken mit riesigen Kreuzen drauf in den französischen Banlieues herum. Warum zitieren sie dieses christliche Symbol? Weil es eindrücklich ist?

Die ’Ndrangheta ist eine Gemeinschaft, die katholische Kirche ist eine, und der Alpenverein auch. Abgrenzung zu dem der Gesellschaft entfaltet hat, auf die Vorstellung der Gotteskindschaft bezieht: Gemeinschaft ist gegeben, sie muss nicht erstritten werden. Das zieht Bauman dann in Zweifel – und ich auch. Einen allgemeingültigen Begriff von Gemeinschaft im Sinne einer Leitlinie gibt es also nicht. Ein gemeinsamer Nenner könnte höchstens sein, dass der grösste Teil gemeinschaftlicher Aktivitäten, der in einer jeweils ganz bestimmten Gemeinschaft stattfindet, vor dieser auch verantwortet werden kann und in ihrem Sinne ist. Da spielt auch der moralische Aspekt von «gut» oder «böse» überhaupt keine Rolle; Gemeinschaft ist nicht per se gut. Die ̓Ndrangheta ist eine Gemeinschaft, die katholische Kirche ist eine, und der Alpenverein auch.

Zitieren von Symbolen von Geheimgesellschaften oder Gemeinschaften, wobei dennoch eine gewisse Distanz gewahrt wird. Man weiss um die Wirkung des Symbols, ist selber aber nicht unbedingt Teil der damit assoziierten Gemeinschaft.

Jus†ice, Videostills aus Stress Im Rap passiert das auch oft. Jay-Z zitiert andauernd Symbole der Freimaurer und Illuminati, sagt aber nicht explizit, dass er solchen Geheimgesellschaften angehört. Er macht oft Handzeichen, die auf die Freimaurer verweisen, wohl, um indirekt damit zu sagen, dass wir diejenigen sind, die die Fäden ziehen. Seine Verwendung solcher Anspielungen wird im Internet ausgiebigst diskutiert, auch wenn er selber sich davon ausdrücklich distanziert. Zum Beispiel auch jetzt wieder, wo sein neues Album Magna Carta Holy Grail erschienen ist. Es ist ein

wenn du eine Formel sprichst, den Koran liest und bestimmte Gebetszeiten einhältst. Da brauchst du keinen Priester, keinen anderen, der schon Muslim ist, gar nichts. Bei den Christen gibt’s die Taufe, da gibt es einen, der dich legitimiert. Was du jetzt erzählt hast über diese Pop-Gemeinschaften, die die Fäden ziehen, das ist ja so etwas, wo man sozusagen durch mehrere Kreise hindurch muss, wenn man da hinwill. Du hast so ein Eintrittsritual. Durch diese Anstrengung lädtst du selber das von dir begehrte Symbol mit Sinn und Wert auf. RH: Aber was geschieht auf der symbolischen Ebene? Das Symbol ist so stark, hat eine Geschichte, ist enorm aufgeladen, ich muss es nicht erklären. Ich denke, dass damit keine Botschaft verkündet wird – jedenfalls nicht die ursprünglich damit verbundene –, sondern dass das Symbol entladen und wieder neu aufgeladen werden soll.

Jay-Z RH: Zitiert wird ein Symbol, zum Beispiel das Kreuz als das Symbol einer christlichen, grossen Welt- und Himmelsgemeinschaft. Es wird übernommen und ausgestellt. BA: Es sind bekannte und in ihrer Deutung allgemein zugängliche Symbole, damit kann polarisiert werden. Vielleicht geht es genau darum. Das Publikum von Jus†ice sind junge Franzosen, die wohl eher nicht zu den regelmässigen Kirchgängern gehören. Das Symbol wird aus dem Kontext genommen, es bekommt eine neue Wirkung, einen neuen symbolischen Wert. Natürlich ist das so was wie Cultural Hacking, aber mich interessiert die Wirkungsweise etwas genauer. RN: Das erinnert mich an ein Interview mit Madonna. Sie wurde gefragt, warum sie denn dieses Kreuz an ihrer Halskette trage. Und dann sagt sie, sie finde nackte Männer an Kreuzen sexy. Hier geht es darum, warum jemand so was trägt und wie er zu dem Symbol kommt. Bei den Bomberjacken würde mich interessieren, ob man die so kaufen kann. Gibt die Band, so ähnlich wie die Insane Clown Posse, sozusagen ein Schnitt-

Die haben als Symbol ein riesiges Kreuz, wollen sich damit aber ganz offensichtlich nicht als Christen darstellen. muster vor und lädt dich dann zum Franchising ein? Musst du Geld dafür ausgeben – wie kommst du da rein? Bei den Muslimen ist es so, dass du jederzeit Muslim werden kannst,

BA: Frühe Punkbands wie CRASS haben so was ähnliches auch gemacht. Sie haben auf der Bühne Uniformen mit Armbinden getragen, auf denen swastikaartige Symbole zu sehen waren, das war das Bandlogo. Jeder wusste, worauf sie anspielen, aber es war ihr eigenes Logo und hatte eine starke Wirkung. Die Wirkung der Swastika haben sie für sich eingesetzt, sie aber mit ihrer Band und ihrer Message neu aufgeladen.

CRASS-Logo RN: Wobei das ja nicht geht. Du kannst nicht sagen: Wir übernehmen die Wirkung, lassen das aber was ganz anderes bedeuten. Wenn du versuchst, so eine Kraftquelle anzuzapfen, kannst du ihre Inhalte nicht einfach wegschieben und deinen Inhalt einsetzen. Das gerät dann unweigerlich in die Nähe des Hakenkreuzes, des Nationalsozialismus und ist, sagen wir mal, protofaschistisch. BA: Vielleicht geht aber genau das in der heutigen Popkultur. Da wird einfach alles genommen und irgendwie verwurstet und wieder rausgehauen. Dieses Zitieren ist ein wichtiges Stilmittel.


katholischen Christengemeinschaft gehört, finde, dass so etwas der Vorstellung von Gemeinschaft ins Gesicht schlägt. RH: Du unterlegst ein Idealbild von Gemeinschaft, welches allen positiven Werten, die uns dazu einfallen, entspricht, also Zusammengehörigkeit, Solidarität, Geborgenheit usw. Und wenn dabei so eine mafiotische Struktur herauskommt, dann schaudert es einen natürlich, weil darin das Ideal von Gemeinschaft pervertiert wird. Dieses Auseinanderfallen von Ideal und Wirklichkeit finde ich sehr wichtig, und zwar wird damit der Motor zur immer neuen Bildung von Gemeinschaft benannt. Das Ideal ist niemals zu erreichen, denn sonst bräuchte es keine Religion mehr, keine Heilsversprechen, die ja nur durch das irrsinnige Versprechen funktionieren, dass es dieses Ideal von Gemeinschaft tatsächlich irgendwo gäbe. Das macht dann den ideologischen Charakter solcher Behauptungen aus. Familien haben in der Regel immer irgendwo eine Leiche im Keller oder definieren sich immer wieder auch über Ausgrenzung, zum Beispiel in der Form von Bestrafung einzelner Familienmitglieder. Das sind dann die schwarzen Schafe. Das ist für mich ein weiterer wichtiger Aspekt zum Thema Gemeinschaft: Wie versichert sie sich immer wieder ihrer selbst? Das ist nur über die Abgrenzung von Anderen möglich. Das Versprechen des Kommunismus zum Beispiel, das Paradies auf Erden einzurichten – dieses Versprechen ist nicht realisierbar. Aber wir streben danach, begnügen uns in der Zwischenzeit halt mit solchen profanen Gemeinschaften wie zum Beispiel der Familie oder ihren Ersatzformen.

Der Forscher hat mit leuchtenden Augen verkündet, dass wir in Zukunft nicht mehr arbeiten müssen, dass die Maschinen alles tun werden. RN: Du sagst, es funktioniert immer über Ausgrenzung oder Abgrenzung. Wenn das so ist, dann gibt es, glaube ich, gar keine echte Gemeinschaft. RH: Was meinst du mit «echte» Gemeinschaft? RN: Eine Gemeinschaft, die nicht über Ausgrenzung funktioniert. RH: Gibt es Beispiele dafür? RN: Das ist der utopische Gehalt dieses Begriffs, der dann in den religiösen Kern des Christentums hineinreicht. Jeder ist dein Nächster. Oder sogar: Liebe deine Feinde.

RH: Aber wir sind uns einig, dass es das nicht gibt. RN: Dann hätten wir das Problem, dass es überhaupt keine echten Gemeinschaften gibt. Benedikt Achermann (BA): Vielleicht ist eine «echte» Gemeinschaft ja gerade dadurch definiert, dass sie ausgrenzt oder sich abgrenzt. Das existiert real. Daneben gibt es eine utopische Vorstellung. Vielleicht ist in der utopischen Vorstellung die Menschheit gemeint, zu der wir einfach dazugehören. Was sich aber auch wieder speziesistisch gegenüber den Tieren abgrenzt. Da löst sich der utopische Ansatz also wieder auf.

Das ist so ein Mitnahmeeffekt des Wir, und ein paar stehen dann aber im Dunkeln. RN: Wenn man sich die Commons-Diskussion anschaut oder philosophische Texte liest, dann wird von wir gesprochen, und da geht’s dann um die ganze Menschheit. Technische Innovation wird auch gern angepriesen mit «Wir werden…» usw. Ich erinnere mich an ein YouTube-Filmchen aus einem Forschungslabor, wo an laufenden Robotern geforscht wird. Der Forscher hat mit leuchtenden Augen verkündet, dass wir in Zukunft nicht mehr arbeiten müssen, dass die Maschinen alles tun werden. Wer sind die Wir? Wo sind die, die nicht wir sind? Das ist so ein Mitnahmeeffekt des Wir, und ein paar stehen dann aber im Dunkeln. Aber gerade du, Beni, als Veganer, oder der Buddhist möchte, dass alles Leben befreit wird. Und Franz Kafka vor dem Aquarium, der sagt, jetzt, als Vegetarier, kann er die Fische in Frieden betrachten.3 Diese Art von Gemeinschaftsbildung wird entgrenzt auf alles Leben, hat ein gewisses utopisches Potenzial und hat auch mit Barmherzigkeit zu tun. Ich glaube, die fortwährende Geste des Nichtausgrenzens – die ist kennzeichnend für Gemeinschaft.

Du stellst es jetzt als defizient dar – wir müssen uns halt irgendwie anstrengen. RH: Es gibt keine «wahre» oder «echte» Gemeinschaft! Nicht in dem Sinne, dass wir die Idee von ihr mit ihrer Wirklichkeit verwechseln sollten. Aber das heisst nicht, dass das Ideal der Wirklichkeit geopfert würde. Im Gegenteil, es feuert uns immer wieder an. Und auch das Ideal von Gemeinschaft ist nicht unveränderlich, sondern unterliegt einer permanenten Revision – wie kann es in

unsere gesellschaftliche Wirklichkeit eingreifen, wo sind seine Bilder unbrauchbar geworden, welche Erfahrungen haben wir mit seiner konkreten Realisierung gemacht? Die Behauptung eines fixen Ideals von Gemeinschaft ist dagegen pure Ideologie.

Es gibt keine «wahre» oder «echte» Gemeinschaft! RN: Das ist natürlich so. Das ist die HeubündelGeschichte. Das Heubündel vor dem Maul des Esels. Man läuft dem Bündel immer hinterher. Das ist aber auch gut und richtig so. Ich habe damit kein Problem. Du stellst es jetzt als defizient dar – wir müssen uns halt irgendwie anstrengen. RH: Der polnische Philosoph Zygmunt Bauman hat die Frage der «wahren» und «realen» Gemeinschaft in Bezug auf Tönnies so kommentiert: «Die real existierende Gemeinschaft wird weniger eine Insel des ‚natürlichen Verständnisses’ oder ein ‚Wärmekreis’ sein, in dem man die Fäuste sinken lassen und das Kämpfen einstellen kann, sondern eher eine Festung, die ständig von (nicht selten unsichtbaren) äusseren Feinden belagert und zugleich immer wieder von internen Streitigkeiten erschüttert wird – und wer Geborgenheit, Vertrauen und Ruhe suchte, wird seine Zeit stattdessen auf Schutzwällen und Gefechtstürmen verbringen müssen.»4 Das ist eine klare Diagnose zur real existierenden Gemeinschaft. Es ist nicht der Ort des Paradieses oder Friedens. Zygmunt Bauman macht auch darauf aufmerksam, dass Tönnies seinen Begriff von Gemeinschaft, den er in

BA: Vielleicht können wir an dieser Stelle wieder an die Symbole oder symbolischen Werte solcher Gemeinschaften anknüpfen? Die ’Ndrangheta will ja in die katholische Kirche rein, weil sie dann ein grösseres Netz und mehr Einfluss hat, weil sie dann von gesellschaftlich besser abgesicherten Werten oder vom symbolischen Kapital der Kirche getragen ist. RN: Und weil sie ungestört Geld waschen kann. BA: Das steht dann hinter dem behaupteten Ideal. Was mich dabei aber vor allem interessiert, ist nicht die Kirche oder die Mafia, sondern das symbolische Kapital. Ich plädiere jetzt für einen ganz harten Bruch. Ich frage mich, wie solche Brechungen symbolischer Werte, von denen schon die Rede war, zu verstehen sind. Wie sieht es damit in der Popkultur aus, womit wir uns im Seminar ja auch befasst haben? Wie wird dort mit Symbolen umgegangen? Da werden sehr viele Symbole aufgegriffen, sei es in den RapVideos, sei es vor allem auch in den Musikvideos. Es gibt zum Beispiel die Gruppe Jus†ice aus Frankreich, die elektronische Musik macht. Die haben als Symbol ein riesiges Kreuz, wollen sich damit aber ganz offensichtlich nicht als Christen darstellen. Im Video Stress laufen Jugendliche in Bomberjacken mit riesigen Kreuzen drauf in den französischen Banlieues herum. Warum zitieren sie dieses christliche Symbol? Weil es eindrücklich ist?

Die ’Ndrangheta ist eine Gemeinschaft, die katholische Kirche ist eine, und der Alpenverein auch. Abgrenzung zu dem der Gesellschaft entfaltet hat, auf die Vorstellung der Gotteskindschaft bezieht: Gemeinschaft ist gegeben, sie muss nicht erstritten werden. Das zieht Bauman dann in Zweifel – und ich auch. Einen allgemeingültigen Begriff von Gemeinschaft im Sinne einer Leitlinie gibt es also nicht. Ein gemeinsamer Nenner könnte höchstens sein, dass der grösste Teil gemeinschaftlicher Aktivitäten, der in einer jeweils ganz bestimmten Gemeinschaft stattfindet, vor dieser auch verantwortet werden kann und in ihrem Sinne ist. Da spielt auch der moralische Aspekt von «gut» oder «böse» überhaupt keine Rolle; Gemeinschaft ist nicht per se gut. Die ̓Ndrangheta ist eine Gemeinschaft, die katholische Kirche ist eine, und der Alpenverein auch.

Zitieren von Symbolen von Geheimgesellschaften oder Gemeinschaften, wobei dennoch eine gewisse Distanz gewahrt wird. Man weiss um die Wirkung des Symbols, ist selber aber nicht unbedingt Teil der damit assoziierten Gemeinschaft.

Jus†ice, Videostills aus Stress Im Rap passiert das auch oft. Jay-Z zitiert andauernd Symbole der Freimaurer und Illuminati, sagt aber nicht explizit, dass er solchen Geheimgesellschaften angehört. Er macht oft Handzeichen, die auf die Freimaurer verweisen, wohl, um indirekt damit zu sagen, dass wir diejenigen sind, die die Fäden ziehen. Seine Verwendung solcher Anspielungen wird im Internet ausgiebigst diskutiert, auch wenn er selber sich davon ausdrücklich distanziert. Zum Beispiel auch jetzt wieder, wo sein neues Album Magna Carta Holy Grail erschienen ist. Es ist ein

wenn du eine Formel sprichst, den Koran liest und bestimmte Gebetszeiten einhältst. Da brauchst du keinen Priester, keinen anderen, der schon Muslim ist, gar nichts. Bei den Christen gibt’s die Taufe, da gibt es einen, der dich legitimiert. Was du jetzt erzählt hast über diese Pop-Gemeinschaften, die die Fäden ziehen, das ist ja so etwas, wo man sozusagen durch mehrere Kreise hindurch muss, wenn man da hinwill. Du hast so ein Eintrittsritual. Durch diese Anstrengung lädtst du selber das von dir begehrte Symbol mit Sinn und Wert auf. RH: Aber was geschieht auf der symbolischen Ebene? Das Symbol ist so stark, hat eine Geschichte, ist enorm aufgeladen, ich muss es nicht erklären. Ich denke, dass damit keine Botschaft verkündet wird – jedenfalls nicht die ursprünglich damit verbundene –, sondern dass das Symbol entladen und wieder neu aufgeladen werden soll.

Jay-Z RH: Zitiert wird ein Symbol, zum Beispiel das Kreuz als das Symbol einer christlichen, grossen Welt- und Himmelsgemeinschaft. Es wird übernommen und ausgestellt. BA: Es sind bekannte und in ihrer Deutung allgemein zugängliche Symbole, damit kann polarisiert werden. Vielleicht geht es genau darum. Das Publikum von Jus†ice sind junge Franzosen, die wohl eher nicht zu den regelmässigen Kirchgängern gehören. Das Symbol wird aus dem Kontext genommen, es bekommt eine neue Wirkung, einen neuen symbolischen Wert. Natürlich ist das so was wie Cultural Hacking, aber mich interessiert die Wirkungsweise etwas genauer. RN: Das erinnert mich an ein Interview mit Madonna. Sie wurde gefragt, warum sie denn dieses Kreuz an ihrer Halskette trage. Und dann sagt sie, sie finde nackte Männer an Kreuzen sexy. Hier geht es darum, warum jemand so was trägt und wie er zu dem Symbol kommt. Bei den Bomberjacken würde mich interessieren, ob man die so kaufen kann. Gibt die Band, so ähnlich wie die Insane Clown Posse, sozusagen ein Schnitt-

Die haben als Symbol ein riesiges Kreuz, wollen sich damit aber ganz offensichtlich nicht als Christen darstellen. muster vor und lädt dich dann zum Franchising ein? Musst du Geld dafür ausgeben – wie kommst du da rein? Bei den Muslimen ist es so, dass du jederzeit Muslim werden kannst,

BA: Frühe Punkbands wie CRASS haben so was ähnliches auch gemacht. Sie haben auf der Bühne Uniformen mit Armbinden getragen, auf denen swastikaartige Symbole zu sehen waren, das war das Bandlogo. Jeder wusste, worauf sie anspielen, aber es war ihr eigenes Logo und hatte eine starke Wirkung. Die Wirkung der Swastika haben sie für sich eingesetzt, sie aber mit ihrer Band und ihrer Message neu aufgeladen.

CRASS-Logo RN: Wobei das ja nicht geht. Du kannst nicht sagen: Wir übernehmen die Wirkung, lassen das aber was ganz anderes bedeuten. Wenn du versuchst, so eine Kraftquelle anzuzapfen, kannst du ihre Inhalte nicht einfach wegschieben und deinen Inhalt einsetzen. Das gerät dann unweigerlich in die Nähe des Hakenkreuzes, des Nationalsozialismus und ist, sagen wir mal, protofaschistisch. BA: Vielleicht geht aber genau das in der heutigen Popkultur. Da wird einfach alles genommen und irgendwie verwurstet und wieder rausgehauen. Dieses Zitieren ist ein wichtiges Stilmittel.


RN: Ich merke, dass das jetzt womöglich etwas Generationenspezifisches bei mir ist. Wenn die Dinge schon so in Auflösung geraten sind, wie das Beni gerade festgestellt hat, dann kann man vielleicht auch nicht mehr sagen, dass da jetzt so furchtbar der Faschismus dranhängt. Vielleicht treten da auch ältere, indische Traditionen wieder hervor, werden gleichgeordnet. RH: Es handelt sich um die Fragmentierung komplexer Zusammenhänge, die dem Symbolischen in seiner ursprünglichen Zuordnung zugrunde gelegen haben. BA: Bei CRASS wirkt das Logo wie eine Swastika, aber es ist keine. Man sieht es und weiss, wo sie das wohl herhaben. Die Leute in der Band standen aber politisch sehr weit links, sie wollten dieses Auftreten für sich kopieren und in einen anderen Kontext stellen. RH: Ich spreche nur von der Intention. Ob das für mich persönlich so funktioniert, ist eine andere Frage. Es werden neue Inszenierungen gebaut, Neuinszenierungen mit symbolischen Zitaten, die dann eben zu einer Form von Trivialisierung oder Entpolitisierung oder meinetwegen auch Entladung des ursprünglichen Symbolwertes führen. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt für die Karriere des Symbolischen in Bezug auf herkömmliche, traditionelle, uns bekannte Gemeinschaften.

eine ganz andere Beweglichkeit, und damit ist auch ein sehr viel profanerer Anspruch verbunden. Oft geht es auch nur um gemeinsame materielle Interessen, um Zweckgemeinschaften, die sich auflösen, wenn die Sache gelaufen ist. Die Beweglichkeit von Gemeinschaft ist ein sehr wichtiger Aspekt, wenn wir über die «Modernisierung» des Gemeinschaftlichen sprechen. Ob das kritisch als «pubertär-provisorisch» diagnostiziert werden muss, wäre eine interessante Frage.

Die Beweglichkeit von Gemeinschaft ist ein sehr wichtiger Aspekt, wenn wir über die «Modernisierung» des Gemeinschaftlichen sprechen. BA: Im Seminar ging es in diesem Zusammenhang zum Beispiel um Insane Clown Posse (ICP), ein Horrorcore-Rap-Duo. Da gibt es ganz eigene Zeichen und Symbole, aber im Gegensatz zu den Punkbands und zu Jay-Z haben sie halt ihr eigenes Logo, den Clown, entworfen. Der steht dort für die Gemeinschaft der Band mit ihren Fans, den sogenannten Juggalos, welche dieses Clownssymbol aufnehmen und an sich selbst tragen.

die sich irgendwie entwickeln, ein Logo oder ein Symbol aufnehmen, und die sich dann wieder auflösen. RH: Dann haben wir auch über Slipknot gesprochen, mit ihren Henkersknoten-Masken. Dabei fällt mir immer wieder der Satz von Jean-François Lyotard ein: «VersteckenZeigen, das ist Theatralität.»5 ICPler tragen ihre Maske direkt auf der Haut. Bei Slipknot gibt es Mischformen: Es sind auf die Haut aufgetragene, mit Objekten bestückte Masken, oder es sind Masken, die vor dem Gesicht getragen werden. Im Verhältnis zu Slipknot sind ICP der reinste Knabenchor. Bei Slipknot geht es nicht darum, sich zu unterscheiden oder einfach erkennbar zu sein, sondern darum, sich selbst als Ausgegrenzte zu stilisieren. Es geht um den Outlaw, um den, der ausgegrenzt ist oder sich selber ausgrenzt. Es ist eine Absage an die Vereinnahmung.

RH: Das nehmen wir als Überschrift für unser Gespräch!

Da wird einfach alles genommen und irgendwie verwurstet und wieder rausgehauen. RH: Mit der Profanierung zitierter, dekontextualisierter Symbole werden Veränderungen im Verständnis und in der Praxis von Gemeinschaft angezeigt. Volatil, durchaus kurzlebig, ein sich ständig neu formierender Schwarm. Gemeinschaften bilden sich, lösen sich auf, entstehen um neue Fragen. Das ist

Slipknot

Juggalos RH: Wenn die Fans sich treffen, dann erkennen sie sich vor allem daran wieder – das macht den symbolischen Charakter dieser aufgemalten Masken aus: Wir sind Teil derselben Gemeinschaft. Aber eben auch: Wir sind Teil einer Gemeinschaft, aus der wir jederzeit, ohne erschossen oder verbannt und verdammt zu werden, wieder austreten können. BA: Da spricht man vor allem auch von Movements. Das sind ja auch Gemeinschaften,

RH: Es ist von der Kulturindustrie schon wieder so sehr vereinnahmt, dass es ein Zitat ist. Die Popkultur zitiert sich selbst. Aber die Leute rennen nicht ins Kino, weil sie das schön finden, sondern weil sie sich gruseln wollen. Gewissermassen die Gemeinschaft der Grusler, die als Antithese zur idealen Gemeinschaft funktioniert. Wenn du über das Erschrecken hinausgehst, bist du Teil der Gemeinschaft. BA: Slipknot symbolisiert ja erklärtermassen mit den Masken die psychischen Qualen und die jeweilige Persönlichkeit. Und davon ist man dann selber auch Teil. Gerade bei Metal war das schon immer so. Die Leute wirken irgendwie abschreckend, laufen schwarzgekleidet mit düsteren Bandmotiven auf den T-Shirts rum. Wenn man sie dann aber näher kennenlernt, sind es ganz nette Leute.

Wenn du über das Erschrecken hinausgehst, bist du Teil der Gemeinschaft.

RN: Früher ging’s mal um den Logos, um den herum sich Gemeinschaften gruppiert haben, heute geht’s nur noch um die Logos.

RN: Vom Logos zu den Logos. Und für mich ist ja dann die Frage: Wenn so viele Logos vorbeirauschen, vorbeischlingern, wo gibtʼs denn die Möglichkeit, sich auch mal etwas weniger als zeitlich begrenzt, pubertär-provisorisch, in etwas einzuhängen? Wenn Symbole ja schon so wichtig sind, was sie ja sind. Wir müssen auf diese Slipknot-Sache kommen.

BA: Das sehe ich anders. Wenn sie an einer Horrorfilmästhetitk anknüpfen, ist das auch massentauglich. Die Leute rennen ja ins Kino, um sich Filme wie Saw oder früher Halloween anzuschauen. Diese Filme hatten auch solche Serienmörder-Figuren mit Maske und sind Popkultur.

BA: Die Ästhetik ist ganz klar bei amerikanischen Horror- und Slasherfilmen und beim extremen Metal, Black und Death Metal angesiedelt. Bei Slipknot ist interessant, dass sie in ihrer Blütezeit mainstreamtauglich waren: Sie liefen auf MTV, und jeder kannte die. Bei Black Metal gibt’s das sogenannte corpse painting, bei dem das Gesicht schwarz und weiss angemalt wird. Slipknot knüpft daran an, das ist für mich nicht sonderlich originell. Aber es ist sehr gut gemacht und qualitativ auf einem ganz anderen Niveau als ICP. Weniger dilettantisch, regelrecht designt. RH: Es gibt sicher eine ästhetische Referenz. Aber ob neu oder nicht, es wird da eine Grenze überschritten, nämlich die Grenze zum bürgerlichen Geschmack. Sie grenzen sich damit selber aus, auch wenn sie dadurch auch schon wieder eine eigene Gemeinschaft intendieren und bewirtschaften.

RN: Das mag trivial sein, ich finde, man sollte es aber trotzdem erwähnen. Und sie sind ja anonymisiert, d.h. sie verbergen sich, um sich bestimmte Eigenschaften selektiv zuzuschreiben. Und darüber sind sie anschlussfähig für ihr Publikum. Einer von Slipknot hat ja gesagt, er sei psychisch kalt. RH: Und das ist die Spannung von «Verstecken-Zeigen». Es ist dem verhaftet, was kritisiert wird. Das ist für mich ein sehr wichtiger Punkt in der Frage danach, wie sich Gemeinschaften bilden. Welcher Mittel bedienen sich neu entstehende Gemeinschaften? In diesem Falle läuft es über das Abschrecken. Und das geht ganz vielen so, die jetzt nicht so abgebrüht sind wie du, Beni. RN: Und wo ist denn die Abgrenzung z.B. vom Slasher- zum Splatterfilm? Du bist nun jemand, der diese Genres kennt, bist oder warst Teil dieser Gemeinschaft von Leuten, die das goutieren und die Zitate erkennen können, weil du den Kontext kennst. Über so etwas reden zu können und Bescheid zu wissen, ist ja ein weiterer Kontext des Gemeinschaftsbildenden. So dritte, vierte Stufe. Um die Ecke. Ganz viel von unserem geistigen Leben, wie wir Dinge kontextualisieren können, hat ja dann auch mit den Gemein-

schaften zu tun, zu denen wir gehören oder mal gehört haben. Sie treiben nur die Grenze dessen, was medial möglich ist, noch weiter hinaus und arbeiten damit eigentlich an der Entropie. Auch ihre Hitze strahlt einfach ab in das, was möglich ist. Es ist ja sowieso ein gängiges Phänomen, dass Underground, und vor allem der harte Underground, dann von Kunsttheoretikern begeistert aufgegriffen und hochgehalten wird. Und dadurch werden die Dinge dann eben wiederum auf eine andere Art und Weise medialisiert und entschärft. Es wird sozusagen Land hingebaut zu ihnen, und sie gehören dann eben auch dazu.

BA: Wenn man das jetzt in die heutige Zeit nimmt, dann war Kurt Cobain von Nirvana so eine Figur. Er wollte sich ja dem Musikbusiness verweigern, was später auch zu seinem Suizid führte. Er war gegen die Regeln der Musikindustrie, seine Videoclips liefen aber gleichzeitig den ganzen Tag auf MTV. An diesem Zwiespalt ist er zugrunde gegangen. Er hatte etwas von James Dean, wurde eine Heldenfigur.

RH: In diesem Zusammenhang stellt sich wieder die Frage nach der Figur des Outlaw. Wo ist der hin?

Und hier setzt heute eine Segmentierung ein – die Aussteiger einerseits, die verzweifelten Outlaws andererseits. RN: Diese Frage müsste man mit einem Aphorismus von Oscar Wilde beant worten:«Die Gesellschaft verzeiht dem Verbrecher, dem Träumer verzeiht sie nicht.» Der Verbrecher bleibt nämlich auch durch die Regelverletzung auf sie bezogen – ist womöglich der, der etwas tut, das andere auch gerne getan hätten. RH: Er ist im Sinn von Alfred Schütz «zurechnungsfähig». RN: Er hat gerade durch Negation auch angeschlossen. Dagegen der Träumer, der, der das ganz Andere will. Der Träumer ist eigentlich der Outlaw. Das endet in gewisser Weise aporetisch. Der Outlaw ist ja dann auch der, der nichts tut, der womöglich einfach ist. Und damit auch in einem hohen Masse Gemeinschaft verweigert.

Auch ihre Hitze strahlt einfach ab in das, was möglich ist. BA: Die Regeln der Gemeinschaft sind ihm gänzlich egal, er macht da gar nichts. Der klassische Outlaw verstösst aber gegen das Gesetz oder die Regeln. RN: Er raubt Banken aus. RH: Oder er leidet an der Gesellschaft. Es ist aber nicht der Eremit, von dem ich spreche. Wir alle kennen das Bild von James Dean als dem Gekreuzigten, dem Schmerzensmann. Der leidet an der Gesellschaft und ist ihr dadurch auch verbunden. Und wurde damit zur Ikone einer Gemeinschaft, lange vor der Bewegung von 1968.

Kurt Cobain RH: Den Outlaw als den Verzweifelten gibt es nicht mehr. Cobain stand noch in dieser Tradition, aber eher als Einzelfall. Der an seiner Verzweiflung Zugrundegehende ist zur mythischen Figur geworden. Und damit wieder zitierfähig. Was den Outlaw neben seiner heldischen Verzweiflung so anziehend macht, ist unsere Vorstellung, sich wirklich ausserhalb der gesellschaftlichen Werte stellen zu können. Aber diesen Raum gibt es gar nicht, sonst hätte sich Cobain auch gar nicht umbringen müssen. Das ist längst als Illusion entlarvt und uns noch einmal ins Gedächtnis gerufen worden, seitdem wir durch Edward Snowden von der flächendeckenden NSA-Spionage wissen.

Die Regeln der Gemeinschaft sind ihm gänzlich egal, er macht da gar nichts. An die Stelle der Outlaws und Verzweifelten sind die sogenannten «Aussteiger» getreten. Sie bauen sich eigene Gemeinschaften, stehen aber nicht unbedingt ausserhalb der Gesellschaft. Und hier setzt heute eine Segmentierung ein – die Aussteiger einerseits, die verzweifelten Outlaws andererseits.


RN: Ich merke, dass das jetzt womöglich etwas Generationenspezifisches bei mir ist. Wenn die Dinge schon so in Auflösung geraten sind, wie das Beni gerade festgestellt hat, dann kann man vielleicht auch nicht mehr sagen, dass da jetzt so furchtbar der Faschismus dranhängt. Vielleicht treten da auch ältere, indische Traditionen wieder hervor, werden gleichgeordnet. RH: Es handelt sich um die Fragmentierung komplexer Zusammenhänge, die dem Symbolischen in seiner ursprünglichen Zuordnung zugrunde gelegen haben. BA: Bei CRASS wirkt das Logo wie eine Swastika, aber es ist keine. Man sieht es und weiss, wo sie das wohl herhaben. Die Leute in der Band standen aber politisch sehr weit links, sie wollten dieses Auftreten für sich kopieren und in einen anderen Kontext stellen. RH: Ich spreche nur von der Intention. Ob das für mich persönlich so funktioniert, ist eine andere Frage. Es werden neue Inszenierungen gebaut, Neuinszenierungen mit symbolischen Zitaten, die dann eben zu einer Form von Trivialisierung oder Entpolitisierung oder meinetwegen auch Entladung des ursprünglichen Symbolwertes führen. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt für die Karriere des Symbolischen in Bezug auf herkömmliche, traditionelle, uns bekannte Gemeinschaften.

eine ganz andere Beweglichkeit, und damit ist auch ein sehr viel profanerer Anspruch verbunden. Oft geht es auch nur um gemeinsame materielle Interessen, um Zweckgemeinschaften, die sich auflösen, wenn die Sache gelaufen ist. Die Beweglichkeit von Gemeinschaft ist ein sehr wichtiger Aspekt, wenn wir über die «Modernisierung» des Gemeinschaftlichen sprechen. Ob das kritisch als «pubertär-provisorisch» diagnostiziert werden muss, wäre eine interessante Frage.

Die Beweglichkeit von Gemeinschaft ist ein sehr wichtiger Aspekt, wenn wir über die «Modernisierung» des Gemeinschaftlichen sprechen. BA: Im Seminar ging es in diesem Zusammenhang zum Beispiel um Insane Clown Posse (ICP), ein Horrorcore-Rap-Duo. Da gibt es ganz eigene Zeichen und Symbole, aber im Gegensatz zu den Punkbands und zu Jay-Z haben sie halt ihr eigenes Logo, den Clown, entworfen. Der steht dort für die Gemeinschaft der Band mit ihren Fans, den sogenannten Juggalos, welche dieses Clownssymbol aufnehmen und an sich selbst tragen.

die sich irgendwie entwickeln, ein Logo oder ein Symbol aufnehmen, und die sich dann wieder auflösen. RH: Dann haben wir auch über Slipknot gesprochen, mit ihren Henkersknoten-Masken. Dabei fällt mir immer wieder der Satz von Jean-François Lyotard ein: «VersteckenZeigen, das ist Theatralität.»5 ICPler tragen ihre Maske direkt auf der Haut. Bei Slipknot gibt es Mischformen: Es sind auf die Haut aufgetragene, mit Objekten bestückte Masken, oder es sind Masken, die vor dem Gesicht getragen werden. Im Verhältnis zu Slipknot sind ICP der reinste Knabenchor. Bei Slipknot geht es nicht darum, sich zu unterscheiden oder einfach erkennbar zu sein, sondern darum, sich selbst als Ausgegrenzte zu stilisieren. Es geht um den Outlaw, um den, der ausgegrenzt ist oder sich selber ausgrenzt. Es ist eine Absage an die Vereinnahmung.

RH: Das nehmen wir als Überschrift für unser Gespräch!

Da wird einfach alles genommen und irgendwie verwurstet und wieder rausgehauen. RH: Mit der Profanierung zitierter, dekontextualisierter Symbole werden Veränderungen im Verständnis und in der Praxis von Gemeinschaft angezeigt. Volatil, durchaus kurzlebig, ein sich ständig neu formierender Schwarm. Gemeinschaften bilden sich, lösen sich auf, entstehen um neue Fragen. Das ist

Slipknot

Juggalos RH: Wenn die Fans sich treffen, dann erkennen sie sich vor allem daran wieder – das macht den symbolischen Charakter dieser aufgemalten Masken aus: Wir sind Teil derselben Gemeinschaft. Aber eben auch: Wir sind Teil einer Gemeinschaft, aus der wir jederzeit, ohne erschossen oder verbannt und verdammt zu werden, wieder austreten können. BA: Da spricht man vor allem auch von Movements. Das sind ja auch Gemeinschaften,

RH: Es ist von der Kulturindustrie schon wieder so sehr vereinnahmt, dass es ein Zitat ist. Die Popkultur zitiert sich selbst. Aber die Leute rennen nicht ins Kino, weil sie das schön finden, sondern weil sie sich gruseln wollen. Gewissermassen die Gemeinschaft der Grusler, die als Antithese zur idealen Gemeinschaft funktioniert. Wenn du über das Erschrecken hinausgehst, bist du Teil der Gemeinschaft. BA: Slipknot symbolisiert ja erklärtermassen mit den Masken die psychischen Qualen und die jeweilige Persönlichkeit. Und davon ist man dann selber auch Teil. Gerade bei Metal war das schon immer so. Die Leute wirken irgendwie abschreckend, laufen schwarzgekleidet mit düsteren Bandmotiven auf den T-Shirts rum. Wenn man sie dann aber näher kennenlernt, sind es ganz nette Leute.

Wenn du über das Erschrecken hinausgehst, bist du Teil der Gemeinschaft.

RN: Früher ging’s mal um den Logos, um den herum sich Gemeinschaften gruppiert haben, heute geht’s nur noch um die Logos.

RN: Vom Logos zu den Logos. Und für mich ist ja dann die Frage: Wenn so viele Logos vorbeirauschen, vorbeischlingern, wo gibtʼs denn die Möglichkeit, sich auch mal etwas weniger als zeitlich begrenzt, pubertär-provisorisch, in etwas einzuhängen? Wenn Symbole ja schon so wichtig sind, was sie ja sind. Wir müssen auf diese Slipknot-Sache kommen.

BA: Das sehe ich anders. Wenn sie an einer Horrorfilmästhetitk anknüpfen, ist das auch massentauglich. Die Leute rennen ja ins Kino, um sich Filme wie Saw oder früher Halloween anzuschauen. Diese Filme hatten auch solche Serienmörder-Figuren mit Maske und sind Popkultur.

BA: Die Ästhetik ist ganz klar bei amerikanischen Horror- und Slasherfilmen und beim extremen Metal, Black und Death Metal angesiedelt. Bei Slipknot ist interessant, dass sie in ihrer Blütezeit mainstreamtauglich waren: Sie liefen auf MTV, und jeder kannte die. Bei Black Metal gibt’s das sogenannte corpse painting, bei dem das Gesicht schwarz und weiss angemalt wird. Slipknot knüpft daran an, das ist für mich nicht sonderlich originell. Aber es ist sehr gut gemacht und qualitativ auf einem ganz anderen Niveau als ICP. Weniger dilettantisch, regelrecht designt. RH: Es gibt sicher eine ästhetische Referenz. Aber ob neu oder nicht, es wird da eine Grenze überschritten, nämlich die Grenze zum bürgerlichen Geschmack. Sie grenzen sich damit selber aus, auch wenn sie dadurch auch schon wieder eine eigene Gemeinschaft intendieren und bewirtschaften.

RN: Das mag trivial sein, ich finde, man sollte es aber trotzdem erwähnen. Und sie sind ja anonymisiert, d.h. sie verbergen sich, um sich bestimmte Eigenschaften selektiv zuzuschreiben. Und darüber sind sie anschlussfähig für ihr Publikum. Einer von Slipknot hat ja gesagt, er sei psychisch kalt. RH: Und das ist die Spannung von «Verstecken-Zeigen». Es ist dem verhaftet, was kritisiert wird. Das ist für mich ein sehr wichtiger Punkt in der Frage danach, wie sich Gemeinschaften bilden. Welcher Mittel bedienen sich neu entstehende Gemeinschaften? In diesem Falle läuft es über das Abschrecken. Und das geht ganz vielen so, die jetzt nicht so abgebrüht sind wie du, Beni. RN: Und wo ist denn die Abgrenzung z.B. vom Slasher- zum Splatterfilm? Du bist nun jemand, der diese Genres kennt, bist oder warst Teil dieser Gemeinschaft von Leuten, die das goutieren und die Zitate erkennen können, weil du den Kontext kennst. Über so etwas reden zu können und Bescheid zu wissen, ist ja ein weiterer Kontext des Gemeinschaftsbildenden. So dritte, vierte Stufe. Um die Ecke. Ganz viel von unserem geistigen Leben, wie wir Dinge kontextualisieren können, hat ja dann auch mit den Gemein-

schaften zu tun, zu denen wir gehören oder mal gehört haben. Sie treiben nur die Grenze dessen, was medial möglich ist, noch weiter hinaus und arbeiten damit eigentlich an der Entropie. Auch ihre Hitze strahlt einfach ab in das, was möglich ist. Es ist ja sowieso ein gängiges Phänomen, dass Underground, und vor allem der harte Underground, dann von Kunsttheoretikern begeistert aufgegriffen und hochgehalten wird. Und dadurch werden die Dinge dann eben wiederum auf eine andere Art und Weise medialisiert und entschärft. Es wird sozusagen Land hingebaut zu ihnen, und sie gehören dann eben auch dazu.

BA: Wenn man das jetzt in die heutige Zeit nimmt, dann war Kurt Cobain von Nirvana so eine Figur. Er wollte sich ja dem Musikbusiness verweigern, was später auch zu seinem Suizid führte. Er war gegen die Regeln der Musikindustrie, seine Videoclips liefen aber gleichzeitig den ganzen Tag auf MTV. An diesem Zwiespalt ist er zugrunde gegangen. Er hatte etwas von James Dean, wurde eine Heldenfigur.

RH: In diesem Zusammenhang stellt sich wieder die Frage nach der Figur des Outlaw. Wo ist der hin?

Und hier setzt heute eine Segmentierung ein – die Aussteiger einerseits, die verzweifelten Outlaws andererseits. RN: Diese Frage müsste man mit einem Aphorismus von Oscar Wilde beant worten:«Die Gesellschaft verzeiht dem Verbrecher, dem Träumer verzeiht sie nicht.» Der Verbrecher bleibt nämlich auch durch die Regelverletzung auf sie bezogen – ist womöglich der, der etwas tut, das andere auch gerne getan hätten. RH: Er ist im Sinn von Alfred Schütz «zurechnungsfähig». RN: Er hat gerade durch Negation auch angeschlossen. Dagegen der Träumer, der, der das ganz Andere will. Der Träumer ist eigentlich der Outlaw. Das endet in gewisser Weise aporetisch. Der Outlaw ist ja dann auch der, der nichts tut, der womöglich einfach ist. Und damit auch in einem hohen Masse Gemeinschaft verweigert.

Auch ihre Hitze strahlt einfach ab in das, was möglich ist. BA: Die Regeln der Gemeinschaft sind ihm gänzlich egal, er macht da gar nichts. Der klassische Outlaw verstösst aber gegen das Gesetz oder die Regeln. RN: Er raubt Banken aus. RH: Oder er leidet an der Gesellschaft. Es ist aber nicht der Eremit, von dem ich spreche. Wir alle kennen das Bild von James Dean als dem Gekreuzigten, dem Schmerzensmann. Der leidet an der Gesellschaft und ist ihr dadurch auch verbunden. Und wurde damit zur Ikone einer Gemeinschaft, lange vor der Bewegung von 1968.

Kurt Cobain RH: Den Outlaw als den Verzweifelten gibt es nicht mehr. Cobain stand noch in dieser Tradition, aber eher als Einzelfall. Der an seiner Verzweiflung Zugrundegehende ist zur mythischen Figur geworden. Und damit wieder zitierfähig. Was den Outlaw neben seiner heldischen Verzweiflung so anziehend macht, ist unsere Vorstellung, sich wirklich ausserhalb der gesellschaftlichen Werte stellen zu können. Aber diesen Raum gibt es gar nicht, sonst hätte sich Cobain auch gar nicht umbringen müssen. Das ist längst als Illusion entlarvt und uns noch einmal ins Gedächtnis gerufen worden, seitdem wir durch Edward Snowden von der flächendeckenden NSA-Spionage wissen.

Die Regeln der Gemeinschaft sind ihm gänzlich egal, er macht da gar nichts. An die Stelle der Outlaws und Verzweifelten sind die sogenannten «Aussteiger» getreten. Sie bauen sich eigene Gemeinschaften, stehen aber nicht unbedingt ausserhalb der Gesellschaft. Und hier setzt heute eine Segmentierung ein – die Aussteiger einerseits, die verzweifelten Outlaws andererseits.


Der moderne Outlaw wird beim Wort genommen, in Gruppen zusammengetrieben und kriminalisiert, er gilt als deviant. Das kann man sehr gut an der Drogenpolitik der USA sehen, dort gilt die Gleichung: Drogen gleich Schwarz. Was natürlich Unfug ist – mindestens ebenso viele Weisse wie Menschen anderer Hautfarbe nehmen Drogen. Da gab es kürzlich einen Film auf ARTE, der sehr klar gezeigt hat, dass es gar nicht um Drogen und entsprechende Prävention geht, sondern um die Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsgruppen. Vor allem aber wurden die Methoden, die Techniken der Ausgrenzung dargestellt.6 Das ist ein wichtiger Aspekt, dem wir alle Aufmerksamkeit zukommen lassen sollten: Die Politik der Selbstvergewisserung durch Ausgrenzung der – angeblich – Devianten, um die Gemeinschaft und ihre symbolischen Werte erneut zu beschwören.

28

Literatur Meike Kröncke: Beyond the family. Inszenierungen von Gemeinschaft in der zeitgenössischen Fotografie. München, 2012. 1

Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Nachdruck Darmstadt, 1991.

2

3 Brod, Max: Franz Kafka. Eine Biographie. Frankfurt am Main, 1954, S. 93.

Bauman, Zygmunt: Gemeinschaften. Frankfurt am Main, 2009, S. 22. 4

Lyotard, Jean-François: Der Zahn, die Hand. in: Essays zu einer affirmativen Ästhetik. Berlin, 1980, S. 11. 5

6 Eugen Jarecki (Regie): Amerikas längster Krieg. USA 2012.

Yuyu Chen, Lithographie, 2013 (Workshop Druckwerkstatt)


Der moderne Outlaw wird beim Wort genommen, in Gruppen zusammengetrieben und kriminalisiert, er gilt als deviant. Das kann man sehr gut an der Drogenpolitik der USA sehen, dort gilt die Gleichung: Drogen gleich Schwarz. Was natürlich Unfug ist – mindestens ebenso viele Weisse wie Menschen anderer Hautfarbe nehmen Drogen. Da gab es kürzlich einen Film auf ARTE, der sehr klar gezeigt hat, dass es gar nicht um Drogen und entsprechende Prävention geht, sondern um die Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsgruppen. Vor allem aber wurden die Methoden, die Techniken der Ausgrenzung dargestellt.6 Das ist ein wichtiger Aspekt, dem wir alle Aufmerksamkeit zukommen lassen sollten: Die Politik der Selbstvergewisserung durch Ausgrenzung der – angeblich – Devianten, um die Gemeinschaft und ihre symbolischen Werte erneut zu beschwören.

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Literatur Meike Kröncke: Beyond the family. Inszenierungen von Gemeinschaft in der zeitgenössischen Fotografie. München, 2012. 1

Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Nachdruck Darmstadt, 1991.

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3 Brod, Max: Franz Kafka. Eine Biographie. Frankfurt am Main, 1954, S. 93.

Bauman, Zygmunt: Gemeinschaften. Frankfurt am Main, 2009, S. 22. 4

Lyotard, Jean-François: Der Zahn, die Hand. in: Essays zu einer affirmativen Ästhetik. Berlin, 1980, S. 11. 5

6 Eugen Jarecki (Regie): Amerikas längster Krieg. USA 2012.

Yuyu Chen, Lithographie, 2013 (Workshop Druckwerkstatt)


Das sind keine Freunde

Mein Job ist die Inwertsetzung auch zweifelhafter Dinge durch Worte. Manchmal stellt sich da allerdings selbst mir die Sinnfrage. Vor allem dann, wenn ich denke, dass das Wort, das vorher da war, treffender ist. Jetzt soll ein neues Wort für den «guten Bekannten» oder den «Freund» her. Weil in der digitalen Erweiterung unserer sozialen Beziehungen die Unterscheidung zwischen den beiden noch schwerer fällt. Na, sagen wir, so schwer zu treffen ist. Denn sie trifft! Wo doch heute jeder mit jedem befreundet scheint. Bis zur Gründung von Facebook gab es Freunde. Bekannte. Kollegen, Genossen und Verwandte. Und dann neu: Freunde; also virtuelle – digitale Freunde. Ich nenne sie «FFreunde». Das Stottern im F passt wie die Faust, denn während man es ausspricht und das Prädikat «Freund» an jemanden vergibt, den man kaum kennt, schlägt die Erkenntnis zu. Und man gerät verdattert ins Stottern. Es sind doch gar keine echten Freunde!? Zum Teil kenne ich sie ja nicht einmal. Geschweige denn besonders gut. Facebook-Freunde eben. Ob nun echter Freund, guter Freund, super Freund, gar mein bester – oder gar keiner. Totale Beliebigkeit macht sich breit. Wozu auch jemanden zum Bekannten degradieren, wenn sowieso alle Freunde sind?

Er ist zwar nicht ein Freund – aber eben auch nicht einfach «kein Freund». Einfach etwas anderes. «Guter Bekannter» ist ein Prädikat, das in dem Moment alles andere ausschließt. Es gibt in diesem Sinne keine doppelte Staatsbürgerschaft. Und das macht nichts. Man muss sich entscheiden. Und das ist die Crux. Zugegeben: Es ist nicht einfach, jemanden als «Bekannten» an Stelle von «Freund» zu betiteln. Das ist aber kein neues Phänomen. Schwer war es schon immer! Da braucht es jetzt kein neues Wort. Die alten sind gut. Nur fehlt scheint’s der Mut oder die Notwendigkeit zu entscheiden. Aber bitte! Wer braucht über 500 Freunde? Um Gottes Willen, ich schaffe es ja kaum, mit meinen zehn Echtwelt-Freunden Zeit zu verbringen. Ich könnte selbstredend ein neues Wort finden. Wie wäre: Das ist Peter, ein «Gefälltmir» von mir? – Ich bleibe beim «FFreund». Nur, wenn Freund Freund bleibt und der gute Bekannte einfach ein guter Bekannter, was ist dann der «FFreund»? Die Antwort ist schlicht. Ein «FFreund» ist ein Kontakt. Meinetwegen ein enger Kontakt, ein häufiger oder sporadischer Kontakt. Mehr erstmal nicht. Auch wenn irgendein Arsch «Freund» in ein Interface geschrieben hat. Unterscheidung im Persönlichen braucht Mut. Und Aushalten. Einfach mal Aushalten, das GegenEben nicht. über als guten Bekannten vorzustellen. Nicht als Freund. Einfach ins Gesicht sagen: Bekannter, Versteht mich nicht falsch. Ich begrüße Fortschritt. Kontakt, Kollege! Oder Freund! Denn der hat Liebe neue technische Gadgets, Espressomaschi- dann plötzlich wieder Bedeutung. nen mit Timer, Twitter, iEtc., Kindle, nachhaltig produzierte Jeans, Bio-Fleisch und meinetwe gen Freunde, das wird ein Kampf! auch die Grippeimpfung. Habe Respekt vor der Frauenfußballnationalmannschaft, diskutiere über Jan Knopp das Ende der Multikulti-Gesellschaft, Islamfeindlichkeit und Hartz IV; über Gentrifizierung und dicke Kinder. Aber gegen eines verwahre ich mich: dass alle Welt Allerwelts-Freunde wird. Ich habe großartige, knorrige und manchmal auch peinliche Freunde. Und das bleibt so. Die sind auch nicht einfach zu entfreunden, denn Freundschaft hat nichts mit Status, Coolness, Hipness oder Schönheit zu tun. Freundschaft ist und bleibt eine besondere Bindung zwischen zwei Personen. Die gewachsen ist. Die verdient ist. Erstritten, durchgestanden und ertragen. Und dann gibt es auf der anderen Seite den guten Bekannten.

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Das sind keine Freunde

Mein Job ist die Inwertsetzung auch zweifelhafter Dinge durch Worte. Manchmal stellt sich da allerdings selbst mir die Sinnfrage. Vor allem dann, wenn ich denke, dass das Wort, das vorher da war, treffender ist. Jetzt soll ein neues Wort für den «guten Bekannten» oder den «Freund» her. Weil in der digitalen Erweiterung unserer sozialen Beziehungen die Unterscheidung zwischen den beiden noch schwerer fällt. Na, sagen wir, so schwer zu treffen ist. Denn sie trifft! Wo doch heute jeder mit jedem befreundet scheint. Bis zur Gründung von Facebook gab es Freunde. Bekannte. Kollegen, Genossen und Verwandte. Und dann neu: Freunde; also virtuelle – digitale Freunde. Ich nenne sie «FFreunde». Das Stottern im F passt wie die Faust, denn während man es ausspricht und das Prädikat «Freund» an jemanden vergibt, den man kaum kennt, schlägt die Erkenntnis zu. Und man gerät verdattert ins Stottern. Es sind doch gar keine echten Freunde!? Zum Teil kenne ich sie ja nicht einmal. Geschweige denn besonders gut. Facebook-Freunde eben. Ob nun echter Freund, guter Freund, super Freund, gar mein bester – oder gar keiner. Totale Beliebigkeit macht sich breit. Wozu auch jemanden zum Bekannten degradieren, wenn sowieso alle Freunde sind?

Er ist zwar nicht ein Freund – aber eben auch nicht einfach «kein Freund». Einfach etwas anderes. «Guter Bekannter» ist ein Prädikat, das in dem Moment alles andere ausschließt. Es gibt in diesem Sinne keine doppelte Staatsbürgerschaft. Und das macht nichts. Man muss sich entscheiden. Und das ist die Crux. Zugegeben: Es ist nicht einfach, jemanden als «Bekannten» an Stelle von «Freund» zu betiteln. Das ist aber kein neues Phänomen. Schwer war es schon immer! Da braucht es jetzt kein neues Wort. Die alten sind gut. Nur fehlt scheint’s der Mut oder die Notwendigkeit zu entscheiden. Aber bitte! Wer braucht über 500 Freunde? Um Gottes Willen, ich schaffe es ja kaum, mit meinen zehn Echtwelt-Freunden Zeit zu verbringen. Ich könnte selbstredend ein neues Wort finden. Wie wäre: Das ist Peter, ein «Gefälltmir» von mir? – Ich bleibe beim «FFreund». Nur, wenn Freund Freund bleibt und der gute Bekannte einfach ein guter Bekannter, was ist dann der «FFreund»? Die Antwort ist schlicht. Ein «FFreund» ist ein Kontakt. Meinetwegen ein enger Kontakt, ein häufiger oder sporadischer Kontakt. Mehr erstmal nicht. Auch wenn irgendein Arsch «Freund» in ein Interface geschrieben hat. Unterscheidung im Persönlichen braucht Mut. Und Aushalten. Einfach mal Aushalten, das GegenEben nicht. über als guten Bekannten vorzustellen. Nicht als Freund. Einfach ins Gesicht sagen: Bekannter, Versteht mich nicht falsch. Ich begrüße Fortschritt. Kontakt, Kollege! Oder Freund! Denn der hat Liebe neue technische Gadgets, Espressomaschi- dann plötzlich wieder Bedeutung. nen mit Timer, Twitter, iEtc., Kindle, nachhaltig produzierte Jeans, Bio-Fleisch und meinetwe gen Freunde, das wird ein Kampf! auch die Grippeimpfung. Habe Respekt vor der Frauenfußballnationalmannschaft, diskutiere über Jan Knopp das Ende der Multikulti-Gesellschaft, Islamfeindlichkeit und Hartz IV; über Gentrifizierung und dicke Kinder. Aber gegen eines verwahre ich mich: dass alle Welt Allerwelts-Freunde wird. Ich habe großartige, knorrige und manchmal auch peinliche Freunde. Und das bleibt so. Die sind auch nicht einfach zu entfreunden, denn Freundschaft hat nichts mit Status, Coolness, Hipness oder Schönheit zu tun. Freundschaft ist und bleibt eine besondere Bindung zwischen zwei Personen. Die gewachsen ist. Die verdient ist. Erstritten, durchgestanden und ertragen. Und dann gibt es auf der anderen Seite den guten Bekannten.

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GET SHOT! 30 Momentaufnahme einer Generation Diplom Diana Pfammatter

Mit meinem Projekt GET SHOT schaffe ich eine Momentaufnahme einer Generation. Dafür habe ich während eines Jahres das Potenzial des Phänomens «Selbstinszenierung bei Jugendlichen» erforscht. Entstanden sind Portraits von jungen Menschen, die Einblick in ihre Welt, ihre Träume und Idealvorstellungen geben. Kontext – Kleider, Accessoires, technische Geräte, Apps – das allgemeine äussere Erscheinungsbild scheint in unserer heutigen Gesellschaft von enormer Bedeutung. Ob man im Internet surft, fernsieht oder in Magazinen blättert: Man findet überall attraktive Frauen und Männer, geschminkt und ins perfekte Licht gesetzt. Sie sind hip, cool, nerdy, makellos, vorbildlich — sie sind ideal. Gerade Jugendliche versuchen, diesem Kanon der Ideale zu entsprechen, auch wenn sie sich seiner sehr selektiv und willkürlich bedienen. Sie haben keine feste Zugehörigkeit. Sie kreieren ihren eigenen Stilmix und werden so zu kontextlosen Trendsettern. Sie agieren als Abbilder und sind nicht beseelt von der Bedeutung, die die jeweiligen prägenden Stilikonen antrieb. Ihr Antrieb ist Oberfläche. Ihre Idole sind Popstars, Models oder Schauspieler. Und die sind alle «schön» oder zumindest berühmt! Inhalt – Unter dem Aspekt der Theatralisierung der Gesellschaft habe ich verschiedene Perspektiven auf die Inszenierung junger Menschen gerichtet. Dabei habe ich Möglichkeiten des Formates «Selbstinszenierung mittels Fotografie» ausgelotet. Jeweils eine Trilogie von (Selbst-)Portraits und die schriftliche Auseinandersetzung ermöglichen es dem Jugendlichen, die Inszenierung, dieses Oberflächliche, mitgestaltend zu betrachten und Dritten zugänglich zu machen. Daneben habe ich das Format «Fotografische Selbstdarstellung» in diverse Projekte integriert und so mit Inhalten verknüpft. Durch einen klar definierten Gestaltungsrahmen an öffentlichen Auftritten wie zum Beispiel durch ein Fotozelt am imaginefestival 2013 wurde die Selbstinszenierung gefördert. Mit diesen verschiedenen Herangehensweisen sind rund 500 Fotos und zahlreiche handgeschriebene Texte entstanden.

Produkt – Das Ergebnis meiner Arbeit ist ein Zeitdokument in gedruckter Form, das durch die Masse an Bildern und Texten eine Momentaufnahme einer Generation widerspiegelt. Es zeigt alle Jugendlichen, die ich während meines Diplomjahres kennengelernt und portraitiert habe. Gemeinschaft – Die Jugend als Generation versteht sich als Gemeinschaft. Ich gebe mit meiner Arbeit einen Einblick in die Denk- und Fühlweisen, die Selbstund Fremdbilder dieser Gemeinschaft, die anderen verschlossen bleibt oder bei ihnen auf Unverständnis stösst. Coaches – Jan Knopp, Ulla Autenrieth Kontakt – diana.pfammatter@hyperwerk.ch getshot.ch Team und Dank – Ein grosses Dankeschön an Andreas Frehner, Anja Bornhauser, Daniela Vieli, Elisa Petri, Fabian Zaehner, Jonas Mettler, Julia Geiser, Laura Wurm, Lea Leuenberger, Livia Matthäus, Lucie Gmünder, Manuela Meier und Markus Schmet. Ohne euch wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen. Zudem bedanke ich mich bei allen Partnern, Helfern und Jugendlichen, insbesondere bei den Lehrern und den Schülern der 9. Klasse 2012/13 der Reosch Bern, dem Team vom imaginefestival, dem SRF, Moritz Faccin von Universal Music Switzerland, Stefanie Heinzmann und den Voice-of-Switzerland-Kandidatinnen: Gabriela, Iandara, Jessanna, Kaya, Lena, Michèle, Simona und Tanja.


GET SHOT! 30 Momentaufnahme einer Generation Diplom Diana Pfammatter

Mit meinem Projekt GET SHOT schaffe ich eine Momentaufnahme einer Generation. Dafür habe ich während eines Jahres das Potenzial des Phänomens «Selbstinszenierung bei Jugendlichen» erforscht. Entstanden sind Portraits von jungen Menschen, die Einblick in ihre Welt, ihre Träume und Idealvorstellungen geben. Kontext – Kleider, Accessoires, technische Geräte, Apps – das allgemeine äussere Erscheinungsbild scheint in unserer heutigen Gesellschaft von enormer Bedeutung. Ob man im Internet surft, fernsieht oder in Magazinen blättert: Man findet überall attraktive Frauen und Männer, geschminkt und ins perfekte Licht gesetzt. Sie sind hip, cool, nerdy, makellos, vorbildlich — sie sind ideal. Gerade Jugendliche versuchen, diesem Kanon der Ideale zu entsprechen, auch wenn sie sich seiner sehr selektiv und willkürlich bedienen. Sie haben keine feste Zugehörigkeit. Sie kreieren ihren eigenen Stilmix und werden so zu kontextlosen Trendsettern. Sie agieren als Abbilder und sind nicht beseelt von der Bedeutung, die die jeweiligen prägenden Stilikonen antrieb. Ihr Antrieb ist Oberfläche. Ihre Idole sind Popstars, Models oder Schauspieler. Und die sind alle «schön» oder zumindest berühmt! Inhalt – Unter dem Aspekt der Theatralisierung der Gesellschaft habe ich verschiedene Perspektiven auf die Inszenierung junger Menschen gerichtet. Dabei habe ich Möglichkeiten des Formates «Selbstinszenierung mittels Fotografie» ausgelotet. Jeweils eine Trilogie von (Selbst-)Portraits und die schriftliche Auseinandersetzung ermöglichen es dem Jugendlichen, die Inszenierung, dieses Oberflächliche, mitgestaltend zu betrachten und Dritten zugänglich zu machen. Daneben habe ich das Format «Fotografische Selbstdarstellung» in diverse Projekte integriert und so mit Inhalten verknüpft. Durch einen klar definierten Gestaltungsrahmen an öffentlichen Auftritten wie zum Beispiel durch ein Fotozelt am imaginefestival 2013 wurde die Selbstinszenierung gefördert. Mit diesen verschiedenen Herangehensweisen sind rund 500 Fotos und zahlreiche handgeschriebene Texte entstanden.

Produkt – Das Ergebnis meiner Arbeit ist ein Zeitdokument in gedruckter Form, das durch die Masse an Bildern und Texten eine Momentaufnahme einer Generation widerspiegelt. Es zeigt alle Jugendlichen, die ich während meines Diplomjahres kennengelernt und portraitiert habe. Gemeinschaft – Die Jugend als Generation versteht sich als Gemeinschaft. Ich gebe mit meiner Arbeit einen Einblick in die Denk- und Fühlweisen, die Selbstund Fremdbilder dieser Gemeinschaft, die anderen verschlossen bleibt oder bei ihnen auf Unverständnis stösst. Coaches – Jan Knopp, Ulla Autenrieth Kontakt – diana.pfammatter@hyperwerk.ch getshot.ch Team und Dank – Ein grosses Dankeschön an Andreas Frehner, Anja Bornhauser, Daniela Vieli, Elisa Petri, Fabian Zaehner, Jonas Mettler, Julia Geiser, Laura Wurm, Lea Leuenberger, Livia Matthäus, Lucie Gmünder, Manuela Meier und Markus Schmet. Ohne euch wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen. Zudem bedanke ich mich bei allen Partnern, Helfern und Jugendlichen, insbesondere bei den Lehrern und den Schülern der 9. Klasse 2012/13 der Reosch Bern, dem Team vom imaginefestival, dem SRF, Moritz Faccin von Universal Music Switzerland, Stefanie Heinzmann und den Voice-of-Switzerland-Kandidatinnen: Gabriela, Iandara, Jessanna, Kaya, Lena, Michèle, Simona und Tanja.


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Julia Geiser Markus Schmet


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Julia Geiser Markus Schmet


Markus Schmet

Lucie Gm端nder


Markus Schmet

Lucie Gm端nder


Anja Bornhauser


Anja Bornhauser


La Parenthèse 32 Cattana Wetlands, Far North Queensland, Australia Catherine Walthard, Januar 2013

Anfangs ist es lediglich eine verführerische Option für die ferne berufliche Zukunft. Doch wenn es ans Planen und Organisieren geht, nimmt es Gestalt an und erfordert kollegiale Zustimmung und Unterstützung. Und eines Tages, wenn es offiziell ist, trägt es den Namen Sabbatical.1 Ich ging an meine Auszeit mit einem Gefühl der Vorfreude heran, ähnlich der, die man empfindet, wenn man auf Reisen geht, aber noch nicht genau weiss, wohin einen die Reise führen wird. Bei einem Bibliotheksbesuch im Basler Kunstmuseum2 begann ich schliesslich mit der Erfüllung meines Wunsches, ganz bewusst einen Umweg zu machen und mich ganz und gar dem geistigen Stöbern hinzugeben. Ich hatte das Museum schon lange nicht mehr regelmässig besucht, doch bereits nach dem Aufstossen der grossen Holztüren spürte ich wieder die Atmosphäre der Besinnlich-

keit und Stille. Bei meiner Recherche ging es um Veröffentlichungen über Farbverläufe in Kunst und Design. Nachdem ich das elektronische Verzeichnis der Bibliothek schon durchgesehen und dem Bibliothekar meine Liste überreicht hatte, setzte ich mich an einen langen Tisch, auf dem bereits ein erster Stapel Bücher lag. Aber erst als ich durch die Regalreihen spazierte und intuitiv Werke, Epochen, Monographien und Wörterbücher auswählte, kamen die meisten Inspirationen. Mein kleines Notizheft füllte sich mit Namen, Begriffen, Referenzen. Ich setzte meine Erkundungen bei Besuchen in weiteren Bibliotheken und Stadtbüchereien fort und recherchierte schliesslich im Internet weiter. Auf meinen vielen Umwegen durch die analoge und digitale Welt wurde mir wieder bewusst, wie viel Vergnügen es mir bereitet, mir Zeit nehmen


La Parenthèse 32 Cattana Wetlands, Far North Queensland, Australia Catherine Walthard, Januar 2013

Anfangs ist es lediglich eine verführerische Option für die ferne berufliche Zukunft. Doch wenn es ans Planen und Organisieren geht, nimmt es Gestalt an und erfordert kollegiale Zustimmung und Unterstützung. Und eines Tages, wenn es offiziell ist, trägt es den Namen Sabbatical.1 Ich ging an meine Auszeit mit einem Gefühl der Vorfreude heran, ähnlich der, die man empfindet, wenn man auf Reisen geht, aber noch nicht genau weiss, wohin einen die Reise führen wird. Bei einem Bibliotheksbesuch im Basler Kunstmuseum2 begann ich schliesslich mit der Erfüllung meines Wunsches, ganz bewusst einen Umweg zu machen und mich ganz und gar dem geistigen Stöbern hinzugeben. Ich hatte das Museum schon lange nicht mehr regelmässig besucht, doch bereits nach dem Aufstossen der grossen Holztüren spürte ich wieder die Atmosphäre der Besinnlich-

keit und Stille. Bei meiner Recherche ging es um Veröffentlichungen über Farbverläufe in Kunst und Design. Nachdem ich das elektronische Verzeichnis der Bibliothek schon durchgesehen und dem Bibliothekar meine Liste überreicht hatte, setzte ich mich an einen langen Tisch, auf dem bereits ein erster Stapel Bücher lag. Aber erst als ich durch die Regalreihen spazierte und intuitiv Werke, Epochen, Monographien und Wörterbücher auswählte, kamen die meisten Inspirationen. Mein kleines Notizheft füllte sich mit Namen, Begriffen, Referenzen. Ich setzte meine Erkundungen bei Besuchen in weiteren Bibliotheken und Stadtbüchereien fort und recherchierte schliesslich im Internet weiter. Auf meinen vielen Umwegen durch die analoge und digitale Welt wurde mir wieder bewusst, wie viel Vergnügen es mir bereitet, mir Zeit nehmen


zu können – nein – vielmehr, nicht auf die Uhr schauen oder Verpflichtungen nachkommen zu müssen und ohne Eile Gedanken und Bilder entstehen zu lassen. Es war eine Phase des Streifens durch meine eigene Gedankenwelt, die für die Fortführung meiner Arbeit entscheidend war. Das Modell des Sabbatical ist eine im Kontext angelsächsischer Hochschulen angewandte Tradition. Der Begriff Sabbatical – in der deutschen Übersetzung das «Sabbatjahr» – wurde erst 2004 in den Rechtschreibduden aufgenommen; siehe auch: www.wikipedia.org/wiki/Sabbatical. Je nachdem ob es sich um eine Tätigkeit im privaten oder akademischen Bereich handelt, gibt es hier freilich Unterschiede; dennoch ist das Grundprinzip immer dasselbe: die Auszeit! Stefan Sagmeister, Grafikdesigner und Typograf, nimmt sich alle sieben Jahre eine berufliche Auszeit, um neue Kraft zu schöpfen (www.youtube.com/ watch?v=MNuOmTQdFjA, siehe auch www.sagmeisterwalsh.com/answers/ category/sabbaticals) An den weiterführenden Schulen in Basel haben Lehrkräfte seit 2013 ein Recht auf ein Sabbatical: Regierungsratsbeschluss vom 19. März 2013 SABBATICAL – URLAUB STATT ALTERSENTLASTUNG § 101 ABS. 6. Das Thema bleibt umstritten; es ist ein Privileg, und nicht alle Institutionen können sich das Sabbatjahr leisten. 1

Kunstmuseum Bibliothek www.kunstmuseumbasel.ch/de/bibliothek/; und die Bibliothek für Gestaltung, deren Sammlung an Werken über die Photographie hervorragend ist: www.sfgbasel.ch/bibliothek/.

2

La Carte Routière

vertiefte ich mich wieder in die Lektüre von Veröffentlichungen zu Farbe in Kunst und Design3 und erweiterte meine umfangreiche Sammlung an Büchern, Fachtagungsunterlagen und Videoaufzeichnungen zu diesem Thema. Ein weiteres Projekt war, die Arbeit wieder aufzunehmen an etwa hundert kurzen Videofilmen über die Eindrücke, die die überwältigende Natur Australiens bei mir hinterlassen hatte. Ich hatte diese Filme bereits vor einigen Jahren während eines einmonatigen Aufenthalts dort gemacht. Ich wollte mehrere Veröffentlichungen zum Thema des Zuhörens in der Pädagogik lesen. Da sich ein Grossteil meiner Arbeit um die Betreuung von Studierenden dreht, kommt diesem Thema grosse Bedeutung zu. Ich wollte neue internationale Kontakte knüpfen, um den Grundgedanken von Upstream. Prospects Through Design4 weiter zu verfolgen, dem HyperWerk-Jahresthema 2011/2012, das unterschiedliche Wahrnehmungen des Fremden in Gestaltung und Design zum Inhalt hatte. Und schliesslich wollte ich mich eingehend mit der Technik der Fotografie beschäftigen, zumal sie mich bereits seit langem bei der Erkundung meiner Umwelt begleitet; und deswegen wollte ich auch mehr über das Genre der Reisefotografie erfahren. Ein besonderer Autor auf diesem Gebiet ist Michel Pastoureau, Historiker, Mediävist aus Frankreich, Spezialist für Farb-, Emblem- und Wappensymbolik, ein faszinierender Autor und Erzähler, der Farbe in ihren historischen Kontext setzt, wodurch ein besseres Verständnis von Themen, die im Zusammenhang mit der Entwicklung von Gesellschaften stehen, ermöglicht wird (en.wikipedia.org/wiki/Michel_Pastoureau) Blau – Die Geschichte einer Farbe wird in deutscher Sprache im September 2013 vom Verlag Klaus Wagenbach veröffentlicht.

3

In der offiziellen Beschreibung meiner Aktivitäten für das Sabbatical hatte ich meinen Schwerpunkt auf den Auslandsaufenthalt sowie die praktische Arbeit und Weiterbildung rund um das Thema 4 (upstream.hyperwerk.ch) Thema und Forschungsprogramm, die gemeinsam mit Bild gelegt. Ich hatte mich bemüht, den Bereich meinen HyperWerk-Kolleginnen Prof. Dr. der Entwicklung und Umsetzung meiner VorhaRegine Halter und Anka Semmig konzipiert ben so zu definieren, dass mir die Freiheit blieb, wurden. je nach erlebter Situation Veränderungen vornehmen zu können. Le Retour Ich wollte eine Studie über Farbe und ihre Beziehung zum jeweiligen Ort fortführen: The Was ist nun von diesen Vorhaben letztlich umColour Of Place, die ich vor einigen Jahren gesetzt worden? Vieles; und einiges kam sogar begonnen und dann unterbrochen hatte. Dazu noch hinzu.

Meine Arbeit am HyperWerk habe ich seither, nebst Recherchen über das Zuhören in der Pädagogik, in erhöhtem Masse dem Thema Portfolio5 gewidmet, das in keiner studentischen Biographie fehlen sollte. Meine Recherchen mündeten in ein gemeinsam mit meinem Kollegen Jan Kopp geleitetes Seminar, in dem die Studierenden Gelegenheit bekamen, ganz individuell in das Thema der Verwendung personalisierter Dokumentationen einzutauchen. Ein Thema, das auch in den kommenden Semestern fortgeführt werden wird. Die Rückmeldungen der Studenten waren durchweg positiv, da sie in diesem Seminar nicht nur gelernt hatten, ihre Ziele präziser zu formulieren und zu visualisieren, sondern die motivierte Kontrolle über ihre Ausbildung zu erlangen. Im Zusammenhang mit Upstream. Prospects Through Design hatte ich zu Beginn meines Sabbaticals ein Treffen an der Universität Köln mit Jacqueline Lo6, einer Kollegin aus Australien, die sich auf Europareise befand. Auf der Grundlage dieses gewinnbringenden Austauschs und in Zusammenarbeit mit meinen Kolleginnen Regine Halter und Anka Semmig treiben wir seither unser Projekt weiter voran, indem wir mit neuen Partnern die Forschung zur Bedeutung von Kulturräumen und Design für Ausbildung und Lehre vertiefen. Ein weiteres Thema, das ich aufgegriffen habe, ist das Lehren mittels Internetplattformen. Hier richtet sich mein Interesse insbesondere auf diejenigen Entwicklungen auf diesem Gebiet, die meinen Bereich der Designausbildung betreffen, in dem wir uns schwerpunktmässig mit visuellen und haptischen Aspekten beschäftigen. Ich habe mich daher für eine Reihe von Onlinekursen7 angemeldet, um die Herausforderungen, die dieser virtuelle Bereich an die Beziehung zwischen Dozent und Lernenden stellt, besser zu verstehen und an mir selber auszuprobieren – eine inspirierende Erfahrung, die mir und den Studierenden in meinen zukünftigen Kursen und Beratungen sicherlich zugutekommen wird. Im Rahmen meiner eigenen Arbeit war es mir sehr wichtig, meinen visuellen Recherchen eine passende Form zu verleihen. Ich verknüpfte das Farbthema mit meinen Filmclips und erstellte eine Reihe von Cahiers,8 in denen Filmstandbilder und Farbverläufe zueinander in Beziehung gesetzt

werden. Das Cahier-Format gefällt mir, denn es bietet die Möglichkeit, die eigene Arbeit aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und zu überprüfen, ob das Bild tatsächlich so wirkt, wie ich es mir vorgestellt hatte. Von dieser Tätigkeit her rührt auch meine aktuelle Arbeit über das Thema der Materialität der Fotografie. Hier geht es insbesondere um Textilentwürfe, wobei ich Bilddetails oder komplette Fotoaufnahmen von Spezialisten auf Textilien sticken oder komplett weben lasse. Die ersten Ergebnisse werden diesen Herbst zu besichtigen sein. Mein Aufenthalt in Australien gab mir Gelegenheit, freundschaftliche und familiäre Kontakte wieder aufzufrischen und an Orte zurückzukehren, die mich aufs Neue mit ihrer üppigen und überwältigenden Natur beeindruckten, genauso wie neue Orte, die ich entdeckte. Mein Ziel war es nicht, touristisch unterwegs zu sein; vielmehr ging es mir darum, an einem Ort zu verweilen und am dortigen Alltag teilzunehmen, der mir zugleich so fremd und doch so vertraut ist.9 Eine Idee, die fortbesteht, ist ein Austauschprojekt mit einer unglaublichen Künstler- und Graveurszene.10 Bis zum heutigen Zeitpunkt fehlen mir dazu das Netzwerk, die finanziellen Mittel, der Ort und ein erster Baustein, der den Ausgangspunkt bilden könnte; ich habe jedoch während dieses Sabbaticals gelernt, dass eine Idee, wenn sie nur lang genug gedacht wird, sich letztendlich doch realisiert. Mit der Durchführung dieses Projekts gedulde ich mich also noch. Siehe Artikel, Definitionen, Referenzen: de.wikipedia.org/wiki/Portfolio; eine gute Grundlage für das Verständnis der pädagogischen Anwendungsmöglichkeiten ist Das Handbuch Portfolioarbeit : Konzepte – Anregungen – Erfahrungen aus Schule und Lehrerbildung, herausgegeben von Ilse Brunner, Thomas Häcker und Felix Winter, Seelze, 2006.

5

Prof. Jacqueline Lo ist Leiterin des Australian National University’s Centre for European Studies und Gastforscherin am Centre for Interweaving Performance Cultures (Internationales Kolleg: Verflechtungen von Theaterkulturen) an der Freien Universität Berlin.

6

Die Hochschulen bilden Zusammenschlüsse mittels Internetplattformen wie zum Beispiel Coursera (www.coursera.org)

7


zu können – nein – vielmehr, nicht auf die Uhr schauen oder Verpflichtungen nachkommen zu müssen und ohne Eile Gedanken und Bilder entstehen zu lassen. Es war eine Phase des Streifens durch meine eigene Gedankenwelt, die für die Fortführung meiner Arbeit entscheidend war. Das Modell des Sabbatical ist eine im Kontext angelsächsischer Hochschulen angewandte Tradition. Der Begriff Sabbatical – in der deutschen Übersetzung das «Sabbatjahr» – wurde erst 2004 in den Rechtschreibduden aufgenommen; siehe auch: www.wikipedia.org/wiki/Sabbatical. Je nachdem ob es sich um eine Tätigkeit im privaten oder akademischen Bereich handelt, gibt es hier freilich Unterschiede; dennoch ist das Grundprinzip immer dasselbe: die Auszeit! Stefan Sagmeister, Grafikdesigner und Typograf, nimmt sich alle sieben Jahre eine berufliche Auszeit, um neue Kraft zu schöpfen (www.youtube.com/ watch?v=MNuOmTQdFjA, siehe auch www.sagmeisterwalsh.com/answers/ category/sabbaticals) An den weiterführenden Schulen in Basel haben Lehrkräfte seit 2013 ein Recht auf ein Sabbatical: Regierungsratsbeschluss vom 19. März 2013 SABBATICAL – URLAUB STATT ALTERSENTLASTUNG § 101 ABS. 6. Das Thema bleibt umstritten; es ist ein Privileg, und nicht alle Institutionen können sich das Sabbatjahr leisten. 1

Kunstmuseum Bibliothek www.kunstmuseumbasel.ch/de/bibliothek/; und die Bibliothek für Gestaltung, deren Sammlung an Werken über die Photographie hervorragend ist: www.sfgbasel.ch/bibliothek/.

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La Carte Routière

vertiefte ich mich wieder in die Lektüre von Veröffentlichungen zu Farbe in Kunst und Design3 und erweiterte meine umfangreiche Sammlung an Büchern, Fachtagungsunterlagen und Videoaufzeichnungen zu diesem Thema. Ein weiteres Projekt war, die Arbeit wieder aufzunehmen an etwa hundert kurzen Videofilmen über die Eindrücke, die die überwältigende Natur Australiens bei mir hinterlassen hatte. Ich hatte diese Filme bereits vor einigen Jahren während eines einmonatigen Aufenthalts dort gemacht. Ich wollte mehrere Veröffentlichungen zum Thema des Zuhörens in der Pädagogik lesen. Da sich ein Grossteil meiner Arbeit um die Betreuung von Studierenden dreht, kommt diesem Thema grosse Bedeutung zu. Ich wollte neue internationale Kontakte knüpfen, um den Grundgedanken von Upstream. Prospects Through Design4 weiter zu verfolgen, dem HyperWerk-Jahresthema 2011/2012, das unterschiedliche Wahrnehmungen des Fremden in Gestaltung und Design zum Inhalt hatte. Und schliesslich wollte ich mich eingehend mit der Technik der Fotografie beschäftigen, zumal sie mich bereits seit langem bei der Erkundung meiner Umwelt begleitet; und deswegen wollte ich auch mehr über das Genre der Reisefotografie erfahren. Ein besonderer Autor auf diesem Gebiet ist Michel Pastoureau, Historiker, Mediävist aus Frankreich, Spezialist für Farb-, Emblem- und Wappensymbolik, ein faszinierender Autor und Erzähler, der Farbe in ihren historischen Kontext setzt, wodurch ein besseres Verständnis von Themen, die im Zusammenhang mit der Entwicklung von Gesellschaften stehen, ermöglicht wird (en.wikipedia.org/wiki/Michel_Pastoureau) Blau – Die Geschichte einer Farbe wird in deutscher Sprache im September 2013 vom Verlag Klaus Wagenbach veröffentlicht.

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In der offiziellen Beschreibung meiner Aktivitäten für das Sabbatical hatte ich meinen Schwerpunkt auf den Auslandsaufenthalt sowie die praktische Arbeit und Weiterbildung rund um das Thema 4 (upstream.hyperwerk.ch) Thema und Forschungsprogramm, die gemeinsam mit Bild gelegt. Ich hatte mich bemüht, den Bereich meinen HyperWerk-Kolleginnen Prof. Dr. der Entwicklung und Umsetzung meiner VorhaRegine Halter und Anka Semmig konzipiert ben so zu definieren, dass mir die Freiheit blieb, wurden. je nach erlebter Situation Veränderungen vornehmen zu können. Le Retour Ich wollte eine Studie über Farbe und ihre Beziehung zum jeweiligen Ort fortführen: The Was ist nun von diesen Vorhaben letztlich umColour Of Place, die ich vor einigen Jahren gesetzt worden? Vieles; und einiges kam sogar begonnen und dann unterbrochen hatte. Dazu noch hinzu.

Meine Arbeit am HyperWerk habe ich seither, nebst Recherchen über das Zuhören in der Pädagogik, in erhöhtem Masse dem Thema Portfolio5 gewidmet, das in keiner studentischen Biographie fehlen sollte. Meine Recherchen mündeten in ein gemeinsam mit meinem Kollegen Jan Kopp geleitetes Seminar, in dem die Studierenden Gelegenheit bekamen, ganz individuell in das Thema der Verwendung personalisierter Dokumentationen einzutauchen. Ein Thema, das auch in den kommenden Semestern fortgeführt werden wird. Die Rückmeldungen der Studenten waren durchweg positiv, da sie in diesem Seminar nicht nur gelernt hatten, ihre Ziele präziser zu formulieren und zu visualisieren, sondern die motivierte Kontrolle über ihre Ausbildung zu erlangen. Im Zusammenhang mit Upstream. Prospects Through Design hatte ich zu Beginn meines Sabbaticals ein Treffen an der Universität Köln mit Jacqueline Lo6, einer Kollegin aus Australien, die sich auf Europareise befand. Auf der Grundlage dieses gewinnbringenden Austauschs und in Zusammenarbeit mit meinen Kolleginnen Regine Halter und Anka Semmig treiben wir seither unser Projekt weiter voran, indem wir mit neuen Partnern die Forschung zur Bedeutung von Kulturräumen und Design für Ausbildung und Lehre vertiefen. Ein weiteres Thema, das ich aufgegriffen habe, ist das Lehren mittels Internetplattformen. Hier richtet sich mein Interesse insbesondere auf diejenigen Entwicklungen auf diesem Gebiet, die meinen Bereich der Designausbildung betreffen, in dem wir uns schwerpunktmässig mit visuellen und haptischen Aspekten beschäftigen. Ich habe mich daher für eine Reihe von Onlinekursen7 angemeldet, um die Herausforderungen, die dieser virtuelle Bereich an die Beziehung zwischen Dozent und Lernenden stellt, besser zu verstehen und an mir selber auszuprobieren – eine inspirierende Erfahrung, die mir und den Studierenden in meinen zukünftigen Kursen und Beratungen sicherlich zugutekommen wird. Im Rahmen meiner eigenen Arbeit war es mir sehr wichtig, meinen visuellen Recherchen eine passende Form zu verleihen. Ich verknüpfte das Farbthema mit meinen Filmclips und erstellte eine Reihe von Cahiers,8 in denen Filmstandbilder und Farbverläufe zueinander in Beziehung gesetzt

werden. Das Cahier-Format gefällt mir, denn es bietet die Möglichkeit, die eigene Arbeit aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und zu überprüfen, ob das Bild tatsächlich so wirkt, wie ich es mir vorgestellt hatte. Von dieser Tätigkeit her rührt auch meine aktuelle Arbeit über das Thema der Materialität der Fotografie. Hier geht es insbesondere um Textilentwürfe, wobei ich Bilddetails oder komplette Fotoaufnahmen von Spezialisten auf Textilien sticken oder komplett weben lasse. Die ersten Ergebnisse werden diesen Herbst zu besichtigen sein. Mein Aufenthalt in Australien gab mir Gelegenheit, freundschaftliche und familiäre Kontakte wieder aufzufrischen und an Orte zurückzukehren, die mich aufs Neue mit ihrer üppigen und überwältigenden Natur beeindruckten, genauso wie neue Orte, die ich entdeckte. Mein Ziel war es nicht, touristisch unterwegs zu sein; vielmehr ging es mir darum, an einem Ort zu verweilen und am dortigen Alltag teilzunehmen, der mir zugleich so fremd und doch so vertraut ist.9 Eine Idee, die fortbesteht, ist ein Austauschprojekt mit einer unglaublichen Künstler- und Graveurszene.10 Bis zum heutigen Zeitpunkt fehlen mir dazu das Netzwerk, die finanziellen Mittel, der Ort und ein erster Baustein, der den Ausgangspunkt bilden könnte; ich habe jedoch während dieses Sabbaticals gelernt, dass eine Idee, wenn sie nur lang genug gedacht wird, sich letztendlich doch realisiert. Mit der Durchführung dieses Projekts gedulde ich mich also noch. Siehe Artikel, Definitionen, Referenzen: de.wikipedia.org/wiki/Portfolio; eine gute Grundlage für das Verständnis der pädagogischen Anwendungsmöglichkeiten ist Das Handbuch Portfolioarbeit : Konzepte – Anregungen – Erfahrungen aus Schule und Lehrerbildung, herausgegeben von Ilse Brunner, Thomas Häcker und Felix Winter, Seelze, 2006.

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Prof. Jacqueline Lo ist Leiterin des Australian National University’s Centre for European Studies und Gastforscherin am Centre for Interweaving Performance Cultures (Internationales Kolleg: Verflechtungen von Theaterkulturen) an der Freien Universität Berlin.

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Die Hochschulen bilden Zusammenschlüsse mittels Internetplattformen wie zum Beispiel Coursera (www.coursera.org)

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Informationen über eines der ersten Projekte im Bereich Gestaltung und Kunst in Europa unter Mitwirkung des Architekten Daniel Libeskind finden sich auf digital. leuphana.de. 15 Cahiers, die alle Teil des Projekts Colour of Place sind, jedoch unterschiedliche Themenbereiche behandeln wie zum Beispiel «Storyline», «Comments», «Units» oder «Exposure». Der Domain-Name thecolourofplace.net ist reserviert. Der eingeschlagene Weg der Arbeit wird fortgesetzt.

8

Regelmässige Aufenthalte in Cairns, Far North Queensland, seit 2002.

9

stärker meiner eigenen, persönlichen Entwicklung widmen und mir Zeit für diese Arbeit im Verborgenen freihalten. Das Bild des geheimen Gartens10 beschreibt diesen Ansatz äusserst passend. So hat diese Auszeit nun viereinhalb Monate gedauert, was sich kurz anhört. Aber wie gross war der Reichtum an Inspirationen! Die anfängliche Begeisterung hat nicht nachgelassen – im Gegenteil! Das eigentliche Abenteuer scheint erst jetzt zu beginnen! Catherine Walthard

10 Die Gravierwerkstatt Djumbunji-Press (kickarts.org.au/djumbunji-press/djumbunji-press); die Arbeit des Graveurmeisters Theo Tremblay editionstremblay.com/; Künstler wie Alick Tipoti (seine Bilder sind auf Google Bilder zu sehen), oder die jüngste Arbeit von Brian Robinson «Of Myths and Legends» (www.creativecowboyfilms.com/brian-robinson-of-myths-andlegends/).

Le Jardin Secret Da gab es diesen Moment, in dem ich anfing, mir selber Fragen über meine Arbeit zu stellen: Was ist das Geheimnis der Zufriedenheit schöpferisch tätiger Menschen? Die Bewältigung übergrosser Berge an Arbeit? Die vollständige Identifikation mit den dazugehörigen Aufgaben? Die Begeisterung über das Heranreifen der Studenten, die ihre ersten erfolgreichen Karriereschritte machen? Das Erlernen neuer Tätigkeiten auf eigene Faust, in einer Gruppe, mit Kollegen, Studierenden? Die Neugier auf den eigenen Beruf und das ständige Streben nach Perfektion? Das Sabbatical schafft die Möglichkeit, diese Flut an Fragen zu stoppen und auf andere Gedanken zu kommen. Ich hatte das tiefe Verlangen, während meiner Auszeit einen Arbeitsprozess in Gang zu setzen, der nicht nur über das Sabbatical hinweg weiterlaufen, sondern so dicht sein sollte, dass mein gesamter Alltag von ihm auf den Kopf und grundsätzlich in Frage gestellt würde. Deswegen musste ich wieder zurückfinden zu dem, was mich schon immer am Thema Bild fasziniert hatte: die Farbe, die Komposition, die Entstehung und die materielle Beschaffenheit. Ich musste mich aber auch

Anja Bornhauser, Papierschnitt, 2013 (Workshop Illustration)

33


Informationen über eines der ersten Projekte im Bereich Gestaltung und Kunst in Europa unter Mitwirkung des Architekten Daniel Libeskind finden sich auf digital. leuphana.de. 15 Cahiers, die alle Teil des Projekts Colour of Place sind, jedoch unterschiedliche Themenbereiche behandeln wie zum Beispiel «Storyline», «Comments», «Units» oder «Exposure». Der Domain-Name thecolourofplace.net ist reserviert. Der eingeschlagene Weg der Arbeit wird fortgesetzt.

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Regelmässige Aufenthalte in Cairns, Far North Queensland, seit 2002.

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stärker meiner eigenen, persönlichen Entwicklung widmen und mir Zeit für diese Arbeit im Verborgenen freihalten. Das Bild des geheimen Gartens10 beschreibt diesen Ansatz äusserst passend. So hat diese Auszeit nun viereinhalb Monate gedauert, was sich kurz anhört. Aber wie gross war der Reichtum an Inspirationen! Die anfängliche Begeisterung hat nicht nachgelassen – im Gegenteil! Das eigentliche Abenteuer scheint erst jetzt zu beginnen! Catherine Walthard

10 Die Gravierwerkstatt Djumbunji-Press (kickarts.org.au/djumbunji-press/djumbunji-press); die Arbeit des Graveurmeisters Theo Tremblay editionstremblay.com/; Künstler wie Alick Tipoti (seine Bilder sind auf Google Bilder zu sehen), oder die jüngste Arbeit von Brian Robinson «Of Myths and Legends» (www.creativecowboyfilms.com/brian-robinson-of-myths-andlegends/).

Le Jardin Secret Da gab es diesen Moment, in dem ich anfing, mir selber Fragen über meine Arbeit zu stellen: Was ist das Geheimnis der Zufriedenheit schöpferisch tätiger Menschen? Die Bewältigung übergrosser Berge an Arbeit? Die vollständige Identifikation mit den dazugehörigen Aufgaben? Die Begeisterung über das Heranreifen der Studenten, die ihre ersten erfolgreichen Karriereschritte machen? Das Erlernen neuer Tätigkeiten auf eigene Faust, in einer Gruppe, mit Kollegen, Studierenden? Die Neugier auf den eigenen Beruf und das ständige Streben nach Perfektion? Das Sabbatical schafft die Möglichkeit, diese Flut an Fragen zu stoppen und auf andere Gedanken zu kommen. Ich hatte das tiefe Verlangen, während meiner Auszeit einen Arbeitsprozess in Gang zu setzen, der nicht nur über das Sabbatical hinweg weiterlaufen, sondern so dicht sein sollte, dass mein gesamter Alltag von ihm auf den Kopf und grundsätzlich in Frage gestellt würde. Deswegen musste ich wieder zurückfinden zu dem, was mich schon immer am Thema Bild fasziniert hatte: die Farbe, die Komposition, die Entstehung und die materielle Beschaffenheit. Ich musste mich aber auch

Anja Bornhauser, Papierschnitt, 2013 (Workshop Illustration)

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† 2013 Medienzerfall im digitalen Zeitalter

Diplom Andrea Ebener

*2213 34

Die Entwicklung einer Medizin zum aktuellen Zeitgeschehen. Die akute digitale Überforderung des Patienten Gesellschaft wird mit der Produktion analoger Antidota entschärft. Objekte, Bilder, Texte werden geschaffen und in einem hermetisch verriegelten Artophag vergraben, um 200 Jahre später wieder ausgegraben zu werden. Kontext – Mein Diplom Digital Burnout – Analogue Fire problematisiert die Verträglichkeit der digitalen Technik mit der menschlichen Natur. Der Mensch ist analog, die Technik digital. Werden wir von den Maschinen überholt? Brennen wir aus? Do I update my phone or does my phone update me? Inhalt – Mein Projekt soll so entstehen wie analoges Leben entsteht – durch Zellteilung. Das heisst: Ich treffe einen Menschen (eine Zelle) und daraus entsteht eine Geschichte (durch Zellteilung). Durch diese Geschichte entsteht wiederum eine neue Zusammenarbeit und so fort, bis schlussendlich ein komplexes, organisches Gebilde existiert. Die entstandenen Portraits und Texte werde ich mit dem Cyanotypieverfahren auf Papier bringen. Somit entstehen, gegen den digitalen Massentrend, Unikate, die den Individuen gerecht werden. Zu Beginn sollte daraus ein Printmagazin entstehen, doch je länger ich mich mit der Gesamtthematik befasst habe, desto mehr ist mir klar geworden, dass das Projekt nur Sinn macht, wenn der Zukunft ein Spiegel vorgehalten wird. Ein Magazin ist dafür zu kurzlebig. Also habe ich mich entschieden, mein Diplomprojekt in einer hermetisch verschlossenen Kiste für 200 Jahre zu vergraben. Nach 200 Jahren wird durch die Ausgrabung der Gesundheitszustand des Patienten Gesellschaft erneut geprüft. Angesichts der Tatsache, dass physische Objekte heute schon als speziell werthaltig begriffen werden, prognostiziere ich eine Verstärkung dieses Effekts und somit einen stärkeren Impuls an den Patienten der Zukunft, sich und seinen Lebenswandel zu hinterfragen.

Produkt – Das Produkt ist eine hermetisch verschlossene Kiste, in der die entstandenen Arbeiten gesammelt und über 200 Jahre gelagert werden. Schon der unvorstellbare Zeitraum alleine soll die Gesellschaft der Zukunft kritisch faszinieren. Gemeinschaft – Das ‹Darf es ein bisschen mehr sein?› aus dem Metzgerladen des Industriezeitalters führte zur Verfettung, das bisschen Mehr des digitalen Zeitalters führt zum Digital Burnout. Die tatsächliche Revolution wäre, aus der Vergangenheit zu lernen und zu verstehen, dass zu viel immer zu viel ist, egal wovon. Die damit verbundene Überforderung verkehrt den Nutzen zum Nachteil der Gesellschaft. Coaches – Jan Knopp, Harald Taglinger, Marco Iezzi Kontakt – info@andreaebener.ch Team und Dank – Harald Taglinger, Jan Knopp, Marco Iezzi, Pius Ebener, Diana Pfammatter, Regine Halter, Edon Ahmetaj, Sandra Schwarz, Maria Truschner, Ueli Alder, Yvonne Reichmuth, Zoe Blanc, Claude Stahel, Noemi Spielmann, Nicole Klinger, Werner Bellwald, Lötschentaler Museum, eToy.com, Staatsarchiv Zürich.


† 2013 Medienzerfall im digitalen Zeitalter

Diplom Andrea Ebener

*2213 34

Die Entwicklung einer Medizin zum aktuellen Zeitgeschehen. Die akute digitale Überforderung des Patienten Gesellschaft wird mit der Produktion analoger Antidota entschärft. Objekte, Bilder, Texte werden geschaffen und in einem hermetisch verriegelten Artophag vergraben, um 200 Jahre später wieder ausgegraben zu werden. Kontext – Mein Diplom Digital Burnout – Analogue Fire problematisiert die Verträglichkeit der digitalen Technik mit der menschlichen Natur. Der Mensch ist analog, die Technik digital. Werden wir von den Maschinen überholt? Brennen wir aus? Do I update my phone or does my phone update me? Inhalt – Mein Projekt soll so entstehen wie analoges Leben entsteht – durch Zellteilung. Das heisst: Ich treffe einen Menschen (eine Zelle) und daraus entsteht eine Geschichte (durch Zellteilung). Durch diese Geschichte entsteht wiederum eine neue Zusammenarbeit und so fort, bis schlussendlich ein komplexes, organisches Gebilde existiert. Die entstandenen Portraits und Texte werde ich mit dem Cyanotypieverfahren auf Papier bringen. Somit entstehen, gegen den digitalen Massentrend, Unikate, die den Individuen gerecht werden. Zu Beginn sollte daraus ein Printmagazin entstehen, doch je länger ich mich mit der Gesamtthematik befasst habe, desto mehr ist mir klar geworden, dass das Projekt nur Sinn macht, wenn der Zukunft ein Spiegel vorgehalten wird. Ein Magazin ist dafür zu kurzlebig. Also habe ich mich entschieden, mein Diplomprojekt in einer hermetisch verschlossenen Kiste für 200 Jahre zu vergraben. Nach 200 Jahren wird durch die Ausgrabung der Gesundheitszustand des Patienten Gesellschaft erneut geprüft. Angesichts der Tatsache, dass physische Objekte heute schon als speziell werthaltig begriffen werden, prognostiziere ich eine Verstärkung dieses Effekts und somit einen stärkeren Impuls an den Patienten der Zukunft, sich und seinen Lebenswandel zu hinterfragen.

Produkt – Das Produkt ist eine hermetisch verschlossene Kiste, in der die entstandenen Arbeiten gesammelt und über 200 Jahre gelagert werden. Schon der unvorstellbare Zeitraum alleine soll die Gesellschaft der Zukunft kritisch faszinieren. Gemeinschaft – Das ‹Darf es ein bisschen mehr sein?› aus dem Metzgerladen des Industriezeitalters führte zur Verfettung, das bisschen Mehr des digitalen Zeitalters führt zum Digital Burnout. Die tatsächliche Revolution wäre, aus der Vergangenheit zu lernen und zu verstehen, dass zu viel immer zu viel ist, egal wovon. Die damit verbundene Überforderung verkehrt den Nutzen zum Nachteil der Gesellschaft. Coaches – Jan Knopp, Harald Taglinger, Marco Iezzi Kontakt – info@andreaebener.ch Team und Dank – Harald Taglinger, Jan Knopp, Marco Iezzi, Pius Ebener, Diana Pfammatter, Regine Halter, Edon Ahmetaj, Sandra Schwarz, Maria Truschner, Ueli Alder, Yvonne Reichmuth, Zoe Blanc, Claude Stahel, Noemi Spielmann, Nicole Klinger, Werner Bellwald, Lötschentaler Museum, eToy.com, Staatsarchiv Zürich.


35 XX


35 XX


Menschsein ist streng –

36

oder: Hermann Hesse trifft auf Yoko Ono. Ein Versuch, Gemeinschaft zu definieren.

Eine Gruppe von Studierenden versammelt sich um einen grossen Tisch. Es sind angereiste HyperWerkerinnen und HyperWerker der FHNW aus Basel und ihre Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Sprachkunst an der Angewandten in Wien. Wer sind die einen, wer die anderen? Wie definiert sich jede und jeder, was ist Schein und was ist Sein? Schon sind wir mitten im Thema. Um Gemeinschaft soll es gehen in der viertägigen Arbeitszusammenkunft. Der Begriff wird von beiden Gruppen und von Anfang an als etwas sehr Ambivalentes wahrgenommen. Ein Blick zurück in Senones Im Dezember davor definieren Studierende des HyperWerks im Elsass in Gruppenarbeiten den Begriff, um ihn in einem zweiten Schritt gemeinsam zu gestalten und in ein Jahresthema zu überführen. Was taugt diese Bezeichnung, wie lässt

sie sich überprüfen, wie wird sie sicht- und erlebbar? Witzige Aktionen und Umsetzungen folgen im Januar darauf im Rahmen des Open House, wo Gäste per Post das grosse Los ziehen und sich zu einem Fondue im Innenhof des HyperWerks um Stehtische versammeln, um mit einer «Käsesuppe» Gemeinschaft kulinarisch mit Gästen, Eltern und Freunden auszuprobieren. Suchen und Finden in Wien Durch erste lockere Gespräche bilden sich bald unterschiedliche Gruppierungen. Frei zusammengewürfelte Wortsammlungen weichen einem analytisch kritischen Denken. Von einem Gefahrenpotenzial im virtuellen Raum wird gesprochen, von Ohnmacht in der globalen Masse. Diskussionen entfachen ein Kreuzfeuer, das hypertextuelle Miteinander verknüpft Hells Angels und Al Kaida. Moral und Ethik halten sich die Waage.


Menschsein ist streng –

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oder: Hermann Hesse trifft auf Yoko Ono. Ein Versuch, Gemeinschaft zu definieren.

Eine Gruppe von Studierenden versammelt sich um einen grossen Tisch. Es sind angereiste HyperWerkerinnen und HyperWerker der FHNW aus Basel und ihre Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Sprachkunst an der Angewandten in Wien. Wer sind die einen, wer die anderen? Wie definiert sich jede und jeder, was ist Schein und was ist Sein? Schon sind wir mitten im Thema. Um Gemeinschaft soll es gehen in der viertägigen Arbeitszusammenkunft. Der Begriff wird von beiden Gruppen und von Anfang an als etwas sehr Ambivalentes wahrgenommen. Ein Blick zurück in Senones Im Dezember davor definieren Studierende des HyperWerks im Elsass in Gruppenarbeiten den Begriff, um ihn in einem zweiten Schritt gemeinsam zu gestalten und in ein Jahresthema zu überführen. Was taugt diese Bezeichnung, wie lässt

sie sich überprüfen, wie wird sie sicht- und erlebbar? Witzige Aktionen und Umsetzungen folgen im Januar darauf im Rahmen des Open House, wo Gäste per Post das grosse Los ziehen und sich zu einem Fondue im Innenhof des HyperWerks um Stehtische versammeln, um mit einer «Käsesuppe» Gemeinschaft kulinarisch mit Gästen, Eltern und Freunden auszuprobieren. Suchen und Finden in Wien Durch erste lockere Gespräche bilden sich bald unterschiedliche Gruppierungen. Frei zusammengewürfelte Wortsammlungen weichen einem analytisch kritischen Denken. Von einem Gefahrenpotenzial im virtuellen Raum wird gesprochen, von Ohnmacht in der globalen Masse. Diskussionen entfachen ein Kreuzfeuer, das hypertextuelle Miteinander verknüpft Hells Angels und Al Kaida. Moral und Ethik halten sich die Waage.


werden zu lassen. Und ja, die Idee ist witzig, denn befinden wir uns nicht selbst dauernd in einer Gerüchteküche, die ab und zu absurde wilde Blüten hervorbringt? Dass die Zungenreliquie von St. Antonio aus Padua mit Bildern vom Gletscherschwund verknüpft werden kann, führt zur berechtigten Frage, wer als Wikipedia-Autor Artikel verfassen darf, wer für die Allgemeinheit was wie veröffentlicht oder von wem es gelöscht wird. Ein Dokumentationsteam begleitet die verschiedenen Gruppen von Anfang an. Das löst Kontroversen aus: Kaum schwebt eine Idee über den Köpfen, muss sie auch schon medial aufbereitet sein. Trotzdem helfen gerade Zwischenresultate, das Feld einzugrenzen. Frische Statements, zaghafte Annäherungen, kraftvolle Vergegenwärtigungen der intensiven Gruppenarbeit, die allen das abverlangt, was einer allein nie zu leisten im Stande ist, werden sofort dokumentiert. Der Film erfasst die Inhalte, das Experiment ist gelungen. Ein humanes Wertespiel als Quartett sucht Mitspieler, Gerücht oder Gemeinschaftsbau, alle Formen der Umsetzung sind noch möglich. Dem Gründungsmythos sind keine Grenzen gesetzt. Der lustvolle Selbstversuch wird gewagt. Ein Hörspiel von der Fiktion der Fiktion über die Fiktion eröffnet tatsächlich die Möglichkeit, dass Hermann Hesse auf Yoko Ono treffen könnte. Wie hätte wohl dieser feingliedrige Brillenträger auf die, wie Wikipedia schreibt, meistgehasste Frau der Welt geblickt? Love, love, love! Yoko Ono, dessen bin ich mir sicher, würde sich darüber freuen. Aber weshalb fragen wir sie nicht selbst? Andrea Iten

Yoko Ono und John Lennon bzw. Herman Hesse, Bed-in for peace, 1969

Eine Wertegruppe will gegründet sein. Gesang, Hymnen, Rituale, Stadt und Land sind Inhalte von lebhaft kontroversen Gesprächen. Schicksalsgemeinschaften lösen sich auf, Trittbrettfahrer springen ab, «Krocher» und Oppositionelle, Mythen und Bringschuld bilden einen bunten Reigen. Einzelne Wünsche, Interessen und Meinungen lassen sich zur elastischen Masse kneten. Neubildungen formen Gemeinschaften des ultimativen Kicks: Etwas Anderes, Besseres, unerwartet Neues muss her! Im Dialog entpuppen sich fiktive Dilettanten als gewiefte Taktiker, die mit Isolation und rigidem Regelwerk genauso umgehen können wie mit sichtbaren und unsichtbaren Grenzbereichen. Gemeinschaft wird ständig mit der eigenen Rolle abgeglichen, ist Konzept und Arbeitsform in einem. So oszillieren Theorie, Praxis, persönliche Erfahrung und Fiktionalisierung zwischen genauen Zahlen und kaum fassbaren Werten. Auf harte Fakten fallen bunte Konfettistreifen. Ein Drehbuch wird geschrieben. Zwischen Wien und Basel bilden sich vier Gruppen ganz nach dem Motto heimlicher und unheimlicher Allianzen. Sie camouflieren Subkulturen, gründen einen fiktiven Mob, tüfteln an cleveren Geschäftsmodellen und Spielen, planen gar den Bau einer Wippe (nach Durkheim) im Selbstversuch. Der Aufstieg und Fall einer Gemeinschaft ist beschlossen, Hermann Hesse erfindet sich als fiktives Rollenmodell, Yoko Ono zeichnet Mangas. Gemeinschaft soll verhandelbar bleiben, Gruppen mutieren, neue Mitglieder passen sich ein, selbst Einzelpersonen und Splittergruppen sind mit von der Partie. Der kommune Alltag wird nicht ausgeblendet. Einzelne Studentinnen und Studenten schreiten zur Tat. Per Kamera und Mikrofon bringt sich auch die Wiener Bevölkerung in die Gemeinschaftsdiskussion ein. Dass sich die Menschen auf der Strasse nicht irritieren lassen, ist Zeichen der medialen Allgegenwart, die selbst vor der breiten Öffentlichkeit nicht Halt macht. Kamerascheu war gestern. Dass es trotzdem Chuzpe braucht, wildfremde Menschen auf ihrem Sonntagsspaziergang im Park anzusprechen, sei an dieser Stelle vermerkt. Die Neugier überwiegt, provokante Aktionen können helfen, schräge Geschichten zu streuen, um sie zum gemeinschaftlichen Selbstläufer


werden zu lassen. Und ja, die Idee ist witzig, denn befinden wir uns nicht selbst dauernd in einer Gerüchteküche, die ab und zu absurde wilde Blüten hervorbringt? Dass die Zungenreliquie von St. Antonio aus Padua mit Bildern vom Gletscherschwund verknüpft werden kann, führt zur berechtigten Frage, wer als Wikipedia-Autor Artikel verfassen darf, wer für die Allgemeinheit was wie veröffentlicht oder von wem es gelöscht wird. Ein Dokumentationsteam begleitet die verschiedenen Gruppen von Anfang an. Das löst Kontroversen aus: Kaum schwebt eine Idee über den Köpfen, muss sie auch schon medial aufbereitet sein. Trotzdem helfen gerade Zwischenresultate, das Feld einzugrenzen. Frische Statements, zaghafte Annäherungen, kraftvolle Vergegenwärtigungen der intensiven Gruppenarbeit, die allen das abverlangt, was einer allein nie zu leisten im Stande ist, werden sofort dokumentiert. Der Film erfasst die Inhalte, das Experiment ist gelungen. Ein humanes Wertespiel als Quartett sucht Mitspieler, Gerücht oder Gemeinschaftsbau, alle Formen der Umsetzung sind noch möglich. Dem Gründungsmythos sind keine Grenzen gesetzt. Der lustvolle Selbstversuch wird gewagt. Ein Hörspiel von der Fiktion der Fiktion über die Fiktion eröffnet tatsächlich die Möglichkeit, dass Hermann Hesse auf Yoko Ono treffen könnte. Wie hätte wohl dieser feingliedrige Brillenträger auf die, wie Wikipedia schreibt, meistgehasste Frau der Welt geblickt? Love, love, love! Yoko Ono, dessen bin ich mir sicher, würde sich darüber freuen. Aber weshalb fragen wir sie nicht selbst? Andrea Iten

Yoko Ono und John Lennon bzw. Herman Hesse, Bed-in for peace, 1969

Eine Wertegruppe will gegründet sein. Gesang, Hymnen, Rituale, Stadt und Land sind Inhalte von lebhaft kontroversen Gesprächen. Schicksalsgemeinschaften lösen sich auf, Trittbrettfahrer springen ab, «Krocher» und Oppositionelle, Mythen und Bringschuld bilden einen bunten Reigen. Einzelne Wünsche, Interessen und Meinungen lassen sich zur elastischen Masse kneten. Neubildungen formen Gemeinschaften des ultimativen Kicks: Etwas Anderes, Besseres, unerwartet Neues muss her! Im Dialog entpuppen sich fiktive Dilettanten als gewiefte Taktiker, die mit Isolation und rigidem Regelwerk genauso umgehen können wie mit sichtbaren und unsichtbaren Grenzbereichen. Gemeinschaft wird ständig mit der eigenen Rolle abgeglichen, ist Konzept und Arbeitsform in einem. So oszillieren Theorie, Praxis, persönliche Erfahrung und Fiktionalisierung zwischen genauen Zahlen und kaum fassbaren Werten. Auf harte Fakten fallen bunte Konfettistreifen. Ein Drehbuch wird geschrieben. Zwischen Wien und Basel bilden sich vier Gruppen ganz nach dem Motto heimlicher und unheimlicher Allianzen. Sie camouflieren Subkulturen, gründen einen fiktiven Mob, tüfteln an cleveren Geschäftsmodellen und Spielen, planen gar den Bau einer Wippe (nach Durkheim) im Selbstversuch. Der Aufstieg und Fall einer Gemeinschaft ist beschlossen, Hermann Hesse erfindet sich als fiktives Rollenmodell, Yoko Ono zeichnet Mangas. Gemeinschaft soll verhandelbar bleiben, Gruppen mutieren, neue Mitglieder passen sich ein, selbst Einzelpersonen und Splittergruppen sind mit von der Partie. Der kommune Alltag wird nicht ausgeblendet. Einzelne Studentinnen und Studenten schreiten zur Tat. Per Kamera und Mikrofon bringt sich auch die Wiener Bevölkerung in die Gemeinschaftsdiskussion ein. Dass sich die Menschen auf der Strasse nicht irritieren lassen, ist Zeichen der medialen Allgegenwart, die selbst vor der breiten Öffentlichkeit nicht Halt macht. Kamerascheu war gestern. Dass es trotzdem Chuzpe braucht, wildfremde Menschen auf ihrem Sonntagsspaziergang im Park anzusprechen, sei an dieser Stelle vermerkt. Die Neugier überwiegt, provokante Aktionen können helfen, schräge Geschichten zu streuen, um sie zum gemeinschaftlichen Selbstläufer


Vreni fragt nach: «Das Phänomen Lala» Ausschnitt aus einer Talkshow

37


Vreni fragt nach: «Das Phänomen Lala» Ausschnitt aus einer Talkshow

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Amadeus Müller. Lala-Mitglied 1 (glücklich) Georg Schwarz. Lala-Mitglied 2 (verzweifelt) Cosima Kaiser. Regisseurin von Lala-Doku Franz Hasitschka. Sohn von Lala-Idol Vreni Lüthi. Moderatorin (Radioshow Jingle) (Walzer Lied Einstimmung) (Walzer wird leiser.) Vreni: Wespennestfrisuren, Pilotenuniformen, Dreivierteltakt. Das kommt uns in den Sinn, wenn wir an die Lalas denken, eine Subkultur, die 2012 in Wien entstand und all dies erst in Österreich und schließlich in der ganzen Welt salonfähig machte. Aber während es für manche nur ein Modegag war, machten andere ernst. Sie erhoben die Ideologiefreiheit der 2010er Jahre zum einzigen gemeinsamen Nenner einer ganzen Bewegung. Wir erinnern uns alle an die unselige Debatte um die Legalisierung von Pädophilie. Für Knut Hellmann war es nichts anderes als ein Spiel. Ja, spielen wollten sie, die Lalas. Heute habe ich Vertreter und Aufarbeiter der Bewegung zu Gast, um zu erfahren, wie es wirklich war.

Cosima: Es war für eine Bewegung revolutionär. Das war ja das erste Mal, dass sich über komplett verschiedene Hintergründe hinweg so etwas entwickelt hat. Vreni: Wenn das tatsächlich so eine heterogene Gruppe war, kann man denn überhaupt von einer Bewegung sprechen? Cosima: Das war tatsächlich ein großes Interesse bei meiner Recherche. Die Lala waren eine vollkommen unideologische Gruppe. Ich glaube, dass gerade in dem Überwinden äußerer Übereinstimmungen das Verbindende lag: dass diese Übereinstimmungen eben nicht mehr notwendig waren. Und das haben die Lala erkannt. Oder sie haben es zumindest praktiziert. Und es stimmt natürlich, dass sich das im Individuellen manifestiert. Es muss nicht sein, dass jeder Fan die gleiche Ideologie aufsagen kann. Der eine ist vielleicht ein Neonazi, aber er kann es begründen. Und damit ist er akzeptiert! Man rieb sich einfach nicht mehr daran. Vreni: Der Sieg der totalen Toleranz?

Herzlich willkommen bei «Vreni fragt nach» Cosima: Nein (lacht), aber es gab eben Werte, die Amadeus Müller und Georg Schwarz, ehemalige unabgesprochen geteilt wurden. Mitglieder der Lala-Bewegung. Vreni: Gut danke. Franz, nun zu dir, erst einmal Georg: Hallo. möchte ich dir mein herzliches Beileid aussprechen und mich bedanken, dass du trotz des Todes Amadeus: Guten Abend. deines Vaters heute hier bist. Wir alle haben das Begräbnis vor einigen Tagen live im Fernsehen Vreni: Cosima Kaiser, die Regisseurin der eben gesehen und damit auch die enorme Anteilnahme in den Kinos angelaufenen Doku «Lala – Der Tanz in der Bevölkerung und den langen Trauermarsch... ins Leere». Franz: Du, ich hab noch nie dem BundespräsiCosima: Guten Abend. Und Franz Hasitschka, denten die Hand geschüttelt, haha. Sohn des kürzlich verstorbenen, legendären Ludwig «Gigi» Hasitschka, Idol, Aushängeschild, Vreni: Hat sich dein Vater denn überhaupt als Teil Projektionsfläche und musikalisches Sprachrohr der Lala-Bewegung gesehen? seiner Generation. Franz: In erster Linie hat sich mein Vater als MuFranz: Abend! siker verstanden und als solcher ein unglaubliches Gespür für aufkommende Trends gehabt. Das hat Vreni: Cosima, du hast dich über längere Zeit in- in Wien Tradition. Wir denken an Supermax und tensiv mit dem Phänomen Lala auseinanderge- die Disco-Bewegung, wir denken an Falco und setzt. Was hat diese Bewegung ausgemacht? Rap, und mein Vater hat den Walzer gerochen. In

ihm haben sich auch zwei musikalische Traditionen verbunden, das kam stark von meiner Großmutter, einerseits hat er eine klassische Klavierausbildung genossen, andererseits ist er aufgewachsen mit den Ton Steine Scherben. Ich kenn Jugendfotos, da ist er als Punk durch die Straße gelaufen, und andere, da ist er mit Anzug in der Oper gestanden. Um auf deine Frage zurückzukommen: Ich glaube eher, dass seine Fans Lalas waren. Georg: (lacht) Vreni: Hab ich das richtig verstanden, er hatte überhaupt nichts mit den Lalas zu tun?

zwei in der Früh. Aber er hat ihnen offensichtlich aus dem … aus dem Herz gesprochen. Amadeus: Also mir reicht’s hier in Wien. Ich geh zum Todo Joshimoto nach Japan. Dort werden die Dinge wenigstens nicht totgeredet, da lebt man noch Lala, auch wenn’s nicht mehr dasselbe is’. Johanna Kliem Marco Fitzthum Norbert Kröll Roland Grenl Saskia Winkelmann

Franz: Du ich war jung und hab nicht viel mitbekommen, den meisten Kontakt hatte er zu der Bewegung, wenn nachts Leute an seine Tür geklopft haben und seine Songs gesungen haben um

Also mir reicht’s hier in Wien. Ich geh zum Todo Joshimoto nach Japan. Dort werden die Dinge wenigstens nicht totgeredet, da lebt man noch Lala, auch wenn’s nicht mehr dasselbe is’.


Amadeus Müller. Lala-Mitglied 1 (glücklich) Georg Schwarz. Lala-Mitglied 2 (verzweifelt) Cosima Kaiser. Regisseurin von Lala-Doku Franz Hasitschka. Sohn von Lala-Idol Vreni Lüthi. Moderatorin (Radioshow Jingle) (Walzer Lied Einstimmung) (Walzer wird leiser.) Vreni: Wespennestfrisuren, Pilotenuniformen, Dreivierteltakt. Das kommt uns in den Sinn, wenn wir an die Lalas denken, eine Subkultur, die 2012 in Wien entstand und all dies erst in Österreich und schließlich in der ganzen Welt salonfähig machte. Aber während es für manche nur ein Modegag war, machten andere ernst. Sie erhoben die Ideologiefreiheit der 2010er Jahre zum einzigen gemeinsamen Nenner einer ganzen Bewegung. Wir erinnern uns alle an die unselige Debatte um die Legalisierung von Pädophilie. Für Knut Hellmann war es nichts anderes als ein Spiel. Ja, spielen wollten sie, die Lalas. Heute habe ich Vertreter und Aufarbeiter der Bewegung zu Gast, um zu erfahren, wie es wirklich war.

Cosima: Es war für eine Bewegung revolutionär. Das war ja das erste Mal, dass sich über komplett verschiedene Hintergründe hinweg so etwas entwickelt hat. Vreni: Wenn das tatsächlich so eine heterogene Gruppe war, kann man denn überhaupt von einer Bewegung sprechen? Cosima: Das war tatsächlich ein großes Interesse bei meiner Recherche. Die Lala waren eine vollkommen unideologische Gruppe. Ich glaube, dass gerade in dem Überwinden äußerer Übereinstimmungen das Verbindende lag: dass diese Übereinstimmungen eben nicht mehr notwendig waren. Und das haben die Lala erkannt. Oder sie haben es zumindest praktiziert. Und es stimmt natürlich, dass sich das im Individuellen manifestiert. Es muss nicht sein, dass jeder Fan die gleiche Ideologie aufsagen kann. Der eine ist vielleicht ein Neonazi, aber er kann es begründen. Und damit ist er akzeptiert! Man rieb sich einfach nicht mehr daran. Vreni: Der Sieg der totalen Toleranz?

Herzlich willkommen bei «Vreni fragt nach» Cosima: Nein (lacht), aber es gab eben Werte, die Amadeus Müller und Georg Schwarz, ehemalige unabgesprochen geteilt wurden. Mitglieder der Lala-Bewegung. Vreni: Gut danke. Franz, nun zu dir, erst einmal Georg: Hallo. möchte ich dir mein herzliches Beileid aussprechen und mich bedanken, dass du trotz des Todes Amadeus: Guten Abend. deines Vaters heute hier bist. Wir alle haben das Begräbnis vor einigen Tagen live im Fernsehen Vreni: Cosima Kaiser, die Regisseurin der eben gesehen und damit auch die enorme Anteilnahme in den Kinos angelaufenen Doku «Lala – Der Tanz in der Bevölkerung und den langen Trauermarsch... ins Leere». Franz: Du, ich hab noch nie dem BundespräsiCosima: Guten Abend. Und Franz Hasitschka, denten die Hand geschüttelt, haha. Sohn des kürzlich verstorbenen, legendären Ludwig «Gigi» Hasitschka, Idol, Aushängeschild, Vreni: Hat sich dein Vater denn überhaupt als Teil Projektionsfläche und musikalisches Sprachrohr der Lala-Bewegung gesehen? seiner Generation. Franz: In erster Linie hat sich mein Vater als MuFranz: Abend! siker verstanden und als solcher ein unglaubliches Gespür für aufkommende Trends gehabt. Das hat Vreni: Cosima, du hast dich über längere Zeit in- in Wien Tradition. Wir denken an Supermax und tensiv mit dem Phänomen Lala auseinanderge- die Disco-Bewegung, wir denken an Falco und setzt. Was hat diese Bewegung ausgemacht? Rap, und mein Vater hat den Walzer gerochen. In

ihm haben sich auch zwei musikalische Traditionen verbunden, das kam stark von meiner Großmutter, einerseits hat er eine klassische Klavierausbildung genossen, andererseits ist er aufgewachsen mit den Ton Steine Scherben. Ich kenn Jugendfotos, da ist er als Punk durch die Straße gelaufen, und andere, da ist er mit Anzug in der Oper gestanden. Um auf deine Frage zurückzukommen: Ich glaube eher, dass seine Fans Lalas waren. Georg: (lacht) Vreni: Hab ich das richtig verstanden, er hatte überhaupt nichts mit den Lalas zu tun?

zwei in der Früh. Aber er hat ihnen offensichtlich aus dem … aus dem Herz gesprochen. Amadeus: Also mir reicht’s hier in Wien. Ich geh zum Todo Joshimoto nach Japan. Dort werden die Dinge wenigstens nicht totgeredet, da lebt man noch Lala, auch wenn’s nicht mehr dasselbe is’. Johanna Kliem Marco Fitzthum Norbert Kröll Roland Grenl Saskia Winkelmann

Franz: Du ich war jung und hab nicht viel mitbekommen, den meisten Kontakt hatte er zu der Bewegung, wenn nachts Leute an seine Tür geklopft haben und seine Songs gesungen haben um

Also mir reicht’s hier in Wien. Ich geh zum Todo Joshimoto nach Japan. Dort werden die Dinge wenigstens nicht totgeredet, da lebt man noch Lala, auch wenn’s nicht mehr dasselbe is’.


Weit weg. Ganz nah: Die Zungenabschneider 38

wachsen. Zusammengewachsen. Man wird dich Ich (am Tisch, beim Zubereiten einer Zunge) Der Gletscher (kommt näher, und verschwindet) finden in mir. Dann, wie damals. Dich als Konzentrat. Als dein vorderstes Fragment. Streck die Informant: Weit weg. In der Ferne: eine Gletscher- Zunge raus. zunge. Informant: Eine wahnsinnige Öko-Sekte verstümIch: Ich bin deine Zunge! Ich will etwas für deine melt ihre Kinder. ZUNGEN AB! Gesundheit tun. Wir wollen dich schützen. Ich will Eine ökologisch motivierte Sekte schneidet in dich retten. Nicht die Welt, dich. Komm näher. den Alpen Zungenspitzen ab, weil sie auf den Rücklch schneid mir die Zunge ab! lch reiß mir die gang der Gletscher aufmerksam machen will. DaZunge raus und behalte meine Seele. Sprechen bei gehen die Mitglieder mathematisch präzise und wie alle. Mit gespaltener Zunge! Real. äusserst kaltblütig vor. Der Gletscher: Komm her, mein Kleiner. Keine Angst. Du kannst auch ohne Zungespitze noch lächeln. Besser, vielleicht ... Komm her, trau dich. Na, komm schon. Mach den Mund etwas weiter auf. Darf ich mir deine Zunge? Vielleicht genauer? Anschauen? Eine wunderbare Zunge. Darf ich? Darf ich dich? Mit Zunge? Ich bin die Zukunft. Und du? Ich bin deine Zukunft. Und du.

Innsbruck, 04.05.2012, Innsbrucker Morgenpost Die österreichische und Schweizer Polizei verhaftete gestern nach monatelangen Vorbereitungen zwei Familien, die ihren Kindem (4, 7 und 9) die Zungenspitzen abgeschnitten hatten – und das über mehrere Jahre hinweg. Nach ersten Informationen gaben die Eltern an, ihren Kindem diesen Frühling die Zungen um 17.2mm gekürzt zu haben, da dies dem Rückgang der Gletscher in den Alpen entspreche (Österreich, 20: 17,2m: Anm. d. Red.). Die Kinder scheinen sich nicht gegen die Eingriffe gewehrt zu haben, die Wunden wurden professionell versorgt. Aufmerksame Pädagoginnen verständigten allerdings das Jugendamt, als ihre Schützlinge zum wiederholten Male auffälliges Sprachverhalten zeigten. Die Eltern geben an, die Zungenspitzen als Opfer einem Gletscher darzubringen. So wollen sie die Naturgewalt besänftigen. Die vier Erwachsenen befinden sich zur Zeit in Untersuchungshaft und müssen sich einem psychiatrischen Gutachten unterziehen. Den Kindern geht es den Umständen entsprechend gut.

Informant: Eine der Arbeiten der dieses Projekt zugrunde liegt untersucht das in den Alpen sich verbreitende Phänomen der Zungenabschneider, einer ökologisch motivierten Sekte, die sich selbst und ihren Kinden jährlich die Zungenspitzen abschneiden, um diese den schmelzenden Gletschern zu opfern. Es ist eine Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Von Thomas Klinger. Das Fachthema ist: Auto- Weit weg. In der Nähe: eine Gletscherzunge. und Familiärmutilation im 21. Jahrhundert am Beispiel der Schweizer Zungenabschneider. Der Gletscher: Verlierst mich aus den Augen? Weit weg. Da wo Gletscherzungen sind. Trittst von mir weg? Ich werde kleiner. Langsam flüssig. Schwemme zum Meer. Ich werde verIch: Freiheit verleiht das schmelzende Eis. Frei- schwinden, beeile dich lieber. heit ist mein Messer. Der Schnitt: die Natur. Du magst mich? Ich dich auch. Du liebst mich? Leuchtend als Beispiele: meine Kinder. Wir, die Ich krieg dich. Väter dieser Brut. Ich liebe dich, Natur. Ich: Ja. Ja. Ja. Ich. Liebe, brauche, will. Will. Will Der Gletscher: Deine Geschichte in mir. Du in dich haben. Auch mich selber retten. Von mir mir. Wir zusammen am Wachsen. Zusammen ge- selbst gerettet werden. Für mich und dich.


Weit weg. Ganz nah: Die Zungenabschneider 38

wachsen. Zusammengewachsen. Man wird dich Ich (am Tisch, beim Zubereiten einer Zunge) Der Gletscher (kommt näher, und verschwindet) finden in mir. Dann, wie damals. Dich als Konzentrat. Als dein vorderstes Fragment. Streck die Informant: Weit weg. In der Ferne: eine Gletscher- Zunge raus. zunge. Informant: Eine wahnsinnige Öko-Sekte verstümIch: Ich bin deine Zunge! Ich will etwas für deine melt ihre Kinder. ZUNGEN AB! Gesundheit tun. Wir wollen dich schützen. Ich will Eine ökologisch motivierte Sekte schneidet in dich retten. Nicht die Welt, dich. Komm näher. den Alpen Zungenspitzen ab, weil sie auf den Rücklch schneid mir die Zunge ab! lch reiß mir die gang der Gletscher aufmerksam machen will. DaZunge raus und behalte meine Seele. Sprechen bei gehen die Mitglieder mathematisch präzise und wie alle. Mit gespaltener Zunge! Real. äusserst kaltblütig vor. Der Gletscher: Komm her, mein Kleiner. Keine Angst. Du kannst auch ohne Zungespitze noch lächeln. Besser, vielleicht ... Komm her, trau dich. Na, komm schon. Mach den Mund etwas weiter auf. Darf ich mir deine Zunge? Vielleicht genauer? Anschauen? Eine wunderbare Zunge. Darf ich? Darf ich dich? Mit Zunge? Ich bin die Zukunft. Und du? Ich bin deine Zukunft. Und du.

Innsbruck, 04.05.2012, Innsbrucker Morgenpost Die österreichische und Schweizer Polizei verhaftete gestern nach monatelangen Vorbereitungen zwei Familien, die ihren Kindem (4, 7 und 9) die Zungenspitzen abgeschnitten hatten – und das über mehrere Jahre hinweg. Nach ersten Informationen gaben die Eltern an, ihren Kindem diesen Frühling die Zungen um 17.2mm gekürzt zu haben, da dies dem Rückgang der Gletscher in den Alpen entspreche (Österreich, 20: 17,2m: Anm. d. Red.). Die Kinder scheinen sich nicht gegen die Eingriffe gewehrt zu haben, die Wunden wurden professionell versorgt. Aufmerksame Pädagoginnen verständigten allerdings das Jugendamt, als ihre Schützlinge zum wiederholten Male auffälliges Sprachverhalten zeigten. Die Eltern geben an, die Zungenspitzen als Opfer einem Gletscher darzubringen. So wollen sie die Naturgewalt besänftigen. Die vier Erwachsenen befinden sich zur Zeit in Untersuchungshaft und müssen sich einem psychiatrischen Gutachten unterziehen. Den Kindern geht es den Umständen entsprechend gut.

Informant: Eine der Arbeiten der dieses Projekt zugrunde liegt untersucht das in den Alpen sich verbreitende Phänomen der Zungenabschneider, einer ökologisch motivierten Sekte, die sich selbst und ihren Kinden jährlich die Zungenspitzen abschneiden, um diese den schmelzenden Gletschern zu opfern. Es ist eine Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Von Thomas Klinger. Das Fachthema ist: Auto- Weit weg. In der Nähe: eine Gletscherzunge. und Familiärmutilation im 21. Jahrhundert am Beispiel der Schweizer Zungenabschneider. Der Gletscher: Verlierst mich aus den Augen? Weit weg. Da wo Gletscherzungen sind. Trittst von mir weg? Ich werde kleiner. Langsam flüssig. Schwemme zum Meer. Ich werde verIch: Freiheit verleiht das schmelzende Eis. Frei- schwinden, beeile dich lieber. heit ist mein Messer. Der Schnitt: die Natur. Du magst mich? Ich dich auch. Du liebst mich? Leuchtend als Beispiele: meine Kinder. Wir, die Ich krieg dich. Väter dieser Brut. Ich liebe dich, Natur. Ich: Ja. Ja. Ja. Ich. Liebe, brauche, will. Will. Will Der Gletscher: Deine Geschichte in mir. Du in dich haben. Auch mich selber retten. Von mir mir. Wir zusammen am Wachsen. Zusammen ge- selbst gerettet werden. Für mich und dich.


Informant: Die Zungenabschneider sind überall! Erste Indizien lassen vermuten, dass die ÖkoSekte, die ihren Kindern die Zungenspitzen abschneidet, um auf den Rückgang der Gletscher aufmerksam zu machen, viel weiter verbreitet ist, als bisher angenommen wurde. Innsbruck, 09.05.2012,Innsbrucker Morgenpost Die Polizei steht vor einem Rätsel: Sind die zwei Familien, die letzte Woche verhaftet wurden, weil sie ihren drei Kindern die Zungen verstümmelt und die abgetrennten Körperteile einem Gletscher geopfert hatten, nur die Spitze des Eisberges? Indizien lassen vermuten, dass die Sekte über den gesamten Alpenraum verteilt ihre Zellen organisiert hat. Anscheinend treffen sich die von ihrem Tun überzeugten Familien jedes Jahr im Frühling, um die Beschneidungen durchzuführen. Die Operationen erledigen offenbar Ärzte bzw. andere Fachleute, die die Zungen exakt nach Millimeterangaben der Eltern abschneiden. Dann werden die abgetrennten Zungenspitzen auf diversen Gletschern in Italien, Österreich, Frankreich und der Schweiz geopfert. So wollen die Sektenmitglieder die Natur besänftigen. Unklar ist, wieviele Menschen betroffen sind und warum bis jetzt niemand auf die blutigen Verbrechen aufmerksam wurde. Nach bislang unbestätigten Zeugenaussagen dürfte es sich aber um einen Kreis von 1 bis 3.000 Personen handeln, die Dunkelziffer ist mit Sicherheit viel höher. Weit weg. Ganz nah: eine Gletscherzunge. Florian Bitterlin Leon Heinz Stefan Pointner


Informant: Die Zungenabschneider sind überall! Erste Indizien lassen vermuten, dass die ÖkoSekte, die ihren Kindern die Zungenspitzen abschneidet, um auf den Rückgang der Gletscher aufmerksam zu machen, viel weiter verbreitet ist, als bisher angenommen wurde. Innsbruck, 09.05.2012,Innsbrucker Morgenpost Die Polizei steht vor einem Rätsel: Sind die zwei Familien, die letzte Woche verhaftet wurden, weil sie ihren drei Kindern die Zungen verstümmelt und die abgetrennten Körperteile einem Gletscher geopfert hatten, nur die Spitze des Eisberges? Indizien lassen vermuten, dass die Sekte über den gesamten Alpenraum verteilt ihre Zellen organisiert hat. Anscheinend treffen sich die von ihrem Tun überzeugten Familien jedes Jahr im Frühling, um die Beschneidungen durchzuführen. Die Operationen erledigen offenbar Ärzte bzw. andere Fachleute, die die Zungen exakt nach Millimeterangaben der Eltern abschneiden. Dann werden die abgetrennten Zungenspitzen auf diversen Gletschern in Italien, Österreich, Frankreich und der Schweiz geopfert. So wollen die Sektenmitglieder die Natur besänftigen. Unklar ist, wieviele Menschen betroffen sind und warum bis jetzt niemand auf die blutigen Verbrechen aufmerksam wurde. Nach bislang unbestätigten Zeugenaussagen dürfte es sich aber um einen Kreis von 1 bis 3.000 Personen handeln, die Dunkelziffer ist mit Sicherheit viel höher. Weit weg. Ganz nah: eine Gletscherzunge. Florian Bitterlin Leon Heinz Stefan Pointner


Gemeinsam Messer machen Diplom Moritz Meier

39

Ich erarbeite einen exemplarischen Entwurf für eine kollaborative Produktionsform zwischen Produzent und Kunde. Dabei untersuche ich im Bereich des Messermachens, wie zukünftig mit postindustriellen Herangehensweisen die Personalisierung eines Produktes ablaufen könnte, dessen Gestaltung bis zum Ende des industriellen Zeitalters ausschliesslich an handwerkliche Fertigungstechniken und Kompetenzen gebunden war.

Kontext – Mein Projekt CoCut bewegt sich an der Schnittstelle zweier Kulturen – des traditionellen Handwerks des Messermachens und der Technologien der Maker-Culture. Die Konfrontation dieser Kulturen eröffnet neue Möglichkeiten für die Custom- und SemiCustom-Messerherstellung sowie für die Personalisierung.

dem Material seiner Wahl fräsen oder sogar drucken.

Inhalt – Meine Arbeit greift die schnell fortschreitende Entwicklung, die zunehmende Verfügbarkeit sowie die Anwendungsmöglichkeiten technologiebasierter Produktionstools wie z.B. CNC-Maschinen und 3D-Druckern auf. Davon ausgehend untersuche ich, wie die Personalisierung von Messern, die heute von Kleinunternehmen bereits erfolgreich angeboten wird, zukünftig von den Kunden selbst realisiert werden kann. In dem von mir erarbeiteten Konzept wird diese Entwicklung so interpretiert, dass die Personalisierung eines Produktes durch Co-Creation es dem Kunden ermöglicht, ein Unikat zu erschaffen. Dies kann eine Wertsteigerung bewirken, die entweder persönlich oder auf dem Sekundärmarkt von Bedeutung ist. Da eine qualitativ hochwertige Klinge für ein Messer nicht ohne weiteres selber hergestellt werden kann, der Griff jedoch schon, ist diese Form der Co-Produktion besonders für den Messerbereich geeignet. Aus diesem Grund habe ich ein Hybrid-Messerdesign entwickelt, das mit Schnurwicklung als Griff funktioniert, an dem aber auch Griffschalen verschraubt werden können. Die Designs der Griffschalen stehen auf einer Webseite als Open-Design-Dateien zum Download zur Verfügung. Der Kunde kann das Griffdesign nach Belieben modifizieren, weiterverbreiten und aus

Gemeinschaft – Das Einbinden der Kunden in den Produktionsprozess und der gegenseitige Austausch formen eine Produktionsgemeinschaft. Im besten Fall bildet sich eine Fangemeinde um das Produkt oder die Marke, wobei einzelne Personen initiativ sind und die Entwicklung vorantreiben.

Produkt – Ein Produkt meiner Arbeit ist die Methode zur Open-Design-basierten Personalisierung von Messern. Zusätzlich wird ein eigenes Messerdesign in einer Kleinserie produziert, um das Konzept an einem physischen Produkt exemplarisch zu verwirklichen.

Coaches – Regine Halter, H.P. Klötzli Kontakt – moritz.meier@hyperwerk.ch Team und Dank – Regine Halter, H.P. Klötzli, Ferrum, D. Gentile, Mauro Tammaro, Linus Weber


Gemeinsam Messer machen Diplom Moritz Meier

39

Ich erarbeite einen exemplarischen Entwurf für eine kollaborative Produktionsform zwischen Produzent und Kunde. Dabei untersuche ich im Bereich des Messermachens, wie zukünftig mit postindustriellen Herangehensweisen die Personalisierung eines Produktes ablaufen könnte, dessen Gestaltung bis zum Ende des industriellen Zeitalters ausschliesslich an handwerkliche Fertigungstechniken und Kompetenzen gebunden war.

Kontext – Mein Projekt CoCut bewegt sich an der Schnittstelle zweier Kulturen – des traditionellen Handwerks des Messermachens und der Technologien der Maker-Culture. Die Konfrontation dieser Kulturen eröffnet neue Möglichkeiten für die Custom- und SemiCustom-Messerherstellung sowie für die Personalisierung.

dem Material seiner Wahl fräsen oder sogar drucken.

Inhalt – Meine Arbeit greift die schnell fortschreitende Entwicklung, die zunehmende Verfügbarkeit sowie die Anwendungsmöglichkeiten technologiebasierter Produktionstools wie z.B. CNC-Maschinen und 3D-Druckern auf. Davon ausgehend untersuche ich, wie die Personalisierung von Messern, die heute von Kleinunternehmen bereits erfolgreich angeboten wird, zukünftig von den Kunden selbst realisiert werden kann. In dem von mir erarbeiteten Konzept wird diese Entwicklung so interpretiert, dass die Personalisierung eines Produktes durch Co-Creation es dem Kunden ermöglicht, ein Unikat zu erschaffen. Dies kann eine Wertsteigerung bewirken, die entweder persönlich oder auf dem Sekundärmarkt von Bedeutung ist. Da eine qualitativ hochwertige Klinge für ein Messer nicht ohne weiteres selber hergestellt werden kann, der Griff jedoch schon, ist diese Form der Co-Produktion besonders für den Messerbereich geeignet. Aus diesem Grund habe ich ein Hybrid-Messerdesign entwickelt, das mit Schnurwicklung als Griff funktioniert, an dem aber auch Griffschalen verschraubt werden können. Die Designs der Griffschalen stehen auf einer Webseite als Open-Design-Dateien zum Download zur Verfügung. Der Kunde kann das Griffdesign nach Belieben modifizieren, weiterverbreiten und aus

Gemeinschaft – Das Einbinden der Kunden in den Produktionsprozess und der gegenseitige Austausch formen eine Produktionsgemeinschaft. Im besten Fall bildet sich eine Fangemeinde um das Produkt oder die Marke, wobei einzelne Personen initiativ sind und die Entwicklung vorantreiben.

Produkt – Ein Produkt meiner Arbeit ist die Methode zur Open-Design-basierten Personalisierung von Messern. Zusätzlich wird ein eigenes Messerdesign in einer Kleinserie produziert, um das Konzept an einem physischen Produkt exemplarisch zu verwirklichen.

Coaches – Regine Halter, H.P. Klötzli Kontakt – moritz.meier@hyperwerk.ch Team und Dank – Regine Halter, H.P. Klötzli, Ferrum, D. Gentile, Mauro Tammaro, Linus Weber


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Der blinde Fleck Es gibt Fragen, die man nicht lösen kann, die man aber immer wieder einmal hervorkramt und an ihnen schnuppert. Und dann kommt der überraschende Moment, da man sie für sich zu beantworten vermag. Unsere zweite HyperWerk-Diplomausstellung 2003 hatten wir unter das Thema rtrp: right time right place gestellt – und jetzt erleben wir die Ernte dieser Frage. Wir wollten damals, getragen von der naiven Verve des Aufbruchs, herausfinden, nach welchen Kriterien man sich seine Situation auswählen soll, damit das eigene Tun auch gelingt. Wann und wo soll man dranbleiben und durchhalten – oder so rasch wie möglich wieder aussteigen, weil die entsprechenden Voraussetzungen fehlen? Der asiatische Kulturraum geht seit Jahrtausenden dieser strategischen Basis vom besten Moment und Ort einer Handlung nach. Wir hingegen haben uns vor zehn Jahren aus dieser überfordernden Auseinandersetzung herausgezogen und seit-

her unsere Prozessgestaltung auf einer hauptsächlich experimentellen Aktionsebene betrieben. In diesen Versuchen und Anläufen der letzten Jahre haben wir erfahren, dass es verborgene Zeitfenster gibt, durch die man als Prozessgestalter glücklich hindurchschlüpfen kann – Orte, die einfach stimmen, und keiner geht hin. Pralle Brieftaschen, die auf der Strasse liegen, doch keiner hebt sie auf. Eine wesentliche Qualität solch einer Konstellation ist ihre Unsichtbarkeit. Erst wenn so lange nichts geschehen ist, bis sich die meisten Leute kopfschüttelnd abgewendet haben, hilflos ihre Hände verwerfend, dass auch sie da jetzt nichts mehr tun könnten, dann kann man handeln. Wer hat nicht mitleidig oder gar hämisch gelächelt, als wir in den letzten Monaten unsere Idee geschildert haben, in Mulhouse unsere Zukunft zu sichern? Von wie vielen Franzosen mussten wir uns anhören, dass diese Stadt ein wahres Gangsternest sei und dass man froh sein solle,

Auschnitt aus motocomics

wenn einem dort nur das Auto abgefackelt würde? Und wie viele Basler stöhnten, dass das sowieso viel zu weit weg sei, dieses ferne Mülhausen? Solch einen blinden Fleck in der Wahrnehmung stellt Mulhouse dar. Wir nennen es unterdessen das East End von Basel. Diese Stadt mit ihrem enormen Leerstand bietet das Potenzial zur Entwicklung unserer gesamten Kreativregion, aber vorläufig meinen bloss wir das. Doch wer hätte im New York der 1970er Jahre gedacht, dass die Bronx, dass Brooklyn oder Harlem je wieder in den Himmel des Immobilienhandels aufsteigen würden? Neben ihrer anfänglichen Unsichtbarkeit braucht eine für Prozessgestaltung attraktive Konstellation wirtschaftliche Dynamik. Das heisst, es braucht ein Kraftfeld krasser Unterschiedlichkeit, denn erst aus der Differenz entstehen Markt und Aktion. An solchem Gefälle hat unsere Region einiges zu bieten, was man mit einem halbstündigen Fussmarsch durch Weil, Huningue und Basel so hautnah

erleben kann wie auf der kurzen Strecke zwischen Little Italy und Chinatown. Solche Unterschiede sollte man hegen und pflegen, als Ressourcen, mit denen sich der Weg in die globale Gesellschaft gestärkt beschreiten lässt. Werfen wir doch einen Blick in die Zukunft, nämlich ins Jahr 2020. Dann findet in unserer Region die Internationale Bauausstellung IBA Basel 2020 statt, und dann wird sich unser Entwicklungsprojekt motoco, das erst kürzlich von der IBA seine volle Projektnominierung erhalten hat, auf breiter Linie durchgesetzt haben. Der Pendlerverkehr der Basler Chemie zwischen Basel und Mulhouse wird im Kreativbereich durch einen Pendlerverkehr in entgegengesetzter Richtung ergänzt, denn die Kreativen aus Basel und Strasbourg werden am Morgen nach Mulhouse fahren, wo die Räume schön und günstig sind und der Käse besser ist. Solch eine ausgleichende Gegenläufigkeit wird auf vielen Ebenen eine Bereicherung sein.


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Der blinde Fleck Es gibt Fragen, die man nicht lösen kann, die man aber immer wieder einmal hervorkramt und an ihnen schnuppert. Und dann kommt der überraschende Moment, da man sie für sich zu beantworten vermag. Unsere zweite HyperWerk-Diplomausstellung 2003 hatten wir unter das Thema rtrp: right time right place gestellt – und jetzt erleben wir die Ernte dieser Frage. Wir wollten damals, getragen von der naiven Verve des Aufbruchs, herausfinden, nach welchen Kriterien man sich seine Situation auswählen soll, damit das eigene Tun auch gelingt. Wann und wo soll man dranbleiben und durchhalten – oder so rasch wie möglich wieder aussteigen, weil die entsprechenden Voraussetzungen fehlen? Der asiatische Kulturraum geht seit Jahrtausenden dieser strategischen Basis vom besten Moment und Ort einer Handlung nach. Wir hingegen haben uns vor zehn Jahren aus dieser überfordernden Auseinandersetzung herausgezogen und seit-

her unsere Prozessgestaltung auf einer hauptsächlich experimentellen Aktionsebene betrieben. In diesen Versuchen und Anläufen der letzten Jahre haben wir erfahren, dass es verborgene Zeitfenster gibt, durch die man als Prozessgestalter glücklich hindurchschlüpfen kann – Orte, die einfach stimmen, und keiner geht hin. Pralle Brieftaschen, die auf der Strasse liegen, doch keiner hebt sie auf. Eine wesentliche Qualität solch einer Konstellation ist ihre Unsichtbarkeit. Erst wenn so lange nichts geschehen ist, bis sich die meisten Leute kopfschüttelnd abgewendet haben, hilflos ihre Hände verwerfend, dass auch sie da jetzt nichts mehr tun könnten, dann kann man handeln. Wer hat nicht mitleidig oder gar hämisch gelächelt, als wir in den letzten Monaten unsere Idee geschildert haben, in Mulhouse unsere Zukunft zu sichern? Von wie vielen Franzosen mussten wir uns anhören, dass diese Stadt ein wahres Gangsternest sei und dass man froh sein solle,

Auschnitt aus motocomics

wenn einem dort nur das Auto abgefackelt würde? Und wie viele Basler stöhnten, dass das sowieso viel zu weit weg sei, dieses ferne Mülhausen? Solch einen blinden Fleck in der Wahrnehmung stellt Mulhouse dar. Wir nennen es unterdessen das East End von Basel. Diese Stadt mit ihrem enormen Leerstand bietet das Potenzial zur Entwicklung unserer gesamten Kreativregion, aber vorläufig meinen bloss wir das. Doch wer hätte im New York der 1970er Jahre gedacht, dass die Bronx, dass Brooklyn oder Harlem je wieder in den Himmel des Immobilienhandels aufsteigen würden? Neben ihrer anfänglichen Unsichtbarkeit braucht eine für Prozessgestaltung attraktive Konstellation wirtschaftliche Dynamik. Das heisst, es braucht ein Kraftfeld krasser Unterschiedlichkeit, denn erst aus der Differenz entstehen Markt und Aktion. An solchem Gefälle hat unsere Region einiges zu bieten, was man mit einem halbstündigen Fussmarsch durch Weil, Huningue und Basel so hautnah

erleben kann wie auf der kurzen Strecke zwischen Little Italy und Chinatown. Solche Unterschiede sollte man hegen und pflegen, als Ressourcen, mit denen sich der Weg in die globale Gesellschaft gestärkt beschreiten lässt. Werfen wir doch einen Blick in die Zukunft, nämlich ins Jahr 2020. Dann findet in unserer Region die Internationale Bauausstellung IBA Basel 2020 statt, und dann wird sich unser Entwicklungsprojekt motoco, das erst kürzlich von der IBA seine volle Projektnominierung erhalten hat, auf breiter Linie durchgesetzt haben. Der Pendlerverkehr der Basler Chemie zwischen Basel und Mulhouse wird im Kreativbereich durch einen Pendlerverkehr in entgegengesetzter Richtung ergänzt, denn die Kreativen aus Basel und Strasbourg werden am Morgen nach Mulhouse fahren, wo die Räume schön und günstig sind und der Käse besser ist. Solch eine ausgleichende Gegenläufigkeit wird auf vielen Ebenen eine Bereicherung sein.


Mit dem motoco-Projekt in Mulhouse streben wir mehr an als bloss den Erhalt unserer leistungsfähigen Arbeitsumgebung nach unserem Auszug aus unserer Stadtvilla. Wir wollen mit einem exemplarischen Grossprojekt zeigen, was die Prozessgestaltung in einem postindustriellen Transformationsgebiet konkret zu leisten vermag. Im Rahmen einer grosszügig angelegten, experimentellen städtischen Situation wollen wir an den ökonomischen, ökologischen, technologischen, handwerklichen, bildungspolitischen und expressiven Aspekten einer gemeinsam zu gestaltenden postindustriellen Wirklichkeit arbeiten. In einer begeisternden Eröffnungsrede für motoco hat der Bürgermeister von Mulhouse seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dass dank motoco das enttäuschte Mulhouse seinen Mut wiederfinden und «la ville qui ose» werden könne – also die Stadt, die ihren nächsten Sprung wagen will. Diesen unternehmerischen Mut muss jetzt auch HyperWerk aufbringen und sich voll auf sein bisher grösstes Vorhaben einlassen. Wir haben zehn Jahre lang gewartet, um für unseren Nachweis der Qualität von Prozessgestaltung die beste Konstellation gemäss right time right place zu finden, und wir meinen nun, sie mit motoco gefunden zu haben. Unsere wachsende Erfahrung und unser

dichtes Netzwerk ermöglichen uns eine starke Gegenwart, die auf Zuwachs angelegt ist. Für unsere kommenden Jahrgänge von Studierenden ist wichtig, dass HyperWerk ihnen mit motoco eine durchdachte Rahmenhandlung bietet, in die sie sich während und auch nach ihrem Studium konstruktiv einbringen können. Vielleicht lautet ja die beste Antwort auf die Ausgangsfrage nach der richtigen Zeit und dem richtigen Ort, dass man sich einen langfristig angelegten Ort schaffen soll, der dank seiner Gemeinschaft die Zeit beweglich zu nutzen vermag. Und das ist ein Ziel für die Zukunft von HyperWerk. Our time is now, und unser Ort ist hier. Mischa Schaub


Mit dem motoco-Projekt in Mulhouse streben wir mehr an als bloss den Erhalt unserer leistungsfähigen Arbeitsumgebung nach unserem Auszug aus unserer Stadtvilla. Wir wollen mit einem exemplarischen Grossprojekt zeigen, was die Prozessgestaltung in einem postindustriellen Transformationsgebiet konkret zu leisten vermag. Im Rahmen einer grosszügig angelegten, experimentellen städtischen Situation wollen wir an den ökonomischen, ökologischen, technologischen, handwerklichen, bildungspolitischen und expressiven Aspekten einer gemeinsam zu gestaltenden postindustriellen Wirklichkeit arbeiten. In einer begeisternden Eröffnungsrede für motoco hat der Bürgermeister von Mulhouse seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dass dank motoco das enttäuschte Mulhouse seinen Mut wiederfinden und «la ville qui ose» werden könne – also die Stadt, die ihren nächsten Sprung wagen will. Diesen unternehmerischen Mut muss jetzt auch HyperWerk aufbringen und sich voll auf sein bisher grösstes Vorhaben einlassen. Wir haben zehn Jahre lang gewartet, um für unseren Nachweis der Qualität von Prozessgestaltung die beste Konstellation gemäss right time right place zu finden, und wir meinen nun, sie mit motoco gefunden zu haben. Unsere wachsende Erfahrung und unser

dichtes Netzwerk ermöglichen uns eine starke Gegenwart, die auf Zuwachs angelegt ist. Für unsere kommenden Jahrgänge von Studierenden ist wichtig, dass HyperWerk ihnen mit motoco eine durchdachte Rahmenhandlung bietet, in die sie sich während und auch nach ihrem Studium konstruktiv einbringen können. Vielleicht lautet ja die beste Antwort auf die Ausgangsfrage nach der richtigen Zeit und dem richtigen Ort, dass man sich einen langfristig angelegten Ort schaffen soll, der dank seiner Gemeinschaft die Zeit beweglich zu nutzen vermag. Und das ist ein Ziel für die Zukunft von HyperWerk. Our time is now, und unser Ort ist hier. Mischa Schaub


Ein Archiv für Mulhouse 42 Diplom Andreas Ruoff

Die im elsässischen Mulhouse einst prosperierende Textilindustrie ist in den Archiven der Stadt zwar dokumentiert, für die Zeit nach 1900 jedoch fehlen vor allem filmische und digitale Materialien. Diese Zeit will ich mit noch lebenden Zeitzeugen mit Gesprächen, Interviews und in Videoaufnahmen ins Gedächtnis rufen und für die Nachwelt erhalten.

Kontext – Mit der Gründung der ersten Stoffdruckmanufaktur vor etwa 250 Jahren begann in Mulhouse für die Textilindustrie eine Erfolgsgeschichte, die bis in die 1970er Jahre anhielt. Einst das «Manchester des Kontinents», fehlen der Stadt heute die Mittel, ihre Archive zu bewirtschaften. Das Gedächtnis der Stadt hat Lücken.

Produkt – Eine Installation soll zur Auseinandersetzung mit der Industriegeschichte anregen. Das Konzept für den Dokumentarfilm zeigt einen möglichen Weg, Wissen zur eigenen Vergangenheit zugänglich zu machen. Das Interview mit einem Zeitzeugen soll bei weiteren Zeitzeugen das Interesse wecken, über ihre Erinnerungen zu sprechen.

Inhalt – Solange die lokale Wirtschaft im Aufwind war, das kulturelle Leben blühte und es Arbeit in Hülle und Fülle gab, waren auch die Mittel vorhanden, Wirtschaft und Kultur in Mulhouse akribisch und zentral zu archivieren. Mit dem industriellen Niedergang fehlen jedoch die Möglichkeiten, Archive zu führen. So sind die mit öffentlichen Mitteln archivierten Materialien heute nur unter erschwerten Bedingungen zugänglich und oft nicht vollständig, was insbesondere für filmische und digitale Medien zur Geschichte des 20. Jahrhunderts gilt. Es haben sich zwar Vereinigungen gebildet, welche die entstandene Lücke im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu schliessen versuchen. Das von ihnen gesammelte Wissen ist jedoch über viele Stellen verteilt.

Gemeinschaft – Die Textilindustrie in Mulhouse hat mit ihrer Entstehung eine Gemeinschaft geschaffen und mit ihrem Niedergang eine Gemeinschaft hinterlassen. Die Gegenwart ist prekär, die Zukunft ungewiss. Die Vergangenheit jedoch ist nach wie vor sichtbar und wirkt im Bewusstsein der Menschen als genius loci nach. Eine neue, tragfähige Gemeinschaft kann dann entstehen, wenn sie sich ihrer besonderen Geschichte bewusst wird.

Dieser Ausgangslage stehen die Erinnerungen und Erfahrungen von Zeitzeugen gegenüber. Bevor diese in Vergessenheit geraten, will ich mit meiner Diplomarbeit Au fil de Mulhouse den Kontakt zwischen einzelnen Gruppen und deren Mitgliedern sowie öffentlich verfügbaren Archivmaterialien herstellen. Ziel ist, durch die Installation eines Prototypen Prozesse zu initiieren, die zur Vervollständigung des bereits archivierten Wissens ab 1900 beitragen und dieses einer breiten Öffentlichkeit auf möglichst einfache Weise zugänglich machen.

Team und Dank – Bei diesem Projekt hat es kein fixes Projektteam gegeben. Für ihre grosszügige Unterstützung danken möchte ich Melanie Eberhard für die mentale Unterstützung und die Hilfe in der Korrespondenz mit Frankreich; Stefan Huber für die Unterstützung beim CI/CD; Walter Kessler für die Übersetzungen.

Coach – Regine Halter Kontakt – andreas.ruoff@hyperwerk.ch gemeinschaft.hyperwerk.ch/andreas-ruoff


Ein Archiv für Mulhouse 42 Diplom Andreas Ruoff

Die im elsässischen Mulhouse einst prosperierende Textilindustrie ist in den Archiven der Stadt zwar dokumentiert, für die Zeit nach 1900 jedoch fehlen vor allem filmische und digitale Materialien. Diese Zeit will ich mit noch lebenden Zeitzeugen mit Gesprächen, Interviews und in Videoaufnahmen ins Gedächtnis rufen und für die Nachwelt erhalten.

Kontext – Mit der Gründung der ersten Stoffdruckmanufaktur vor etwa 250 Jahren begann in Mulhouse für die Textilindustrie eine Erfolgsgeschichte, die bis in die 1970er Jahre anhielt. Einst das «Manchester des Kontinents», fehlen der Stadt heute die Mittel, ihre Archive zu bewirtschaften. Das Gedächtnis der Stadt hat Lücken.

Produkt – Eine Installation soll zur Auseinandersetzung mit der Industriegeschichte anregen. Das Konzept für den Dokumentarfilm zeigt einen möglichen Weg, Wissen zur eigenen Vergangenheit zugänglich zu machen. Das Interview mit einem Zeitzeugen soll bei weiteren Zeitzeugen das Interesse wecken, über ihre Erinnerungen zu sprechen.

Inhalt – Solange die lokale Wirtschaft im Aufwind war, das kulturelle Leben blühte und es Arbeit in Hülle und Fülle gab, waren auch die Mittel vorhanden, Wirtschaft und Kultur in Mulhouse akribisch und zentral zu archivieren. Mit dem industriellen Niedergang fehlen jedoch die Möglichkeiten, Archive zu führen. So sind die mit öffentlichen Mitteln archivierten Materialien heute nur unter erschwerten Bedingungen zugänglich und oft nicht vollständig, was insbesondere für filmische und digitale Medien zur Geschichte des 20. Jahrhunderts gilt. Es haben sich zwar Vereinigungen gebildet, welche die entstandene Lücke im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu schliessen versuchen. Das von ihnen gesammelte Wissen ist jedoch über viele Stellen verteilt.

Gemeinschaft – Die Textilindustrie in Mulhouse hat mit ihrer Entstehung eine Gemeinschaft geschaffen und mit ihrem Niedergang eine Gemeinschaft hinterlassen. Die Gegenwart ist prekär, die Zukunft ungewiss. Die Vergangenheit jedoch ist nach wie vor sichtbar und wirkt im Bewusstsein der Menschen als genius loci nach. Eine neue, tragfähige Gemeinschaft kann dann entstehen, wenn sie sich ihrer besonderen Geschichte bewusst wird.

Dieser Ausgangslage stehen die Erinnerungen und Erfahrungen von Zeitzeugen gegenüber. Bevor diese in Vergessenheit geraten, will ich mit meiner Diplomarbeit Au fil de Mulhouse den Kontakt zwischen einzelnen Gruppen und deren Mitgliedern sowie öffentlich verfügbaren Archivmaterialien herstellen. Ziel ist, durch die Installation eines Prototypen Prozesse zu initiieren, die zur Vervollständigung des bereits archivierten Wissens ab 1900 beitragen und dieses einer breiten Öffentlichkeit auf möglichst einfache Weise zugänglich machen.

Team und Dank – Bei diesem Projekt hat es kein fixes Projektteam gegeben. Für ihre grosszügige Unterstützung danken möchte ich Melanie Eberhard für die mentale Unterstützung und die Hilfe in der Korrespondenz mit Frankreich; Stefan Huber für die Unterstützung beim CI/CD; Walter Kessler für die Übersetzungen.

Coach – Regine Halter Kontakt – andreas.ruoff@hyperwerk.ch gemeinschaft.hyperwerk.ch/andreas-ruoff


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44 «Ich wünsche mir ein lachendes Mulhouse.»

Ein Ausschnitt aus der Rede des Bürgermeisters von Mulhouse, Jean Rottner, anlässlich der Eröffnung des MakerShop auf dem DMC-Areal in Mulhouse am 23. Mai 2013. «Dank Initiativen und Möglichkeiten wie motoco bekommt Mulhouse einen Vorwärtsschub. Dieser Ort hier ist ein offener Ort, ein sogenannter dritter Ort, einer, der niemandem gehört – ausser all denen, die mit ihm etwas anzufangen wissen und ihm Gestalt geben. Ich wünsche mir, dass sich solche Orte vervielfachen, um sich untereinander zu vernetzen und auszutauschen, ja dass sie sich in unserem ganzen Land und weltweit verbinden, weit über unseren trinationalen Lebensraum hinaus. Heutzutage ist es möglich, mit Menschen überall auf der Welt zusammenzuarbeiten. Dank solcher Experimente verändern sich auch unsere sozialen Gewohnheiten und unsere Beziehungen. Mulhouse ist bereit, sich daran zu beteiligen. Für all die Experimente, die bereits entstanden sind, für das Netzwerk und für Projekte wie dieses wissen wir mit Bestimmtheit: Sie werden auch soziale Auswirkungen haben. Mulhouse ist bereit, sich damit auseinanderzusetzen und mitzuwirken, dass noch weitere dazukommen. Es haben schon viele Versuche vor der Gründung des DMC stattgefunden. Um wirklich neue

Perspektiven zu eröffnen, sollten wir diesen Ort als etwas betrachten, das sich selbst entwickeln kann. Das heisst, wir müssen auch die Freiheit eines solchen Ortes respektieren. Ihn nicht überreglementieren und selbst nicht allzu formal werden. Manchmal geschieht das in Frankreich, wenn wir Dinge in ein zu enges Korsett stecken. Verschieben wir die Grenzen und denken wir frei, damit ein etwas nachdenkliches Frankreich wieder viel Freude empfindet. Ich wünsche mir ein lachendes Mulhouse, eines, das wieder ein glücklicher Ort wird. Eine initiative Stadt voller sozialer Erneuerungen für alle. Mit Möglichkeiten zur Teilhabe an politischen Themen, und zwar für jede Bürgerin und jeden Bürger. Das ist die Herausforderung für unsere Stadt, und das ist zugleich ihre Stärke. Ich danke Ihnen allen vielmals!» Übersetzung: Andrea Iten


44 «Ich wünsche mir ein lachendes Mulhouse.»

Ein Ausschnitt aus der Rede des Bürgermeisters von Mulhouse, Jean Rottner, anlässlich der Eröffnung des MakerShop auf dem DMC-Areal in Mulhouse am 23. Mai 2013. «Dank Initiativen und Möglichkeiten wie motoco bekommt Mulhouse einen Vorwärtsschub. Dieser Ort hier ist ein offener Ort, ein sogenannter dritter Ort, einer, der niemandem gehört – ausser all denen, die mit ihm etwas anzufangen wissen und ihm Gestalt geben. Ich wünsche mir, dass sich solche Orte vervielfachen, um sich untereinander zu vernetzen und auszutauschen, ja dass sie sich in unserem ganzen Land und weltweit verbinden, weit über unseren trinationalen Lebensraum hinaus. Heutzutage ist es möglich, mit Menschen überall auf der Welt zusammenzuarbeiten. Dank solcher Experimente verändern sich auch unsere sozialen Gewohnheiten und unsere Beziehungen. Mulhouse ist bereit, sich daran zu beteiligen. Für all die Experimente, die bereits entstanden sind, für das Netzwerk und für Projekte wie dieses wissen wir mit Bestimmtheit: Sie werden auch soziale Auswirkungen haben. Mulhouse ist bereit, sich damit auseinanderzusetzen und mitzuwirken, dass noch weitere dazukommen. Es haben schon viele Versuche vor der Gründung des DMC stattgefunden. Um wirklich neue

Perspektiven zu eröffnen, sollten wir diesen Ort als etwas betrachten, das sich selbst entwickeln kann. Das heisst, wir müssen auch die Freiheit eines solchen Ortes respektieren. Ihn nicht überreglementieren und selbst nicht allzu formal werden. Manchmal geschieht das in Frankreich, wenn wir Dinge in ein zu enges Korsett stecken. Verschieben wir die Grenzen und denken wir frei, damit ein etwas nachdenkliches Frankreich wieder viel Freude empfindet. Ich wünsche mir ein lachendes Mulhouse, eines, das wieder ein glücklicher Ort wird. Eine initiative Stadt voller sozialer Erneuerungen für alle. Mit Möglichkeiten zur Teilhabe an politischen Themen, und zwar für jede Bürgerin und jeden Bürger. Das ist die Herausforderung für unsere Stadt, und das ist zugleich ihre Stärke. Ich danke Ihnen allen vielmals!» Übersetzung: Andrea Iten


BA sel bekommt ein FA brik LA bor 45 Diplom Yvo Waldmeier

Ich will einen Ort schaffen, an dem ich Workshops, aber auch Events wie Ausstellungen und Wettbewerbe zu vielfältigen Themen veranstalten kann. Einen Ort, wo grundsätzlich jeder hingehen kann, um selber Workshops anzubieten, um vernetzt an internationalen OpenSource-Projekten mitzuarbeiten, um Zugang zu einem klug zusammengestellten Maschinenpark zu erhalten, um Spezialisten zu treffen für unterschiedlichste Projekte. Kontext – Die FabLab-Bewegung wurde durch die Vorlesung How to Make (Almost) Anything von Professor Neil Gershenfeld am Center for Bits and Atoms des renommierten MIT angestossen. Ziel eines FabLab ist, dass jeder seine Ideen in die Tat umsetzen kann.

Produkt – Mein Produkt ist das erste Basler FabrikLabor. Ich möchte meine eigene Freelancertätigkeit institutionalisieren. In «meinem» BAFALA kann ich die richtigen Leute um mich scharen und gemeinsam mit ihnen an internationalen Open-Source-Projekten mitwirken. Oder auch Inhalt – Im Frühjahr 2011 konnte ich einen Workshop einfach nebeneinander arbeiten und voneinander proüber 3D-Drucken in Neuseeland abhalten. Diese Er- fitieren. fahrung hat mich bereichert und mir ein gutes Gefühl gegeben. Ich konnte vielen Leuten den 3D-Druck nä- Gemeinschaft – Ein FabLab wirkt als Basis für eine neue lokale Gemeinschaft. Es ist Teil der internationaherbringen und bekam ein grossartiges Feedback. len Bewegung mit dem claim Make Almost Anything! So entstand langsam meine Diplomidee: An einem solchen Ort konzentrieren sich InnovationsEigentlich möchte ich das beruflich machen. Da ich begeistert bin von Open Source und Crowd- kraft und Kreativität. Es werden gerne verschiedenste sourcing und mir schon einige FabLabs angeschaut bestehende Gemeinschaften einbezogen wie Fashatte, wollte ich diese Bewegungen genauer erfor- nachtsgesellschaften, Vereine, Handwerkergruppen, schen. KMUs und viele mehr. Fragestellungen: 1. Wie kann solch ein Ort funktionieren? Finanzen, Coach – Mischa Schaub Organisation, Zeitplanung, Raum, Leute, Partner. 2. Wie kann ich nachweisen, dass es funktionieren Kontakt – yvo.waldmeier@hyperwerk.ch könnte? Dieses Tun in Provisorien vorleben, eigene und yvowaldmeier.daportfolio.com/ fremde FabLab-Tätigkeiten dokumentieren, simulieren. BAFALA, Sankt Alban-Rheinweg 60 3. Gelingt es mir, bis zum Ende des Diploms einen fassbaren Plan zu entwickeln und zu argumentieren? Team und Dank – Catherine Walthard, Mischa Schaub, Ralf Neubauer, Mauro Tammaro, Josh Geisser, Alain Ort, Partner, Budget. Wirz, Jonas Aeby Ich hatte an der Fasnacht eine kleine Gruppe von Leuten mit im 3D-Druck hergestellten Larven ausgestattet, und wir erhielten überwältigend gutes Feedback von allen Seiten. Einige Aufträge fürs nächste Jahr habe ich mir bereits gesichert. Im Angebot könnte man Negativformen zum Kaschieren oder auch Sets mit kompletten High-End-Designerlarven haben.


BA sel bekommt ein FA brik LA bor 45 Diplom Yvo Waldmeier

Ich will einen Ort schaffen, an dem ich Workshops, aber auch Events wie Ausstellungen und Wettbewerbe zu vielfältigen Themen veranstalten kann. Einen Ort, wo grundsätzlich jeder hingehen kann, um selber Workshops anzubieten, um vernetzt an internationalen OpenSource-Projekten mitzuarbeiten, um Zugang zu einem klug zusammengestellten Maschinenpark zu erhalten, um Spezialisten zu treffen für unterschiedlichste Projekte. Kontext – Die FabLab-Bewegung wurde durch die Vorlesung How to Make (Almost) Anything von Professor Neil Gershenfeld am Center for Bits and Atoms des renommierten MIT angestossen. Ziel eines FabLab ist, dass jeder seine Ideen in die Tat umsetzen kann.

Produkt – Mein Produkt ist das erste Basler FabrikLabor. Ich möchte meine eigene Freelancertätigkeit institutionalisieren. In «meinem» BAFALA kann ich die richtigen Leute um mich scharen und gemeinsam mit ihnen an internationalen Open-Source-Projekten mitwirken. Oder auch Inhalt – Im Frühjahr 2011 konnte ich einen Workshop einfach nebeneinander arbeiten und voneinander proüber 3D-Drucken in Neuseeland abhalten. Diese Er- fitieren. fahrung hat mich bereichert und mir ein gutes Gefühl gegeben. Ich konnte vielen Leuten den 3D-Druck nä- Gemeinschaft – Ein FabLab wirkt als Basis für eine neue lokale Gemeinschaft. Es ist Teil der internationaherbringen und bekam ein grossartiges Feedback. len Bewegung mit dem claim Make Almost Anything! So entstand langsam meine Diplomidee: An einem solchen Ort konzentrieren sich InnovationsEigentlich möchte ich das beruflich machen. Da ich begeistert bin von Open Source und Crowd- kraft und Kreativität. Es werden gerne verschiedenste sourcing und mir schon einige FabLabs angeschaut bestehende Gemeinschaften einbezogen wie Fashatte, wollte ich diese Bewegungen genauer erfor- nachtsgesellschaften, Vereine, Handwerkergruppen, schen. KMUs und viele mehr. Fragestellungen: 1. Wie kann solch ein Ort funktionieren? Finanzen, Coach – Mischa Schaub Organisation, Zeitplanung, Raum, Leute, Partner. 2. Wie kann ich nachweisen, dass es funktionieren Kontakt – yvo.waldmeier@hyperwerk.ch könnte? Dieses Tun in Provisorien vorleben, eigene und yvowaldmeier.daportfolio.com/ fremde FabLab-Tätigkeiten dokumentieren, simulieren. BAFALA, Sankt Alban-Rheinweg 60 3. Gelingt es mir, bis zum Ende des Diploms einen fassbaren Plan zu entwickeln und zu argumentieren? Team und Dank – Catherine Walthard, Mischa Schaub, Ralf Neubauer, Mauro Tammaro, Josh Geisser, Alain Ort, Partner, Budget. Wirz, Jonas Aeby Ich hatte an der Fasnacht eine kleine Gruppe von Leuten mit im 3D-Druck hergestellten Larven ausgestattet, und wir erhielten überwältigend gutes Feedback von allen Seiten. Einige Aufträge fürs nächste Jahr habe ich mir bereits gesichert. Im Angebot könnte man Negativformen zum Kaschieren oder auch Sets mit kompletten High-End-Designerlarven haben.


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Auf dem Basar in Istanbul gibt es bis heute filigranes traditionelles Kunsthandwerk, das vor Ort hergestellt wird. Je wertvoller das Material, desto tiefer im Inneren des Basars sind die Werkstätten verborgen. Im kosmopolitischen Konstantinopel waren die Handwerker meist Nicht-Muslime, Angehörige von Minderheiten. Eine Gemeinschaft der ganz eigenen Art, für Aussenstehende kaum zugänglich, hat sich herausgebildet. Wir hatten Glück und durften den Goldschmieden in ihrem Han über die Schulter schauen. Und wir haben uns gewundert: Trotz der teuren Materialien wie Gold und Edelsteine sind die Werkstätten nicht besonders gesichert. Und wird ein Schmuckstück nach dem genauen Wunsch des Kunden hergestellt, gilt noch immer der Handschlag.


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Auf dem Basar in Istanbul gibt es bis heute filigranes traditionelles Kunsthandwerk, das vor Ort hergestellt wird. Je wertvoller das Material, desto tiefer im Inneren des Basars sind die Werkstätten verborgen. Im kosmopolitischen Konstantinopel waren die Handwerker meist Nicht-Muslime, Angehörige von Minderheiten. Eine Gemeinschaft der ganz eigenen Art, für Aussenstehende kaum zugänglich, hat sich herausgebildet. Wir hatten Glück und durften den Goldschmieden in ihrem Han über die Schulter schauen. Und wir haben uns gewundert: Trotz der teuren Materialien wie Gold und Edelsteine sind die Werkstätten nicht besonders gesichert. Und wird ein Schmuckstück nach dem genauen Wunsch des Kunden hergestellt, gilt noch immer der Handschlag.


o o b m a b yours elf

In meinem Diplomprojekt will ich herausfinden, welche attraktiven und überraschenden Kombinationen sich aus den Verarbeitungs- und Gestaltungsmöglichkeiten von Bambus im Kontext eines FabLab ergeben.

it

BIY Diplom Pan Thurneysen

47

Kontext – Meine Arbeit BIY soll zeigen, wie sich mit Lösungsstrategien und Ausrüstungen der MakerBewegung Handwerkstechniken neu interpretieren, anwenden und entwickeln lassen.

spiele für das Funktionieren der Erweiterung, ebenso wie eine Reihe von Bambusbauteilen für die Diplomausstellung, die ohne meine Lasercutter-Modifikation nicht realisierbar wären.

Inhalt – Nachdem ich mich lange mit dem Bambus und seinen Verarbeitungsformen auseinandergesetzt und in den Archiven des Museums der Kulturen Bambusobjekte aus den letzten 300 Jahren untersucht hatte, habe ich eine Erweiterung für unseren OpenSource-Lasercutter gebaut, die mir eine Rotation von Bambus während des Schnitts ermöglicht, um die Röhren zu gravieren oder Öffnungen für alles Mögliche – zum Beispiel für Steckverbindungen – hineinzuschneiden. Anschliessend habe ich zwei traditionelle Bambusobjekte aus den Archiven ausgewählt, die ich mit Hilfe des umgebauten Lasers neu interpretiere. Da ich bei meiner Recherche bisher auf keine vergleichbaren Lasertests gestossen bin, betrete ich Neuland. Die Möglichkeiten, die neue Verarbeitungsmittel im Umgang mit Bambus eröffnen, will ich mit Hilfe der Maker Community erkunden und das Wissen, das bamboo it yourself generiert, dieser Gemeinschaft zurückgeben. Dadurch hoffe ich, andere GestalterInnen anzuregen, auch in unserem Kulturkreis mehr mit dem wunderbaren und nachhaltigen Material Bambus zu arbeiten.

Gemeinschaft – Einen Bezug zur Jahresthematik Jetzt Gemeinschaft! sehe ich in meinem Beitrag an die Gemeinschaft der offenen Hardware-Entwickler. Seit meinen ersten Schritten in der Open-SourceBewegung, damals noch im Umfeld von 3D-Druck und der Webseite thingiverse.com, wollte ich der OpenSource-Community einen eigenen Beitrag schenken. Durch meine Lasercutter-Erweiterung und ihre exemplarische Anwendung sowie durch die Veröffentlichung der entsprechenden Pläne geht dieser Wunsch nun in Erfüllung.

Produkt – Die Erweiterung des Lasercutters besteht in einer speziellen Rotationsachse, die ein eingespanntes Werkstück dreht, so dass es möglich wird, zylindrische Objekte – Bambusrohre – zu bearbeiten. Die Neuinterpretationen der Museumsstücke sind Bei-

Coach – Mischa Schaub Kontakt – pan.thurneysen@hyperwerk.ch Team und Dank – Ein grosses BIY-Dankeschön geht an Lorenz Raich für die fleissige Mitarbeit, Mauro Tammaro für die grosse technische Hilfe, Mischa Schaub fürs Coaching, an Anna Schmid und Denis Cormano für das Ermöglichen der Recherche im Museum der Kulturen, und an Ralf für seine sprachliche Begleitung.


o o b m a b yours elf

In meinem Diplomprojekt will ich herausfinden, welche attraktiven und überraschenden Kombinationen sich aus den Verarbeitungs- und Gestaltungsmöglichkeiten von Bambus im Kontext eines FabLab ergeben.

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BIY Diplom Pan Thurneysen

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Kontext – Meine Arbeit BIY soll zeigen, wie sich mit Lösungsstrategien und Ausrüstungen der MakerBewegung Handwerkstechniken neu interpretieren, anwenden und entwickeln lassen.

spiele für das Funktionieren der Erweiterung, ebenso wie eine Reihe von Bambusbauteilen für die Diplomausstellung, die ohne meine Lasercutter-Modifikation nicht realisierbar wären.

Inhalt – Nachdem ich mich lange mit dem Bambus und seinen Verarbeitungsformen auseinandergesetzt und in den Archiven des Museums der Kulturen Bambusobjekte aus den letzten 300 Jahren untersucht hatte, habe ich eine Erweiterung für unseren OpenSource-Lasercutter gebaut, die mir eine Rotation von Bambus während des Schnitts ermöglicht, um die Röhren zu gravieren oder Öffnungen für alles Mögliche – zum Beispiel für Steckverbindungen – hineinzuschneiden. Anschliessend habe ich zwei traditionelle Bambusobjekte aus den Archiven ausgewählt, die ich mit Hilfe des umgebauten Lasers neu interpretiere. Da ich bei meiner Recherche bisher auf keine vergleichbaren Lasertests gestossen bin, betrete ich Neuland. Die Möglichkeiten, die neue Verarbeitungsmittel im Umgang mit Bambus eröffnen, will ich mit Hilfe der Maker Community erkunden und das Wissen, das bamboo it yourself generiert, dieser Gemeinschaft zurückgeben. Dadurch hoffe ich, andere GestalterInnen anzuregen, auch in unserem Kulturkreis mehr mit dem wunderbaren und nachhaltigen Material Bambus zu arbeiten.

Gemeinschaft – Einen Bezug zur Jahresthematik Jetzt Gemeinschaft! sehe ich in meinem Beitrag an die Gemeinschaft der offenen Hardware-Entwickler. Seit meinen ersten Schritten in der Open-SourceBewegung, damals noch im Umfeld von 3D-Druck und der Webseite thingiverse.com, wollte ich der OpenSource-Community einen eigenen Beitrag schenken. Durch meine Lasercutter-Erweiterung und ihre exemplarische Anwendung sowie durch die Veröffentlichung der entsprechenden Pläne geht dieser Wunsch nun in Erfüllung.

Produkt – Die Erweiterung des Lasercutters besteht in einer speziellen Rotationsachse, die ein eingespanntes Werkstück dreht, so dass es möglich wird, zylindrische Objekte – Bambusrohre – zu bearbeiten. Die Neuinterpretationen der Museumsstücke sind Bei-

Coach – Mischa Schaub Kontakt – pan.thurneysen@hyperwerk.ch Team und Dank – Ein grosses BIY-Dankeschön geht an Lorenz Raich für die fleissige Mitarbeit, Mauro Tammaro für die grosse technische Hilfe, Mischa Schaub fürs Coaching, an Anna Schmid und Denis Cormano für das Ermöglichen der Recherche im Museum der Kulturen, und an Ralf für seine sprachliche Begleitung.


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49 Zusammen arbeit Der Londoner Betrieb eines Streichinstrumentenbauers (die Klinik für mein temperamentvolles Cello) ist kürzlich umgezogen. Die neue Werkstatt wurde sehr sorgfältig von einer jungen Architektin entworfen. Sie bestimmte, wo die verschiedenen Arbeiten jeweils ausgeführt werden und wo Maschinen und Werkzeuge ihren Platz finden sollten, von den Bandsägen und Werkbänken bis hin zu den Kästen und den kleinen Schraubzwingen, die man für die einzelnen Arbeiten benötigt. Auch über den Geruch der Leime und Firnisse hatte sie sich Gedanken gemacht. Da sie nach alten Rezepturen hergestellt werden, verbreiten sie beträchtlichen Gestank, weshalb die Architektin eine Reihe von Absaugvorrichtungen installieren liess. Am Eröffnungstag wirkte alles sauber und frisch. Ich sah die drei Geigenbauer und die beiden Geigenbauerinnen wie paradierende Soldaten neben ihren Werkbänken stehen. Acht Monate später sieht alles ganz anders aus. Nur wenige Werkzeuge liegen nun in den ursprünglich dafür vorgesehenen Kästen. Die Sägen hat man verrückt, und die Absaugvorrichtungen sind abgestellt (offenbar summten sie in B-Dur, was Menschen, die beruflich ganz auf den Kammerton a eingestellt sind, als Misston empfinden).

Die Werkstatt ist immer noch recht sauber, aber nicht mehr schematisch geordnet. Dennoch bewegen die fünf Geigenbauer sich in dem Durcheinander äußerst geschickt, sie schlängeln und ducken sich und vollführen gelegentlich wie Tänzer einen Schwenk, um der Bandsäge auszuweichen, die nun mitten im Raum steht. Diese Veränderungen haben die dort Arbeitenden nach und nach im Laufe der letzten Monate vorgenommen, um das klare architektonische Design an die komplizierteren physischen Gesten der Arbeit anzupassen. Solche Anpassungsvorgänge findet man in vielen Arbeitsräumen, und wenn die physische Arbeitsumgebung dies zulässt, fallen sie nicht schwer. Selbst in streng festgelegten Arbeitsumgebungen bleiben den Menschen noch kleine Gesten wie das Stirnrunzeln, das sagen soll: «Das ist mein Raum», oder ein Lächeln, das einlädt: «Kommen Sie herein!» Gesten können Laute sein oder auch ein Gesichtsausdruck. In der Geigenbauwerkstatt spürte eine Geigenbauerin, die am Sägetisch stand, aufgrund von Geräuschen oder aus den Augenwinkeln heraus, dass jemand hinter ihr stand. Sie beugte sich ein wenig nach vorn und arbeitete weiter.

Gesten in Gestalt von Bewegungen, Gesichtsausdrücken und Lauten erfüllen das soziale Dreieck mit Leben. In der Geigenbauwerkstatt wurden verdiente Autorität, Vertrauen im Sinne eines Glaubenssprungs und aufgenötigte Kooperation zu körperlichen Erfahrungen. Die fünf Geigenbauer sind stolz auf ihre Fertigkeiten in den anspruchsvollsten Arbeiten, dem Zuschneiden und Schleifen der Holzplatten, die Boden und Decke des Streichinstruments bilden sollen. Sie alle haben sich ihre Autorität am Sägetisch verdient. Wenn jemand an der Bandsäge arbeitet, übernimmt er das Kommando in der Werkstatt, reicht Schnittabfälle zur Seite, ohne sich umzudrehen, und erwartet, dass jemand da ist, um sie ihm kommentarlos abzunehmen. In dieser Werkstatt gerät nur selten jemand in Aufregung, denn alle anderen verfügen über eine ähnliche Meisterschaft. Vertrauen im Sinne eines Glaubenssprungs zeigt sich etwa, wenn jemand, der einen Topf brühheißen Leims trägt, davon ausgeht, dass die anderen unaufgefordert aus dem Weg gehen. Sein gekrümmter Rücken und die um den Leimtopf geschlossenen Hände signalisieren, dass er darauf vertraut, dass die anderen diese Zeichen erkennen. Aufgenötigte Kooperation zeigt sich zum Beispiel, wenn

jemand in einem Stück Holz unerwartet auf kleine Verwachsungen stößt. Wenn ein Geigenbauer mit einem Stück Holz auf die Kante seiner Werkbank klopft, wirkt dieser Ton wie ein Alarmzeichen für die anderen. Sie verlassen ihre Werkbänke und kommen herbei, um ihren Rat anzubieten oder ihr Mitgefühl zu bekunden. Richard Sennett Zusammenarbeit. Berlin, 2012, S. 275 – 277. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags GmbH & Co.Kg, Vilshofener Str. 10, 81679 München


49 Zusammen arbeit Der Londoner Betrieb eines Streichinstrumentenbauers (die Klinik für mein temperamentvolles Cello) ist kürzlich umgezogen. Die neue Werkstatt wurde sehr sorgfältig von einer jungen Architektin entworfen. Sie bestimmte, wo die verschiedenen Arbeiten jeweils ausgeführt werden und wo Maschinen und Werkzeuge ihren Platz finden sollten, von den Bandsägen und Werkbänken bis hin zu den Kästen und den kleinen Schraubzwingen, die man für die einzelnen Arbeiten benötigt. Auch über den Geruch der Leime und Firnisse hatte sie sich Gedanken gemacht. Da sie nach alten Rezepturen hergestellt werden, verbreiten sie beträchtlichen Gestank, weshalb die Architektin eine Reihe von Absaugvorrichtungen installieren liess. Am Eröffnungstag wirkte alles sauber und frisch. Ich sah die drei Geigenbauer und die beiden Geigenbauerinnen wie paradierende Soldaten neben ihren Werkbänken stehen. Acht Monate später sieht alles ganz anders aus. Nur wenige Werkzeuge liegen nun in den ursprünglich dafür vorgesehenen Kästen. Die Sägen hat man verrückt, und die Absaugvorrichtungen sind abgestellt (offenbar summten sie in B-Dur, was Menschen, die beruflich ganz auf den Kammerton a eingestellt sind, als Misston empfinden).

Die Werkstatt ist immer noch recht sauber, aber nicht mehr schematisch geordnet. Dennoch bewegen die fünf Geigenbauer sich in dem Durcheinander äußerst geschickt, sie schlängeln und ducken sich und vollführen gelegentlich wie Tänzer einen Schwenk, um der Bandsäge auszuweichen, die nun mitten im Raum steht. Diese Veränderungen haben die dort Arbeitenden nach und nach im Laufe der letzten Monate vorgenommen, um das klare architektonische Design an die komplizierteren physischen Gesten der Arbeit anzupassen. Solche Anpassungsvorgänge findet man in vielen Arbeitsräumen, und wenn die physische Arbeitsumgebung dies zulässt, fallen sie nicht schwer. Selbst in streng festgelegten Arbeitsumgebungen bleiben den Menschen noch kleine Gesten wie das Stirnrunzeln, das sagen soll: «Das ist mein Raum», oder ein Lächeln, das einlädt: «Kommen Sie herein!» Gesten können Laute sein oder auch ein Gesichtsausdruck. In der Geigenbauwerkstatt spürte eine Geigenbauerin, die am Sägetisch stand, aufgrund von Geräuschen oder aus den Augenwinkeln heraus, dass jemand hinter ihr stand. Sie beugte sich ein wenig nach vorn und arbeitete weiter.

Gesten in Gestalt von Bewegungen, Gesichtsausdrücken und Lauten erfüllen das soziale Dreieck mit Leben. In der Geigenbauwerkstatt wurden verdiente Autorität, Vertrauen im Sinne eines Glaubenssprungs und aufgenötigte Kooperation zu körperlichen Erfahrungen. Die fünf Geigenbauer sind stolz auf ihre Fertigkeiten in den anspruchsvollsten Arbeiten, dem Zuschneiden und Schleifen der Holzplatten, die Boden und Decke des Streichinstruments bilden sollen. Sie alle haben sich ihre Autorität am Sägetisch verdient. Wenn jemand an der Bandsäge arbeitet, übernimmt er das Kommando in der Werkstatt, reicht Schnittabfälle zur Seite, ohne sich umzudrehen, und erwartet, dass jemand da ist, um sie ihm kommentarlos abzunehmen. In dieser Werkstatt gerät nur selten jemand in Aufregung, denn alle anderen verfügen über eine ähnliche Meisterschaft. Vertrauen im Sinne eines Glaubenssprungs zeigt sich etwa, wenn jemand, der einen Topf brühheißen Leims trägt, davon ausgeht, dass die anderen unaufgefordert aus dem Weg gehen. Sein gekrümmter Rücken und die um den Leimtopf geschlossenen Hände signalisieren, dass er darauf vertraut, dass die anderen diese Zeichen erkennen. Aufgenötigte Kooperation zeigt sich zum Beispiel, wenn

jemand in einem Stück Holz unerwartet auf kleine Verwachsungen stößt. Wenn ein Geigenbauer mit einem Stück Holz auf die Kante seiner Werkbank klopft, wirkt dieser Ton wie ein Alarmzeichen für die anderen. Sie verlassen ihre Werkbänke und kommen herbei, um ihren Rat anzubieten oder ihr Mitgefühl zu bekunden. Richard Sennett Zusammenarbeit. Berlin, 2012, S. 275 – 277. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlags GmbH & Co.Kg, Vilshofener Str. 10, 81679 München


«Die Welt ist nicht aus Zucker gemacht!»

Das Fest An der Haltestelle der U7 am Alexanderplatz in Berlin zieren türkisblaue Kacheln die Wände. Über die Treppe gelangt man auf ein breites Perron mit Sitzbänken. Die Züge fahren im Minutentakt. Staub wirbelt auf. Die Räder der U-Bahn setzen sich in Bewegung oder halten an. Ein Musiker spielt Handorgel. Ein Walzer hallt durch den Raum. Goldenes Licht fällt auf die Wartenden. Nur so lange, bis sie durch die nächste Türe verschwinden und in alle Richtungen davonsausen. Clochards trinken Bier auf Sitzbänken. Hier unter der Erde scheinen sie eine warme Bleibe gefunden zu haben. Der Winter gerät in Vergessenheit. Ein Paar beginnt, sich zur Musik zu drehen. Ein nächstes folgt ihm zaghaft. Jetzt erheben sich alle, die Gesellschaft ist vollzählig. Die Halle ist Bahnraum – wird Ballsaal. Wir anderen bleiben Zuschauer. Eine andere Zeit durchdringt den Raum. Eine, die das Warten verkürzt und die Tanzrunde zum Mittelpunkt des Geschehens macht. Die nächste U-Bahn taucht auf. Musikfetzen mischen sich mit dem schrillen Signal der Türverriegelung und sie bringt uns fort vom bunten Treiben. «Heterotopien sind wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen wirkliche Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermassen Orte ausserhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.»1 Grillwalker und Alfred Döblin

50

Derselbe Alexanderplatz. Oberirdisch. Es treffen unterschiedlichste Menschen aufeinander. Oft sind es Touristen, die der Verlockung «Berlin Alexanderplatz» erliegen. Sie machen sich auf, etwas Patina des berühmten Ortes abzukratzen, oder sie in Form irgendeines Souvenirs einzupacken. Spätestens seit der Verfilmung von Rainer Werner Fassbinder ist der zentrale Verkehrsknotenpunkt zu einem Muss jeder Berlinreise geworden. Betritt man den Ort, findet man mehrere Angebote und Essbuden vor. Davon sind manche gewöhnungsbedürftig.

Widmung Alfred Döblin «Die Welt ist nicht aus Zucker gemacht!»2

Bertram Rohloff hat 1998 den mobilen Grill erfunden, weil er kurz vor Weihnachten seinen Arbeitsplatz im Gastgewerbe verloren hatte. Das erste Gerät mit Rucksack und Schirm war 26 Kilo schwer. Heute sind es noch 20. Dazu kommen Würste, Brötchen, Ketchup, Senf und Majo. Eine Art Grillbauchladen wird von je zwei Angestellten betrieben. Während der eine auf dem Platz steht und die darauf gebratenen Würste verkauft, vertritt sich der zweite die Beine und holt Nachschub. Das gänzlich neue Geschäftsmodell ist bereits patentiert und bis nach Japan und Australien verkauft. Die Konkurrenz schläft nicht: Sogenannte Grillrunner oder Menschen im Rollstuhl tragen deutlich einfachere Konstruktionen mit Würsten und versuchen, etwas vom Kuchen abzuschneiden. Noch ist man freundlich miteinander, und Rohloff spricht die Nachahmer an. Das Modell ist heiss umkämpft, und so auch die Standplätze. Die sind nicht in jedem Stadtteil zu haben. Mancher Verkäufer empfindet sich als «halb Mensch halb Grill», ist aber froh, einer geregelten Arbeit nachgehen zu können, für 1300 Euro im Monat, damit muss die Familie leben.


«Die Welt ist nicht aus Zucker gemacht!»

Das Fest An der Haltestelle der U7 am Alexanderplatz in Berlin zieren türkisblaue Kacheln die Wände. Über die Treppe gelangt man auf ein breites Perron mit Sitzbänken. Die Züge fahren im Minutentakt. Staub wirbelt auf. Die Räder der U-Bahn setzen sich in Bewegung oder halten an. Ein Musiker spielt Handorgel. Ein Walzer hallt durch den Raum. Goldenes Licht fällt auf die Wartenden. Nur so lange, bis sie durch die nächste Türe verschwinden und in alle Richtungen davonsausen. Clochards trinken Bier auf Sitzbänken. Hier unter der Erde scheinen sie eine warme Bleibe gefunden zu haben. Der Winter gerät in Vergessenheit. Ein Paar beginnt, sich zur Musik zu drehen. Ein nächstes folgt ihm zaghaft. Jetzt erheben sich alle, die Gesellschaft ist vollzählig. Die Halle ist Bahnraum – wird Ballsaal. Wir anderen bleiben Zuschauer. Eine andere Zeit durchdringt den Raum. Eine, die das Warten verkürzt und die Tanzrunde zum Mittelpunkt des Geschehens macht. Die nächste U-Bahn taucht auf. Musikfetzen mischen sich mit dem schrillen Signal der Türverriegelung und sie bringt uns fort vom bunten Treiben. «Heterotopien sind wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen wirkliche Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermassen Orte ausserhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.»1 Grillwalker und Alfred Döblin

50

Derselbe Alexanderplatz. Oberirdisch. Es treffen unterschiedlichste Menschen aufeinander. Oft sind es Touristen, die der Verlockung «Berlin Alexanderplatz» erliegen. Sie machen sich auf, etwas Patina des berühmten Ortes abzukratzen, oder sie in Form irgendeines Souvenirs einzupacken. Spätestens seit der Verfilmung von Rainer Werner Fassbinder ist der zentrale Verkehrsknotenpunkt zu einem Muss jeder Berlinreise geworden. Betritt man den Ort, findet man mehrere Angebote und Essbuden vor. Davon sind manche gewöhnungsbedürftig.

Widmung Alfred Döblin «Die Welt ist nicht aus Zucker gemacht!»2

Bertram Rohloff hat 1998 den mobilen Grill erfunden, weil er kurz vor Weihnachten seinen Arbeitsplatz im Gastgewerbe verloren hatte. Das erste Gerät mit Rucksack und Schirm war 26 Kilo schwer. Heute sind es noch 20. Dazu kommen Würste, Brötchen, Ketchup, Senf und Majo. Eine Art Grillbauchladen wird von je zwei Angestellten betrieben. Während der eine auf dem Platz steht und die darauf gebratenen Würste verkauft, vertritt sich der zweite die Beine und holt Nachschub. Das gänzlich neue Geschäftsmodell ist bereits patentiert und bis nach Japan und Australien verkauft. Die Konkurrenz schläft nicht: Sogenannte Grillrunner oder Menschen im Rollstuhl tragen deutlich einfachere Konstruktionen mit Würsten und versuchen, etwas vom Kuchen abzuschneiden. Noch ist man freundlich miteinander, und Rohloff spricht die Nachahmer an. Das Modell ist heiss umkämpft, und so auch die Standplätze. Die sind nicht in jedem Stadtteil zu haben. Mancher Verkäufer empfindet sich als «halb Mensch halb Grill», ist aber froh, einer geregelten Arbeit nachgehen zu können, für 1300 Euro im Monat, damit muss die Familie leben.


einer Theke, einem Stehtresen und einer exzellenten Kaffeemaschine ausgerüstet. Die sogenannte «Espresso-Ambulanz» rettet das vom Wetter sabotierte Literaturfestival. Mit einem vom Barista exzellent hingezauberten Espresso fühlt man sich wiederbelebt. Im Dezember desselben Jahres holt das Unternehmen Mitte in Basel mit einem Kaffeemobil das «Wohnzimmer» in die Stadt. Über einen Smartphone-Orientierungsdienst kann der mobile Kaffeeanbieter jederzeit geortet werden. Bei der mittleren Brücke am Rhein oder beim Strand des Museums Tinguely bringt man sich mit einem Kaffee wieder in Schwung. Grillwalker Ab sofort ist das Kaffeemobil auch am Marktplatz in Basel im Einsatz, und man darf das, was Henri Lefebvre wird vermehrt im Rahmen der seit Jahrhunderten nicht erlaubt war: sich zum Stadtforschung erwähnt. Indem er den Raum als Kaffeetrinken vor dem Dreiradmobil hinsetzen. gesellschaftliche Tätigkeit beschreibt, gibt er ihn an die Gesellschaft zurück. Diese bespielt und formt ihn, wie die oben beschriebenen Grillwalker, die damit neue Produktionswelten schaffen: «Jede Gesellschaft produziert ihren eigenen Raum (mit ihrer eigenen Raumpraxis). Raum besteht in seiner jeweiligen Genese, seiner Form, mit seinen spezifischen Zeiten und seiner spezifischen Zeit, für jede Gesellschaft, genauer gesagt‚ jede Produktionsweise (mode de production), die bestimmte Produktionsverhältnisse (rapports de production) beinhaltet.»3 Beschwerdechor und Kaffeemacher Die Berliner Literaturwerkstadt feiert 2011 ihr Lyrikfest mit einem Chor, der sich mit Beschwerden über Hundescheisse, Fahrräder ohne Licht und unverkäuflichen Bioplunder in die Herzen des Publikums singt. Beschwerdechöre4 sind ein Kunstkonzept von Oliver Kotcha-Kalleinen und Tellervo Kalleinen aus Finnland und werden inzwischen auf der ganzen Welt aufgeführt. Wer die Nase voll hat, teilt das am besten mit Gleichgesinnten und bereitet es musikalisch so auf, dass es im Chor gesungen werden kann. In Berlin mag man kaum auf den Holzbänken vor der Bühne sitzen und zuhören. Es ist eiskalt. Im Hof der Kulturbrauerei steht ein kleines Dreiradmobil in den Landesfarben Italiens. Es ist mit

Kaffeemobil

«Mauer, Bauten und Marktplatz, Nutzungsflächen, Strassen und Massenmedien, Protokollzonen, Netzwerke und ‹Grenzflächen› sind hier als Stellvertreter, die deutlich machen, was es heisst, Stadt als einen symbiotischen Mechanismus zu verstehen, der Bewusstsein, Wahrnehmung und Körper an je unterschiedliche Differenzierungsformen der Gesellschaft bindet. Diese Bindung ist keine Fesselung, sondern eine Festlegung auf wieder auflösbare Beziehungen.»5

Den eigenen Blick unbewohnbar machen. Das Theater HAU (Hebbel am Ufer) Berlin hat unter diesem Titel eine Veranstaltungsreihe der libanesisch-amerikanischen Künstlerin und Schriftstellerin Ethel Adnan aus dem Nahen Osten gewidmet. Dabei schildert sie, was es heisst, als «best ager» mit den Facebookern und Twitterern auf dem Tahir-Platz zu stehen, um Basisarbeit zu leisten. Und was davon ist bis heute übrig geblieben? Die Grande Dame fordert dazu auf, sich immer wieder zu überlegen, wie etwas gesagt werden kann. Und wenn Worte fehlen, springen Bilder ein. Bruchstückhaften Nachrichten aus dem Fernseher wird ein solides Gegenstück aus Kunst und Literatur entgegengehalten. Eines, das längerfristige Entwicklungen erklärt und deren Bedeutung für arabische Künstler und Intellektuelle auffächert. (Siehe Beitrag 23). Das Prekariat Auch wir sind auf der letztjährigen Studienreise nach Thessaloniki und Istanbul mit höchst unterschiedlichen Umgangsformen und Raumproduktionen konfrontiert worden: mit Ängsten junger griechischer Studenten, deren berufliche Aussichten sich in Null und Nichts aufgelöst haben. Freundschaft und Familie sind nicht die schlechtesten Rückzugsorte, wenn gar nichts mehr geht. Oder ein Stück Land wird besetzt und gemeinsam bepflanzt, um eine neue Bewegung zu gründen, die nicht mehr warten mag, bis sich die Dinge verändern, was sie nicht wirklich tun6. Gemeinsam sind wir an der Grenze zur Türkei gestanden. Nicht alle finden Einlass. An unseren Schengenraum gewohnt, sind wir einem ungewohnten Prozedere ausgesetzt: wir müssen die hundert Meter von der griechischen zur türkischen Grenze zu Fuss gehen. Ein Student wird nach Athen ausgewiesen, da er nicht die richtigen Papiere dabei hat. Am Taksim-Platz in Istanbul, wo wir uns immer wieder treffen, herrschen heute und jetzt Polizisten mit Wasserwerfern und Tränengas, weil ein alter Park in der boomenden Stadt plötzlich zum Streitobjekt wird. Das können wir, die wir jetzt vor dem Blumenmarkt auf einen Bus warten, uns nicht im Traum vorstellen.

Ein kleiner Park, eine Brache oder eine Brücke wird im Bruchteil einer Sekunde Symbol des Protestes. Oder gar monetär so in Wert gesetzt, dass sich plötzlich alle die Augen reiben und denken, sie hätten wohl nie richtig hingeschaut. In rasch errichteten Zeltlagern übt sich Demokratie – mehr oder weniger. Nichts ist mehr wie vorher. Ein Medientross zieht von Brandstätte zu Brandstätte. Ein neuer Ort wird ins Rampenlicht gezerrt. Andere versinken im Vergessen, in der Gleichgültigkeit. Bei Übergriffen auf die Zivilbevölkerung wird weggeschaut, wie es gerade in Syrien geschieht. Es scheint niemanden mehr zu interessieren, welche Dramen sich im Moment abspielen. Dem kann entgegengewirkt werden, indem wir den unbewohnbaren Blick auf kleine Differenzen fallen lassen, fernab von der Schwarzweissmalerei. Um Räume zu denken, die unbequeme Ansichten genauso ernst nehmen: Sie gemeinschaftlich ausprobieren zu können heisst manchmal, sie in Beschlag zu nehmen. Und den Blick nicht eher ruhen zu lassen, bis sie auch uns etwas angehen. Wenn Studierende aus Thessaloniki von einem Prekariat sprechen und von Sorgen, die sie wie einen schweren Rucksack mit sich schleppen und nirgends deponieren können, darf uns das nicht egal sein. «Auratische Gemeinschaften der ersten Art: von Menschen und Menschen.» «Wird ‹Aura› als der fliessende Raum definiert, der Menschen umgibt und in ihren Fluss von Informationen, Freundschaften und Interaktionen umhüllt, dann lebt jeder Mensch in einer Welt von Auren von unterschiedlichem Umfang und Gestalt. Jeder Mensch teilt verschiedene Auren mit verschiedenen Gemeinschaften. Diese Auren treffen wiederum auf Auren, die andere Menschen umgeben, bzw. auf Auren, die von physischen Räumen ausgehen und interagieren mit diesen.»7 Von Kunsträumen und Kunsträumung Vor der diesjährigen ART Basel steht ein von dem japanischen Künstler Tadashi Kawamata erbautes Favela-Café. Erschöpfte Messebesucher, Galeristen und ein Art-Publikum können sich hier erfrischen, essen oder etwas trinken. Wie wirken die


einer Theke, einem Stehtresen und einer exzellenten Kaffeemaschine ausgerüstet. Die sogenannte «Espresso-Ambulanz» rettet das vom Wetter sabotierte Literaturfestival. Mit einem vom Barista exzellent hingezauberten Espresso fühlt man sich wiederbelebt. Im Dezember desselben Jahres holt das Unternehmen Mitte in Basel mit einem Kaffeemobil das «Wohnzimmer» in die Stadt. Über einen Smartphone-Orientierungsdienst kann der mobile Kaffeeanbieter jederzeit geortet werden. Bei der mittleren Brücke am Rhein oder beim Strand des Museums Tinguely bringt man sich mit einem Kaffee wieder in Schwung. Grillwalker Ab sofort ist das Kaffeemobil auch am Marktplatz in Basel im Einsatz, und man darf das, was Henri Lefebvre wird vermehrt im Rahmen der seit Jahrhunderten nicht erlaubt war: sich zum Stadtforschung erwähnt. Indem er den Raum als Kaffeetrinken vor dem Dreiradmobil hinsetzen. gesellschaftliche Tätigkeit beschreibt, gibt er ihn an die Gesellschaft zurück. Diese bespielt und formt ihn, wie die oben beschriebenen Grillwalker, die damit neue Produktionswelten schaffen: «Jede Gesellschaft produziert ihren eigenen Raum (mit ihrer eigenen Raumpraxis). Raum besteht in seiner jeweiligen Genese, seiner Form, mit seinen spezifischen Zeiten und seiner spezifischen Zeit, für jede Gesellschaft, genauer gesagt‚ jede Produktionsweise (mode de production), die bestimmte Produktionsverhältnisse (rapports de production) beinhaltet.»3 Beschwerdechor und Kaffeemacher Die Berliner Literaturwerkstadt feiert 2011 ihr Lyrikfest mit einem Chor, der sich mit Beschwerden über Hundescheisse, Fahrräder ohne Licht und unverkäuflichen Bioplunder in die Herzen des Publikums singt. Beschwerdechöre4 sind ein Kunstkonzept von Oliver Kotcha-Kalleinen und Tellervo Kalleinen aus Finnland und werden inzwischen auf der ganzen Welt aufgeführt. Wer die Nase voll hat, teilt das am besten mit Gleichgesinnten und bereitet es musikalisch so auf, dass es im Chor gesungen werden kann. In Berlin mag man kaum auf den Holzbänken vor der Bühne sitzen und zuhören. Es ist eiskalt. Im Hof der Kulturbrauerei steht ein kleines Dreiradmobil in den Landesfarben Italiens. Es ist mit

Kaffeemobil

«Mauer, Bauten und Marktplatz, Nutzungsflächen, Strassen und Massenmedien, Protokollzonen, Netzwerke und ‹Grenzflächen› sind hier als Stellvertreter, die deutlich machen, was es heisst, Stadt als einen symbiotischen Mechanismus zu verstehen, der Bewusstsein, Wahrnehmung und Körper an je unterschiedliche Differenzierungsformen der Gesellschaft bindet. Diese Bindung ist keine Fesselung, sondern eine Festlegung auf wieder auflösbare Beziehungen.»5

Den eigenen Blick unbewohnbar machen. Das Theater HAU (Hebbel am Ufer) Berlin hat unter diesem Titel eine Veranstaltungsreihe der libanesisch-amerikanischen Künstlerin und Schriftstellerin Ethel Adnan aus dem Nahen Osten gewidmet. Dabei schildert sie, was es heisst, als «best ager» mit den Facebookern und Twitterern auf dem Tahir-Platz zu stehen, um Basisarbeit zu leisten. Und was davon ist bis heute übrig geblieben? Die Grande Dame fordert dazu auf, sich immer wieder zu überlegen, wie etwas gesagt werden kann. Und wenn Worte fehlen, springen Bilder ein. Bruchstückhaften Nachrichten aus dem Fernseher wird ein solides Gegenstück aus Kunst und Literatur entgegengehalten. Eines, das längerfristige Entwicklungen erklärt und deren Bedeutung für arabische Künstler und Intellektuelle auffächert. (Siehe Beitrag 23). Das Prekariat Auch wir sind auf der letztjährigen Studienreise nach Thessaloniki und Istanbul mit höchst unterschiedlichen Umgangsformen und Raumproduktionen konfrontiert worden: mit Ängsten junger griechischer Studenten, deren berufliche Aussichten sich in Null und Nichts aufgelöst haben. Freundschaft und Familie sind nicht die schlechtesten Rückzugsorte, wenn gar nichts mehr geht. Oder ein Stück Land wird besetzt und gemeinsam bepflanzt, um eine neue Bewegung zu gründen, die nicht mehr warten mag, bis sich die Dinge verändern, was sie nicht wirklich tun6. Gemeinsam sind wir an der Grenze zur Türkei gestanden. Nicht alle finden Einlass. An unseren Schengenraum gewohnt, sind wir einem ungewohnten Prozedere ausgesetzt: wir müssen die hundert Meter von der griechischen zur türkischen Grenze zu Fuss gehen. Ein Student wird nach Athen ausgewiesen, da er nicht die richtigen Papiere dabei hat. Am Taksim-Platz in Istanbul, wo wir uns immer wieder treffen, herrschen heute und jetzt Polizisten mit Wasserwerfern und Tränengas, weil ein alter Park in der boomenden Stadt plötzlich zum Streitobjekt wird. Das können wir, die wir jetzt vor dem Blumenmarkt auf einen Bus warten, uns nicht im Traum vorstellen.

Ein kleiner Park, eine Brache oder eine Brücke wird im Bruchteil einer Sekunde Symbol des Protestes. Oder gar monetär so in Wert gesetzt, dass sich plötzlich alle die Augen reiben und denken, sie hätten wohl nie richtig hingeschaut. In rasch errichteten Zeltlagern übt sich Demokratie – mehr oder weniger. Nichts ist mehr wie vorher. Ein Medientross zieht von Brandstätte zu Brandstätte. Ein neuer Ort wird ins Rampenlicht gezerrt. Andere versinken im Vergessen, in der Gleichgültigkeit. Bei Übergriffen auf die Zivilbevölkerung wird weggeschaut, wie es gerade in Syrien geschieht. Es scheint niemanden mehr zu interessieren, welche Dramen sich im Moment abspielen. Dem kann entgegengewirkt werden, indem wir den unbewohnbaren Blick auf kleine Differenzen fallen lassen, fernab von der Schwarzweissmalerei. Um Räume zu denken, die unbequeme Ansichten genauso ernst nehmen: Sie gemeinschaftlich ausprobieren zu können heisst manchmal, sie in Beschlag zu nehmen. Und den Blick nicht eher ruhen zu lassen, bis sie auch uns etwas angehen. Wenn Studierende aus Thessaloniki von einem Prekariat sprechen und von Sorgen, die sie wie einen schweren Rucksack mit sich schleppen und nirgends deponieren können, darf uns das nicht egal sein. «Auratische Gemeinschaften der ersten Art: von Menschen und Menschen.» «Wird ‹Aura› als der fliessende Raum definiert, der Menschen umgibt und in ihren Fluss von Informationen, Freundschaften und Interaktionen umhüllt, dann lebt jeder Mensch in einer Welt von Auren von unterschiedlichem Umfang und Gestalt. Jeder Mensch teilt verschiedene Auren mit verschiedenen Gemeinschaften. Diese Auren treffen wiederum auf Auren, die andere Menschen umgeben, bzw. auf Auren, die von physischen Räumen ausgehen und interagieren mit diesen.»7 Von Kunsträumen und Kunsträumung Vor der diesjährigen ART Basel steht ein von dem japanischen Künstler Tadashi Kawamata erbautes Favela-Café. Erschöpfte Messebesucher, Galeristen und ein Art-Publikum können sich hier erfrischen, essen oder etwas trinken. Wie wirken die


filigranen Holzhüttchen im Schatten des imposanten neuen Messebaues von Herzog & de Meuron? Zynisch, harmlos, lächerlich? Zwinkert nicht das monumental grosse Auge, das Licht auf den Platz wirft, listig?

Foucault, Michel: Andere Räume (1967), in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essays. Leipzig, 1993, S.39. 1

Widmung von Alfred Döblin, Innenseite einer Ausgabe von «Berlin Alexanderplatz» aus dem Jahre 1932, S. Fischer Verlag Berlin. Das Zitat bezieht sich auf den Text auf S. 528 dieser Ausgabe. Das Exemplar wurde freundlicherweise vom Buchantiquariat Libelle mit H&B, Urs Birchler zur Verfügung gestellt (www.antiquariat-libelle. ch). In der aktuellen Ausgabe des FischerVerlags – Frankfurt am Main, 2010 – ist die Stelle auf S. 454. 2

Favela

3 Henri Lefebvre, Die Produktion des Raums. Frankfurt am Main 2006, S. 331.

Istanbul, Ramadan, 9. Juli, 20.30 Uhr An der Istical Caddesi breiten Menschen Tischtücher und Zeitungspapier aus. Das Fastenbrechen wird abends mit einer ellenlangen Tafel auf der Strasse gefeiert. Restaurants stiften Esspakete. Mit jedem Längerwerden der Fastentafel feiern Messe Basel, Herzog & de Meuron Menschen klatschend mit: Die Tische reichen am Schluss bis zum Taksim-Platz. Nach kurzem ZöIm Innern des Zyklons gern zieht sich die dort stationierte Polizei zurück. «Ich habe noch nie einen so schönen ersten RaAm Nachmittag des 14. Juni werden in Windes- madantag erlebt», meint eine Teilnehmerin der eile illegale Bretterbauten und eine Soundanlage Aktion. (taz. die tageszeitung, 11. Juli, Seite 11, installiert zum Kochen, Feiern, Essen und Tanzen. www. taz.de). Eine erste Frist gegen die Besetzer, die Musik auszumachen und abzuziehen, verstreicht. Den Andrea Iten ungebetenen Gästen versucht die ART, mit einer Klage das Handwerk zu legen. Die Polizei beendet das Fest mit Gummischrot und Tränengas. Am Tag danach herrscht medialer Katzenjammer. Vor der Art kann man wieder Favela spielen, zumindest bis die Piraten den Rausch ausgeschlafen haben. Manch einem scheint, er hätte schlecht geträumt. In Istanbul räumen zur Zeit Polizisten mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummischrot brutal den Gezi-Park. Protestierende werden von ihnen bis in die anliegenden Hotellobbys hinein verfolgt. Der öffentliche Verkehr steht still. In Griechenland ist derzeit das staatliche Fernsehen aus Spargründen geschlossen worden. An beiden Orten drohen Generalstreiks der Bevölkerung.

4

www.complaintschoir.org/news.html

5 Dirk Baecker, Stadt. Plan. 2020, 2.1. Die Stadt als Körper der Gesellschaft. (www. stadtplan2020.com/projekt/StadtalsBuhne) 6

perka.org

7 Marco Sussani, Der hybride Raum der vernetzten Gemeinschaften. Ars Electronica-Archiv 2005. (90.146.8.18/de/ archives/festival_archive/festival_catalogs/ festival_artikel.asp?iProjectID=13307)

Fastenbrechen Ramadan. Foto: Gündem Elçi


filigranen Holzhüttchen im Schatten des imposanten neuen Messebaues von Herzog & de Meuron? Zynisch, harmlos, lächerlich? Zwinkert nicht das monumental grosse Auge, das Licht auf den Platz wirft, listig?

Foucault, Michel: Andere Räume (1967), in: Barck, Karlheinz (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essays. Leipzig, 1993, S.39. 1

Widmung von Alfred Döblin, Innenseite einer Ausgabe von «Berlin Alexanderplatz» aus dem Jahre 1932, S. Fischer Verlag Berlin. Das Zitat bezieht sich auf den Text auf S. 528 dieser Ausgabe. Das Exemplar wurde freundlicherweise vom Buchantiquariat Libelle mit H&B, Urs Birchler zur Verfügung gestellt (www.antiquariat-libelle. ch). In der aktuellen Ausgabe des FischerVerlags – Frankfurt am Main, 2010 – ist die Stelle auf S. 454. 2

Favela

3 Henri Lefebvre, Die Produktion des Raums. Frankfurt am Main 2006, S. 331.

Istanbul, Ramadan, 9. Juli, 20.30 Uhr An der Istical Caddesi breiten Menschen Tischtücher und Zeitungspapier aus. Das Fastenbrechen wird abends mit einer ellenlangen Tafel auf der Strasse gefeiert. Restaurants stiften Esspakete. Mit jedem Längerwerden der Fastentafel feiern Messe Basel, Herzog & de Meuron Menschen klatschend mit: Die Tische reichen am Schluss bis zum Taksim-Platz. Nach kurzem ZöIm Innern des Zyklons gern zieht sich die dort stationierte Polizei zurück. «Ich habe noch nie einen so schönen ersten RaAm Nachmittag des 14. Juni werden in Windes- madantag erlebt», meint eine Teilnehmerin der eile illegale Bretterbauten und eine Soundanlage Aktion. (taz. die tageszeitung, 11. Juli, Seite 11, installiert zum Kochen, Feiern, Essen und Tanzen. www. taz.de). Eine erste Frist gegen die Besetzer, die Musik auszumachen und abzuziehen, verstreicht. Den Andrea Iten ungebetenen Gästen versucht die ART, mit einer Klage das Handwerk zu legen. Die Polizei beendet das Fest mit Gummischrot und Tränengas. Am Tag danach herrscht medialer Katzenjammer. Vor der Art kann man wieder Favela spielen, zumindest bis die Piraten den Rausch ausgeschlafen haben. Manch einem scheint, er hätte schlecht geträumt. In Istanbul räumen zur Zeit Polizisten mit Wasserwerfern, Tränengas und Gummischrot brutal den Gezi-Park. Protestierende werden von ihnen bis in die anliegenden Hotellobbys hinein verfolgt. Der öffentliche Verkehr steht still. In Griechenland ist derzeit das staatliche Fernsehen aus Spargründen geschlossen worden. An beiden Orten drohen Generalstreiks der Bevölkerung.

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www.complaintschoir.org/news.html

5 Dirk Baecker, Stadt. Plan. 2020, 2.1. Die Stadt als Körper der Gesellschaft. (www. stadtplan2020.com/projekt/StadtalsBuhne) 6

perka.org

7 Marco Sussani, Der hybride Raum der vernetzten Gemeinschaften. Ars Electronica-Archiv 2005. (90.146.8.18/de/ archives/festival_archive/festival_catalogs/ festival_artikel.asp?iProjectID=13307)

Fastenbrechen Ramadan. Foto: Gündem Elçi


Mein Diplomprojekt beschäftigt sich mit der Gestaltung von Warteräumen an Flughäfen. In einem Designprozess mit detaillierter Recherche, einer Projektstudie, persönlichen Gesprächen und Austausch mit Betroffenen und Fachleuten, Marktforschung und kontinuierlichen Überprüfungen entwickelt Flugangst? Designvorschläge.

Flugangst?

Diplom Lisa Linsin

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Kontext – Ein Drittel der Menschheit leidet unter Aviophobie in verschiedenen Ängstegraden. Diese Zahl überrascht in ihrer Höhe. Viele Geplagte geben ihre Flugangst nicht zu. Sie ist ihnen peinlich, sie sind in diesen Stunden der Angst in sich gekehrt und möchten nicht sprechen. Andere sind sehr unruhig, haben Schweiss auf der Stirn und zitternde Knie, die Stimme ist brüchig. Manche betrinken sich in den zahlreichen Restaurants am Flughafen. Während des Wartens auf den Einstieg in das Flugzeug sieht man viele solcher Menschen – man muss nur darauf achten.

Produkt – Das Konzept umfasst einen Film, der den Prozess darstellt und auf die Möglichkeiten, mit raumgestalterischen Massnahmen Angst zu lindern, aufmerksam macht. Ein Modell zeigt einen konkreten Lösungsansatz auf der Basis der durchgeführten Tests und liefert die Grundlagen für die Einsatzszenarien.

Gemeinschaft – An den Gates der Flughäfen entstehen tagtäglich Zwangs- oder Schicksalsgemeinschaften. Sie sind vereint durch das gemeinsame Reiseziel und die räumliche Enge des Flugzeuges. Und doch lassen sie sich in zwei Gruppen aufteilen: Die einen Inhalt – Die Idee, das Warten für die Flugängstlichen fliegen, ohne sich grosse Gedanken zu machen – die erträglicher zu gestalten und ihnen damit einen Teil anderen kämpfen in unterschiedlichen Graden mit ihihrer Angst zu nehmen, erscheint mir als sehr wichtig ren Ängsten. und notwendig. Ich stosse in meiner Recherche auf eine Flugangst- Coach – Max Spielmann psychologin und Flugängstliche. Aus der Sichtweise der Psychologin ist mein Vorhaben sehr realistisch Kontakt – Lisa Linsin, lisa.linsin@hyperwerk.ch und verfolgenswert. Bei der Suche nach einem Flughafenbetreiber als Partner muss ich jedoch feststellen, Team und Dank – Vielen Dank an alle, die bereit waren, dass hier wenig Interesse an Flugangstbekämpfung über ihre Ängste zu sprechen und sie öffentlich zu besteht. Meine Interpretation: Der kurzfristige Kom- machen; die mir zur Seite standen bei Auf- und Abbau; merz scheint wichtiger zu sein als langfristig weitere die mir Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, Mobiliar geliehen und Filmdokumentation ermöglicht haben. Fluggäste zu gewinnen. Ich recherchiere auf verschiedenen Flughäfen in Eu- Ein großes Dankeschön auch an diejenigen, die kritiropa, führe Gespräche mit Menschen, die an Aviopho- siert, realisiert und mich bestärkt haben. bie leiden, und versuche dann, anhand von deren Gefühlen und meinen Erkenntnissen, einen Raum so zu gestalten, dass er Aviophobie lindern kann. Mit Mobiliar, Licht, Farbe und Materialien wird eine Stimmung erzeugt, die Flugängstliche unbewusst ruhiger stimmt. Probanden werden hineingeführt, testen das Umfeld und analysieren anschliessend gemeinsam den Raum. Diese Forschung mit Betroffenen ist Grundlage für die Entwicklung des Raumkonzeptes «Flugangst und Gestaltung».


Mein Diplomprojekt beschäftigt sich mit der Gestaltung von Warteräumen an Flughäfen. In einem Designprozess mit detaillierter Recherche, einer Projektstudie, persönlichen Gesprächen und Austausch mit Betroffenen und Fachleuten, Marktforschung und kontinuierlichen Überprüfungen entwickelt Flugangst? Designvorschläge.

Flugangst?

Diplom Lisa Linsin

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Kontext – Ein Drittel der Menschheit leidet unter Aviophobie in verschiedenen Ängstegraden. Diese Zahl überrascht in ihrer Höhe. Viele Geplagte geben ihre Flugangst nicht zu. Sie ist ihnen peinlich, sie sind in diesen Stunden der Angst in sich gekehrt und möchten nicht sprechen. Andere sind sehr unruhig, haben Schweiss auf der Stirn und zitternde Knie, die Stimme ist brüchig. Manche betrinken sich in den zahlreichen Restaurants am Flughafen. Während des Wartens auf den Einstieg in das Flugzeug sieht man viele solcher Menschen – man muss nur darauf achten.

Produkt – Das Konzept umfasst einen Film, der den Prozess darstellt und auf die Möglichkeiten, mit raumgestalterischen Massnahmen Angst zu lindern, aufmerksam macht. Ein Modell zeigt einen konkreten Lösungsansatz auf der Basis der durchgeführten Tests und liefert die Grundlagen für die Einsatzszenarien.

Gemeinschaft – An den Gates der Flughäfen entstehen tagtäglich Zwangs- oder Schicksalsgemeinschaften. Sie sind vereint durch das gemeinsame Reiseziel und die räumliche Enge des Flugzeuges. Und doch lassen sie sich in zwei Gruppen aufteilen: Die einen Inhalt – Die Idee, das Warten für die Flugängstlichen fliegen, ohne sich grosse Gedanken zu machen – die erträglicher zu gestalten und ihnen damit einen Teil anderen kämpfen in unterschiedlichen Graden mit ihihrer Angst zu nehmen, erscheint mir als sehr wichtig ren Ängsten. und notwendig. Ich stosse in meiner Recherche auf eine Flugangst- Coach – Max Spielmann psychologin und Flugängstliche. Aus der Sichtweise der Psychologin ist mein Vorhaben sehr realistisch Kontakt – Lisa Linsin, lisa.linsin@hyperwerk.ch und verfolgenswert. Bei der Suche nach einem Flughafenbetreiber als Partner muss ich jedoch feststellen, Team und Dank – Vielen Dank an alle, die bereit waren, dass hier wenig Interesse an Flugangstbekämpfung über ihre Ängste zu sprechen und sie öffentlich zu besteht. Meine Interpretation: Der kurzfristige Kom- machen; die mir zur Seite standen bei Auf- und Abbau; merz scheint wichtiger zu sein als langfristig weitere die mir Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, Mobiliar geliehen und Filmdokumentation ermöglicht haben. Fluggäste zu gewinnen. Ich recherchiere auf verschiedenen Flughäfen in Eu- Ein großes Dankeschön auch an diejenigen, die kritiropa, führe Gespräche mit Menschen, die an Aviopho- siert, realisiert und mich bestärkt haben. bie leiden, und versuche dann, anhand von deren Gefühlen und meinen Erkenntnissen, einen Raum so zu gestalten, dass er Aviophobie lindern kann. Mit Mobiliar, Licht, Farbe und Materialien wird eine Stimmung erzeugt, die Flugängstliche unbewusst ruhiger stimmt. Probanden werden hineingeführt, testen das Umfeld und analysieren anschliessend gemeinsam den Raum. Diese Forschung mit Betroffenen ist Grundlage für die Entwicklung des Raumkonzeptes «Flugangst und Gestaltung».


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Diese Bilder aus der Vogelperspektive sind Aufnahmen, die für ein Bodenüberwachungsprojekt gemacht wurden. Die landwirtschaftliche Forschungsanstalt Agroscope in Reckenholz - Tänikon ist die treibende Kraft für nachhaltiges Wirtschaften im Agrar-, Ernährungs- und Umweltbereich. Sie untersucht den Zustand der landwirtschaftlich genutzten Böden, in diesem Fall den Einfluss der Bodenverdichtung auf den Ernteertrag. Diese Bilder dienen zunächst als Testmaterial, um zu evaluieren, ob sich daraus genügend Informationen ablesen lassen und ob sie somit als Ergänzungen für die Überwachung des Versuchs genutzt werden können. XX


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Diese Bilder aus der Vogelperspektive sind Aufnahmen, die für ein Bodenüberwachungsprojekt gemacht wurden. Die landwirtschaftliche Forschungsanstalt Agroscope in Reckenholz - Tänikon ist die treibende Kraft für nachhaltiges Wirtschaften im Agrar-, Ernährungs- und Umweltbereich. Sie untersucht den Zustand der landwirtschaftlich genutzten Böden, in diesem Fall den Einfluss der Bodenverdichtung auf den Ernteertrag. Diese Bilder dienen zunächst als Testmaterial, um zu evaluieren, ob sich daraus genügend Informationen ablesen lassen und ob sie somit als Ergänzungen für die Überwachung des Versuchs genutzt werden können. XX


Fink & Star

Fink & Star lotet mit einem Multikopter und einem beispielhaften Projekt eine gemeinsame berufliche Selbständigkeit aus. Das Projekt ist der Versuch, mit dem Erstellen von Luftaufnahmen ein eigenes Arbeitsfeld aufzubauen, in dem unser Unternehmergeist und unsere interdisziplinären Stärken zum Tragen kommen.

Ein Luftfahrtunternehmen

Diplom Ramon Stricker

54

Kontext – Dieser Prozess der Positionierung und Definition der eigenen Tätigkeit ist ein Beitrag zur selbständigen Berufsgestaltung. Diese bewusste Herangehensweise an eine Selbständigkeit führt zur Reflexion des eigenen Handelns. Inhalt – Am Anfang des Diplomjahres habe ich mir mit Luca Müller und Sandino Scheidegger einen Multikopter gekauft. Von der für uns neuen Möglichkeit, Luftaufnahmen machen zu können, versprachen wir uns eine berufliche Selbständigkeit. Wir vertrauten in unsere Fähigkeiten als Unternehmer und versuchten, das Versprechen des Herstellers umzusetzen, wonach man auch ohne fliegerische Vorkenntnisse tolle Luftbilder machen könne. Durch unsere beiden Diplomprojekte Fink & Star, und SPACE RECORD – Luca Müllers Ausstellung zum Thema Luftraum – versuchen wir, unsere beruflichen Erfahrungen als Schreiner und Gestalter dazu zu nutzen, Kontakte zu knüpfen, unser Umfeld und unser Angebot zu definieren und in die Thematik einzutauchen, in der wir uns mit unserer Idee bewegen. Die Methode, unsere Selbständigkeit mit einem Projekt zu starten, ermöglicht uns, eine Haltung gegenüber unserem Umfeld, unserem Angebot und der Thematik zu entwickeln, in denen wir uns bewegen. Die Erfahrungen aus dem Projekt, mit dem wir starten, unterscheidet uns von der Konkurrenz und widerspiegelt unsere Fähigkeiten als Prozessgestalter.

Dabei wollen wir unsere berufsübergreifenden Qualifikationen zum Merkmal unseres Angebotes machen. All das soll in einem Businessplan sichtbar gemacht werden und dazu führen, dass wir unsere Interdisziplinarität, unsere Gesellschaftskritik und unsere technischen Fähigkeiten in Projekten umsetzen können. Gemeinschaft – Fink & Star ist eine Gruppenarbeit und steht somit in einem engen Bezug zum Jahresthema Jetzt Gemeinschaft! Es ist das Ziel aller Beteiligten, zusammen Projekte zu realisieren und womöglich eine gemeinsame berufliche Laufbahn einzuschlagen. Das gemeinsame Arbeiten an einem gemeinsamen Wunsch erachten wir als Mehrwert. Coaches – Max Spielmann, David Widmer, Sandino Scheidegger Kontakt – Ramon Stricker Bolligenstrasse 64 3006 Bern +41 76 535 41 32 ramon.stricker@hyperwerk.ch ramon.stricker@gmail.com

Team und Dank – Wir möchten Georgio Andreoli, dem Verwalter der Grossen Halle Bern, für die grosszügige Unterstützung danken; Rebekka Schärer und David Pestalozzi für ihre grafische Arbeit; allen AutorInnen Produkt – Durch unser Netzwerk soll es uns gelingen, und KünstlernInnen für ihre Beiträge. allen Interviewin einem Umfeld zu arbeiten, wo Experiment, Kritik und partnern und sonstigen Beteiligten für ihre Zeit und Gestaltung tragende Elemente der eigenen Arbeit ihren Einsatz. bleiben.


Fink & Star

Fink & Star lotet mit einem Multikopter und einem beispielhaften Projekt eine gemeinsame berufliche Selbständigkeit aus. Das Projekt ist der Versuch, mit dem Erstellen von Luftaufnahmen ein eigenes Arbeitsfeld aufzubauen, in dem unser Unternehmergeist und unsere interdisziplinären Stärken zum Tragen kommen.

Ein Luftfahrtunternehmen

Diplom Ramon Stricker

54

Kontext – Dieser Prozess der Positionierung und Definition der eigenen Tätigkeit ist ein Beitrag zur selbständigen Berufsgestaltung. Diese bewusste Herangehensweise an eine Selbständigkeit führt zur Reflexion des eigenen Handelns. Inhalt – Am Anfang des Diplomjahres habe ich mir mit Luca Müller und Sandino Scheidegger einen Multikopter gekauft. Von der für uns neuen Möglichkeit, Luftaufnahmen machen zu können, versprachen wir uns eine berufliche Selbständigkeit. Wir vertrauten in unsere Fähigkeiten als Unternehmer und versuchten, das Versprechen des Herstellers umzusetzen, wonach man auch ohne fliegerische Vorkenntnisse tolle Luftbilder machen könne. Durch unsere beiden Diplomprojekte Fink & Star, und SPACE RECORD – Luca Müllers Ausstellung zum Thema Luftraum – versuchen wir, unsere beruflichen Erfahrungen als Schreiner und Gestalter dazu zu nutzen, Kontakte zu knüpfen, unser Umfeld und unser Angebot zu definieren und in die Thematik einzutauchen, in der wir uns mit unserer Idee bewegen. Die Methode, unsere Selbständigkeit mit einem Projekt zu starten, ermöglicht uns, eine Haltung gegenüber unserem Umfeld, unserem Angebot und der Thematik zu entwickeln, in denen wir uns bewegen. Die Erfahrungen aus dem Projekt, mit dem wir starten, unterscheidet uns von der Konkurrenz und widerspiegelt unsere Fähigkeiten als Prozessgestalter.

Dabei wollen wir unsere berufsübergreifenden Qualifikationen zum Merkmal unseres Angebotes machen. All das soll in einem Businessplan sichtbar gemacht werden und dazu führen, dass wir unsere Interdisziplinarität, unsere Gesellschaftskritik und unsere technischen Fähigkeiten in Projekten umsetzen können. Gemeinschaft – Fink & Star ist eine Gruppenarbeit und steht somit in einem engen Bezug zum Jahresthema Jetzt Gemeinschaft! Es ist das Ziel aller Beteiligten, zusammen Projekte zu realisieren und womöglich eine gemeinsame berufliche Laufbahn einzuschlagen. Das gemeinsame Arbeiten an einem gemeinsamen Wunsch erachten wir als Mehrwert. Coaches – Max Spielmann, David Widmer, Sandino Scheidegger Kontakt – Ramon Stricker Bolligenstrasse 64 3006 Bern +41 76 535 41 32 ramon.stricker@hyperwerk.ch ramon.stricker@gmail.com

Team und Dank – Wir möchten Georgio Andreoli, dem Verwalter der Grossen Halle Bern, für die grosszügige Unterstützung danken; Rebekka Schärer und David Pestalozzi für ihre grafische Arbeit; allen AutorInnen Produkt – Durch unser Netzwerk soll es uns gelingen, und KünstlernInnen für ihre Beiträge. allen Interviewin einem Umfeld zu arbeiten, wo Experiment, Kritik und partnern und sonstigen Beteiligten für ihre Zeit und Gestaltung tragende Elemente der eigenen Arbeit ihren Einsatz. bleiben.


Arbeiten im Luftraum – 55 eine Überschau Diplom Luca Müller

SPACE RECORD ist der Titel einer Ausstellung, die der sich verändernden Bedeutung des Luftraums gewidmet ist. Sie zeigt mit verschiedenen Arbeiten aus Kunst, Gestaltung und Wissenschaft, wie damit umgegangen werden kann.

Kontext – In den letzten Jahren hat sich die Technik der UAV (Unmanned Aerial Vehicles, auch als Drohnen bezeichnet) rasant entwickelt. Drohnen sind für den privaten Einsatz zugänglich geworden, und mit ihnen eröffnen sich neue Perspektiven.

Gemeinschaft – Die Gesellschaft ist herausgefordert, dem Umgang mit einem neu erschliessbaren Raum als einer gemeinsamen Aufgabe zu begegnen. Die Auseinandersetzung mit diesen Entwicklungen und die Diskussion darüber sind Schritte in diese Richtung.

Inhalt – Die Ausstellung nähert sich der Thematik von verschiedenen Seiten an: der Luftraum wird vorgestellt als ein zur Normalität gewordener Ausgangsort für die Orientierung im Raum; als ein erweitertes Feld, in dem neue Nutzungen möglich werden; oder als Raum, in dem ausschweifende Zukunftsszenarien Platz finden. Während wir die Anwendungsfelder der Drohnentechnik untersucht haben, legten wir den Fokus auf die längerfristige Bedeutung dieser technischen Entwicklung für die Gesellschaft. Um diese Auseinandersetzung möglichst breit anzulegen, erwies sich die Zusammenarbeit mit Experten aus verschiedenen Disziplinen, mit unterschiedlichen Ansprüchen, Ansichten und Voraussetzungen als eine geeignete Form, um einen differenzierten Überblick über die Thematik des Luftraumes zu erlangen.

Coaches – Max Spielmann, Sandino Scheidegger

Produkt – Die Ausstellung SPACE RECORD veranschaulicht die Resultate und die Tragweite der Thematik. Die Ausstellung geht der Frage nach, wie die Sicht von oben unser räumliches Verständnis und die Wahrnehmung unserer Umwelt beeinflusst. Sie untersucht die Relevanz der rasanten Entwicklung der Drohnentechnik und phantasiert darüber, wie es aussehen könnte, wenn für eine wachsende Öffentlichkeit diese individuelle Bewegungsform zur Normalität würde. Die Ausstellung als Produkt unseres Diplomprojekts zeigt auf exemplarische Weise die Aspekte von Luftraum. Diese Vertiefung regt zur Diskussion an und ermöglicht eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Thema.

Kontakt – luca.mueller@hyperwerk.ch, muellerluca@gmail.com, www.spacerecord.ch Team und Dank – Mein Dank gilt den Autoren für ihre Beiträge, den unterstützenden Lehrkräften von HyperWerk, den Freunden und dem Umfeld für die Bereitschaft, ihre spezifischen Begabungen immer wieder aufs Neue zur Verfügung zu stellen.


Arbeiten im Luftraum – 55 eine Überschau Diplom Luca Müller

SPACE RECORD ist der Titel einer Ausstellung, die der sich verändernden Bedeutung des Luftraums gewidmet ist. Sie zeigt mit verschiedenen Arbeiten aus Kunst, Gestaltung und Wissenschaft, wie damit umgegangen werden kann.

Kontext – In den letzten Jahren hat sich die Technik der UAV (Unmanned Aerial Vehicles, auch als Drohnen bezeichnet) rasant entwickelt. Drohnen sind für den privaten Einsatz zugänglich geworden, und mit ihnen eröffnen sich neue Perspektiven.

Gemeinschaft – Die Gesellschaft ist herausgefordert, dem Umgang mit einem neu erschliessbaren Raum als einer gemeinsamen Aufgabe zu begegnen. Die Auseinandersetzung mit diesen Entwicklungen und die Diskussion darüber sind Schritte in diese Richtung.

Inhalt – Die Ausstellung nähert sich der Thematik von verschiedenen Seiten an: der Luftraum wird vorgestellt als ein zur Normalität gewordener Ausgangsort für die Orientierung im Raum; als ein erweitertes Feld, in dem neue Nutzungen möglich werden; oder als Raum, in dem ausschweifende Zukunftsszenarien Platz finden. Während wir die Anwendungsfelder der Drohnentechnik untersucht haben, legten wir den Fokus auf die längerfristige Bedeutung dieser technischen Entwicklung für die Gesellschaft. Um diese Auseinandersetzung möglichst breit anzulegen, erwies sich die Zusammenarbeit mit Experten aus verschiedenen Disziplinen, mit unterschiedlichen Ansprüchen, Ansichten und Voraussetzungen als eine geeignete Form, um einen differenzierten Überblick über die Thematik des Luftraumes zu erlangen.

Coaches – Max Spielmann, Sandino Scheidegger

Produkt – Die Ausstellung SPACE RECORD veranschaulicht die Resultate und die Tragweite der Thematik. Die Ausstellung geht der Frage nach, wie die Sicht von oben unser räumliches Verständnis und die Wahrnehmung unserer Umwelt beeinflusst. Sie untersucht die Relevanz der rasanten Entwicklung der Drohnentechnik und phantasiert darüber, wie es aussehen könnte, wenn für eine wachsende Öffentlichkeit diese individuelle Bewegungsform zur Normalität würde. Die Ausstellung als Produkt unseres Diplomprojekts zeigt auf exemplarische Weise die Aspekte von Luftraum. Diese Vertiefung regt zur Diskussion an und ermöglicht eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Thema.

Kontakt – luca.mueller@hyperwerk.ch, muellerluca@gmail.com, www.spacerecord.ch Team und Dank – Mein Dank gilt den Autoren für ihre Beiträge, den unterstützenden Lehrkräften von HyperWerk, den Freunden und dem Umfeld für die Bereitschaft, ihre spezifischen Begabungen immer wieder aufs Neue zur Verfügung zu stellen.


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Manuel W端st, Linolschnitt, 2013 (Workshop Druckwerkstatt)

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Manuel W端st, Linolschnitt, 2013 (Workshop Druckwerkstatt)

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Stimmstoff – ein Abstimmungstutorial

58

Diplom Valentin Felber

Der Zugang zu allgemein verständlichen und politisch ausgewogenen Informationen zu Abstimmungen ist umständlich. Stimmstoff fasst deshalb Informationen mit audiovisuellen Mitteln verständlich und prägnant zusammen und bietet ein Netz von Informationen. Stimmstoff liefert das grundlegende Wissen zu Abstimmungsvorlagen, damit sich jeder und jede Stimmberechtigte sachlich informieren und mitdiskutieren kann.

Kontext – Das Erstarken der Parteien in der politischen Mitte bei den letzten nationalen Wahlen in der Schweiz wurde als Ausdruck des Wunsches nach mehr Dialog und weniger Populismus gewertet. Ungeachtet dessen nimmt der Populismus aber weiter zu. Stimmstoff möchte einen Beitrag dazu leisten, dass man sich unabhängig von Parteien eine eigene Meinung bilden kann. Inhalt – Kaum jemand weiss wirklich, worüber abgestimmt wird. Der Bundesrat erläutert jede Vorlage auf rund 15 dicht bedruckten Seiten im «Abstimmungsbüchlein». Doch wer liest das schon? Die öffentliche Diskussion dreht sich fast ausschliesslich um Diskussionen zwischen Politikern. Diese Diskussionen thematisieren zumeist strittige Detailfragen. Bei den grundlegenden Informationen den Durchblick zu behalten, ist deshalb schwierig. Stimmstoff bietet diese grundlegenden Informationen in prägnanter Form und politisch ausgewogen an. Im Zentrum von Stimmstoff steht ein kurzes Online-Video. Politische Inhalte werden von Personen und Gesichtern getrennt. Mittels übersichtlicher Grafik und erläuterndem Kommentartext werden komplexe Themenbereiche verständlich gemacht. Die befürwortende Position wird der ablehnenden gegenübergestellt. So kann man sich angemessen informieren und abwägen, welche Position einem mehr entspricht. Ausserdem bieten live an das Video angepasste Links die Möglichkeit, auf vertiefende Informationen zuzugreifen.

Produkt – Das Produkt des Projekts Stimmstoff ist ein Konzept. Ein Rezept, eine Anleitung, die universell auf zukünftige Abstimmungen anwendbar ist. Es ist ein Leitfaden, wie das Video zu erstellen ist, wie Ausgewogenheit erreicht werden kann und wie das Zusammenspiel mit ergänzenden Informationen funktioniert. Gemeinschaft – Kleine Gemeinschaften am Leben zu erhalten und einen gesunden Diskurs über ihre Probleme zu führen, ist einfacher als diese Dinge in grossen Gemeinschaften zu tun. Es wird spontan kommuniziert, ausgesprochene Regeln braucht es wenige, geschriebene keine. In grossen Gemeinschaften wird alles schriftlich in Gesetzen und Verordnungen geregelt. Auch Abstimmungsinformationen werden gedruckt. Die Verbindlichkeit von schriftlicher Informationen hemmt den unmittelbaren Austausch. Ein Video, das mündlich vermittelt, ist viel näher an der Diskussion und fördert sie so. Coach – Max Spielmann Kontakt – valentin.felber@stimmstoff.ch, www.stimmstoff.ch Team und Dank – Gabriel Meisel, Sedrik Eichkorn, Nicola Goepfert, Amina Tanner, Elisa Petri, Adrian Demleitner, Dominik Born.


Stimmstoff – ein Abstimmungstutorial

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Diplom Valentin Felber

Der Zugang zu allgemein verständlichen und politisch ausgewogenen Informationen zu Abstimmungen ist umständlich. Stimmstoff fasst deshalb Informationen mit audiovisuellen Mitteln verständlich und prägnant zusammen und bietet ein Netz von Informationen. Stimmstoff liefert das grundlegende Wissen zu Abstimmungsvorlagen, damit sich jeder und jede Stimmberechtigte sachlich informieren und mitdiskutieren kann.

Kontext – Das Erstarken der Parteien in der politischen Mitte bei den letzten nationalen Wahlen in der Schweiz wurde als Ausdruck des Wunsches nach mehr Dialog und weniger Populismus gewertet. Ungeachtet dessen nimmt der Populismus aber weiter zu. Stimmstoff möchte einen Beitrag dazu leisten, dass man sich unabhängig von Parteien eine eigene Meinung bilden kann. Inhalt – Kaum jemand weiss wirklich, worüber abgestimmt wird. Der Bundesrat erläutert jede Vorlage auf rund 15 dicht bedruckten Seiten im «Abstimmungsbüchlein». Doch wer liest das schon? Die öffentliche Diskussion dreht sich fast ausschliesslich um Diskussionen zwischen Politikern. Diese Diskussionen thematisieren zumeist strittige Detailfragen. Bei den grundlegenden Informationen den Durchblick zu behalten, ist deshalb schwierig. Stimmstoff bietet diese grundlegenden Informationen in prägnanter Form und politisch ausgewogen an. Im Zentrum von Stimmstoff steht ein kurzes Online-Video. Politische Inhalte werden von Personen und Gesichtern getrennt. Mittels übersichtlicher Grafik und erläuterndem Kommentartext werden komplexe Themenbereiche verständlich gemacht. Die befürwortende Position wird der ablehnenden gegenübergestellt. So kann man sich angemessen informieren und abwägen, welche Position einem mehr entspricht. Ausserdem bieten live an das Video angepasste Links die Möglichkeit, auf vertiefende Informationen zuzugreifen.

Produkt – Das Produkt des Projekts Stimmstoff ist ein Konzept. Ein Rezept, eine Anleitung, die universell auf zukünftige Abstimmungen anwendbar ist. Es ist ein Leitfaden, wie das Video zu erstellen ist, wie Ausgewogenheit erreicht werden kann und wie das Zusammenspiel mit ergänzenden Informationen funktioniert. Gemeinschaft – Kleine Gemeinschaften am Leben zu erhalten und einen gesunden Diskurs über ihre Probleme zu führen, ist einfacher als diese Dinge in grossen Gemeinschaften zu tun. Es wird spontan kommuniziert, ausgesprochene Regeln braucht es wenige, geschriebene keine. In grossen Gemeinschaften wird alles schriftlich in Gesetzen und Verordnungen geregelt. Auch Abstimmungsinformationen werden gedruckt. Die Verbindlichkeit von schriftlicher Informationen hemmt den unmittelbaren Austausch. Ein Video, das mündlich vermittelt, ist viel näher an der Diskussion und fördert sie so. Coach – Max Spielmann Kontakt – valentin.felber@stimmstoff.ch, www.stimmstoff.ch Team und Dank – Gabriel Meisel, Sedrik Eichkorn, Nicola Goepfert, Amina Tanner, Elisa Petri, Adrian Demleitner, Dominik Born.


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Warum?

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Jetzt Gemeinschaft!

Wir waren uns unserer Sache sicher: Jetzt Gemeinschaft! Der Zeitpunkt war gut gewählt, und ja: Es kann nur alle geben. Die letzten Monate scheinen uns nun Recht zu geben. 10. Juli 2013 – Berlin, Kiosk im Kaufhaus Karstadt am Hermannplatz. Ich halte einen neuen Zeitschriftentitel in meinen Händen: SHARE. Juli 2013, Euro 3,90. Der Untertitel: GUT LEBEN, GUTES TUN. Die Titelstory: «Wer teilt, hat mehr vom Leben – Was Bettina Zimmermann und Joko Winterscheidt verbindet.» Die Erklärung dazu bietet mit Sicherheit ein weiterer Artikel: «Was Sie jetzt zur Share Economy wissen müssen.» Im Heft dann alles, von Turnschuhen mit einem crowdfinanzierten guten Karma über Handtaschen von Alexander McQueen, AirBnB, Carsharing, bis hin zu eher exotischem Luxus-Sharing; einer 41 Meter langen Yacht. Bei acht Personen ist man mit 1,9 Mio. Euro dabei – «shared ownership», versteht sich. Natürlich darf im Heft auch Urban Gardening nicht fehlen. Ein bisschen Grün passt immer – gut verteilt auf den vielen bunten Seiten. Das ging aber schnell und war doch gar nicht so gemeint. Wir wissen, dass sich alles rasch vom alternativen Modell zum Mainstream transformiert. In der Umwandlung verändern sich Form und Inhalt. Was wir in SHARE entdecken, ist eine interessante Umkehrung – das Teilen nicht aus ökonomischer Not, ökologischer Notwendigkeit oder sozialer Sinnhaftigkeit, sondern als ein hedonistisches Freizeitvergnügen. Wieso das geile Designerstück auch noch kaufen – Tauschen ist schneller und günstiger. Heute das Grüne mit aktuellem World-Music-Song auf mp3, morgen mehr Pop und das schillernde Gelbe. Was ist schlecht daran? Bei Van Bo Le-Mentzel den Hartz IV Berliner Hocker unter dem Schlagwort «Konstruieren statt Konsumieren» runterladen und selber bauen – ganz nach dem Motto «10 Euro, 10 Minuten und 10 Schrauben». Nichts ist schlecht daran. Es entfernt sich nur von reformistischen bis utopistischen Konzepten, und die extreme Geschwindigkeit überrascht. Übrigens: Bei der Zeitschrift handelt es sich um ein Pilotprojekt der Burda-Journalistenschule (www.lets-share.de). Beim Magazin Brandeins waren die Profis nur gerade zwei Monate früher auf den Zug aufge-

sprungen (Ausgabe 05/2013 «Greif zu»), allerdings mit deutlichem Widerwillen. Vom Paradigma des homo oeconomicus und der Tragik der Allmende (Garrett Hardin, 1968) wollte sich Brandeins nicht lösen. «Der Mensch ist des Menschen Wolf» (Titus Maccius Plautus) und sein bester Feind! Wenn sharing, dann höchstens aus Eigennutz. Aber als modernes Wirtschaftsmagazin muss auch Brandeins dabei sein – schliesslich sind die neuen Märkte und Geschäftsmodelle hinter der «share economy» nicht zu übersehen. Auf dem Buchmarkt stapeln sich bereits die Bücher zum Thema wie Rachel Bortsman, What’s Mine is Yours: The Rise of Collaborative Consumption, Lisa Gansky The Mesh: Why the Future of Business Is Sharing, und natürlich Jeremy Rifkins Access – Das Verschwinden des Eigentums: Warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden. Auch das schweizerische Gottlieb-Duttweiler-Institut kommt in einer Studie zur Erkenntnis: Teilen ist in und nicht ganz unwichtig, Teilen hat Einfluss auf die Wirtschaft. Es entstehen neue Businessmodelle. Aha – danke! (Sharity 2013). Was ist eigentlich los? Welchen Nerv haben wir mit unserem Jahresthema getroffen? Und wird etwas davon den Hype überleben? Zuerst aber wieder zurück vom Teilen zu den Gemeinschaften. Es handelt sich ja erstmal um zwei unterschiedliche Dinge. Die kommenden Arbeitsgemeinschaften Begleiten wir einige unserer Studenten in den Han der Goldschmiede in Istanbul (Studienreise Herbst 2012). Hier wird nach jahrhundertealter Tradition das Handwerk als Kollektiv betrieben. Detaillierte Regeln definieren den Alltag – sie sind zum grössten Teil nirgends aufgeschrieben, die Verträge sind mündlicher Natur, die Gesten und Abläufe für Aussenstehende nur in den Ansätzen zu verstehen. Das sogenannte stille, das implizite Wissen beherrscht den Han. Diese Arbeitsgemeinschaft kann als Residuum eines mittelalterlichen Handwerkskollektivs verstanden werden. Schön, dass es so etwas noch gibt, aber das ist doch ein Spezialfall! Mit der Industrialisierung wurden die Prozesse gesäubert, formalisiert, kommunizier- und skalierbar gemacht. – Nun gut, so vollständig ist dies wohl


Warum?

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Jetzt Gemeinschaft!

Wir waren uns unserer Sache sicher: Jetzt Gemeinschaft! Der Zeitpunkt war gut gewählt, und ja: Es kann nur alle geben. Die letzten Monate scheinen uns nun Recht zu geben. 10. Juli 2013 – Berlin, Kiosk im Kaufhaus Karstadt am Hermannplatz. Ich halte einen neuen Zeitschriftentitel in meinen Händen: SHARE. Juli 2013, Euro 3,90. Der Untertitel: GUT LEBEN, GUTES TUN. Die Titelstory: «Wer teilt, hat mehr vom Leben – Was Bettina Zimmermann und Joko Winterscheidt verbindet.» Die Erklärung dazu bietet mit Sicherheit ein weiterer Artikel: «Was Sie jetzt zur Share Economy wissen müssen.» Im Heft dann alles, von Turnschuhen mit einem crowdfinanzierten guten Karma über Handtaschen von Alexander McQueen, AirBnB, Carsharing, bis hin zu eher exotischem Luxus-Sharing; einer 41 Meter langen Yacht. Bei acht Personen ist man mit 1,9 Mio. Euro dabei – «shared ownership», versteht sich. Natürlich darf im Heft auch Urban Gardening nicht fehlen. Ein bisschen Grün passt immer – gut verteilt auf den vielen bunten Seiten. Das ging aber schnell und war doch gar nicht so gemeint. Wir wissen, dass sich alles rasch vom alternativen Modell zum Mainstream transformiert. In der Umwandlung verändern sich Form und Inhalt. Was wir in SHARE entdecken, ist eine interessante Umkehrung – das Teilen nicht aus ökonomischer Not, ökologischer Notwendigkeit oder sozialer Sinnhaftigkeit, sondern als ein hedonistisches Freizeitvergnügen. Wieso das geile Designerstück auch noch kaufen – Tauschen ist schneller und günstiger. Heute das Grüne mit aktuellem World-Music-Song auf mp3, morgen mehr Pop und das schillernde Gelbe. Was ist schlecht daran? Bei Van Bo Le-Mentzel den Hartz IV Berliner Hocker unter dem Schlagwort «Konstruieren statt Konsumieren» runterladen und selber bauen – ganz nach dem Motto «10 Euro, 10 Minuten und 10 Schrauben». Nichts ist schlecht daran. Es entfernt sich nur von reformistischen bis utopistischen Konzepten, und die extreme Geschwindigkeit überrascht. Übrigens: Bei der Zeitschrift handelt es sich um ein Pilotprojekt der Burda-Journalistenschule (www.lets-share.de). Beim Magazin Brandeins waren die Profis nur gerade zwei Monate früher auf den Zug aufge-

sprungen (Ausgabe 05/2013 «Greif zu»), allerdings mit deutlichem Widerwillen. Vom Paradigma des homo oeconomicus und der Tragik der Allmende (Garrett Hardin, 1968) wollte sich Brandeins nicht lösen. «Der Mensch ist des Menschen Wolf» (Titus Maccius Plautus) und sein bester Feind! Wenn sharing, dann höchstens aus Eigennutz. Aber als modernes Wirtschaftsmagazin muss auch Brandeins dabei sein – schliesslich sind die neuen Märkte und Geschäftsmodelle hinter der «share economy» nicht zu übersehen. Auf dem Buchmarkt stapeln sich bereits die Bücher zum Thema wie Rachel Bortsman, What’s Mine is Yours: The Rise of Collaborative Consumption, Lisa Gansky The Mesh: Why the Future of Business Is Sharing, und natürlich Jeremy Rifkins Access – Das Verschwinden des Eigentums: Warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden. Auch das schweizerische Gottlieb-Duttweiler-Institut kommt in einer Studie zur Erkenntnis: Teilen ist in und nicht ganz unwichtig, Teilen hat Einfluss auf die Wirtschaft. Es entstehen neue Businessmodelle. Aha – danke! (Sharity 2013). Was ist eigentlich los? Welchen Nerv haben wir mit unserem Jahresthema getroffen? Und wird etwas davon den Hype überleben? Zuerst aber wieder zurück vom Teilen zu den Gemeinschaften. Es handelt sich ja erstmal um zwei unterschiedliche Dinge. Die kommenden Arbeitsgemeinschaften Begleiten wir einige unserer Studenten in den Han der Goldschmiede in Istanbul (Studienreise Herbst 2012). Hier wird nach jahrhundertealter Tradition das Handwerk als Kollektiv betrieben. Detaillierte Regeln definieren den Alltag – sie sind zum grössten Teil nirgends aufgeschrieben, die Verträge sind mündlicher Natur, die Gesten und Abläufe für Aussenstehende nur in den Ansätzen zu verstehen. Das sogenannte stille, das implizite Wissen beherrscht den Han. Diese Arbeitsgemeinschaft kann als Residuum eines mittelalterlichen Handwerkskollektivs verstanden werden. Schön, dass es so etwas noch gibt, aber das ist doch ein Spezialfall! Mit der Industrialisierung wurden die Prozesse gesäubert, formalisiert, kommunizier- und skalierbar gemacht. – Nun gut, so vollständig ist dies wohl


selbst bei der Fliessbandproduktion nicht gelungen. Wie aber entwickeln sich neue Arbeitsgemeinschaften in postindustriellen Situationen? Mit computergesteuerten 3D-Maschinen, den Schneide-, Fräs- und Plotmaschinen verändert sich die Welt der Produktion, des Handwerks und des Design radikal. In den nächsten paar Jahren wird ein interessanter Wendepunkt erreicht werden: Mit den Maschinen lassen sich dann alle eigenen Ersatzteile produzieren. Mit Ausnahme der Rohstoffe entsteht auf diese Weise ein vollständig geschlossener Kreislauf. Bereits heute können Einzelstücke und Kleinstserien preislich und qualitativ immer mehr mit industriell hergestellten Produkten konkurrieren. Alles wird individualisier- und auf Einzelbedürfnisse hin adaptierbar. Die Baupläne für Maschinen und Bauteile finden sich als Open-Source-Dokumente im Internet. Doch für den erfolgreichen Betrieb solcher Werkstätten sind ganz unterschiedliche Fähigkeiten und Kenntnisse gefragt. Dies führt zu kleinen und grösseren Kollektiven von Handwerkern, Ingenieuren, Programmierern und Designern. Sie produzieren lokal, in direktem Kontakt mit den Kunden. Der Kunde ist nah, er bringt seine Vorstellungen ein, er beteiligt sich am Prozess. Was entsteht? Nicht das mittelalterliche Atelier, nicht der Industriebetrieb des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine neue Form der Produktion betritt die Bühne. Personen mit unterschiedlichem Wissen arbeiten eng zusammen. Ist das Ende der Gutenberg-Galaxis (Marshall McLuhan) nicht nur das Ende der Hegemonie des schriftlichen Textes, sondern auch das der grossindustriellen Produktion? Oder handelt es sich einfach um ein Übergangsphänomen? Im Moment entstehen virtuell hochgradig vernetzte Kollektive, welche ihre eigenen Regeln der Zusammenarbeit definieren, welche eigene Gesten und Handlungsabläufe entwickeln, einen eigenen Umgang mit Urheberrechten – den eigenen und den benutzten fremden – erarbeiten müssen und die Beziehung mit den Kunden, die Wertschöpfungsketten für sich neu erfinden. Aus 20 Jahren Internet beziehen sie nicht nur die Baupläne, sondern auch die Geschäftsmodelle, weg vom industriellen seriellen Ablauf zum miteinander verzahnten parallelen System. Wer ist Produzent, wer Konsument?

Das Dritte – Was Gemeinschaften erschaffen 23. September 2012 Thessaloniki – Karatasou, ehemaliges Armeegelände nördlich der Stadt. Wir sind unterwegs mit der Journalistin Annita Mordechai und einigen Initianten des UrbanGardening-Projektes PER.KA. Zwischen den ehemaligen Kasernengebäuden sind seit 2011 landwirtschaftliche Gärten entstanden. Mehrere Gruppen haben sich selbst organisiert und Regeln für Anbau und Nutzung entwickelt. Die eine Hälfte der Pflanzen dient dem Eigengebrauch, die andere Hälfte wird in der Stadt an die Bedürftigsten verteilt. Entstanden war das Projekt vor dem Hintergrund sozialer Bewegungen in Europa und Amerika – die Begrünung der Stadt als Rückeroberung des öffentlichen Raumes, als landwirtschaftliches und erzieherisches Projekt. Aus dem Guerilla Gardening ist weltweit Urban Agriculture entstanden. Mit der tiefgreifenden Krise in Griechenland hat sich auch PER.KA verändert, wie die mitunterzeichnete «Declaration of principles of the movement of direct distribution of products in Thessaloniki» zeigt. So in Punkt 8 der Deklaration: «The movement of direct distribution is not a project of philanthropy or charity. It is a movement of social solidarity and resistance.» Am Ende unseres Besuches bei PER.KA werden wir mit Gewürzen und Gemüsen beschenkt. Darin liegt wohl auch ein Reiz der Beschreibung von landwirtschaftlichen Projekten. Das gemeinsame Dritte wird hier deutlich und sinnlich erkennbar – im Gemüse, in den Früchten, in den Gerüchen. Das immaterielle Dritte hat sich darin eingeschrieben. Mehr als ein Jahr hat PER.KA an den Regeln der gemeinsamen Bewirtschaftung gearbeitet. Als Permakulturprojekt sind sie einer ressourcenschonenden, biologischen Bewirtschaftung verpflichtet. Auch das wird uns geschenkt. «Die Gabe ist also etwas, das gegeben werden muss, das empfangen werden muss und das anzunehmen dennoch zugleich gefährlich ist. Das rührt daher, dass die gegebene Sache selbst eine wechselseitige und unwiderrufliche Bindung schafft, vor allem dann, wenn es sich um eine Nahrungsgabe handelt. Der Nehmer ist vom Zorn des Gebers abhängig, und im Grund ist jeder vom anderen abhängig.» (Mauss 1990, 147)

In Gemeinschaften vernetzen sich Personen durch Verpflichtungen – «Ich schulde Dir etwas» (siehe Beitrag 10 und Esposito 2004a,b). Die Mitglieder übernehmen «Ämter» und «Pflichten» (munus) – die Formen des gegenseitiges Gebens und Nehmens definieren die Gemeinschaft nach innen. Und auch nach aussen definiert das Geben und Nehmen die Abgrenzung, die Immunität der Gemeinschaft. Geld ersetzt ab einem bestimmten Punkt in der gesellschaftlichen Entwicklung die direkte Gabe. Hier hat David Graeber mit seiner Arbeit Schulden – die ersten 5000 Jahre eingesetzt (Graeber 2012 – siehe auch Beitrag 70). Der Übergang geschieht nicht aus praktischen Gründen, nicht weil der Tauschhandel zu kompliziert wurde, sondern in einer gewollten Veränderung des Verhältnisses der moralischen Komponente zu der Komponente des Wertes. Damit wird die Einführung der Schulden, des Kredits und der Verzinsung möglich. Ein Stärkung der Gemeingüter, des gemeinsamen Dritten kann die Position des Geldes als Machtinstrument hinterfragen. Auch deshalb ist es nur logisch, dass PER.KA sich bei der direkten Distribution engagiert. Gemeingüter – Die gemeinsame Bewirtschaftung als wirtschaftliches Modell 1987 gründeten acht Personen in Stans die ATG (Auto-Teilet-Genossenschaft) – damit hatten sie eine Antwort auf die Frage gefunden: «Wie bewirtschaften wir gemeinsam ein Auto?» Für die Beantwortung der Frage: «Wie bewirtschaften wir gemeinsam 2600 Autos für mehr als 100’000 Personen?» waren dann weitere 25 Jahre, Fusionen, Krisen und der anglophone Name Mobility notwendig. Ob Open-Source-Software, FabLab, Carsharing oder Urban Gardening: Allen Projekten sind grundlegende Fragen gemeinsam: Wie organisieren wir uns? Was für Regeln definieren wir? Wie gehen wir mit unseren gemeinsamen Gütern um? Dies sind Fragen der Gestaltung, des Design. Es sind Fragen der Prozessgestaltung. Hier nähern sich der Entwurf, die Produktion und der Gebrauch der Dinge einander an.

Wie GESTALTEN wir den Umgang mit unseren gemeinsamen Gütern? Elinor Ostrom hat in jahrzehntelanger Forschung Grundregeln für die erfolgreiche Bewirtschaftung von Commons erarbeitet (siehe Beitrag 86). Ihre Grundaussage: Bei knappen Ressourcen ist die gemeinschaftliche Bewirtschaftung privat- oder planwirtschaftlichen Bewirtschaftungen überlegen. Provokativ lässt sich fragen: Welche Güter stellen über kurz oder lang nicht eine knappe Ressource dar? Das Ritual – Von liminalen Zuständen 15. Mai 2013 – Morgens vor der Abflughalle des Flughafens Thessaloniki. Ich bin mit John und Harry vom Designerkollektiv Les YperYper verabredet. Wir fliegen gemeinsam nach Basel. Dort werden sie einen Motion-Design-Workshop durchführen. Unsere erste Begegnung im Herbst 2012 war von einer gewissen Vorsicht geprägt gewesen. Wir realisierten damals mit ihnen ein Interview zum Thema Gemeinschaft. Les YperYper äusserten sich ziemlich kritisch. Für sie war Gemeinschaft mit der Generation des Widerstands gegen die Junta und mit der Aufforderung der heutigen Regierung nach «Gemeinschaft» verbunden. Zum Teil handelt es sich um die gleichen Personen, die als Kollektiv die Junta überwunden und in der Zwischenzeit das Land heruntergewirtschaftet hatten. In dieser Situation wirkt das Wort «Gemeinschaft» mehr als Reizwort denn als Lösung. Und doch sind Les YperYper ein Kollektiv. Unter welchen Bedingungen entstehen neue Gemeinschaften? Die meisten von uns kennen folgendes Phänomen: Wir beobachten einen Unfall – wir leisten erste Hilfe – wir reden mit wildfremden Menschen – Herkunft, soziale Position oder Alter spielen für einen Moment keine Rolle. Dann kehrt wieder der Alltag ein – oben und unten, rechts und links, alt und jung – die Unterscheidungen gewinnen wieder an Bedeutung. Jede Gesellschaft kultiviert solche Ausnahmezustände – Fasnacht, Sommernachtsfest, Initiationsrituale, religiöse Feste. Jede Gesellschaft fürchtet sich gleichzeitig vor solchen Zuständen – TahirPlatz, Gezi-Park oder auch nur eine kleine ungeplante Favela vor der Art-Messe in Basel.


selbst bei der Fliessbandproduktion nicht gelungen. Wie aber entwickeln sich neue Arbeitsgemeinschaften in postindustriellen Situationen? Mit computergesteuerten 3D-Maschinen, den Schneide-, Fräs- und Plotmaschinen verändert sich die Welt der Produktion, des Handwerks und des Design radikal. In den nächsten paar Jahren wird ein interessanter Wendepunkt erreicht werden: Mit den Maschinen lassen sich dann alle eigenen Ersatzteile produzieren. Mit Ausnahme der Rohstoffe entsteht auf diese Weise ein vollständig geschlossener Kreislauf. Bereits heute können Einzelstücke und Kleinstserien preislich und qualitativ immer mehr mit industriell hergestellten Produkten konkurrieren. Alles wird individualisier- und auf Einzelbedürfnisse hin adaptierbar. Die Baupläne für Maschinen und Bauteile finden sich als Open-Source-Dokumente im Internet. Doch für den erfolgreichen Betrieb solcher Werkstätten sind ganz unterschiedliche Fähigkeiten und Kenntnisse gefragt. Dies führt zu kleinen und grösseren Kollektiven von Handwerkern, Ingenieuren, Programmierern und Designern. Sie produzieren lokal, in direktem Kontakt mit den Kunden. Der Kunde ist nah, er bringt seine Vorstellungen ein, er beteiligt sich am Prozess. Was entsteht? Nicht das mittelalterliche Atelier, nicht der Industriebetrieb des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine neue Form der Produktion betritt die Bühne. Personen mit unterschiedlichem Wissen arbeiten eng zusammen. Ist das Ende der Gutenberg-Galaxis (Marshall McLuhan) nicht nur das Ende der Hegemonie des schriftlichen Textes, sondern auch das der grossindustriellen Produktion? Oder handelt es sich einfach um ein Übergangsphänomen? Im Moment entstehen virtuell hochgradig vernetzte Kollektive, welche ihre eigenen Regeln der Zusammenarbeit definieren, welche eigene Gesten und Handlungsabläufe entwickeln, einen eigenen Umgang mit Urheberrechten – den eigenen und den benutzten fremden – erarbeiten müssen und die Beziehung mit den Kunden, die Wertschöpfungsketten für sich neu erfinden. Aus 20 Jahren Internet beziehen sie nicht nur die Baupläne, sondern auch die Geschäftsmodelle, weg vom industriellen seriellen Ablauf zum miteinander verzahnten parallelen System. Wer ist Produzent, wer Konsument?

Das Dritte – Was Gemeinschaften erschaffen 23. September 2012 Thessaloniki – Karatasou, ehemaliges Armeegelände nördlich der Stadt. Wir sind unterwegs mit der Journalistin Annita Mordechai und einigen Initianten des UrbanGardening-Projektes PER.KA. Zwischen den ehemaligen Kasernengebäuden sind seit 2011 landwirtschaftliche Gärten entstanden. Mehrere Gruppen haben sich selbst organisiert und Regeln für Anbau und Nutzung entwickelt. Die eine Hälfte der Pflanzen dient dem Eigengebrauch, die andere Hälfte wird in der Stadt an die Bedürftigsten verteilt. Entstanden war das Projekt vor dem Hintergrund sozialer Bewegungen in Europa und Amerika – die Begrünung der Stadt als Rückeroberung des öffentlichen Raumes, als landwirtschaftliches und erzieherisches Projekt. Aus dem Guerilla Gardening ist weltweit Urban Agriculture entstanden. Mit der tiefgreifenden Krise in Griechenland hat sich auch PER.KA verändert, wie die mitunterzeichnete «Declaration of principles of the movement of direct distribution of products in Thessaloniki» zeigt. So in Punkt 8 der Deklaration: «The movement of direct distribution is not a project of philanthropy or charity. It is a movement of social solidarity and resistance.» Am Ende unseres Besuches bei PER.KA werden wir mit Gewürzen und Gemüsen beschenkt. Darin liegt wohl auch ein Reiz der Beschreibung von landwirtschaftlichen Projekten. Das gemeinsame Dritte wird hier deutlich und sinnlich erkennbar – im Gemüse, in den Früchten, in den Gerüchen. Das immaterielle Dritte hat sich darin eingeschrieben. Mehr als ein Jahr hat PER.KA an den Regeln der gemeinsamen Bewirtschaftung gearbeitet. Als Permakulturprojekt sind sie einer ressourcenschonenden, biologischen Bewirtschaftung verpflichtet. Auch das wird uns geschenkt. «Die Gabe ist also etwas, das gegeben werden muss, das empfangen werden muss und das anzunehmen dennoch zugleich gefährlich ist. Das rührt daher, dass die gegebene Sache selbst eine wechselseitige und unwiderrufliche Bindung schafft, vor allem dann, wenn es sich um eine Nahrungsgabe handelt. Der Nehmer ist vom Zorn des Gebers abhängig, und im Grund ist jeder vom anderen abhängig.» (Mauss 1990, 147)

In Gemeinschaften vernetzen sich Personen durch Verpflichtungen – «Ich schulde Dir etwas» (siehe Beitrag 10 und Esposito 2004a,b). Die Mitglieder übernehmen «Ämter» und «Pflichten» (munus) – die Formen des gegenseitiges Gebens und Nehmens definieren die Gemeinschaft nach innen. Und auch nach aussen definiert das Geben und Nehmen die Abgrenzung, die Immunität der Gemeinschaft. Geld ersetzt ab einem bestimmten Punkt in der gesellschaftlichen Entwicklung die direkte Gabe. Hier hat David Graeber mit seiner Arbeit Schulden – die ersten 5000 Jahre eingesetzt (Graeber 2012 – siehe auch Beitrag 70). Der Übergang geschieht nicht aus praktischen Gründen, nicht weil der Tauschhandel zu kompliziert wurde, sondern in einer gewollten Veränderung des Verhältnisses der moralischen Komponente zu der Komponente des Wertes. Damit wird die Einführung der Schulden, des Kredits und der Verzinsung möglich. Ein Stärkung der Gemeingüter, des gemeinsamen Dritten kann die Position des Geldes als Machtinstrument hinterfragen. Auch deshalb ist es nur logisch, dass PER.KA sich bei der direkten Distribution engagiert. Gemeingüter – Die gemeinsame Bewirtschaftung als wirtschaftliches Modell 1987 gründeten acht Personen in Stans die ATG (Auto-Teilet-Genossenschaft) – damit hatten sie eine Antwort auf die Frage gefunden: «Wie bewirtschaften wir gemeinsam ein Auto?» Für die Beantwortung der Frage: «Wie bewirtschaften wir gemeinsam 2600 Autos für mehr als 100’000 Personen?» waren dann weitere 25 Jahre, Fusionen, Krisen und der anglophone Name Mobility notwendig. Ob Open-Source-Software, FabLab, Carsharing oder Urban Gardening: Allen Projekten sind grundlegende Fragen gemeinsam: Wie organisieren wir uns? Was für Regeln definieren wir? Wie gehen wir mit unseren gemeinsamen Gütern um? Dies sind Fragen der Gestaltung, des Design. Es sind Fragen der Prozessgestaltung. Hier nähern sich der Entwurf, die Produktion und der Gebrauch der Dinge einander an.

Wie GESTALTEN wir den Umgang mit unseren gemeinsamen Gütern? Elinor Ostrom hat in jahrzehntelanger Forschung Grundregeln für die erfolgreiche Bewirtschaftung von Commons erarbeitet (siehe Beitrag 86). Ihre Grundaussage: Bei knappen Ressourcen ist die gemeinschaftliche Bewirtschaftung privat- oder planwirtschaftlichen Bewirtschaftungen überlegen. Provokativ lässt sich fragen: Welche Güter stellen über kurz oder lang nicht eine knappe Ressource dar? Das Ritual – Von liminalen Zuständen 15. Mai 2013 – Morgens vor der Abflughalle des Flughafens Thessaloniki. Ich bin mit John und Harry vom Designerkollektiv Les YperYper verabredet. Wir fliegen gemeinsam nach Basel. Dort werden sie einen Motion-Design-Workshop durchführen. Unsere erste Begegnung im Herbst 2012 war von einer gewissen Vorsicht geprägt gewesen. Wir realisierten damals mit ihnen ein Interview zum Thema Gemeinschaft. Les YperYper äusserten sich ziemlich kritisch. Für sie war Gemeinschaft mit der Generation des Widerstands gegen die Junta und mit der Aufforderung der heutigen Regierung nach «Gemeinschaft» verbunden. Zum Teil handelt es sich um die gleichen Personen, die als Kollektiv die Junta überwunden und in der Zwischenzeit das Land heruntergewirtschaftet hatten. In dieser Situation wirkt das Wort «Gemeinschaft» mehr als Reizwort denn als Lösung. Und doch sind Les YperYper ein Kollektiv. Unter welchen Bedingungen entstehen neue Gemeinschaften? Die meisten von uns kennen folgendes Phänomen: Wir beobachten einen Unfall – wir leisten erste Hilfe – wir reden mit wildfremden Menschen – Herkunft, soziale Position oder Alter spielen für einen Moment keine Rolle. Dann kehrt wieder der Alltag ein – oben und unten, rechts und links, alt und jung – die Unterscheidungen gewinnen wieder an Bedeutung. Jede Gesellschaft kultiviert solche Ausnahmezustände – Fasnacht, Sommernachtsfest, Initiationsrituale, religiöse Feste. Jede Gesellschaft fürchtet sich gleichzeitig vor solchen Zuständen – TahirPlatz, Gezi-Park oder auch nur eine kleine ungeplante Favela vor der Art-Messe in Basel.


Für Griechenland war die Überwindung der Junta ein kollektiver Kraftakt, der eine Generation als Gemeinschaft prägte. Solche Übergänge sind sinnstiftend und gleichzeitig für die gesellschaftliche Entwicklung unabdingbar. Deshalb die Ambivalenz und der Versuch der Ein- und Abgrenzung in ritualisierten Formen wie beispielsweise dem Karneval. Auch die Wirtschaft benötigt in ihrer Marktanarchie diese Umbruchsphasen für die Entwicklung der Märkte. Meist sind hier diese Brüche durch neue Technologien bedingt und werden somit Innovation genannt. Führt eine Innovationswelle zu grundsätzlich neuen Geschäftsmodellen, dann sind Verwerfungen und massivste Kämpfe unvermeidlich. Auch hier die Ambivalenz: Innovation ja, die Konsequenzen der Marktverwerfungen bitte nicht. Zwei Stichwörter sollen zur Verdeutlichung genügen: Musikindustrie und Internet. Der schottische Anthropologe Victor Turner (1920 – 1983) beschreibt in seinem Werk Das Ritual – Struktur und Anti-Struktur Übergangsriten. Er unterteilt dabei in die Trennungs-, die Schwellen- und die Angliederungsphase. Sein Konzept schliesst an die rites de passages von Arnold van Gennep (1909) an. Das besondere Interesse gilt der mittleren Phase – der von Turner auch als Liminalität beschriebenen Schwellenphase. In dieser Phase befinden sich die Teilnehmer ausserhalb der sozialen, der räumlichen und zeitlichen Ordnungen. In dieser Phase ist Communitas (Turner bevorzugt das lateinische Wort für Gemeinschaft) auf der Basis einer situativ bedingten Gleichheit möglich: «Wir werden in solchen Riten mit einem ‹Augenblick in und ausserhalb der Zeit›, in und ausserhalb der weltlichen Sozialstruktur konfrontiert [...].» (Turner 2005, 96) Victor Turner wendet sein Modell auch auf gesellschaftliche Umbruchzeiten wie die 68er-Bewegung und auf Kunstformen wie beispielsweise das Theater an. Mit diesen Grenzüberschreitungen machte er sich logischerweise wissenschaftlich angreifbar. Auf eines verweist dieses Konzept aber unbestritten: Rituale sind gesellschaftliche Konstruktionen, um Gemeinschaften zu erzeugen – sie sind zeitlich und räumlich begrenzt. In ihrer Anti-Struktur liegt das Potenzial der Veränderung. Jede Gesellschaft ist auf diese Anti-Struktur als

Motor der Entwicklung, als Reflexion und als Sinnstiftung angewiesen. Die Beziehung bleibt jedoch ambivalent – aus Angst vor dem Sprengpotenzial. Jetzt Gemeinschaft! Es kann nur alle geben. Gemeinschaften als Netzwerke gegenseitiger Verpflichtung und als Bewirtschafter gemeinsamer Güter lassen sich nicht auf Befehl errichten, sie lassen sich nicht instrumentalisieren. Im «Jetzt» liegt nicht der Aufruf, eine Gemeinschaft zu bilden. Im «Jetzt» wird der Aufruf formuliert, «Gemeinschaften» zu beobachten. Jetzt, weil sich die Gesellschaften in einem Umbruch befinden. Jetzt, weil sich neue Formen der Arbeit, der Freizeit, der Bildung entwickeln. Jetzt, weil diese Formen von mehr Kooperation gezeichnet sind. Jetzt, weil das gemeinsame Dritte und der Umgang mit diesen Gemeingütern an Bedeutung gewinnt. Jetzt, weil sich hier gestaltbare Räume öffnen – und um die Gestaltung von sozialen Situationen in Arbeit, Bildung und Freizeit geht es in unserem Institut. Nachspann 18. April 2013, Archiv der Sammlung für südamerikanische Kunst des Ethnologischen Museums Dahlem, Berlin. Wir stehen vor einem Archivschrank. Die Konservatorin öffnet eine schmale Schublade. Darin befindet sich ein schwer zu beschreibendes Geflecht von Schnüren. An einer Hauptschnur ist eine Vielzahl von Einzelschnüren angebracht. In jeder dieser Schnüre befindet sich eine Anzahl von Knoten. Es handelt sich um eine sogenannte Quipu. Die genaue Entschlüsselung der Bedeutung dieser Quipus ist bis heute nicht möglich. Mit Sicherheit handelt es sich um ein System zur Erfassung von statistischen Angaben von Einwohnern, Tieren oder Lagerbeständen. Ich stelle ein Frage: «Könnte es sich um eine Art Vertrag handeln, ähnlich den Tesseln im Alpenraum? Jeder Knoten schreibt eine bestimmte Menge an Vorrat einer bestimmten Familie oder Person zu?» Die Antwort: «Mit Sicherheit nicht. In diesen lateinamerikanischen Gesellschaften gab es keinen zu uns vergleichbaren Privatbesitz.» Max Spielmann

Literatur Bortsman, Rachel: What’s Mine is Yours: The Rise of Collaborative Consumption. London, 2011. Brandeins, Ausgabe 05/2013: Greif zu. Warum Teilen und Tauschen die Wirtschaft voran bringen. Hamburg, 2013. Esposito, Roberto: Communitas. Berlin, 2004a. Esposito, Roberto: Immunitas. Berlin, 2004b. Frick, Karin; Hauser, Mirjam; Gürtler, Detlef: Sharity. Die Zukunft des Teilens. GDI Rüschlikon/Zürich, 2013. Gansky, Lisa: The Mesh: Why the Future of Business Is Sharing. New York, 2010. Graeber, David: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Stuttgart, 2012. Hardin, Garrett: The Tragedy of the Commons. Science 162, 1968, S.1243 –1248. Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. Frankfurt a. M., 1990. Ostrom, Elinor: Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action. Cambridge 1990 (deutsch: Die Verfassung der Allmende. Tübingen, 1999.) Rifkin, Jeremy: Access – Das Verschwinden des Eigentums: Warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden. Frankfurt a. M., 2007. Sennett, Richard: Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. München, 2012. Share, Ausgabe Juli 2013, Burda Journalistenschule in Zusammenarbeit mit der SUPERillu Verlag GmbH & Co. KG. Berlin, 2013. Turner, Viktor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a. M., 2005. van Gennep, Arnold: Übergangsriten. Frankfurt a. M., 2005.


Für Griechenland war die Überwindung der Junta ein kollektiver Kraftakt, der eine Generation als Gemeinschaft prägte. Solche Übergänge sind sinnstiftend und gleichzeitig für die gesellschaftliche Entwicklung unabdingbar. Deshalb die Ambivalenz und der Versuch der Ein- und Abgrenzung in ritualisierten Formen wie beispielsweise dem Karneval. Auch die Wirtschaft benötigt in ihrer Marktanarchie diese Umbruchsphasen für die Entwicklung der Märkte. Meist sind hier diese Brüche durch neue Technologien bedingt und werden somit Innovation genannt. Führt eine Innovationswelle zu grundsätzlich neuen Geschäftsmodellen, dann sind Verwerfungen und massivste Kämpfe unvermeidlich. Auch hier die Ambivalenz: Innovation ja, die Konsequenzen der Marktverwerfungen bitte nicht. Zwei Stichwörter sollen zur Verdeutlichung genügen: Musikindustrie und Internet. Der schottische Anthropologe Victor Turner (1920 – 1983) beschreibt in seinem Werk Das Ritual – Struktur und Anti-Struktur Übergangsriten. Er unterteilt dabei in die Trennungs-, die Schwellen- und die Angliederungsphase. Sein Konzept schliesst an die rites de passages von Arnold van Gennep (1909) an. Das besondere Interesse gilt der mittleren Phase – der von Turner auch als Liminalität beschriebenen Schwellenphase. In dieser Phase befinden sich die Teilnehmer ausserhalb der sozialen, der räumlichen und zeitlichen Ordnungen. In dieser Phase ist Communitas (Turner bevorzugt das lateinische Wort für Gemeinschaft) auf der Basis einer situativ bedingten Gleichheit möglich: «Wir werden in solchen Riten mit einem ‹Augenblick in und ausserhalb der Zeit›, in und ausserhalb der weltlichen Sozialstruktur konfrontiert [...].» (Turner 2005, 96) Victor Turner wendet sein Modell auch auf gesellschaftliche Umbruchzeiten wie die 68er-Bewegung und auf Kunstformen wie beispielsweise das Theater an. Mit diesen Grenzüberschreitungen machte er sich logischerweise wissenschaftlich angreifbar. Auf eines verweist dieses Konzept aber unbestritten: Rituale sind gesellschaftliche Konstruktionen, um Gemeinschaften zu erzeugen – sie sind zeitlich und räumlich begrenzt. In ihrer Anti-Struktur liegt das Potenzial der Veränderung. Jede Gesellschaft ist auf diese Anti-Struktur als

Motor der Entwicklung, als Reflexion und als Sinnstiftung angewiesen. Die Beziehung bleibt jedoch ambivalent – aus Angst vor dem Sprengpotenzial. Jetzt Gemeinschaft! Es kann nur alle geben. Gemeinschaften als Netzwerke gegenseitiger Verpflichtung und als Bewirtschafter gemeinsamer Güter lassen sich nicht auf Befehl errichten, sie lassen sich nicht instrumentalisieren. Im «Jetzt» liegt nicht der Aufruf, eine Gemeinschaft zu bilden. Im «Jetzt» wird der Aufruf formuliert, «Gemeinschaften» zu beobachten. Jetzt, weil sich die Gesellschaften in einem Umbruch befinden. Jetzt, weil sich neue Formen der Arbeit, der Freizeit, der Bildung entwickeln. Jetzt, weil diese Formen von mehr Kooperation gezeichnet sind. Jetzt, weil das gemeinsame Dritte und der Umgang mit diesen Gemeingütern an Bedeutung gewinnt. Jetzt, weil sich hier gestaltbare Räume öffnen – und um die Gestaltung von sozialen Situationen in Arbeit, Bildung und Freizeit geht es in unserem Institut. Nachspann 18. April 2013, Archiv der Sammlung für südamerikanische Kunst des Ethnologischen Museums Dahlem, Berlin. Wir stehen vor einem Archivschrank. Die Konservatorin öffnet eine schmale Schublade. Darin befindet sich ein schwer zu beschreibendes Geflecht von Schnüren. An einer Hauptschnur ist eine Vielzahl von Einzelschnüren angebracht. In jeder dieser Schnüre befindet sich eine Anzahl von Knoten. Es handelt sich um eine sogenannte Quipu. Die genaue Entschlüsselung der Bedeutung dieser Quipus ist bis heute nicht möglich. Mit Sicherheit handelt es sich um ein System zur Erfassung von statistischen Angaben von Einwohnern, Tieren oder Lagerbeständen. Ich stelle ein Frage: «Könnte es sich um eine Art Vertrag handeln, ähnlich den Tesseln im Alpenraum? Jeder Knoten schreibt eine bestimmte Menge an Vorrat einer bestimmten Familie oder Person zu?» Die Antwort: «Mit Sicherheit nicht. In diesen lateinamerikanischen Gesellschaften gab es keinen zu uns vergleichbaren Privatbesitz.» Max Spielmann

Literatur Bortsman, Rachel: What’s Mine is Yours: The Rise of Collaborative Consumption. London, 2011. Brandeins, Ausgabe 05/2013: Greif zu. Warum Teilen und Tauschen die Wirtschaft voran bringen. Hamburg, 2013. Esposito, Roberto: Communitas. Berlin, 2004a. Esposito, Roberto: Immunitas. Berlin, 2004b. Frick, Karin; Hauser, Mirjam; Gürtler, Detlef: Sharity. Die Zukunft des Teilens. GDI Rüschlikon/Zürich, 2013. Gansky, Lisa: The Mesh: Why the Future of Business Is Sharing. New York, 2010. Graeber, David: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Stuttgart, 2012. Hardin, Garrett: The Tragedy of the Commons. Science 162, 1968, S.1243 –1248. Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften. Frankfurt a. M., 1990. Ostrom, Elinor: Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action. Cambridge 1990 (deutsch: Die Verfassung der Allmende. Tübingen, 1999.) Rifkin, Jeremy: Access – Das Verschwinden des Eigentums: Warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden. Frankfurt a. M., 2007. Sennett, Richard: Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. München, 2012. Share, Ausgabe Juli 2013, Burda Journalistenschule in Zusammenarbeit mit der SUPERillu Verlag GmbH & Co. KG. Berlin, 2013. Turner, Viktor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a. M., 2005. van Gennep, Arnold: Übergangsriten. Frankfurt a. M., 2005.


Romeo und Julia in Kleinbasel 61 Diplom Hakan Cavdar

Durch Video und Theater werden etwa 20 Kinder und Jugendliche aus der Plattenbausiedlung Klybeck Mitte in Kleinbasel für die Konfliktsituationen in ihrem Lebensraum sensibilisiert. Romeo und Julia von William Shakespeare ist die Grundlage für Inszenierungen vor Kamera und Publikum. Von Mai bis September 2013 finden zwei- bis dreimal wöchentlich Theater-Video-Workshops statt, in denen die TeilnehmerInnen sich in den Rollen des Stücks üben können und sich mit Themen wie Emotionen, Gewalt, Littering, Mobbing, Ausgrenzung, Vorurteilen, spielerisch und im Gespräch auseinandersetzen. Mitte September findet eine Videoperformance statt. Kontext – In meiner Diplomarbeit KinoVelo geht es darum, für Kinder und Jugendliche ihr eigenes kreatives Potenzial erlebbar zu machen und ihrem Lebensraum sowie den Gemeinschaften, in denen sie sich bewegen, ein neues und positives Gesicht zu geben. Im Quartierraum Kleinhüningen hat die Inselsiedlung keinen guten Ruf. Um dem entgegenzuwirken, sollen den Jugendlichen durch kreatives Arbeiten Reflexionen eröffnet und den Nachbarn ein positiver Einblick ermöglicht werden. Inhalt – Das Hauptanliegen meiner Arbeit besteht darin, die Jugendlichen für die Arbeit mit Video zu interessieren und die Geschichte von Romeo und Julia gemeinsam mit meinem Projektpartner Davide Maniscalco der Situation in der Siedlung anzupassen, das Stück also neu zu interpretieren. Das von mir entwickelte KinoVelo, ein mit Aufnahmetechniken ausgestattetes Fahrrad, ist Teil dieses Projekts. Es ist Motivationsmittel für die Kids und zugleich Werbemobil für die Aufführung im September. Ausserdem soll es in der Geschichte von Romeo und Julia eine «Rolle» übernehmen: als Erfindung von Romeo anstelle des Pferdes in der Stückvorlage. Produkt – Am 25. September 2013 gibt es eine Aufführung im Hof der Siedlung. Die Idee ist, den von Balkonen umgebenen Hofraum zu nutzen und somit den Ort der Uraufführung von Romeo und Julia im Globe Theatre in London zu zitieren. Eine hölzerne Bühne, die an das Volkstümliche und die Lebendigkeit

des Globe Theatre erinnert, unterstreicht dieses Zitat. Weiterhin ist die Produktion einer DVD geplant, die sowohl ein Souvenir als auch eine Dokumentation unseres Integrationsprojekts ist, das vielleicht ein Modell für weitere Projekte in solchen Konfliktzonen sein kann. Gemeinschaft – In der Siedlung Klybeck Mitte leben 600 Anwohner auf engstem Raum. Ein Teil lebt einfach aneinander vorbei. Aber es gibt auch solche, die schon jetzt das Zusammenleben von Familien und Freunden zuhause und im Innenhof pflegen. Andere werden ignoriert und ausgegrenzt. Mit diesem Projekt soll den Anwohnern gezeigt werden, wie wichtig Kooperation und Zusammenhalt sind und dass sie nur gemeinsam konstruktive Lösungsansätze für das friedliche und tolerante Zusammenleben in einer Wohngemeinschaft‘ finden können. Coaches – Regine Halter, Alex Silber Kontakt – hakan.cavdar@hyperwerk.ch Team und Dank – Davide Maniscalco (Worldshop Basel), Billie Grether (courvoisier StadtentwicklungsBüro), Hicham Bani (Videoassistenz), Nicholaus Schaffner (Worldshop Basel), Daniel Gaudey (HyperWerk), Ralf Neubauer (HyperWerk), Kerim Chebbah (Goodfeeling, Bikes &Trends), Josh Geisser (HyperWerk), Michel Winterberg (HyperWerk).


Romeo und Julia in Kleinbasel 61 Diplom Hakan Cavdar

Durch Video und Theater werden etwa 20 Kinder und Jugendliche aus der Plattenbausiedlung Klybeck Mitte in Kleinbasel für die Konfliktsituationen in ihrem Lebensraum sensibilisiert. Romeo und Julia von William Shakespeare ist die Grundlage für Inszenierungen vor Kamera und Publikum. Von Mai bis September 2013 finden zwei- bis dreimal wöchentlich Theater-Video-Workshops statt, in denen die TeilnehmerInnen sich in den Rollen des Stücks üben können und sich mit Themen wie Emotionen, Gewalt, Littering, Mobbing, Ausgrenzung, Vorurteilen, spielerisch und im Gespräch auseinandersetzen. Mitte September findet eine Videoperformance statt. Kontext – In meiner Diplomarbeit KinoVelo geht es darum, für Kinder und Jugendliche ihr eigenes kreatives Potenzial erlebbar zu machen und ihrem Lebensraum sowie den Gemeinschaften, in denen sie sich bewegen, ein neues und positives Gesicht zu geben. Im Quartierraum Kleinhüningen hat die Inselsiedlung keinen guten Ruf. Um dem entgegenzuwirken, sollen den Jugendlichen durch kreatives Arbeiten Reflexionen eröffnet und den Nachbarn ein positiver Einblick ermöglicht werden. Inhalt – Das Hauptanliegen meiner Arbeit besteht darin, die Jugendlichen für die Arbeit mit Video zu interessieren und die Geschichte von Romeo und Julia gemeinsam mit meinem Projektpartner Davide Maniscalco der Situation in der Siedlung anzupassen, das Stück also neu zu interpretieren. Das von mir entwickelte KinoVelo, ein mit Aufnahmetechniken ausgestattetes Fahrrad, ist Teil dieses Projekts. Es ist Motivationsmittel für die Kids und zugleich Werbemobil für die Aufführung im September. Ausserdem soll es in der Geschichte von Romeo und Julia eine «Rolle» übernehmen: als Erfindung von Romeo anstelle des Pferdes in der Stückvorlage. Produkt – Am 25. September 2013 gibt es eine Aufführung im Hof der Siedlung. Die Idee ist, den von Balkonen umgebenen Hofraum zu nutzen und somit den Ort der Uraufführung von Romeo und Julia im Globe Theatre in London zu zitieren. Eine hölzerne Bühne, die an das Volkstümliche und die Lebendigkeit

des Globe Theatre erinnert, unterstreicht dieses Zitat. Weiterhin ist die Produktion einer DVD geplant, die sowohl ein Souvenir als auch eine Dokumentation unseres Integrationsprojekts ist, das vielleicht ein Modell für weitere Projekte in solchen Konfliktzonen sein kann. Gemeinschaft – In der Siedlung Klybeck Mitte leben 600 Anwohner auf engstem Raum. Ein Teil lebt einfach aneinander vorbei. Aber es gibt auch solche, die schon jetzt das Zusammenleben von Familien und Freunden zuhause und im Innenhof pflegen. Andere werden ignoriert und ausgegrenzt. Mit diesem Projekt soll den Anwohnern gezeigt werden, wie wichtig Kooperation und Zusammenhalt sind und dass sie nur gemeinsam konstruktive Lösungsansätze für das friedliche und tolerante Zusammenleben in einer Wohngemeinschaft‘ finden können. Coaches – Regine Halter, Alex Silber Kontakt – hakan.cavdar@hyperwerk.ch Team und Dank – Davide Maniscalco (Worldshop Basel), Billie Grether (courvoisier StadtentwicklungsBüro), Hicham Bani (Videoassistenz), Nicholaus Schaffner (Worldshop Basel), Daniel Gaudey (HyperWerk), Ralf Neubauer (HyperWerk), Kerim Chebbah (Goodfeeling, Bikes &Trends), Josh Geisser (HyperWerk), Michel Winterberg (HyperWerk).


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Spickzettel einer jungen Teilnehmerin des Workshops Romeo und Julia. Die Textsstelle stammt aus der zweiten Szene des zweiten Aktes (Capulets Garten) von Romeo und Julia von William Shakespeare (1564 – 1616): «JULIA: O Romeo! Warum denn Romeo? Verleugne deinen Vater, deinen Namen! Willst du das nicht, schwör dich zu meinem Liebsten, und ich bin länger keine Capulet!» Übersetzung von August Willhelm Schlegel (1797), entnommen dem Projekt Gutenberg (gutenberg.spiegel.de/buch/2188/1)

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Spickzettel einer jungen Teilnehmerin des Workshops Romeo und Julia. Die Textsstelle stammt aus der zweiten Szene des zweiten Aktes (Capulets Garten) von Romeo und Julia von William Shakespeare (1564 – 1616): «JULIA: O Romeo! Warum denn Romeo? Verleugne deinen Vater, deinen Namen! Willst du das nicht, schwör dich zu meinem Liebsten, und ich bin länger keine Capulet!» Übersetzung von August Willhelm Schlegel (1797), entnommen dem Projekt Gutenberg (gutenberg.spiegel.de/buch/2188/1)

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63 Wir waren da


63 Wir waren da


Das Studienjahr beginnt Ende September 2012 mit einer Reise. Wir starten am Flughafen Basel. Zuerst geht es nach Thessaloniki im nordöstlichen Griechenland. Dort stellen wir Kollektiven, Künstlern, Hausbesetzern, Studenten und Professoren, aber auch Gärtnerinnen und Stadtführern Fragen, wie sie sich in Zeiten der Krise organisieren. Wie so ein Alltag ausschaut. Und hören zu. Und staunen. Über unzählige Graffiti, Bilder der Nacht. Am Tag: Fische am Marktstand. Nach einer Woche geht es weiter, auf dem Landweg nach Istanbul: eine pulsierende Metropole, die niemals schläft. Europa und Asien in einem, Schmelztiegel und «Stadt der Gier». Hier treffen wir den Pressesprecher des griechisch-orthodoxen Patriarchen, besuchen Jazzclubs, lassen uns von einer Soziologiestudentin das vom Abriss bedrohte Viertel Tarlabasi zeigen. Wir schreiben, filmen, fotografieren und setzen Stück für Stück zu einer Erfahrungsstrecke zusammen. Ob Webradio, Subkulturen, Sufis, Fussballfans, Joghurtverkäufer oder Fischer am Bosporus. Wir haben ihnen auf den Zahn gefühlt, wir waren da. (http://gemeinschaft.hyperwerk.ch/studienreise/)


Das Studienjahr beginnt Ende September 2012 mit einer Reise. Wir starten am Flughafen Basel. Zuerst geht es nach Thessaloniki im nordöstlichen Griechenland. Dort stellen wir Kollektiven, Künstlern, Hausbesetzern, Studenten und Professoren, aber auch Gärtnerinnen und Stadtführern Fragen, wie sie sich in Zeiten der Krise organisieren. Wie so ein Alltag ausschaut. Und hören zu. Und staunen. Über unzählige Graffiti, Bilder der Nacht. Am Tag: Fische am Marktstand. Nach einer Woche geht es weiter, auf dem Landweg nach Istanbul: eine pulsierende Metropole, die niemals schläft. Europa und Asien in einem, Schmelztiegel und «Stadt der Gier». Hier treffen wir den Pressesprecher des griechisch-orthodoxen Patriarchen, besuchen Jazzclubs, lassen uns von einer Soziologiestudentin das vom Abriss bedrohte Viertel Tarlabasi zeigen. Wir schreiben, filmen, fotografieren und setzen Stück für Stück zu einer Erfahrungsstrecke zusammen. Ob Webradio, Subkulturen, Sufis, Fussballfans, Joghurtverkäufer oder Fischer am Bosporus. Wir haben ihnen auf den Zahn gefühlt, wir waren da. (http://gemeinschaft.hyperwerk.ch/studienreise/)


φῶς

Mit dieser Diplomarbeit möchte ich eine Information für alle bereitstellen, die sich mit dem Thema Blindheit beschäftigen oder beschäftigen möchten. Ich benutze verschiedene Medien, um das Thema Tastschriften für Blinde und Sehende zu erklären.

[pho:s] Licht Diplom Daniel Gaudey

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Produkt – Dieses Projekt φῶς umfasst zwei Umsetzungen, die eine digital, die andere «analog»: einen 3D-Kurzfilm, der sowohl exprimentell als auch dokumentarisch ist, und den Prototypen einer haptischvisuellen Printpublikation. Warum ein Film in 3D über die Tastschriften? Wegen des geplanten Audiokommentars, und um die Neugier der Sehenden zu wecken. Warum der Prototyp einer Publikation? Wegen des experimentellen Charakters der Arbeit – und aus Kostengründen. Der Prototyp wird für die «Tastenden» oder «Berührenden» als ReInhalt – In meiner Recherche zum «Land der Blinden» lief siebgedruckt; für die «Sehenden» phosphoresziert bin ich dann Christine Cloux begegnet. Sie ist von das Relief auch noch. Geburt an blind. Diese Begegnung war fruchtbar für meine gesamte Weltsicht: Ich lernte eine neue Termi- Gemeinschaft – Ein ferneres Ziel dieses Projekts ist, nologie, gewann neue Vorstellungen von Sinneswahr- den Bibliotheken für Blinde und Sehbehinderte eine nehmung im Allgemeinen und von der Subtilität des taktile Arbeit zur Geschichte der Tastschriftsysteme Tastsinnes im Besonderen, betrat eine neue Dimen- zu bieten, die aber auch interessierten Sehenden zusion der »Wahrnehmung von Massen». Darüber hinaus gänglich ist. Eine Arbeit, wie ich sie gerne während erzählte mir Christine von neuen digitalen Anwendun- meiner Recherchen gefunden hätte. gen für Blinde und Sehbehinderte; aber auch, dass Ich möchte in dieses Thema, das für mich eine faszisie immer einen Zettelblock und ihren Pfriem dabei- nierende Entdeckung ist, einführen und es in ansprehabe und dass diese analogen Werkzeuge genau dann chender Form präsentieren. Hoffentlich für alle. ihre ganze Bedeutung wiedergewännen, wenn die Akkus wieder einmal ganz leer seien und sie somit Coach – Regine Halter keinen Strom mehr habe. Nach verschieden Recherchen, Analysen und Refle- Kontakt – daniel.gaudey@hyperwerk.ch xionen richtete sich meine Aufmerksamkeit auf die für Blinde und Sehbehinderte entwickelten Lese- und Team und Dank – Ich möchte dem gesamten HyperSchreibsysteme, die oft kaum bekannt sind. Mein Pro- Werk danken für diese drei Jahre. Ein spezieller Dank jekt besteht darin, die wichtigsten Blindenschriftsys- geht an mein fabelhaftes Kernteam: Regine Halter, teme seit Francesco Lana Terzi bis hin zu Louis Braille Ralf Neubauer, Hakan Cavdar, Gaspard Weissheimer und Johanna Mehrtens. Ebenso an Christine Cloux zu beleuchten. und Noëlle Roy. Kontext – Durch Zufall bin ich am Anfang meines Designstudiums einer blinden Person begegnet und habe mich in der Folge mit dem Zusammenhang zwischen Design beziehungsweise Gestaltung und dem Sehsinn beschäftigt. Der Titel des Projekts – φῶς – ist aus mehreren Gründen ein griechisches Wort; vor allem soll er auf einen Satz von Helen Keller Bezug nehmen: «Wenn die Violine das perfekte Musikinstrument ist, dann ist das Griechische die Violine des menschlichen Denkens.»


φῶς

Mit dieser Diplomarbeit möchte ich eine Information für alle bereitstellen, die sich mit dem Thema Blindheit beschäftigen oder beschäftigen möchten. Ich benutze verschiedene Medien, um das Thema Tastschriften für Blinde und Sehende zu erklären.

[pho:s] Licht Diplom Daniel Gaudey

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Produkt – Dieses Projekt φῶς umfasst zwei Umsetzungen, die eine digital, die andere «analog»: einen 3D-Kurzfilm, der sowohl exprimentell als auch dokumentarisch ist, und den Prototypen einer haptischvisuellen Printpublikation. Warum ein Film in 3D über die Tastschriften? Wegen des geplanten Audiokommentars, und um die Neugier der Sehenden zu wecken. Warum der Prototyp einer Publikation? Wegen des experimentellen Charakters der Arbeit – und aus Kostengründen. Der Prototyp wird für die «Tastenden» oder «Berührenden» als ReInhalt – In meiner Recherche zum «Land der Blinden» lief siebgedruckt; für die «Sehenden» phosphoresziert bin ich dann Christine Cloux begegnet. Sie ist von das Relief auch noch. Geburt an blind. Diese Begegnung war fruchtbar für meine gesamte Weltsicht: Ich lernte eine neue Termi- Gemeinschaft – Ein ferneres Ziel dieses Projekts ist, nologie, gewann neue Vorstellungen von Sinneswahr- den Bibliotheken für Blinde und Sehbehinderte eine nehmung im Allgemeinen und von der Subtilität des taktile Arbeit zur Geschichte der Tastschriftsysteme Tastsinnes im Besonderen, betrat eine neue Dimen- zu bieten, die aber auch interessierten Sehenden zusion der »Wahrnehmung von Massen». Darüber hinaus gänglich ist. Eine Arbeit, wie ich sie gerne während erzählte mir Christine von neuen digitalen Anwendun- meiner Recherchen gefunden hätte. gen für Blinde und Sehbehinderte; aber auch, dass Ich möchte in dieses Thema, das für mich eine faszisie immer einen Zettelblock und ihren Pfriem dabei- nierende Entdeckung ist, einführen und es in ansprehabe und dass diese analogen Werkzeuge genau dann chender Form präsentieren. Hoffentlich für alle. ihre ganze Bedeutung wiedergewännen, wenn die Akkus wieder einmal ganz leer seien und sie somit Coach – Regine Halter keinen Strom mehr habe. Nach verschieden Recherchen, Analysen und Refle- Kontakt – daniel.gaudey@hyperwerk.ch xionen richtete sich meine Aufmerksamkeit auf die für Blinde und Sehbehinderte entwickelten Lese- und Team und Dank – Ich möchte dem gesamten HyperSchreibsysteme, die oft kaum bekannt sind. Mein Pro- Werk danken für diese drei Jahre. Ein spezieller Dank jekt besteht darin, die wichtigsten Blindenschriftsys- geht an mein fabelhaftes Kernteam: Regine Halter, teme seit Francesco Lana Terzi bis hin zu Louis Braille Ralf Neubauer, Hakan Cavdar, Gaspard Weissheimer und Johanna Mehrtens. Ebenso an Christine Cloux zu beleuchten. und Noëlle Roy. Kontext – Durch Zufall bin ich am Anfang meines Designstudiums einer blinden Person begegnet und habe mich in der Folge mit dem Zusammenhang zwischen Design beziehungsweise Gestaltung und dem Sehsinn beschäftigt. Der Titel des Projekts – φῶς – ist aus mehreren Gründen ein griechisches Wort; vor allem soll er auf einen Satz von Helen Keller Bezug nehmen: «Wenn die Violine das perfekte Musikinstrument ist, dann ist das Griechische die Violine des menschlichen Denkens.»


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(nicht) dabei 1. Fanzine Ein Jahr haben sich das HyperWerk und seine treue Gefolgschaft am Jahresthema Jetzt Gemeinschaft! abgearbeitet. Dass das Ergebnis dieser Plackerei nun in einem Fanzine vorgelegt wird, ist sehr sinnig! Ein Fanzine – das muss man den jungen Menschen von heute ja erklären – ist nämlich das gemeinschaftlichste Gemeinschaftsmedium überhaupt – ein Magazin, geschrieben ausschließlich von Fans für Fans. Und es ist sehr traurig, dass das Genre des Fanzines – des wahren, wirklichen Fanzines – nicht mehr existiert.* Es scheint, dass mit ihm eine Form von Gemeinschaft verschwunden ist, die, gäbe es sie noch, so manchem jungen Menschen ein festes Zentrum für das Denken und Schaffen geben könnte. Ganz zu schweigen von den Möglichkeiten, andere Menschen kennen / lieben / hassen zu lernen. Die meisten Fanzines sind untergegangen – aber nicht ohne Spuren zu hinterlassen. Sie sind zwar im allgemeinen Mediensumpf verschwunden, haben aber dort ihre Blüten getrieben. Dazu zwei österreichische Beispiele: Der Gürtel, ein «hingeschissenes aber lässiges Musik-Fanzine» (Zitat Herbie Molin)

wurde zum Gutteil von einem Oberösterreicher names Christian Schachinger geschrieben – der im Übrigen auch das Chelsea-Chronicle mit Texten ausgestattet hat, ein rührend liebevoll gebasteltes Wiener Fanzine. Schachinger ist von der seriösen Tagespresse als Kulturredakteur – wie man in Österreich sagt – «aufgeschnupft» worden und ist inzwischen ein staatstragender PopJournalist, der mit seinem sehr spezifischen Wiener Stil der Rockmusik-Kritik Schule gemacht hat. Der Gürtel ist verschwunden – aber etliche seiner Attitüden und Manierismen leben weiter. Ein anderes Wiener Fanzine der Achtzigerjahre war eine aberwitzige Publikation mit dem Namen Die Amerikanische Krankenhauszeitung, ein hektografiertes Text-BildDurcheinander aus gekrakelten Witzzeichnungen und genialen Textwüsten. Es handelte sich hier um das Projekt eines Norddeutschen, der, nach Österreich ausgewandert, unter dem Namen Tex Rubinowitz zu einigem Ruhm gefunden hat. Die Amerikanische Krankenhauszeitung war ganz durchdrungen von der Privatleidenschaft ihrer Gestalter für obskurante und zugleich blitzhelle Geschichten. Nachdem einiges davon in die Welt gebracht worden war, schien die Sache in dieser Form

Das österreichischen Fanzine monochrom als luxuriös gedruckte Memorabila-Ausgabe – die gleichnamige Künstlergruppe publiziert seit Jahren im Web (www.monochrom.at), pflegt aber gelegentlich ihre Tradition als Printmedium.

66 erledigt. Zurückgeblieben sind legendenhafte Erinnerung und eine eigenartig komische Erzählakrobatik, die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten das österreichische Humorparadigma in Film, Funk und Print nachhaltig verändert hat. Diese Beispiele sollen uns auf den Gedanken vorbereiten, dass der Tod eines Fanzines eine seiner wichtigsten Bestimmungen ist. Fanzines sind wahrscheinlich Zwischenstationen von Lebensleidenschaften. Dass ihr endloses Weiterleben unnatürlich wäre und nur in eine zombiehaft untote Exitstenzform münden kann, zeigt das Schicksal eines Wiener Diskurspop-Heftchens, das ich hier nicht mit Namen nennen will (ich fürchte unangenehme Begegnungen mit den Betreibern, allesamt Generationskollegen und Mitglieder meiner peer group). Dieses inzwischen ganz ordentlich subventionierte seriöse Medienprodukt – ja, man kann es tatsächlich so nennen – bezeichnet sich seit fast 25 Jahren als Fanzine und produziert mit gusseiserner Unbeirrbarkeit Urteile zu allem Möglichen – hauptsächlich aber zu Musik. Bei der Lektüre hat man das Gefühl, eine Zeitkapsel aus den frühen Achzigerjahren zu öffnen – aber leider befindet sich darin nur je eine Musikkassette mit Abba (Mainstream) und

den Sex Pistols (Dissidenz) sowie eine Unterstützungserklärung des Bundes Sozialdemokratischer Akademiker zur Wiederwahl von Bürgermeister Leopold Gratz («Wien braucht die Donauinsel»). Popdiskurs-Fanzines dürften überhaupt ein sozialdemokratisches Kulturkampfmittel par excellence sein. Wie oft in der SPÖ-Kulturpolitik tun sie basisnah, aber schmecken trotzdem irgendwie nach Uni-Seminar. In Wirklichkeit sind sie weder bei den Menschen noch haben sie akademische Reputation. Eine Zeit lang waren sie sehr modern – damals, als Diedrich Diederichsen noch für Spex schrieb und junge Männer fanden, eine Existenz als Bleistift-Rocker sei mindestens so sexy wie jene als Leadgitarrist. Als dieser grundlegende Irrtum durchschaut war, war auch das Ende des Genres absehbar. Aber seit damals existiert eine Überlegenheitspose der Aneignung, oft herablassend, auch – und vor allem – wenn gelobt wird (eine besonders hinterhältige Finte). Schliesslich wurde mir klar, warum dieses Theorie-Posing bei mir Widerstand auslöst: Es zeigt, wie ich hätte enden können! Ich habe – früher, vor langer Zeit – versucht, genau so zu klingen (irgendwann hat´s mir meine Frau dann verboten). So hat auch jenes Fanzine-Überlebenswunder seine Bestimmung: Es demonstriert an sich selbst die Bitterkeit des erschöpften Einfalls, der verbrauchten Pointe, die nicht verschwinden darf. Nur der Tod bringt hier Erlösung. Was aber macht ein Fanzine aus? Im Folgenden eine Liste: Das Fanzine ist ein Medium der Begeisterung, der Hingabe, der Vorbehaltlosigkeit. Es ist ungeniert, egoistisch und herrisch. Seine erste Ausssage: Ich, Ich, Ich – dann: Wir,

Wir, Wir – und schließlich (hingespuckt): die Anderen. Es besteht keine Verpflichtung zu Seriosität und Wahrheit – es gibt ja die höhere Wahrheit, der auch mit tausend Irrtümern gedient werden darf. Auch Vorurteil ist Wissen – solange es Kenntnisreichtum die Sache betreffend zumindest suggeriert. Unverzichtbar: das Beziehungsvolle, Hermetische, der Code – die Liturgie, die Predigt und der Zungenschlag. Dann: das name dropping – der Name des Berühmten und Bedeutenden auf gleicher Ebene wie der Name des Unbekannten, aber Eingeweihten. («Wer zum Teufel ist Herbie Molin?») Die stilistische Extravaganz, die unverschämte Pose, der ganz eigene Sprachschwung, der endlich alle Eingeweihten erfasst und schließlich in veräußerlichte Formen des Alltäglichen mündet. Zuletzt: Alle, die mit Fanzines zu tun haben, die Schreiber ebenso wie die Leser, sind aufs Engste aneinander gebunden. Dies hat zwar meist mit der Sache zu tun, aber auch mit charismatischen Vorgängen, mit Mythomanien und Stammesgründungen. Viele dieser Bindungen entstehen ganz direkt: Fanzines werden von ihren Verfassern nicht nur geschrieben, gelayoutet, vervielfältigt – sie werden von ihnen auch persönlich verkauft. Der Kauf eines Fanzines kann Leidenschaften entfesseln und Lebensfreundschaften begründen. Die alten Helden aus der Blütezeit des Fanzines sind inzwischen in den traditionellen Medien gelandet. Ihr Erbe haben die Blogger und die Betreiber anderer Formen sozialer Medien angetreten. Sie müssen, dank Internet, nicht mehr die Mühsale der materiellen

Vervielfältigung und Verteilung auf sich nehmen. Um diese Medien herum entwickeln sich recht ausdifferenzierte Ökonomien und Distinktionsformen, die so etwas wie einen Professionalisierungseffekt mit sich gebracht haben: Die Dinge schauen heutzutage grafisch ausgereift und angenehm aus – aber dies vielleicht auch auf Kosten des heiligen Wahnsinns, der die Fanzines historischer Zeiten oft durchweht hat. Es gibt aber noch unentwegte PrintAbenteurer, die seit bald 20 Jahren ihre Fanzines publizieren. Die Wiener monochrom etwa, die als Fanzine-Herausgeber des gleichnamigen Magazins Mitte der Neunzigerjahre begonnen hat und inzwischen auf Festivals in aller Welt vertreten ist, leistet sich alle paar Jahre den nostalgischen Luxus eines High-End-Fanzine von mehreren Hundert Seiten in der Ästhetik der frühen Jahre und verkauft die Elaborate als bibliophile Spezialität in Edelgebinden – noblesse oblige. Näher am alten Geist sind manche Internet-Foren und Blogs, besonders über kleinteilig spezialisierte Themen, die ihrer Sache obsessiv dienen. Darunter eine Kuriosität, die mir vor einiger Zeit untergekommen ist: ein rührender Blog über antike Reiseschreibmaschinen, ein verblüffender Hybrid aus authentisch Analogem und technisch Vernünftigem. Die Autorin, eine Amerikanerin, die in Genf lebt, tippt ihre Beiträge mit Vorliebe auf einer alten Remington Portable und postet dann das gescannte Faksimile (www.retrotechgeneva.com/2013_02_01_ archive.html). * bzw. nur noch in Form hypertropher Medienkonstrukte mit doppelten Böden (ja, liebes HyperWerk – ihr seid durchschaut…)


(nicht) dabei 1. Fanzine Ein Jahr haben sich das HyperWerk und seine treue Gefolgschaft am Jahresthema Jetzt Gemeinschaft! abgearbeitet. Dass das Ergebnis dieser Plackerei nun in einem Fanzine vorgelegt wird, ist sehr sinnig! Ein Fanzine – das muss man den jungen Menschen von heute ja erklären – ist nämlich das gemeinschaftlichste Gemeinschaftsmedium überhaupt – ein Magazin, geschrieben ausschließlich von Fans für Fans. Und es ist sehr traurig, dass das Genre des Fanzines – des wahren, wirklichen Fanzines – nicht mehr existiert.* Es scheint, dass mit ihm eine Form von Gemeinschaft verschwunden ist, die, gäbe es sie noch, so manchem jungen Menschen ein festes Zentrum für das Denken und Schaffen geben könnte. Ganz zu schweigen von den Möglichkeiten, andere Menschen kennen / lieben / hassen zu lernen. Die meisten Fanzines sind untergegangen – aber nicht ohne Spuren zu hinterlassen. Sie sind zwar im allgemeinen Mediensumpf verschwunden, haben aber dort ihre Blüten getrieben. Dazu zwei österreichische Beispiele: Der Gürtel, ein «hingeschissenes aber lässiges Musik-Fanzine» (Zitat Herbie Molin)

wurde zum Gutteil von einem Oberösterreicher names Christian Schachinger geschrieben – der im Übrigen auch das Chelsea-Chronicle mit Texten ausgestattet hat, ein rührend liebevoll gebasteltes Wiener Fanzine. Schachinger ist von der seriösen Tagespresse als Kulturredakteur – wie man in Österreich sagt – «aufgeschnupft» worden und ist inzwischen ein staatstragender PopJournalist, der mit seinem sehr spezifischen Wiener Stil der Rockmusik-Kritik Schule gemacht hat. Der Gürtel ist verschwunden – aber etliche seiner Attitüden und Manierismen leben weiter. Ein anderes Wiener Fanzine der Achtzigerjahre war eine aberwitzige Publikation mit dem Namen Die Amerikanische Krankenhauszeitung, ein hektografiertes Text-BildDurcheinander aus gekrakelten Witzzeichnungen und genialen Textwüsten. Es handelte sich hier um das Projekt eines Norddeutschen, der, nach Österreich ausgewandert, unter dem Namen Tex Rubinowitz zu einigem Ruhm gefunden hat. Die Amerikanische Krankenhauszeitung war ganz durchdrungen von der Privatleidenschaft ihrer Gestalter für obskurante und zugleich blitzhelle Geschichten. Nachdem einiges davon in die Welt gebracht worden war, schien die Sache in dieser Form

Das österreichischen Fanzine monochrom als luxuriös gedruckte Memorabila-Ausgabe – die gleichnamige Künstlergruppe publiziert seit Jahren im Web (www.monochrom.at), pflegt aber gelegentlich ihre Tradition als Printmedium.

66 erledigt. Zurückgeblieben sind legendenhafte Erinnerung und eine eigenartig komische Erzählakrobatik, die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten das österreichische Humorparadigma in Film, Funk und Print nachhaltig verändert hat. Diese Beispiele sollen uns auf den Gedanken vorbereiten, dass der Tod eines Fanzines eine seiner wichtigsten Bestimmungen ist. Fanzines sind wahrscheinlich Zwischenstationen von Lebensleidenschaften. Dass ihr endloses Weiterleben unnatürlich wäre und nur in eine zombiehaft untote Exitstenzform münden kann, zeigt das Schicksal eines Wiener Diskurspop-Heftchens, das ich hier nicht mit Namen nennen will (ich fürchte unangenehme Begegnungen mit den Betreibern, allesamt Generationskollegen und Mitglieder meiner peer group). Dieses inzwischen ganz ordentlich subventionierte seriöse Medienprodukt – ja, man kann es tatsächlich so nennen – bezeichnet sich seit fast 25 Jahren als Fanzine und produziert mit gusseiserner Unbeirrbarkeit Urteile zu allem Möglichen – hauptsächlich aber zu Musik. Bei der Lektüre hat man das Gefühl, eine Zeitkapsel aus den frühen Achzigerjahren zu öffnen – aber leider befindet sich darin nur je eine Musikkassette mit Abba (Mainstream) und

den Sex Pistols (Dissidenz) sowie eine Unterstützungserklärung des Bundes Sozialdemokratischer Akademiker zur Wiederwahl von Bürgermeister Leopold Gratz («Wien braucht die Donauinsel»). Popdiskurs-Fanzines dürften überhaupt ein sozialdemokratisches Kulturkampfmittel par excellence sein. Wie oft in der SPÖ-Kulturpolitik tun sie basisnah, aber schmecken trotzdem irgendwie nach Uni-Seminar. In Wirklichkeit sind sie weder bei den Menschen noch haben sie akademische Reputation. Eine Zeit lang waren sie sehr modern – damals, als Diedrich Diederichsen noch für Spex schrieb und junge Männer fanden, eine Existenz als Bleistift-Rocker sei mindestens so sexy wie jene als Leadgitarrist. Als dieser grundlegende Irrtum durchschaut war, war auch das Ende des Genres absehbar. Aber seit damals existiert eine Überlegenheitspose der Aneignung, oft herablassend, auch – und vor allem – wenn gelobt wird (eine besonders hinterhältige Finte). Schliesslich wurde mir klar, warum dieses Theorie-Posing bei mir Widerstand auslöst: Es zeigt, wie ich hätte enden können! Ich habe – früher, vor langer Zeit – versucht, genau so zu klingen (irgendwann hat´s mir meine Frau dann verboten). So hat auch jenes Fanzine-Überlebenswunder seine Bestimmung: Es demonstriert an sich selbst die Bitterkeit des erschöpften Einfalls, der verbrauchten Pointe, die nicht verschwinden darf. Nur der Tod bringt hier Erlösung. Was aber macht ein Fanzine aus? Im Folgenden eine Liste: Das Fanzine ist ein Medium der Begeisterung, der Hingabe, der Vorbehaltlosigkeit. Es ist ungeniert, egoistisch und herrisch. Seine erste Ausssage: Ich, Ich, Ich – dann: Wir,

Wir, Wir – und schließlich (hingespuckt): die Anderen. Es besteht keine Verpflichtung zu Seriosität und Wahrheit – es gibt ja die höhere Wahrheit, der auch mit tausend Irrtümern gedient werden darf. Auch Vorurteil ist Wissen – solange es Kenntnisreichtum die Sache betreffend zumindest suggeriert. Unverzichtbar: das Beziehungsvolle, Hermetische, der Code – die Liturgie, die Predigt und der Zungenschlag. Dann: das name dropping – der Name des Berühmten und Bedeutenden auf gleicher Ebene wie der Name des Unbekannten, aber Eingeweihten. («Wer zum Teufel ist Herbie Molin?») Die stilistische Extravaganz, die unverschämte Pose, der ganz eigene Sprachschwung, der endlich alle Eingeweihten erfasst und schließlich in veräußerlichte Formen des Alltäglichen mündet. Zuletzt: Alle, die mit Fanzines zu tun haben, die Schreiber ebenso wie die Leser, sind aufs Engste aneinander gebunden. Dies hat zwar meist mit der Sache zu tun, aber auch mit charismatischen Vorgängen, mit Mythomanien und Stammesgründungen. Viele dieser Bindungen entstehen ganz direkt: Fanzines werden von ihren Verfassern nicht nur geschrieben, gelayoutet, vervielfältigt – sie werden von ihnen auch persönlich verkauft. Der Kauf eines Fanzines kann Leidenschaften entfesseln und Lebensfreundschaften begründen. Die alten Helden aus der Blütezeit des Fanzines sind inzwischen in den traditionellen Medien gelandet. Ihr Erbe haben die Blogger und die Betreiber anderer Formen sozialer Medien angetreten. Sie müssen, dank Internet, nicht mehr die Mühsale der materiellen

Vervielfältigung und Verteilung auf sich nehmen. Um diese Medien herum entwickeln sich recht ausdifferenzierte Ökonomien und Distinktionsformen, die so etwas wie einen Professionalisierungseffekt mit sich gebracht haben: Die Dinge schauen heutzutage grafisch ausgereift und angenehm aus – aber dies vielleicht auch auf Kosten des heiligen Wahnsinns, der die Fanzines historischer Zeiten oft durchweht hat. Es gibt aber noch unentwegte PrintAbenteurer, die seit bald 20 Jahren ihre Fanzines publizieren. Die Wiener monochrom etwa, die als Fanzine-Herausgeber des gleichnamigen Magazins Mitte der Neunzigerjahre begonnen hat und inzwischen auf Festivals in aller Welt vertreten ist, leistet sich alle paar Jahre den nostalgischen Luxus eines High-End-Fanzine von mehreren Hundert Seiten in der Ästhetik der frühen Jahre und verkauft die Elaborate als bibliophile Spezialität in Edelgebinden – noblesse oblige. Näher am alten Geist sind manche Internet-Foren und Blogs, besonders über kleinteilig spezialisierte Themen, die ihrer Sache obsessiv dienen. Darunter eine Kuriosität, die mir vor einiger Zeit untergekommen ist: ein rührender Blog über antike Reiseschreibmaschinen, ein verblüffender Hybrid aus authentisch Analogem und technisch Vernünftigem. Die Autorin, eine Amerikanerin, die in Genf lebt, tippt ihre Beiträge mit Vorliebe auf einer alten Remington Portable und postet dann das gescannte Faksimile (www.retrotechgeneva.com/2013_02_01_ archive.html). * bzw. nur noch in Form hypertropher Medienkonstrukte mit doppelten Böden (ja, liebes HyperWerk – ihr seid durchschaut…)


2. Diaspora Wer meinen Namen hört, ahnt, dass ich nicht im Ur-Österreichischen wurzle. Tatsächlich hatte ich einen türkischen Vater, der in den Fünfzigerjahren nach Österreich kam und nach einigem Hin und Her bis zu seinem frühen Tod hier lebte. Meine Mutter dagegen kommt aus Deutschland – ein Flüchtlingskind, das es 1945 aus Dresden in die Steiermark verschlagen hat. Während mein kemalistischer Vater ein grundsolider Agnostiker war, hat meine Mutter als junge Frau recht flexible religiöse Vorstellungen gehabt: Nach ihrer Heirat ist sie mit deutscher Gründlichkeit Türkin geworden. Bestandteil ihrer Assimilationsanstrengung war zur großen Überraschung der angeheirateten Verwandtschaft auch ihre Konversion zum Islam – etwas, was man zuallerletzt von ihr verlangt hätte. Meine Mutter wollte aber einen Pfarrer bei der Hochzeit – eine christliche Trauung war nicht möglich, eine Trauung mit Imam dagegen schon. Als ich Mitte der Sechzigerjahre in die Schule geschickt wurde, gab es noch das morgendliche Schulgebet – gemeinsam wurde ein Vaterunser gebetet. Dabei wurde unterschieden zwischen katholischem und evangelischem Vaterunser. Beide Versionen wurden gleichzeitig aufgesagt. Da das evangelische Vaterunser am Schluss einen Satz mehr hat («Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit» etc.), waren die katholischen Schüler früher fertig und mussten warten, bis die evangelischen, unter die man mich gesteckt hatte, zum Ende gekommen waren. Dann aber mussten sich die Katholiken bekreuzigen, was den Evangelischen wiederum streng verboten war («Du darfst dich nicht bekreuzigen, du bist nicht katholisch!»). Bekreuzigen wurde dadurch sehr attraktiv, und manchmal haben sich Evangelische heimlich und hastig bekreuzigt; aber auch, um gleich viel Magie und Gebetswirksamkeit abzubekommen wie die Katholiken. Dass es viel mehr Katholiken als Protestanten gab, wurde jedes Mal deutlich, wenn der gemeinsame Teil des Vaterunser zu Ende war – da sprachen plötzlich ganz wenige dünne Stimmen in die Stille hinein. Ob ich damals religiös war? Religion war für mich schwer verständlich und etwas für Erwachsene und würde sich, wie so vieles Unverständliche, in dunkler Zukunft, wenn das mysteröse Erwachsenenleben beginnt, von selbst erschließen. Insgesamt schienen Katholiken aber mehr von ihrer Religion zu haben: Weihwasser, Weihrauch, riesige Kirchen. Ich erinnere mich an einen Schulkollegen, der ohne Bekenntnis geführt wurde. Er stand während des Gebets mit straff nach unten gestreckten Armen zwischen uns. Er hiess Löffler, war der Sohn eines Donauschiffers,

Vorzugsschüler und einer der beiden Bandenführer der Klasse, der seine Gefolgsleute täglich in die Raufereien mit der feindlichen Bande führte. Er war ein heroischer Außenseiter, auch durch das interessante Detail, nicht mitbeten zu dürfen, ganz zu schweigen vom völlig undenkbaren Bekreuzigen. Auch im Gymnasium besuchte ich den evangelischen Religionsunterricht. Meinem Vater war das offensichtlich nicht recht – es gab gelegentlich Mißstimmungen, er war ja links und ungläubig. Meine Mutter ist auch nicht durch besondere Religiosität aufgefallen, sie schien – im Gegensatz zu mir – überzeugt, dass Religion hauptsächlich etwas für Kinder ist, so wie das tägliche Glas Milch und der Löffel Lebertran. Dass ich unter evangelischer Flagge durchs Gymnasium gesegelt bin, hat mich geprägt. Dies zunächst aus banalen Gründen: Der kleine Trupp Protestanten musste, so wie die riesige Masse der Katholiken, in den Stundenplänen verwaltet werden. Der evangelische Religionsunterricht wurde meistens in irgendwelche enge Zeitlöcher vor Turnstunden, chemischen Übungen, Literaturkursen etc. gestopft, mit dem Ergebnis, dass man oft verspätet, aber gut gerechtfertigt auftauchte. Ein erstes Diaspora-Gefühl aus verwaltungstechnischen Gründen: der Eindruck, oft im Weg zu sein und dauernd Extrawürste zu braten. Was den Eindruck, eine Sonderexistenz zu führen, weiter vertiefte, war die Herkunft meiner evangelischen Mitschüler, alles Söhne alteingesessener Linzer Familien. Wesentlich dabei: die Protestanten in Linz waren im Dritten Reich zu einem großen Teil recht aktive Nazis gewesen, was angesichts der langen katholischen Repression als Überreaktion einer erlösten Diaspora zu verstehen ist, die dann endlich einmal tüchtig auf den Tisch gehauen hatte. Aber aus diesen Verhältnissen waren dann halt auch Figuren wie Adolf Eichmann gekommen. Nachdem der Religionslehrer, ein insistenter Ostpreuße namens Boll, auf diese Verschlingungen hingewiesen hatte, entstand Aufregung unter den Eltern der Enkel jener Großeltern, die so unklug und oft grausam gehandelt hatten: Die Söhne wurden vom Religionsunterricht abgemeldet, und plötzlich bin ich alleine mit Pfarrer Boll in der evangelischen Unterrichtsstunde gesessen – in der Diaspora der Diaspora sozusagen. Der Religionsunterricht wurde von diesen extravaganten Umständen nicht berührt. Er war straff, streng und sicher der anregendste meiner Schulzeit. Tatsächlich waren religiöse Themen Gegenstand – allerdings wurden sie mit einer spröden und fast ingenieurhaften Methode behandelt, bei der ihr historischer Kern und ihre synkretistischen Einlagerungen so lange seziert wurden, bis nur noch ein zerfasertes, aber hochinteres-

santes Konstrukt übrig war, das jede Menge mit der politischen Gegenwart zu tun hatte, aber kaum noch etwas mit Gott und Glauben und überhaupt nichts mit den verschwurbelten Märchenstunden, die im katholischen Religionsunterricht stattfanden. Ich wusste bald, dass diese Methode «Entmythologiserung» genannt wurde und moderne protestantische Theologie war. Der Unterricht war – gemessen an heutigen Standards – völlig undidaktisch. Es gab nur das gesprochene Wort, keine Materialien, keine Diskussion, außer vielleicht eine Frage hie und da. Ich war oft nicht in der Lage, den kenntnisreichen aber komplizierten Gedankengängen zu folgen. Dennoch hatte ich in Bolls Stunden die Erlebnisgewissheit, dass hier von einer charismatischen Person temperamentvoll und elastisch nachgedacht wurde. So wie in einer Predigt wurde mit einem Thema eröffnet, wurden recht trocken einige Zusammenhänge erläutert; dabei ging es um seriöse Belehrung, um Wissen und Methode. Dann wurde ins Aktuelle oder allgemein Bedeutsame hineinmanövriert – dabei, vermute ich, ist tüchtig extemporiert und improvisiert worden. Abgeschlossen wurde mit einer Pointe – meist einem Seitenhieb auf irgendwelche Aktualitäten. Ich war nicht so anspruchsvoll, alles verstehen zu wollen, ich hatte sogar ein Vergnügen am Unverständlichen – es war eine seltsame Form von Verstandes-Gefräßigkeit, bei der Ahnungen und Gefühle das volle Verständnis der Bedeutungen ersetzen durften. Liturgie und Katechismus halten den Protestantismus als soziales Gebilde zusammen. Der Kleine Katechismus mit den LutherKommentaren musste auswendig gelernt werden; das wurde in der Kirche, vor der Konfirmation, vor versammelter Gemeinde öffentlich geprüft. Mein Problem war, dass der Katechismus für mich keine Lebenswirklichkeit enthielt. Für mich war dieses Fundament irrelevant, nicht aber die Haltung, mit der es errichtet worden war: das altertümliche und sperrige Deutsch der LutherKommentare («Was bedeutet denn solch Wassertaufen?») hatte ein gutes Flair, und ich habe sie bei besagter Prüfung recht fett betont aufgesagt. Dass ich trotz dieser Demonstration nicht einmal in Ansätzen das Bedürfnis hatte, an einen Gott zu glauben, machte mir damals ein diffus schlechtes Gewissen – dennoch führte diese Irritation nicht dazu, dass ich mir eine Rechtfertigung überlegt hätte. Der Sachverhalt war eindeutig – wozu ihn beschönigen? Meine Verbindung zur protestantischen Gemeinde war bis auf einige seltene Gelegenheiten eine imaginierte Verbindung, die durch keinen menschlichen Umgang als zwischenmenschliche Tatsache bestätigt worden ist. Meine Bindung an diese Gemeinschaft entstand ausschließlich während der

Der katholische Grazer Dom

Besuche auf dem theologischen Abenteuerspielplatz Bolls, aus seinen Erzählungen und Lektionen, bei denen weniger ihr Inhalt als ihr rhetorischer Gestus und ihr Grundton prägend waren: Diese Erzählungen waren Überlegenheitsposen, in denen Denkbeweglichkeit und methodisches Wissen mit strengem Urteil und grimmigem Humor zusammenspielten. Die Verachtung von Denkfaulheit und Sprachschlamperei, von Bigotterie und Hinterhältigkeit war Teil ihres Programms. Dass diese Rigorosität auch bittere Seiten gehabt haben dürfte, ist mir erst Jahre später aufgegangen. Damals fand ich diese Mischung aber beeindruckend und vor allem: richtig. Die Schärfe dieser Ansprüche formulierte das Programm einer Diaspora der Integren und Wachen, der ich gerne angehören wollte – auch wenn ich mir insgeheim nicht sicher war, den strengen Maßstäben jederzeit gerecht werden zu können. Boll hatte für seinen Spott eine allererste Adresse: Dies war das Uneindeutige, Ambivalente, Irrationale – sprich, das Österreichische, die katholische Majorität. Dieses Ressentiment war ihm kein stumpfes Vorurteil, sondern eine aufdringliche, sich tagtäglich bestätigende Erfahrung. Im Boll’schen Religions-Kopfschach war das Katholische ein mythomanes Konstrukt, ein kannibalischer Hokuspokus (« […] dies ist mein Leib […]») zur Beherrschung der Menschen und ihrer Gedanken, der über das Religiöse hinaus wie ein Infekt das Profane zerstörerisch durchdringt und verdirbt. Ich war in meiner Auffassung nicht so rigide, aber gegenüber dem Katholischen war ich bald nicht mehr gleichgültig: Es war mir verdächtig geworden. Auch auf meine katholischen Mitschüler färbten, kaum dass ich’s bemerkte, diese Urteile ab – es schien ihnen in meinen Augen etwas zu fehlen: Sie begriffen nicht einmal ihre eigene Liturgie, sie wussten nicht, was die Septuaginta war,

und sie sprachen nicht über ihre Nazis. In meinen beiden letzten Schuljahren hat sich meine Diaspora-Existenz langsam aufgelöst. Dies hatte mit Mädchen zu tun und mit dem Tod meines Vaters – beides hat keinen Raum für imaginäre Gemeinschaften gelassen. Sehr wahrscheinlich hat dieser seltsam gestrickte Protestantismus meine Beziehungen zu anderen Menschen beeinflusst. Es kann kein Zufall sein, dass die meisten meiner nahen Freunde (weitgehend ungläubige) Protestanten sind. Natürlich ist auch meine Frau evangelisch. Vielleicht sollte ich dem Ganzen nicht zu viel Bedeutung beimessen. In letzter Zeit erinnere ich mich aber immer wieder an dieses seltsame Gemeinschaftsgefühl ohne Gemeinschaft. Vor einigen Monaten habe ich mich ohne besondere Absicht in eine leere evangelische Kirche gesetzt, einen spröden Kasten aus dem 19. Jahrhundert. Ich bin in einer ganz unergiebigen Selbstbeobachtungsschleife gelandet und bald gegangen. Später habe ich über eine Art Protestantismus ohne Gott spekuliert: Dem ungläubigen Protestanten steht die ganze soziale und theologische Agenda zur Verfügung, aber beim Glaubensbekenntnis wird geschwiegen. Was der benefit wäre? Gelebte Paradoxie? («Ich bin ein agnostischer Protestant, und meine Gemeinde lebt in den Katakomben des Unglaubens.») Rituale und Gewohnheiten? Die Gegenwart der Vergangenheit? Vielleicht ein wärmendes Gefühl von Jugend und Kindheit? Vor einigen Wochen geriet ich in ein Gespräch über Kirchenaustritt im Besonderen, Religion und Glauben im Allgemeinen – ich hörte mich sagen: «Atheismus ist was für Katholiken, Protestanten werden Agnostiker.» Da war er plötzlich wieder, der Boll’sche Hochmut. Es ist lange her, da habe ich versucht, Boll zu finden, und schließlich seine Tochter erreicht. Von ihr habe ich erfahren, dass ihr

Vater krank sei und sehr zurückgezogen lebe. Auf meine Bitte hin hat sie versucht, einen Besuch zu arrangieren. Aber Boll wollte keinen Besuch.


2. Diaspora Wer meinen Namen hört, ahnt, dass ich nicht im Ur-Österreichischen wurzle. Tatsächlich hatte ich einen türkischen Vater, der in den Fünfzigerjahren nach Österreich kam und nach einigem Hin und Her bis zu seinem frühen Tod hier lebte. Meine Mutter dagegen kommt aus Deutschland – ein Flüchtlingskind, das es 1945 aus Dresden in die Steiermark verschlagen hat. Während mein kemalistischer Vater ein grundsolider Agnostiker war, hat meine Mutter als junge Frau recht flexible religiöse Vorstellungen gehabt: Nach ihrer Heirat ist sie mit deutscher Gründlichkeit Türkin geworden. Bestandteil ihrer Assimilationsanstrengung war zur großen Überraschung der angeheirateten Verwandtschaft auch ihre Konversion zum Islam – etwas, was man zuallerletzt von ihr verlangt hätte. Meine Mutter wollte aber einen Pfarrer bei der Hochzeit – eine christliche Trauung war nicht möglich, eine Trauung mit Imam dagegen schon. Als ich Mitte der Sechzigerjahre in die Schule geschickt wurde, gab es noch das morgendliche Schulgebet – gemeinsam wurde ein Vaterunser gebetet. Dabei wurde unterschieden zwischen katholischem und evangelischem Vaterunser. Beide Versionen wurden gleichzeitig aufgesagt. Da das evangelische Vaterunser am Schluss einen Satz mehr hat («Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit» etc.), waren die katholischen Schüler früher fertig und mussten warten, bis die evangelischen, unter die man mich gesteckt hatte, zum Ende gekommen waren. Dann aber mussten sich die Katholiken bekreuzigen, was den Evangelischen wiederum streng verboten war («Du darfst dich nicht bekreuzigen, du bist nicht katholisch!»). Bekreuzigen wurde dadurch sehr attraktiv, und manchmal haben sich Evangelische heimlich und hastig bekreuzigt; aber auch, um gleich viel Magie und Gebetswirksamkeit abzubekommen wie die Katholiken. Dass es viel mehr Katholiken als Protestanten gab, wurde jedes Mal deutlich, wenn der gemeinsame Teil des Vaterunser zu Ende war – da sprachen plötzlich ganz wenige dünne Stimmen in die Stille hinein. Ob ich damals religiös war? Religion war für mich schwer verständlich und etwas für Erwachsene und würde sich, wie so vieles Unverständliche, in dunkler Zukunft, wenn das mysteröse Erwachsenenleben beginnt, von selbst erschließen. Insgesamt schienen Katholiken aber mehr von ihrer Religion zu haben: Weihwasser, Weihrauch, riesige Kirchen. Ich erinnere mich an einen Schulkollegen, der ohne Bekenntnis geführt wurde. Er stand während des Gebets mit straff nach unten gestreckten Armen zwischen uns. Er hiess Löffler, war der Sohn eines Donauschiffers,

Vorzugsschüler und einer der beiden Bandenführer der Klasse, der seine Gefolgsleute täglich in die Raufereien mit der feindlichen Bande führte. Er war ein heroischer Außenseiter, auch durch das interessante Detail, nicht mitbeten zu dürfen, ganz zu schweigen vom völlig undenkbaren Bekreuzigen. Auch im Gymnasium besuchte ich den evangelischen Religionsunterricht. Meinem Vater war das offensichtlich nicht recht – es gab gelegentlich Mißstimmungen, er war ja links und ungläubig. Meine Mutter ist auch nicht durch besondere Religiosität aufgefallen, sie schien – im Gegensatz zu mir – überzeugt, dass Religion hauptsächlich etwas für Kinder ist, so wie das tägliche Glas Milch und der Löffel Lebertran. Dass ich unter evangelischer Flagge durchs Gymnasium gesegelt bin, hat mich geprägt. Dies zunächst aus banalen Gründen: Der kleine Trupp Protestanten musste, so wie die riesige Masse der Katholiken, in den Stundenplänen verwaltet werden. Der evangelische Religionsunterricht wurde meistens in irgendwelche enge Zeitlöcher vor Turnstunden, chemischen Übungen, Literaturkursen etc. gestopft, mit dem Ergebnis, dass man oft verspätet, aber gut gerechtfertigt auftauchte. Ein erstes Diaspora-Gefühl aus verwaltungstechnischen Gründen: der Eindruck, oft im Weg zu sein und dauernd Extrawürste zu braten. Was den Eindruck, eine Sonderexistenz zu führen, weiter vertiefte, war die Herkunft meiner evangelischen Mitschüler, alles Söhne alteingesessener Linzer Familien. Wesentlich dabei: die Protestanten in Linz waren im Dritten Reich zu einem großen Teil recht aktive Nazis gewesen, was angesichts der langen katholischen Repression als Überreaktion einer erlösten Diaspora zu verstehen ist, die dann endlich einmal tüchtig auf den Tisch gehauen hatte. Aber aus diesen Verhältnissen waren dann halt auch Figuren wie Adolf Eichmann gekommen. Nachdem der Religionslehrer, ein insistenter Ostpreuße namens Boll, auf diese Verschlingungen hingewiesen hatte, entstand Aufregung unter den Eltern der Enkel jener Großeltern, die so unklug und oft grausam gehandelt hatten: Die Söhne wurden vom Religionsunterricht abgemeldet, und plötzlich bin ich alleine mit Pfarrer Boll in der evangelischen Unterrichtsstunde gesessen – in der Diaspora der Diaspora sozusagen. Der Religionsunterricht wurde von diesen extravaganten Umständen nicht berührt. Er war straff, streng und sicher der anregendste meiner Schulzeit. Tatsächlich waren religiöse Themen Gegenstand – allerdings wurden sie mit einer spröden und fast ingenieurhaften Methode behandelt, bei der ihr historischer Kern und ihre synkretistischen Einlagerungen so lange seziert wurden, bis nur noch ein zerfasertes, aber hochinteres-

santes Konstrukt übrig war, das jede Menge mit der politischen Gegenwart zu tun hatte, aber kaum noch etwas mit Gott und Glauben und überhaupt nichts mit den verschwurbelten Märchenstunden, die im katholischen Religionsunterricht stattfanden. Ich wusste bald, dass diese Methode «Entmythologiserung» genannt wurde und moderne protestantische Theologie war. Der Unterricht war – gemessen an heutigen Standards – völlig undidaktisch. Es gab nur das gesprochene Wort, keine Materialien, keine Diskussion, außer vielleicht eine Frage hie und da. Ich war oft nicht in der Lage, den kenntnisreichen aber komplizierten Gedankengängen zu folgen. Dennoch hatte ich in Bolls Stunden die Erlebnisgewissheit, dass hier von einer charismatischen Person temperamentvoll und elastisch nachgedacht wurde. So wie in einer Predigt wurde mit einem Thema eröffnet, wurden recht trocken einige Zusammenhänge erläutert; dabei ging es um seriöse Belehrung, um Wissen und Methode. Dann wurde ins Aktuelle oder allgemein Bedeutsame hineinmanövriert – dabei, vermute ich, ist tüchtig extemporiert und improvisiert worden. Abgeschlossen wurde mit einer Pointe – meist einem Seitenhieb auf irgendwelche Aktualitäten. Ich war nicht so anspruchsvoll, alles verstehen zu wollen, ich hatte sogar ein Vergnügen am Unverständlichen – es war eine seltsame Form von Verstandes-Gefräßigkeit, bei der Ahnungen und Gefühle das volle Verständnis der Bedeutungen ersetzen durften. Liturgie und Katechismus halten den Protestantismus als soziales Gebilde zusammen. Der Kleine Katechismus mit den LutherKommentaren musste auswendig gelernt werden; das wurde in der Kirche, vor der Konfirmation, vor versammelter Gemeinde öffentlich geprüft. Mein Problem war, dass der Katechismus für mich keine Lebenswirklichkeit enthielt. Für mich war dieses Fundament irrelevant, nicht aber die Haltung, mit der es errichtet worden war: das altertümliche und sperrige Deutsch der LutherKommentare («Was bedeutet denn solch Wassertaufen?») hatte ein gutes Flair, und ich habe sie bei besagter Prüfung recht fett betont aufgesagt. Dass ich trotz dieser Demonstration nicht einmal in Ansätzen das Bedürfnis hatte, an einen Gott zu glauben, machte mir damals ein diffus schlechtes Gewissen – dennoch führte diese Irritation nicht dazu, dass ich mir eine Rechtfertigung überlegt hätte. Der Sachverhalt war eindeutig – wozu ihn beschönigen? Meine Verbindung zur protestantischen Gemeinde war bis auf einige seltene Gelegenheiten eine imaginierte Verbindung, die durch keinen menschlichen Umgang als zwischenmenschliche Tatsache bestätigt worden ist. Meine Bindung an diese Gemeinschaft entstand ausschließlich während der

Der katholische Grazer Dom

Besuche auf dem theologischen Abenteuerspielplatz Bolls, aus seinen Erzählungen und Lektionen, bei denen weniger ihr Inhalt als ihr rhetorischer Gestus und ihr Grundton prägend waren: Diese Erzählungen waren Überlegenheitsposen, in denen Denkbeweglichkeit und methodisches Wissen mit strengem Urteil und grimmigem Humor zusammenspielten. Die Verachtung von Denkfaulheit und Sprachschlamperei, von Bigotterie und Hinterhältigkeit war Teil ihres Programms. Dass diese Rigorosität auch bittere Seiten gehabt haben dürfte, ist mir erst Jahre später aufgegangen. Damals fand ich diese Mischung aber beeindruckend und vor allem: richtig. Die Schärfe dieser Ansprüche formulierte das Programm einer Diaspora der Integren und Wachen, der ich gerne angehören wollte – auch wenn ich mir insgeheim nicht sicher war, den strengen Maßstäben jederzeit gerecht werden zu können. Boll hatte für seinen Spott eine allererste Adresse: Dies war das Uneindeutige, Ambivalente, Irrationale – sprich, das Österreichische, die katholische Majorität. Dieses Ressentiment war ihm kein stumpfes Vorurteil, sondern eine aufdringliche, sich tagtäglich bestätigende Erfahrung. Im Boll’schen Religions-Kopfschach war das Katholische ein mythomanes Konstrukt, ein kannibalischer Hokuspokus (« […] dies ist mein Leib […]») zur Beherrschung der Menschen und ihrer Gedanken, der über das Religiöse hinaus wie ein Infekt das Profane zerstörerisch durchdringt und verdirbt. Ich war in meiner Auffassung nicht so rigide, aber gegenüber dem Katholischen war ich bald nicht mehr gleichgültig: Es war mir verdächtig geworden. Auch auf meine katholischen Mitschüler färbten, kaum dass ich’s bemerkte, diese Urteile ab – es schien ihnen in meinen Augen etwas zu fehlen: Sie begriffen nicht einmal ihre eigene Liturgie, sie wussten nicht, was die Septuaginta war,

und sie sprachen nicht über ihre Nazis. In meinen beiden letzten Schuljahren hat sich meine Diaspora-Existenz langsam aufgelöst. Dies hatte mit Mädchen zu tun und mit dem Tod meines Vaters – beides hat keinen Raum für imaginäre Gemeinschaften gelassen. Sehr wahrscheinlich hat dieser seltsam gestrickte Protestantismus meine Beziehungen zu anderen Menschen beeinflusst. Es kann kein Zufall sein, dass die meisten meiner nahen Freunde (weitgehend ungläubige) Protestanten sind. Natürlich ist auch meine Frau evangelisch. Vielleicht sollte ich dem Ganzen nicht zu viel Bedeutung beimessen. In letzter Zeit erinnere ich mich aber immer wieder an dieses seltsame Gemeinschaftsgefühl ohne Gemeinschaft. Vor einigen Monaten habe ich mich ohne besondere Absicht in eine leere evangelische Kirche gesetzt, einen spröden Kasten aus dem 19. Jahrhundert. Ich bin in einer ganz unergiebigen Selbstbeobachtungsschleife gelandet und bald gegangen. Später habe ich über eine Art Protestantismus ohne Gott spekuliert: Dem ungläubigen Protestanten steht die ganze soziale und theologische Agenda zur Verfügung, aber beim Glaubensbekenntnis wird geschwiegen. Was der benefit wäre? Gelebte Paradoxie? («Ich bin ein agnostischer Protestant, und meine Gemeinde lebt in den Katakomben des Unglaubens.») Rituale und Gewohnheiten? Die Gegenwart der Vergangenheit? Vielleicht ein wärmendes Gefühl von Jugend und Kindheit? Vor einigen Wochen geriet ich in ein Gespräch über Kirchenaustritt im Besonderen, Religion und Glauben im Allgemeinen – ich hörte mich sagen: «Atheismus ist was für Katholiken, Protestanten werden Agnostiker.» Da war er plötzlich wieder, der Boll’sche Hochmut. Es ist lange her, da habe ich versucht, Boll zu finden, und schließlich seine Tochter erreicht. Von ihr habe ich erfahren, dass ihr

Vater krank sei und sehr zurückgezogen lebe. Auf meine Bitte hin hat sie versucht, einen Besuch zu arrangieren. Aber Boll wollte keinen Besuch.


3.Kein Finne sein dürfen In den letzten Jahren begegne ich immer wieder Menschen, mit denen ich ein Interesse, ja, ich möchte sogar sagen, die Liebe und Zuneigung zu einem ganz einzigartigen, wunderbaren Land im hohen Norden teile. Dieses Land ist Finnland. Es sind meist Generationskollegen, so um die fünfzig, die diese Zuneigung pflegen; auffallend auch, dass diese Beziehung bei allen etwa seit den Achzigerjahren besteht. Ich vermute, dass Finnland – ohne dass es die Welt bemerkt hat – in genau dieser Zeit zu einem Sehnsuchtsort für eine Minorität der mitteleuropäischen Jugendlichen geworden ist und dass diese Leidenschaft überlebt hat. Die Majorität der Europäer kannte damals etwa fünf bis sechs Plätze auf der Weltkarte, die für jeweils einen spezifischen identitätsstiftenden way of life standen, an dem man authentisch nur dort teilhaben konnte. Diese Orte waren: Indien für spirituell Motivierte, Nicaragua für politisch Engagierte, Paris für Philosophie-Modernisten, Griechenland für Faulpelze und Aussteiger. Wer Geld verdienen wollte, ging nach Deutschland, um im Akkord Fabriken oder Flugzeuge zu putzen oder Autos zu verschrauben (um sich dann in Griechenland auszuruhen). Der Ort, der es allen angetan hatte, war natürlich New York – die Hauptstadt der Welt. Auch wenn die USA selten so verhasst waren wie in den Achtzigerjahren – jeder wollte hin. Es gab aber auch eine schmale Verbindung, die nach Finnland führte. Dort wartete ein faszinierender way of life, der, obwohl unverwechselbar und einmalig, bis heute nicht in seiner Tiefe erfasst worden ist. Menschen verschlug es meist zufällig dorthin. Die Anlässe dieser Reisen waren unterschiedlich: Manchmal waren es Liebesgeschichten, manchmal Studienreisen zu den finnischen Architektur-Klassikern. Häufig waren finnische Studenten die Ursache, die sich mit ihren Finnmark-Stipendien in Mitteleuropa eine sehr komfortable Studienzeit leisten konnten und die dann Freunde zu den Sommerhütten der Seenplatte eingeladen haben. Bevor die Filme von Aki Kaurismäki nach Europa kamen, hatte kaum etwas die Reisenden auf die finnischen Eigenarten vorbereitet. Wer Finnland besuchte, hatte vielleicht von seiner Design-Tradition gehört und wusste, dass es jede Menge Seen gab – das war’s dann auch schon. Über Nicaragua war mehr Wissen im Umlauf als über Finnland. Die finnische Lebenswirklichkeit, ihre Eigentümlichkeiten und Färbungen trafen die Reisenden daher völlig unerwartet. Nach einiger Zeit im Land entpuppte sich dieses an sich europäische Gemeinwesen dann als hermetische und völlig autarke Existenzform, mindestens so exotisch wie Nepal oder Mali. Aber das Exotische war

unaufgeregt und unterkühlt und überwuchs und veränderte das Europäisch-Moderne derart, dass es eine ganz eigensinnige, aber sehr faszinierende Färbung bekam. Ein gutes Beispiel für diesen Eigensinn ist die finnische Ausprägung funktionalistischer Architektur, die vollkommen undoktrinär auftritt und etwas geschafft hat, was sonst nirgendwo gelungen ist – nämlich, ein allgemein akzeptierter und populärer Nationalstil zu werden. Es ist wahrscheinlich unmöglich, die Eigentümlichkeiten und den Eigensinn des Finnischen in allgemeine Begriffe zu fassen. Jede Beschreibung zerfällt sofort ins Anekdotische. Diese Anekdoten drehen sich meistens um das Absurde, das Lakonisch-Beharrliche und das Ironische, und schließlich um das Alkoholische. Alle diese Kategorien spielen ineinander. Ihr Grundton schwingt zwischen komisch und verzweifelt – oft pendelt er sich aufs Gefühlvoll-Schwermütige ein. Das Absurde, das Zusammentreffen von im Grunde Unvereinbarem, ist in Finnland als ein lebenspraktischer Zustand akzeptiert. Das Absurde wird in Finnland nicht herbeigeführt; es sind zufällige Fügungen, die es erzeugen – wie überhaupt der Zufall sehr entspannt gesehen wird. Man bestaunt oder beklagt diese Fügungen vielleicht, nimmt sie aber stoisch hin und nutzt sie ungeachtet ihrer logischen Inkonsistenz oder der Lächerlichkeit, die ihnen eventuell anhaftet. Dieses Moment ist wesentlich für die Filme Aki Kaurismäkis. Einen frühen Beleg für diese Haltung bietet die Geschichte der finnischen Nationalhymne. Sie wurde 1848 uraufgeführt. Als herauskam, dass die Melodie der Hymne recht eindeutig von einem deutschen Trinklied inspiriert war, haben die Finnen dies resignierend hingenommen. Die Aland-Inseln, eine autonome finnische Region, haben dagegen beschlossen, sich eine eigene finnische Nationalhymne zu geben – es existieren also in Finnland zwei verschiedene Hymnen. Eigentlich aber vier, da die finnischen Hymnen zweisprachig ausgeführt sind (wegen der schwedische Minorität mit ihren verbrieften Rechten). Da fällt es kaum noch ins Gewicht, dass die Esten, Nachbarn auf der anderen Seite der Ostsee, die finnische Melodie (das Trinklied) für ihre eigene Nationalhymne übernommen haben. Das Ironische und das Lakonische bestehen im Finnischen wie beim Yin und Yang als weiblich-männlicher Gegensatz. Es fällt schwer zu glauben, aber es ist die unüberhörbare Wahrheit: In diesem Land, das in allen Belangen die Emanzipation etabliert hat, existiert, wie in einer Stammesgesellschaft, eine tief eingefurchte schicksalhafte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern: Den Frauen gehört die Ironie. Sache der Männer ist das Lakonische, das oft ins Schweigsame verebbt.

Der finnische Eisbrecher Sisu (gebaut 1939). Sisu beschreibt eine den Finnen eigene Gemütslage. Das Wort selbst gilt als unübersetzbar. In geselligen Runden sind es die Frauen, die hauptsächlich die Unterhaltungen bestreiten. Der Grundton dieser Gespräche ist ironisch. Das rhetorische Mittel der finnischen Ironie ist der Spott. Alle finnischen Frauen spotten. Es gibt natürlich unterschiedliche Färbungen des Spottes, je nach Temperament und Naturell von gutmütig bis vernichtend. Aber ohne Zweifel ist Spott das Herzstück weiblicher Kommunikation. Frauen spielen sich in spöttischen Wechselreden gegenseitig die Bälle zu und wirken dabei geistvoll und wendig. Ziel des Spotts ist das Selbstgefällige, Aufgeblähte oder Pompöse. Wie in vielen Gesellschaften mit starken bäuerlichen Wurzeln besteht auch hier ein Widerwille gegen das Überhebliche, gegen die Attitüde, etwas Besseres sein zu wollen («Du glaubst, dass du dir was herausnehmen kannst? Na, dir werden wir’s zeigen …»). Finninnen sind temperamentvoll, aber auf sehr trockene Art. Ihre Sprechweise beinhaltet wenig Gestikulation, Ihre Körpersprache vermittelt aber Geistesgegenwart und gut gelaunte Angespanntheit, die sich bis in die feinsten Körperfasern fortsetzt. Nachdem ich im letzten April einen wunderbaren Abend in der Gesellschaft sehr dicker finnischer Schriftstellerinnnen verbracht habe, würde ich sogar behaupten, dass es eine eigene Form weiblich-finnischer Korpulenz gibt, bei der ein straffes und elastisches Mentalitätskorsett die fülligen Körper in fröhlichstrammer Rundlichkeit erhält. Ich kenne kaum schweigsame oder gar schwermütige Finninnen. Die wortkargen, depressiv in sich eingeschlossenen Frauen, wie wir sie von Kati Outinens Filmrollen kennen, halte ich für eine finnische Männerphantasie. Im Gegensatz zu den Frauen sind Männer einsilbig und lakonisch. Sie sind in ihrer Art eindrucksvoll, und man hat nicht den Eindruck, dass sie unter ihrer Zurückhaltung

leiden. Eine spezifisch finnische Ausprägung des Lakonischen entsteht, wenn es sich mit unbeirrbarer Tätigkeit verbindet. Dieses ungerührte, kraftvolle und beständige Vorausschreiten unter der Last einer Pflicht hat sogar einen Namen: Es heißt Sisu und ist jene Charaktertugend, die nach Überzeugung der meisten Finnen das Land zusammenhält. Der größte finnische Eisbrecher, der im Winter in der Ostsee Fahrtrinnen durchs dick zugefrorene Meer malmt, trägt den Namen Sisu. Urho Kekkonen, jahrzehntelang finnischer Staatspräsident, ist immer, wenn schwere Entscheidungen angestanden sind, an Bord gegangen und hat zugeschaut, wie die Sisu durchs Eis bricht – dies hat ihn inspiriert. Sisu ist eine Tugend im Grossen wie im Kleinen, die sich in einem persistenten, um nicht zu sagen aufdringlichen Pflichtgefühl äußert. Ich habe 1980 einen berühmten Wahrsager in Helsinki besucht, einen kleinen Mann mit stechendem Blick aus wasserblauen Augen, der in einer Art Rumpelkammer residierte. Seine Prophezeiungen hat er in langsamer, zäher Rede ausgebreitet. Der Wahrsager hat mir die Heirat mit einer Finnin vorhergesagt (nichts dergleichen ist passiert) und mich vor Angina Pectoris gewarnt (für ihn allerdings eine Halskrankheit). Offensichtlich bemerkte er, dass mich seine Vorhersagen nicht überzeugten; trotzdem sammelte er die Kräfte zu einem letzten pflichtbewussten Ruck: der Prophezeiung des Dritten Weltkriegs – der werde demnächst in Skandinavien beginnen. Jetzt war ich beeindruckt. Das Alkoholische ist wie überall in Skandinavien auch in Finnland eine zentrale Kategorie – einfach weil Alkohol monopolistisch und restriktiv bewirtschaftet worden ist. Alkohol ist teuer. Leider, muss man auch sagen: Finnen können mit Alkohol nicht umgehen; vielleicht, weil sie selten Gelegenheit haben zu üben. Die Organisation und Bereitstellung von erschwinglichem Alkohol ist ein running gag im finnischen Alltag. Früher wurde Alkohol nur kontingentiert in Spezialgeschäften ausgegeben. Der Namen dieser Monopol-Läden war Alko. Es gab viel zu wenige davon: In ganz Lappland, einer Landschaft so groß wie Portugal, existierte nur eine einzige Alko-Niederlassung. Deshalb wurde im ganzen Land illegal gebraut, gebrannt, gepanscht. Ich war einmal bei einem Treffen der Landfrauenvereinigung auf einem Bauernhof in Mittelfinnland. Die Frauen sitzen im Wohnzimmer und folgen einem Vortrag über Gemüsekonservierung. Die Männer, anfangs alle anwesend, sickern aus dem Raum. Der letzte winkt mir – ich folge diskret. Wir betreten eine Garage, in der sich an die zwanzig finnische Bauern befinden. Jeder hat eine große Kaffeetasse in der Hand. In der Mitte der Garage steht ein aufblasbares Gummi-Planschbecken mit Donald-Duck-

Aufdruck. Das Becken ist mit einer trüben Flüssigkeit gefüllt, in der verrottete Bananen und Orangen dümpeln. Es handelt sich um ein selbst angesetztes, schwach alkoholisches Getränk, das vor sich hin gärt. Ich bekomme eine Tasse und die Einladung, mich wie alle anderen zu bedienen. Die Flüssigkeit schmeckt furchtbar. Der Gastgeber erklärt entschuldigend: «Wir nennen es Madeira. Es wird besser, wenn es älter wird.» Pause, dann: «Aber es wird nicht sehr alt.» Ich stehe eine Stunde vor dem Planschbecken, aus dem schwankende Männer schweigend schöpfen und trinken. Einige verlieren das Gleichgewicht, lehnen sich an die Wand oder setzen sich auf gestapelte Traktorreifen. Andere verlassen die Garage und übergeben sich. Schließlich rufen die Frauen zum Essen. Der Alkohol wird in Finnland als ein fatales, unbeherrschbares Ereignis betrachtet, ähnlich wie das Wetter. Das Trinken erfolgt pflichtbewusst und wenig anmutig. Es wird schnell und hart getrunken, und es gibt eine Schwäche für abstoßende Mixgetränke. Besonders grauenhaft: Salmiaki – in Wodka aufgelöste Lakritze, ein Cocktail, der nach WC-Reiniger riecht und bei jedem Schluck den Körper in Ekelwellen durchrüttelt. Die Wirkung des Alkohols wird hingenommen wie ein Schicksal. Maßlosigkeit wird nicht verurteilt. Schweigen ist kein Problem. Es wird aber gerne zugehört. Manchmal werden sehr persönliche Gespräche à deux geführt. Diese Gespräche sind offen, gelegentlich rührend. Die Menschen werden selten unangenehm, wenn sie betrunken sind. Inzwischen, bemerke ich, ändert sich der Umgang mit Alkohol. Die Jungen trinken kosmopolitisch – man merkt keinen rechten Unterschied mehr zu unseren eigenen Gewohnheiten. Es scheint, dass der jahrhundertealte finnische Alkoholismus langsam ausstirbt und dem kalten, globalisierten Saufen weichen muss. Ich sehe es mit Bedauern. Joe Zawinul, Pianist aus Wien, der in den Sechzigerjahren das einzige weiße Mitglied der Soul-Jazz-Combo Cannonball Adderleys war und einen dezidiert schwarzen Stil gespielt und komponiert hat (Mercy, Mercy, Mercy) soll seiner Wiener Mutter seine Verwandlung in einen Amerikaner mit dem denkwürdigen Satz: «Mamma, i bin a Neger» mitgeteilt haben. Den analogen Satz eines mitteleuropäischen Finnland-Verehrers («Mamma, ich bin ein Finne») wird man niemals glaubwürdig hören – er ist für jeden, der sich einige Zeit mit diesem Land auseinandergesetzt hat, undenkbar, denn das Finnentum ist, ohne dass die Finnen wahrscheinlich darauf Wert legen, exklusiv. Ich nehme sogar an, Finnen wissen gar nicht, dass es unmöglich ist, Finne zu sein, wenn man es nicht schon ist. Wer will, kann mit vertretbarem Anpassungsaufwand Amerikaner, ja sogar schwar-

zer Amerikaner werden – diese Möglichkeit steht offen. Aber als Bewunderer und Kenner des finnischen way of life bleibt man ab einem gewissen Punkt der Annäherung auf die Rolle eines Beobachters beschränkt, der zwar dem Gegenstand seiner Verehrung Gesellschaft leisten kann, dem aber niemals eine vollständige Teilhabe möglich ist, wahrscheinlich, weil ihm dazu das eigene endlose Staunen im Weg wäre. Dies ist letzendlich überhaupt kein Problem. Aber wie so vieles andere ist auch dies ein interessanter Aspekt dieses eigenartigen und liebenswerten Landes, der zu denken gibt. Orhan Kipcak


3.Kein Finne sein dürfen In den letzten Jahren begegne ich immer wieder Menschen, mit denen ich ein Interesse, ja, ich möchte sogar sagen, die Liebe und Zuneigung zu einem ganz einzigartigen, wunderbaren Land im hohen Norden teile. Dieses Land ist Finnland. Es sind meist Generationskollegen, so um die fünfzig, die diese Zuneigung pflegen; auffallend auch, dass diese Beziehung bei allen etwa seit den Achzigerjahren besteht. Ich vermute, dass Finnland – ohne dass es die Welt bemerkt hat – in genau dieser Zeit zu einem Sehnsuchtsort für eine Minorität der mitteleuropäischen Jugendlichen geworden ist und dass diese Leidenschaft überlebt hat. Die Majorität der Europäer kannte damals etwa fünf bis sechs Plätze auf der Weltkarte, die für jeweils einen spezifischen identitätsstiftenden way of life standen, an dem man authentisch nur dort teilhaben konnte. Diese Orte waren: Indien für spirituell Motivierte, Nicaragua für politisch Engagierte, Paris für Philosophie-Modernisten, Griechenland für Faulpelze und Aussteiger. Wer Geld verdienen wollte, ging nach Deutschland, um im Akkord Fabriken oder Flugzeuge zu putzen oder Autos zu verschrauben (um sich dann in Griechenland auszuruhen). Der Ort, der es allen angetan hatte, war natürlich New York – die Hauptstadt der Welt. Auch wenn die USA selten so verhasst waren wie in den Achtzigerjahren – jeder wollte hin. Es gab aber auch eine schmale Verbindung, die nach Finnland führte. Dort wartete ein faszinierender way of life, der, obwohl unverwechselbar und einmalig, bis heute nicht in seiner Tiefe erfasst worden ist. Menschen verschlug es meist zufällig dorthin. Die Anlässe dieser Reisen waren unterschiedlich: Manchmal waren es Liebesgeschichten, manchmal Studienreisen zu den finnischen Architektur-Klassikern. Häufig waren finnische Studenten die Ursache, die sich mit ihren Finnmark-Stipendien in Mitteleuropa eine sehr komfortable Studienzeit leisten konnten und die dann Freunde zu den Sommerhütten der Seenplatte eingeladen haben. Bevor die Filme von Aki Kaurismäki nach Europa kamen, hatte kaum etwas die Reisenden auf die finnischen Eigenarten vorbereitet. Wer Finnland besuchte, hatte vielleicht von seiner Design-Tradition gehört und wusste, dass es jede Menge Seen gab – das war’s dann auch schon. Über Nicaragua war mehr Wissen im Umlauf als über Finnland. Die finnische Lebenswirklichkeit, ihre Eigentümlichkeiten und Färbungen trafen die Reisenden daher völlig unerwartet. Nach einiger Zeit im Land entpuppte sich dieses an sich europäische Gemeinwesen dann als hermetische und völlig autarke Existenzform, mindestens so exotisch wie Nepal oder Mali. Aber das Exotische war

unaufgeregt und unterkühlt und überwuchs und veränderte das Europäisch-Moderne derart, dass es eine ganz eigensinnige, aber sehr faszinierende Färbung bekam. Ein gutes Beispiel für diesen Eigensinn ist die finnische Ausprägung funktionalistischer Architektur, die vollkommen undoktrinär auftritt und etwas geschafft hat, was sonst nirgendwo gelungen ist – nämlich, ein allgemein akzeptierter und populärer Nationalstil zu werden. Es ist wahrscheinlich unmöglich, die Eigentümlichkeiten und den Eigensinn des Finnischen in allgemeine Begriffe zu fassen. Jede Beschreibung zerfällt sofort ins Anekdotische. Diese Anekdoten drehen sich meistens um das Absurde, das Lakonisch-Beharrliche und das Ironische, und schließlich um das Alkoholische. Alle diese Kategorien spielen ineinander. Ihr Grundton schwingt zwischen komisch und verzweifelt – oft pendelt er sich aufs Gefühlvoll-Schwermütige ein. Das Absurde, das Zusammentreffen von im Grunde Unvereinbarem, ist in Finnland als ein lebenspraktischer Zustand akzeptiert. Das Absurde wird in Finnland nicht herbeigeführt; es sind zufällige Fügungen, die es erzeugen – wie überhaupt der Zufall sehr entspannt gesehen wird. Man bestaunt oder beklagt diese Fügungen vielleicht, nimmt sie aber stoisch hin und nutzt sie ungeachtet ihrer logischen Inkonsistenz oder der Lächerlichkeit, die ihnen eventuell anhaftet. Dieses Moment ist wesentlich für die Filme Aki Kaurismäkis. Einen frühen Beleg für diese Haltung bietet die Geschichte der finnischen Nationalhymne. Sie wurde 1848 uraufgeführt. Als herauskam, dass die Melodie der Hymne recht eindeutig von einem deutschen Trinklied inspiriert war, haben die Finnen dies resignierend hingenommen. Die Aland-Inseln, eine autonome finnische Region, haben dagegen beschlossen, sich eine eigene finnische Nationalhymne zu geben – es existieren also in Finnland zwei verschiedene Hymnen. Eigentlich aber vier, da die finnischen Hymnen zweisprachig ausgeführt sind (wegen der schwedische Minorität mit ihren verbrieften Rechten). Da fällt es kaum noch ins Gewicht, dass die Esten, Nachbarn auf der anderen Seite der Ostsee, die finnische Melodie (das Trinklied) für ihre eigene Nationalhymne übernommen haben. Das Ironische und das Lakonische bestehen im Finnischen wie beim Yin und Yang als weiblich-männlicher Gegensatz. Es fällt schwer zu glauben, aber es ist die unüberhörbare Wahrheit: In diesem Land, das in allen Belangen die Emanzipation etabliert hat, existiert, wie in einer Stammesgesellschaft, eine tief eingefurchte schicksalhafte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern: Den Frauen gehört die Ironie. Sache der Männer ist das Lakonische, das oft ins Schweigsame verebbt.

Der finnische Eisbrecher Sisu (gebaut 1939). Sisu beschreibt eine den Finnen eigene Gemütslage. Das Wort selbst gilt als unübersetzbar. In geselligen Runden sind es die Frauen, die hauptsächlich die Unterhaltungen bestreiten. Der Grundton dieser Gespräche ist ironisch. Das rhetorische Mittel der finnischen Ironie ist der Spott. Alle finnischen Frauen spotten. Es gibt natürlich unterschiedliche Färbungen des Spottes, je nach Temperament und Naturell von gutmütig bis vernichtend. Aber ohne Zweifel ist Spott das Herzstück weiblicher Kommunikation. Frauen spielen sich in spöttischen Wechselreden gegenseitig die Bälle zu und wirken dabei geistvoll und wendig. Ziel des Spotts ist das Selbstgefällige, Aufgeblähte oder Pompöse. Wie in vielen Gesellschaften mit starken bäuerlichen Wurzeln besteht auch hier ein Widerwille gegen das Überhebliche, gegen die Attitüde, etwas Besseres sein zu wollen («Du glaubst, dass du dir was herausnehmen kannst? Na, dir werden wir’s zeigen …»). Finninnen sind temperamentvoll, aber auf sehr trockene Art. Ihre Sprechweise beinhaltet wenig Gestikulation, Ihre Körpersprache vermittelt aber Geistesgegenwart und gut gelaunte Angespanntheit, die sich bis in die feinsten Körperfasern fortsetzt. Nachdem ich im letzten April einen wunderbaren Abend in der Gesellschaft sehr dicker finnischer Schriftstellerinnnen verbracht habe, würde ich sogar behaupten, dass es eine eigene Form weiblich-finnischer Korpulenz gibt, bei der ein straffes und elastisches Mentalitätskorsett die fülligen Körper in fröhlichstrammer Rundlichkeit erhält. Ich kenne kaum schweigsame oder gar schwermütige Finninnen. Die wortkargen, depressiv in sich eingeschlossenen Frauen, wie wir sie von Kati Outinens Filmrollen kennen, halte ich für eine finnische Männerphantasie. Im Gegensatz zu den Frauen sind Männer einsilbig und lakonisch. Sie sind in ihrer Art eindrucksvoll, und man hat nicht den Eindruck, dass sie unter ihrer Zurückhaltung

leiden. Eine spezifisch finnische Ausprägung des Lakonischen entsteht, wenn es sich mit unbeirrbarer Tätigkeit verbindet. Dieses ungerührte, kraftvolle und beständige Vorausschreiten unter der Last einer Pflicht hat sogar einen Namen: Es heißt Sisu und ist jene Charaktertugend, die nach Überzeugung der meisten Finnen das Land zusammenhält. Der größte finnische Eisbrecher, der im Winter in der Ostsee Fahrtrinnen durchs dick zugefrorene Meer malmt, trägt den Namen Sisu. Urho Kekkonen, jahrzehntelang finnischer Staatspräsident, ist immer, wenn schwere Entscheidungen angestanden sind, an Bord gegangen und hat zugeschaut, wie die Sisu durchs Eis bricht – dies hat ihn inspiriert. Sisu ist eine Tugend im Grossen wie im Kleinen, die sich in einem persistenten, um nicht zu sagen aufdringlichen Pflichtgefühl äußert. Ich habe 1980 einen berühmten Wahrsager in Helsinki besucht, einen kleinen Mann mit stechendem Blick aus wasserblauen Augen, der in einer Art Rumpelkammer residierte. Seine Prophezeiungen hat er in langsamer, zäher Rede ausgebreitet. Der Wahrsager hat mir die Heirat mit einer Finnin vorhergesagt (nichts dergleichen ist passiert) und mich vor Angina Pectoris gewarnt (für ihn allerdings eine Halskrankheit). Offensichtlich bemerkte er, dass mich seine Vorhersagen nicht überzeugten; trotzdem sammelte er die Kräfte zu einem letzten pflichtbewussten Ruck: der Prophezeiung des Dritten Weltkriegs – der werde demnächst in Skandinavien beginnen. Jetzt war ich beeindruckt. Das Alkoholische ist wie überall in Skandinavien auch in Finnland eine zentrale Kategorie – einfach weil Alkohol monopolistisch und restriktiv bewirtschaftet worden ist. Alkohol ist teuer. Leider, muss man auch sagen: Finnen können mit Alkohol nicht umgehen; vielleicht, weil sie selten Gelegenheit haben zu üben. Die Organisation und Bereitstellung von erschwinglichem Alkohol ist ein running gag im finnischen Alltag. Früher wurde Alkohol nur kontingentiert in Spezialgeschäften ausgegeben. Der Namen dieser Monopol-Läden war Alko. Es gab viel zu wenige davon: In ganz Lappland, einer Landschaft so groß wie Portugal, existierte nur eine einzige Alko-Niederlassung. Deshalb wurde im ganzen Land illegal gebraut, gebrannt, gepanscht. Ich war einmal bei einem Treffen der Landfrauenvereinigung auf einem Bauernhof in Mittelfinnland. Die Frauen sitzen im Wohnzimmer und folgen einem Vortrag über Gemüsekonservierung. Die Männer, anfangs alle anwesend, sickern aus dem Raum. Der letzte winkt mir – ich folge diskret. Wir betreten eine Garage, in der sich an die zwanzig finnische Bauern befinden. Jeder hat eine große Kaffeetasse in der Hand. In der Mitte der Garage steht ein aufblasbares Gummi-Planschbecken mit Donald-Duck-

Aufdruck. Das Becken ist mit einer trüben Flüssigkeit gefüllt, in der verrottete Bananen und Orangen dümpeln. Es handelt sich um ein selbst angesetztes, schwach alkoholisches Getränk, das vor sich hin gärt. Ich bekomme eine Tasse und die Einladung, mich wie alle anderen zu bedienen. Die Flüssigkeit schmeckt furchtbar. Der Gastgeber erklärt entschuldigend: «Wir nennen es Madeira. Es wird besser, wenn es älter wird.» Pause, dann: «Aber es wird nicht sehr alt.» Ich stehe eine Stunde vor dem Planschbecken, aus dem schwankende Männer schweigend schöpfen und trinken. Einige verlieren das Gleichgewicht, lehnen sich an die Wand oder setzen sich auf gestapelte Traktorreifen. Andere verlassen die Garage und übergeben sich. Schließlich rufen die Frauen zum Essen. Der Alkohol wird in Finnland als ein fatales, unbeherrschbares Ereignis betrachtet, ähnlich wie das Wetter. Das Trinken erfolgt pflichtbewusst und wenig anmutig. Es wird schnell und hart getrunken, und es gibt eine Schwäche für abstoßende Mixgetränke. Besonders grauenhaft: Salmiaki – in Wodka aufgelöste Lakritze, ein Cocktail, der nach WC-Reiniger riecht und bei jedem Schluck den Körper in Ekelwellen durchrüttelt. Die Wirkung des Alkohols wird hingenommen wie ein Schicksal. Maßlosigkeit wird nicht verurteilt. Schweigen ist kein Problem. Es wird aber gerne zugehört. Manchmal werden sehr persönliche Gespräche à deux geführt. Diese Gespräche sind offen, gelegentlich rührend. Die Menschen werden selten unangenehm, wenn sie betrunken sind. Inzwischen, bemerke ich, ändert sich der Umgang mit Alkohol. Die Jungen trinken kosmopolitisch – man merkt keinen rechten Unterschied mehr zu unseren eigenen Gewohnheiten. Es scheint, dass der jahrhundertealte finnische Alkoholismus langsam ausstirbt und dem kalten, globalisierten Saufen weichen muss. Ich sehe es mit Bedauern. Joe Zawinul, Pianist aus Wien, der in den Sechzigerjahren das einzige weiße Mitglied der Soul-Jazz-Combo Cannonball Adderleys war und einen dezidiert schwarzen Stil gespielt und komponiert hat (Mercy, Mercy, Mercy) soll seiner Wiener Mutter seine Verwandlung in einen Amerikaner mit dem denkwürdigen Satz: «Mamma, i bin a Neger» mitgeteilt haben. Den analogen Satz eines mitteleuropäischen Finnland-Verehrers («Mamma, ich bin ein Finne») wird man niemals glaubwürdig hören – er ist für jeden, der sich einige Zeit mit diesem Land auseinandergesetzt hat, undenkbar, denn das Finnentum ist, ohne dass die Finnen wahrscheinlich darauf Wert legen, exklusiv. Ich nehme sogar an, Finnen wissen gar nicht, dass es unmöglich ist, Finne zu sein, wenn man es nicht schon ist. Wer will, kann mit vertretbarem Anpassungsaufwand Amerikaner, ja sogar schwar-

zer Amerikaner werden – diese Möglichkeit steht offen. Aber als Bewunderer und Kenner des finnischen way of life bleibt man ab einem gewissen Punkt der Annäherung auf die Rolle eines Beobachters beschränkt, der zwar dem Gegenstand seiner Verehrung Gesellschaft leisten kann, dem aber niemals eine vollständige Teilhabe möglich ist, wahrscheinlich, weil ihm dazu das eigene endlose Staunen im Weg wäre. Dies ist letzendlich überhaupt kein Problem. Aber wie so vieles andere ist auch dies ein interessanter Aspekt dieses eigenartigen und liebenswerten Landes, der zu denken gibt. Orhan Kipcak


KLINCH Zwischen Brand und Label

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Diplom Benjamin Kniel

Besteht die Möglichkeit, mit Visual Music eine Selbständigkeit in der Kreativwirtschaft aufzubauen? Wie kann ich mit meinem Diplomprojekt im Musikmarkt wahrgenommen werden?

Kontext – Mein Diplomprojekt KLINCH versucht, in Form eines Labels alternative Vermarktungsformen und Produkte für den Musikmarkt zu entwickeln. KLINCH macht sich auf die Suche nach dem CDCover von heute. Dabei treffen Musiker mit ihren Songs auf Visuelle Gestalter, die in Auseinandersetzung mit der Musik Poster gestalten. Wichtig sind mir die Geschichten, die in diesen Kollaborationen entstehen und der jeweiligen Koproduktion einen Mehrwert geben. Inhalt – KLINCH ist ein Netlabel für audiovisuelle Veröffentlichungen. In diesem bringe ich Musiker und Gestalter zu gemeinsamen Sessions zusammen. Produkt dieser Kollaborationen sind jeweils ein Musikstück und ein dazugehöriges Poster. Dieses audiovisuelle Gebinde wird über «klinch.ch» vertrieben. KLINCH ist sich darüber im Klaren, dass die goldenen Zeiten der Tonträgerverkäufe vorbei sind. Die Absatzzahlen sind rückläufig, obwohl der Musikkonsum stetig steigt. Deshalb erproben wir alternative Vermarktungs- und Vertriebsformen von Musik. KLINCH lässt bewusst digitale auf analoge Techniken prallen. Damit wird ausgelotet, welche materiellen Produkte heute noch einen Stellenwert haben und was in Zeiten der Digitalisierung überflüssig geworden ist. Produkt – Das Produkt ist ein Labelkatalog mit Veröffentlichungen, die aus einem A1-Poster und einem Song bestehen. Die Poster werden als limitierte Drucke erhältlich sein. Visuelle Produkte sind noch immer gerne physisch erlebbar, und es besteht eine Bereitschaft, dafür Geld zu bezahlen. Der zum Plakat passende Song kann über Code als mp3-Datei heruntergeladen werden. Das Abspielen von Musik hat sich in den letzten Jahren fast vollständig auf digitale Geräte verschoben, weshalb physische Tonträger an Sinnhaftigkeit verloren haben.

Im Rahmen jeder Veröffentlichung entsteht ein Fanzine, das die Zusammenarbeit von Künstler und Musiker dokumentiert. Dieser «Branded Content» dient mir zusätzlich als Werbung für mein Label. Gemeinschaft – Im Kontext meiner Diplomarbeit ist das Jahresthema Jetzt Gemeinschaft! für mich Ansatz einer tiefgreifenden Beschäftigung mit der Kreativwirtschaft und deren verschiedenen Communities. Ich suche Überschneidungen mit der Self-PublishingSzene, mit Grafikern und mit Musikern, und versuche, mich in dieser Gemeinschaft mit meinem Label zu positionieren. Des Weiteren interessieren mich vor allem die Aspekte der Finanzierung von Arbeitsgemeinschaften und Ateliers, aber auch, welche Formen von Arbeitsgemeinschaften es für Selbständige gibt und welche gesellschaftliche Relevanz solche Arbeitsgemeinschaften haben. Coaches – Jan Knopp, Oliver Rossel Kontakt – KLINCH, Visual Music Label Wylerstrasse 67, Bern, Switzerland +41 78 813 81 23 mail@klinch.ch, www.klinch.ch Team und Dank – Kilian Spinnler, Rebekka Schaerer, Jan Knopp, Oliver Rossel, Fabian Frei, Peter Blickenstorfer, André Seiler, Atlas Studio, Yannick Frich, Friederike Leuenberger, Donat Kaufmann, Bernd und Lucie Kniel-Fux


KLINCH Zwischen Brand und Label

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Diplom Benjamin Kniel

Besteht die Möglichkeit, mit Visual Music eine Selbständigkeit in der Kreativwirtschaft aufzubauen? Wie kann ich mit meinem Diplomprojekt im Musikmarkt wahrgenommen werden?

Kontext – Mein Diplomprojekt KLINCH versucht, in Form eines Labels alternative Vermarktungsformen und Produkte für den Musikmarkt zu entwickeln. KLINCH macht sich auf die Suche nach dem CDCover von heute. Dabei treffen Musiker mit ihren Songs auf Visuelle Gestalter, die in Auseinandersetzung mit der Musik Poster gestalten. Wichtig sind mir die Geschichten, die in diesen Kollaborationen entstehen und der jeweiligen Koproduktion einen Mehrwert geben. Inhalt – KLINCH ist ein Netlabel für audiovisuelle Veröffentlichungen. In diesem bringe ich Musiker und Gestalter zu gemeinsamen Sessions zusammen. Produkt dieser Kollaborationen sind jeweils ein Musikstück und ein dazugehöriges Poster. Dieses audiovisuelle Gebinde wird über «klinch.ch» vertrieben. KLINCH ist sich darüber im Klaren, dass die goldenen Zeiten der Tonträgerverkäufe vorbei sind. Die Absatzzahlen sind rückläufig, obwohl der Musikkonsum stetig steigt. Deshalb erproben wir alternative Vermarktungs- und Vertriebsformen von Musik. KLINCH lässt bewusst digitale auf analoge Techniken prallen. Damit wird ausgelotet, welche materiellen Produkte heute noch einen Stellenwert haben und was in Zeiten der Digitalisierung überflüssig geworden ist. Produkt – Das Produkt ist ein Labelkatalog mit Veröffentlichungen, die aus einem A1-Poster und einem Song bestehen. Die Poster werden als limitierte Drucke erhältlich sein. Visuelle Produkte sind noch immer gerne physisch erlebbar, und es besteht eine Bereitschaft, dafür Geld zu bezahlen. Der zum Plakat passende Song kann über Code als mp3-Datei heruntergeladen werden. Das Abspielen von Musik hat sich in den letzten Jahren fast vollständig auf digitale Geräte verschoben, weshalb physische Tonträger an Sinnhaftigkeit verloren haben.

Im Rahmen jeder Veröffentlichung entsteht ein Fanzine, das die Zusammenarbeit von Künstler und Musiker dokumentiert. Dieser «Branded Content» dient mir zusätzlich als Werbung für mein Label. Gemeinschaft – Im Kontext meiner Diplomarbeit ist das Jahresthema Jetzt Gemeinschaft! für mich Ansatz einer tiefgreifenden Beschäftigung mit der Kreativwirtschaft und deren verschiedenen Communities. Ich suche Überschneidungen mit der Self-PublishingSzene, mit Grafikern und mit Musikern, und versuche, mich in dieser Gemeinschaft mit meinem Label zu positionieren. Des Weiteren interessieren mich vor allem die Aspekte der Finanzierung von Arbeitsgemeinschaften und Ateliers, aber auch, welche Formen von Arbeitsgemeinschaften es für Selbständige gibt und welche gesellschaftliche Relevanz solche Arbeitsgemeinschaften haben. Coaches – Jan Knopp, Oliver Rossel Kontakt – KLINCH, Visual Music Label Wylerstrasse 67, Bern, Switzerland +41 78 813 81 23 mail@klinch.ch, www.klinch.ch Team und Dank – Kilian Spinnler, Rebekka Schaerer, Jan Knopp, Oliver Rossel, Fabian Frei, Peter Blickenstorfer, André Seiler, Atlas Studio, Yannick Frich, Friederike Leuenberger, Donat Kaufmann, Bernd und Lucie Kniel-Fux


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«[...] Und vergib uns unsere Schuld [...]»

Schuld und Schulden 70

Cancelling Debts. Flyer zur Konferenz Bonds: Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten Berlin 2012. Künstlerkollektiv Bureau d’Etudes


«[...] Und vergib uns unsere Schuld [...]»

Schuld und Schulden 70

Cancelling Debts. Flyer zur Konferenz Bonds: Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten Berlin 2012. Künstlerkollektiv Bureau d’Etudes


«Wenn ich einen Bruder hätte, der jemanden beraubte, und man käme und sagte, ich sei schuld, so wäre das ungerecht. Wenn man aber sagte, ich solle, da der Dieb mein Bruder sei, mitarbeiten, dass der Bestohlene sein Gut oder dessen Gegenwert zurückerhalte, so würde ich ohne Zögern antworten: ‹Das will ich tun.› Die Schuld müsste ich ablehnen. Die Schulden würde ich anerkennen.» (Erich Kästner 1945, 502)

Vor dem Hintergrund der heutigen globalen Wirtschafts- und Finanzkrise haben diese von Erich Kästner im Jahre 1945 pointiert unterschiedene Semantik von Schuld und die moralische Verquickung von Schuld und Schulden mehr denn je an Aktualität und Bedeutung gewonnen. Noch heute sind die finanzielle Schuld und die moralische Schuld – jemandem etwas schulden, beziehungsweise schuld sein an etwas – eng miteinander verbunden, denn jemandem etwas schuldig zu sein hat nie nur eine ökonomische, sondern immer auch eine moralische Konnotation (Nietzsche 1887). Dieser Dialektik von Schuld und Schulden wird in Zeiten der Schuldenkrise eine immer größere Bedeutung zugemessen, was sich insbesondere im politischen Umgang mit ebendieser Krise niederschlägt. Die weltweite Krise hat nämlich gezeigt, dass die Instrumente und Produkte der Wirtschafts- und Finanzmärkte nicht nur versagen, sondern auch erheblichen gesellschaftlichen Schaden anrichten können. Warum glauben wir trotz dieser Entwicklungen immer noch an die Macht eines Systems, das für den Einzelnen immer weniger durchschaubar ist? Maurizio Lazzarato spricht in Hinsicht auf die gegenwärtige Ökonomie sogar von einer universellen Schuldenökonomie (Lazzarato 2012). Steckt hinter den analytischen und reduktionistischen Vorgehensweisen und Modellen der Ökonomie mehr als nur

Mathematik und Analytik? Woher stammt dieser in der Gesellschaft so fest verankerte Glaube an das Geld und an unsere Wirtschaftssysteme? Was ist Geld, und woher stammt es? Woher kommt die moralische Gleichsetzung von Schuld und Schulden? Um diesen Fragen nachgehen zu können, bedarf es einer näheren Analyse der Anfänge der Entwicklung, die unsere Gegenwart bestimmt. Ökonomen beschreiben Geld fast immer als ein bloßes, neutrales Mittel zur Vereinfachung der Wertaufbewahrung und des Handels, dessen Ursprung auf den Tauschhandel zurückzuführen sei. Dabei gehen sie von unhistorischen Modellen aus, die Menschen eine «natürliche Neigung» zum Tausch und Handel zuschreiben. In den letzten Jahren haben sich immer mehr Ethnologen und Soziologen mit der Frage nach dem Ursprung des Geldes und der Schulden auseinandergesetzt und dabei solche Geld- und Kredittheorien als Mythen entlarvt, die wiederum die Ökonomisierung aller sozialen Beziehungen vorantreiben. In seinem Buch Schulden: Die ersten 5000 Jahre, das weltweit für Furore gesorgt und anscheinend den Nerv der Zeit getroffen hat, hinterfragt David Graeber solche utilitaristisch-wirtschaftsliberalen Mythen vom am Eigennutz orientierten Menschen, der mit Hilfe des Geldes die Fesseln des Naturaltauschs abstreift, um zum allgemeinen Tausch, zu Handel und Wohlstand zu finden.

Graeber sieht am Anfang und noch vor der Einführung des Geldes nicht den Tausch, sondern das Versprechen. (Graeber 2012) Vieler seiner Kollegen in der Anthropologie sehen als Ursprung von Schulden und Geld gar eine Art «Urschuld», eine Verpflichtung gegenüber dem Kosmos, Gott, den Ahnen oder auch der Gesellschaft. Das Geld wird durch den Staat – den Herrscher oder König – hergestellt als Anerkennung dieser unendlichen Schuld, welche in Form von Gaben in Tempeln zurückgezahlt werden kann. Graeber untersucht diese Verbindung von finanzieller und moralischer Schuld in ihrer gegenwärtigen Dimension. Dabei gelingt es ihm, das Verhältnis zwischen moralischem Fehlverhalten und Verschuldung zu kritisieren, indem er die moralische Verpflichtung analysiert, die angeblich an Schulden geknüpft ist. Graeber geht sogar so weit, die gesamte Geschichte der Menschheit als Geschichte der Schulden, als Chronik der Beziehung zwischen Schuldnern und Gläubigern zu beschreiben. Er kritisiert Schulden dabei als Prinzip einer Moral, die nur die Macht der Herrschenden stützte, und löst somit die moralischen Fesseln, die uns auf das Prinzip der Schulden verpflichten. Er sieht Schulden als System von Macht und Ausschluss, dessen Grundlage die Verschränkung von finanziellen Schuldverhältnissen mit individueller und kollektiver Gewalt ist. Graeber argumentiert, dass von der Antike bis zu den Krisenherden unserer Zeit revolutionäre Bewegungen immer in Schuldenkrisen entstanden sind. In Anlehnung an den Althistoriker Moses Finley – «Streicht alle Schulden und verteilt das Land neu!» – argumentiert Graeber, dass diese Forderung nach einem Schuldenschnitt schon in der Antike und seither immer wieder die Losung revolutionärer Bewegungen geworden ist. Graeber sieht die europäische Schuldenkrise daher nicht als ökonomisches, sondern vor allem als moralisches Problem, denn für ihn stellen Schulden eine moralische Verpflichtung dar, die es auch vor der Einführung des Geldes und vor dem Kapitalismus gab. Graeber argumentiert, dass Geld die gegenseitigen Versprechen der Menschen unpersönlich und übertragbar – zu Schulden eben – macht. Dadurch werden existierende Macht – und Herrschaftsverhältnisse zementiert, indem die Konversion von nichtökonomischen Werten

in finanzielle Schulden menschliche Kooperation, Gemeinsinn und Formen möglicher Neuverhandlung der Versprechen verhindert. Auch Christina von Braun sieht mit Blick auf die Geschichte den Handel schon in primitivster Zeit als Kreditsystem. (Braun 2012) Anders als Graeber betont sie in ihrem Buch Der Preis des Geldes: Eine Kulturgeschichte neben dem Schuldsystem auch den religiösen Status des Geldes, der jedoch wiederum eng mit Schuld zusammenhängt, aber einer Schuld gegenüber den Göttern. Sie argumentiert, dass diese Art von Schuld gegenüber den Göttern das Geld hervorgebracht habe, dass es im Laufe der Zeit aber eine historische Eigendynamik bekommen habe, welche die Menschen zu seiner Beglaubigung in ihren Dienst nehme. Neben den materiellen Werten – Grund, Boden, Waren, Edelmetalle, etc. – und der durch die Münzprägung verliehenen politischen Glaubwürdigkeit hat die moderne Beglaubigung des Geldes ihren Ursprung auch im antiken Opferkult und in der christlichen Religion. Geld als solches ist ein symbolisches Schriftsystem, etwas Abstraktes, Fiktives, dessen Zeichenhaftigkeit – so wird vermutet – sich auf die religiösen Opfer des Christentums bezieht. (ebd., 102) Die zwei Striche des Dollarund auch des Euro-Zeichens könnten Relikte aus dieser Zeit sein und die Hörner der geopferten Tiere darstellen. Die heutige Geldmünze stammt wohl von der Hostie (lateinisch hostia: Opfer, Opfertier, Opfergabe), und ihre «Materialisierungsfähigkeit findet in der Transsubstantiation der Hostie ihr ideales Gegenbild.» (Braun 2004, 34) Von der Silbermünze obolos aus dem antiken Griechenland leitet sich auch der Obolus in der Kirche ab. Tier- und Menschenopfer wurden symbolisch durch Münzen ersetzt, die Abbildungen von Tieren, Göttern oder Opferwerkzeugen trugen. Ein Beispiel für solche Geldformen, die die heilige Schuld gegenüber den Göttern symbolisierten, sind die Kauri-Muscheln, die noch bis ins 20. Jahrhundert in vielen Teilen der Welt als Geld gehandelt wurden. Doch selbst der alte bundesdeutsche Pfennig, der mit einer Ähre verziert war, sowie die Aufschrift «In God we trust» auf der US-amerikanischen Dollar-Münze erinnern an die ursprüngliche Bedeutung der Münzen als Substitute für Opfer, die im Tempel erbracht wurden.


«Wenn ich einen Bruder hätte, der jemanden beraubte, und man käme und sagte, ich sei schuld, so wäre das ungerecht. Wenn man aber sagte, ich solle, da der Dieb mein Bruder sei, mitarbeiten, dass der Bestohlene sein Gut oder dessen Gegenwert zurückerhalte, so würde ich ohne Zögern antworten: ‹Das will ich tun.› Die Schuld müsste ich ablehnen. Die Schulden würde ich anerkennen.» (Erich Kästner 1945, 502)

Vor dem Hintergrund der heutigen globalen Wirtschafts- und Finanzkrise haben diese von Erich Kästner im Jahre 1945 pointiert unterschiedene Semantik von Schuld und die moralische Verquickung von Schuld und Schulden mehr denn je an Aktualität und Bedeutung gewonnen. Noch heute sind die finanzielle Schuld und die moralische Schuld – jemandem etwas schulden, beziehungsweise schuld sein an etwas – eng miteinander verbunden, denn jemandem etwas schuldig zu sein hat nie nur eine ökonomische, sondern immer auch eine moralische Konnotation (Nietzsche 1887). Dieser Dialektik von Schuld und Schulden wird in Zeiten der Schuldenkrise eine immer größere Bedeutung zugemessen, was sich insbesondere im politischen Umgang mit ebendieser Krise niederschlägt. Die weltweite Krise hat nämlich gezeigt, dass die Instrumente und Produkte der Wirtschafts- und Finanzmärkte nicht nur versagen, sondern auch erheblichen gesellschaftlichen Schaden anrichten können. Warum glauben wir trotz dieser Entwicklungen immer noch an die Macht eines Systems, das für den Einzelnen immer weniger durchschaubar ist? Maurizio Lazzarato spricht in Hinsicht auf die gegenwärtige Ökonomie sogar von einer universellen Schuldenökonomie (Lazzarato 2012). Steckt hinter den analytischen und reduktionistischen Vorgehensweisen und Modellen der Ökonomie mehr als nur

Mathematik und Analytik? Woher stammt dieser in der Gesellschaft so fest verankerte Glaube an das Geld und an unsere Wirtschaftssysteme? Was ist Geld, und woher stammt es? Woher kommt die moralische Gleichsetzung von Schuld und Schulden? Um diesen Fragen nachgehen zu können, bedarf es einer näheren Analyse der Anfänge der Entwicklung, die unsere Gegenwart bestimmt. Ökonomen beschreiben Geld fast immer als ein bloßes, neutrales Mittel zur Vereinfachung der Wertaufbewahrung und des Handels, dessen Ursprung auf den Tauschhandel zurückzuführen sei. Dabei gehen sie von unhistorischen Modellen aus, die Menschen eine «natürliche Neigung» zum Tausch und Handel zuschreiben. In den letzten Jahren haben sich immer mehr Ethnologen und Soziologen mit der Frage nach dem Ursprung des Geldes und der Schulden auseinandergesetzt und dabei solche Geld- und Kredittheorien als Mythen entlarvt, die wiederum die Ökonomisierung aller sozialen Beziehungen vorantreiben. In seinem Buch Schulden: Die ersten 5000 Jahre, das weltweit für Furore gesorgt und anscheinend den Nerv der Zeit getroffen hat, hinterfragt David Graeber solche utilitaristisch-wirtschaftsliberalen Mythen vom am Eigennutz orientierten Menschen, der mit Hilfe des Geldes die Fesseln des Naturaltauschs abstreift, um zum allgemeinen Tausch, zu Handel und Wohlstand zu finden.

Graeber sieht am Anfang und noch vor der Einführung des Geldes nicht den Tausch, sondern das Versprechen. (Graeber 2012) Vieler seiner Kollegen in der Anthropologie sehen als Ursprung von Schulden und Geld gar eine Art «Urschuld», eine Verpflichtung gegenüber dem Kosmos, Gott, den Ahnen oder auch der Gesellschaft. Das Geld wird durch den Staat – den Herrscher oder König – hergestellt als Anerkennung dieser unendlichen Schuld, welche in Form von Gaben in Tempeln zurückgezahlt werden kann. Graeber untersucht diese Verbindung von finanzieller und moralischer Schuld in ihrer gegenwärtigen Dimension. Dabei gelingt es ihm, das Verhältnis zwischen moralischem Fehlverhalten und Verschuldung zu kritisieren, indem er die moralische Verpflichtung analysiert, die angeblich an Schulden geknüpft ist. Graeber geht sogar so weit, die gesamte Geschichte der Menschheit als Geschichte der Schulden, als Chronik der Beziehung zwischen Schuldnern und Gläubigern zu beschreiben. Er kritisiert Schulden dabei als Prinzip einer Moral, die nur die Macht der Herrschenden stützte, und löst somit die moralischen Fesseln, die uns auf das Prinzip der Schulden verpflichten. Er sieht Schulden als System von Macht und Ausschluss, dessen Grundlage die Verschränkung von finanziellen Schuldverhältnissen mit individueller und kollektiver Gewalt ist. Graeber argumentiert, dass von der Antike bis zu den Krisenherden unserer Zeit revolutionäre Bewegungen immer in Schuldenkrisen entstanden sind. In Anlehnung an den Althistoriker Moses Finley – «Streicht alle Schulden und verteilt das Land neu!» – argumentiert Graeber, dass diese Forderung nach einem Schuldenschnitt schon in der Antike und seither immer wieder die Losung revolutionärer Bewegungen geworden ist. Graeber sieht die europäische Schuldenkrise daher nicht als ökonomisches, sondern vor allem als moralisches Problem, denn für ihn stellen Schulden eine moralische Verpflichtung dar, die es auch vor der Einführung des Geldes und vor dem Kapitalismus gab. Graeber argumentiert, dass Geld die gegenseitigen Versprechen der Menschen unpersönlich und übertragbar – zu Schulden eben – macht. Dadurch werden existierende Macht – und Herrschaftsverhältnisse zementiert, indem die Konversion von nichtökonomischen Werten

in finanzielle Schulden menschliche Kooperation, Gemeinsinn und Formen möglicher Neuverhandlung der Versprechen verhindert. Auch Christina von Braun sieht mit Blick auf die Geschichte den Handel schon in primitivster Zeit als Kreditsystem. (Braun 2012) Anders als Graeber betont sie in ihrem Buch Der Preis des Geldes: Eine Kulturgeschichte neben dem Schuldsystem auch den religiösen Status des Geldes, der jedoch wiederum eng mit Schuld zusammenhängt, aber einer Schuld gegenüber den Göttern. Sie argumentiert, dass diese Art von Schuld gegenüber den Göttern das Geld hervorgebracht habe, dass es im Laufe der Zeit aber eine historische Eigendynamik bekommen habe, welche die Menschen zu seiner Beglaubigung in ihren Dienst nehme. Neben den materiellen Werten – Grund, Boden, Waren, Edelmetalle, etc. – und der durch die Münzprägung verliehenen politischen Glaubwürdigkeit hat die moderne Beglaubigung des Geldes ihren Ursprung auch im antiken Opferkult und in der christlichen Religion. Geld als solches ist ein symbolisches Schriftsystem, etwas Abstraktes, Fiktives, dessen Zeichenhaftigkeit – so wird vermutet – sich auf die religiösen Opfer des Christentums bezieht. (ebd., 102) Die zwei Striche des Dollarund auch des Euro-Zeichens könnten Relikte aus dieser Zeit sein und die Hörner der geopferten Tiere darstellen. Die heutige Geldmünze stammt wohl von der Hostie (lateinisch hostia: Opfer, Opfertier, Opfergabe), und ihre «Materialisierungsfähigkeit findet in der Transsubstantiation der Hostie ihr ideales Gegenbild.» (Braun 2004, 34) Von der Silbermünze obolos aus dem antiken Griechenland leitet sich auch der Obolus in der Kirche ab. Tier- und Menschenopfer wurden symbolisch durch Münzen ersetzt, die Abbildungen von Tieren, Göttern oder Opferwerkzeugen trugen. Ein Beispiel für solche Geldformen, die die heilige Schuld gegenüber den Göttern symbolisierten, sind die Kauri-Muscheln, die noch bis ins 20. Jahrhundert in vielen Teilen der Welt als Geld gehandelt wurden. Doch selbst der alte bundesdeutsche Pfennig, der mit einer Ähre verziert war, sowie die Aufschrift «In God we trust» auf der US-amerikanischen Dollar-Münze erinnern an die ursprüngliche Bedeutung der Münzen als Substitute für Opfer, die im Tempel erbracht wurden.


Von der Münze über Schuldverschreibungen, vom Papiergeld bis zum elektronischen Geld – das Geld hat seit seiner Entstehung einen immer höheren Abstraktionsgrad erreicht. Der größte Teil des Geldes ist inzwischen Kreditgeld, das auf keine realen Werte aufbaut, sondern auf Hoffnung, Glauben und Versprechen basiert. Seit der Abschaffung des Goldstandards gibt es einen breiten Konsens unter Ökonomen, dass Geld keiner materiellen Deckung bedürfe. Doch das moderne Geld unserer heutigen Zeit, das keinen materiellen Gegenwert hat, wird immer mehr durch den menschlichen Körper gedeckt. Diese körperliche Deckung führt zu extrem unterschiedlichen Einkommensverhältnissen, wie wir sie im modernen Finanzkapitalismus haben. Die Monetarisierung des menschlichen Körpers sieht von Braun auch im Söldnerwesen, in der Prostitution, im Organhandel oder in der Reproduktionsmedizin. Der menschliche Körper und das menschliche Schicksal werden zur einzigen ‹Realität› und letzten ‹Deckung›, in die sich Geld konvertieren lässt. Während im Mittelalter die Leibeigenschaft als Form der bäuerlichen Unfreiheit eine direkte Machtausübung über Mensch und Körper ermöglichte, wird der Zugang zur Macht in unserer heutigen Gesellschaft über Geld und Schulden hergestellt. Der Mensch ist selbst zur Ware geworden, das Geld zum Selbstzweck. Geld ist zwar etwas Abstraktes, Fiktionales, hat jedoch ganz reale Auswirkungen, denn der «Schleier des Geldes» ist in lebensweltlichen Mechanismen begründet. (Braun

2012, 185) Diese zunehmend universelle Wirkmacht des Geldes über die wirtschaftliche und soziale, aber auch körperliche und psychische Realität des Menschen hat zur Folge, dass der Glauben ans Geld auf der Tatsache beruht, «dass viele Menschen dran glauben müssen, wenn das Geld in eine Krise gerät» (ebd., 16). Geld und Religion fordern gleichermaßen einen unkritischen Glauben an ihre Wirksamkeit: «Der wichtigste gemeinsame Nenner von Geld und christlicher Lehre besteht im Glauben [...]. Dabei geht die Forderung nach dem blinden Glauben mit Glaubensinhalten einher, die jeglicher Plausibilität entbehren»(ebd., 115). Ein Großteil der christlichen Lehre baut auf ökonomischer Terminologie auf und benutzt wirtschaftliche und gesellschaftliche Kontexte. (Sedláček 2012, 172) Ein Opfer bringen bedeutet Schuld abtragen. Es gibt der Mensch, auf dass Gott zurückgebe. Das Vaterunser, Bestandteil der Heiligen Messe in der katholischen Kirche und das wahrscheinlich älteste Gebet des Christentums, thematisiert die in der Religion so fest verankerte Schuld: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. In der italienischen Fassung des Gebets werden ökonomische Begriffe für Sünde (debiti=Schuld) und Vergebung (rimettere = zurückgeben) verwendet. Diese ökonomisch geprägte Wortwahl kommt auch im altgriechischen Original des Vaterunser im Matthäus-Evangelium 6,12 zur Geltung: «Und erlasse uns unsere Schulden (opheilemata), weil auch wir denen ihre

Der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies, Michelangelo (Deckenfresko in der Sixtinischen Kappelle)

Schulden erlassen haben, die uns etwas schuldig geblieben sind.» Unsere heutige Wirtschaft ist Ergebnis dieser ins theologische Gewand gekleideten Entschädigungsökonomie. Es geht um Bezahlen und Abzahlen. Mit der Erbsünde entsteht bereits die erste Schuld, der erste Schuldenkredit, den es abzuzahlen gilt. Michelangelos Fresco Die Vertreibung aus dem Paradies an der Decke der Sixtinischen Kapelle zeigt diesen ersten Sündenfall von Scham und Sühne, der laut dem Katechismus durch Fortpflanzung übertragen wird und jedes Neugeborene schuldig auf die Welt kommen lässt. Im Mittelalter konnte man seine moralische Schuld mit Ablassbriefen begleichen: «Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.» Heute tut man das durch die moralische Verpflichtung, seine Schulden in Form von Bonds, Krediten etc. zu begleichen. «Schon mit der Geburt erben wir, so der hegemoniale Diskurs, gigantische Schuldensummen, die wir unser ganzes Leben lang abzuzahlen versuchen; das kapitalistische Schuldenbewusstsein hat auf diese Weise die christliche Vorstellung von der Erbsünde abgelöst.» (Loick 2012, 125) Das Kapital wird zur Analogie des Verdrängten, der sündigen Vorstellung, welche die Hölle des Unterbewussten verzinst (Benjamin 1921, 101). Im christlichen Dogma steht der Mensch bereits seit seiner Geburt in der Schuld Gottes – es entsteht eine intergenerationelle Verschuldung. Wie entsteht aber aus dieser unendlichen Urschuld etwas Messbares wie Schulden? Religiöse und staatliche Institutionen bringen diese «Schulden» in ein kalkulierbares Maß, in dem Geld sowohl als Ware (Tauschmittel) durch staatliche Autoritäten wie auch als persönliche (Schuld)-Beziehung eingesetzt wird. Erst der Stempel eines Souveräns verleiht einer Währung ihre Glaubwürdigkeit. Trotz ihrer Unklarheit beinhaltet die Definition von Schulden keine moralische Verpflichtung. Braun beschreibt Schulden als ein Versprechen, das durch Mathematik und Gewalt verdorben wurde. Durch die Gleichsetzung von Schulden mit moralischer Schuld bekommen solche gewaltbasierten Beziehungen, die in mathematische Gleichungen verwandelt werden, eine moralische Legitimation. Als Folge dessen betrachtet die Mehrheit der Menschen eine Rückzahlung als

moralisches Gebot, regelmäßiges Geldverleihen dagegen nur als verwerflich. Bis zur kirchlichen Erfindung des Fegefeuers im 13. Jahrhundert galten die Chrematistik – die Kunst, Reichtum zu erwerben – und das damit verbundene Streben nach Gewinn und Wohlstand als Teufelswerk. Die Möglichkeit, sich durch Stiftungen, Almosen und Zinszahlungen von seinen Sünden reinzuwaschen, legitimierte das profitorientierte Handeln und die Systematisierung von Verschuldung. Die Hoffnung, der Hölle durch Zahlungen zu entkommen, erlaubte es dem Wucherer, Wirtschaft und Gesellschaft des 13. Jahrhunderts zu seinen Gunsten zu ändern, und ermöglichte den Aufstieg der modernen profitorientierten Geldwirtschaft. (Le Goff 2008, 131) Doch erst die Aufweichung des Zinsverbots verlieh dem bis dahin geächteten Geldverleih die notwendige gesellschaftliche Akzeptanz und legte den Grundstein für die heutige Geld-, Zinsund Schuldenproblematik.

«Schon mit der Geburt erben wir, so der hegemoniale Diskurs, gigantische Schuldensummen, die wir unser ganzes Leben lang abzuzahlen versuchen; das kapitalistische Schuldenbewusstsein hat auf diese Weise die christliche Vorstellung von der Erbsünde abgelöst.» Das Christentum hat bei der Entwicklung der heutigen europäisch-amerikanischen Kultur und ihrer Wirtschaftssysteme sowie bei der Gestaltung des Kapitalismus und des ökonomischen Denkens eine Schlüsselrolle gespielt. (Sedláček, 65f) Max Weber sieht die Geburt des Kapitalismus als Konsequenz des bürgerlich-protestantischen Berufsethos und der innerweltlichen Askese der protestantischen Ethik (Weber 1920), während Michael Novak den Einfluss des katholischen Menschbildes betont (Novak 1996). Mit seiner barocken


Von der Münze über Schuldverschreibungen, vom Papiergeld bis zum elektronischen Geld – das Geld hat seit seiner Entstehung einen immer höheren Abstraktionsgrad erreicht. Der größte Teil des Geldes ist inzwischen Kreditgeld, das auf keine realen Werte aufbaut, sondern auf Hoffnung, Glauben und Versprechen basiert. Seit der Abschaffung des Goldstandards gibt es einen breiten Konsens unter Ökonomen, dass Geld keiner materiellen Deckung bedürfe. Doch das moderne Geld unserer heutigen Zeit, das keinen materiellen Gegenwert hat, wird immer mehr durch den menschlichen Körper gedeckt. Diese körperliche Deckung führt zu extrem unterschiedlichen Einkommensverhältnissen, wie wir sie im modernen Finanzkapitalismus haben. Die Monetarisierung des menschlichen Körpers sieht von Braun auch im Söldnerwesen, in der Prostitution, im Organhandel oder in der Reproduktionsmedizin. Der menschliche Körper und das menschliche Schicksal werden zur einzigen ‹Realität› und letzten ‹Deckung›, in die sich Geld konvertieren lässt. Während im Mittelalter die Leibeigenschaft als Form der bäuerlichen Unfreiheit eine direkte Machtausübung über Mensch und Körper ermöglichte, wird der Zugang zur Macht in unserer heutigen Gesellschaft über Geld und Schulden hergestellt. Der Mensch ist selbst zur Ware geworden, das Geld zum Selbstzweck. Geld ist zwar etwas Abstraktes, Fiktionales, hat jedoch ganz reale Auswirkungen, denn der «Schleier des Geldes» ist in lebensweltlichen Mechanismen begründet. (Braun

2012, 185) Diese zunehmend universelle Wirkmacht des Geldes über die wirtschaftliche und soziale, aber auch körperliche und psychische Realität des Menschen hat zur Folge, dass der Glauben ans Geld auf der Tatsache beruht, «dass viele Menschen dran glauben müssen, wenn das Geld in eine Krise gerät» (ebd., 16). Geld und Religion fordern gleichermaßen einen unkritischen Glauben an ihre Wirksamkeit: «Der wichtigste gemeinsame Nenner von Geld und christlicher Lehre besteht im Glauben [...]. Dabei geht die Forderung nach dem blinden Glauben mit Glaubensinhalten einher, die jeglicher Plausibilität entbehren»(ebd., 115). Ein Großteil der christlichen Lehre baut auf ökonomischer Terminologie auf und benutzt wirtschaftliche und gesellschaftliche Kontexte. (Sedláček 2012, 172) Ein Opfer bringen bedeutet Schuld abtragen. Es gibt der Mensch, auf dass Gott zurückgebe. Das Vaterunser, Bestandteil der Heiligen Messe in der katholischen Kirche und das wahrscheinlich älteste Gebet des Christentums, thematisiert die in der Religion so fest verankerte Schuld: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. In der italienischen Fassung des Gebets werden ökonomische Begriffe für Sünde (debiti=Schuld) und Vergebung (rimettere = zurückgeben) verwendet. Diese ökonomisch geprägte Wortwahl kommt auch im altgriechischen Original des Vaterunser im Matthäus-Evangelium 6,12 zur Geltung: «Und erlasse uns unsere Schulden (opheilemata), weil auch wir denen ihre

Der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies, Michelangelo (Deckenfresko in der Sixtinischen Kappelle)

Schulden erlassen haben, die uns etwas schuldig geblieben sind.» Unsere heutige Wirtschaft ist Ergebnis dieser ins theologische Gewand gekleideten Entschädigungsökonomie. Es geht um Bezahlen und Abzahlen. Mit der Erbsünde entsteht bereits die erste Schuld, der erste Schuldenkredit, den es abzuzahlen gilt. Michelangelos Fresco Die Vertreibung aus dem Paradies an der Decke der Sixtinischen Kapelle zeigt diesen ersten Sündenfall von Scham und Sühne, der laut dem Katechismus durch Fortpflanzung übertragen wird und jedes Neugeborene schuldig auf die Welt kommen lässt. Im Mittelalter konnte man seine moralische Schuld mit Ablassbriefen begleichen: «Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.» Heute tut man das durch die moralische Verpflichtung, seine Schulden in Form von Bonds, Krediten etc. zu begleichen. «Schon mit der Geburt erben wir, so der hegemoniale Diskurs, gigantische Schuldensummen, die wir unser ganzes Leben lang abzuzahlen versuchen; das kapitalistische Schuldenbewusstsein hat auf diese Weise die christliche Vorstellung von der Erbsünde abgelöst.» (Loick 2012, 125) Das Kapital wird zur Analogie des Verdrängten, der sündigen Vorstellung, welche die Hölle des Unterbewussten verzinst (Benjamin 1921, 101). Im christlichen Dogma steht der Mensch bereits seit seiner Geburt in der Schuld Gottes – es entsteht eine intergenerationelle Verschuldung. Wie entsteht aber aus dieser unendlichen Urschuld etwas Messbares wie Schulden? Religiöse und staatliche Institutionen bringen diese «Schulden» in ein kalkulierbares Maß, in dem Geld sowohl als Ware (Tauschmittel) durch staatliche Autoritäten wie auch als persönliche (Schuld)-Beziehung eingesetzt wird. Erst der Stempel eines Souveräns verleiht einer Währung ihre Glaubwürdigkeit. Trotz ihrer Unklarheit beinhaltet die Definition von Schulden keine moralische Verpflichtung. Braun beschreibt Schulden als ein Versprechen, das durch Mathematik und Gewalt verdorben wurde. Durch die Gleichsetzung von Schulden mit moralischer Schuld bekommen solche gewaltbasierten Beziehungen, die in mathematische Gleichungen verwandelt werden, eine moralische Legitimation. Als Folge dessen betrachtet die Mehrheit der Menschen eine Rückzahlung als

moralisches Gebot, regelmäßiges Geldverleihen dagegen nur als verwerflich. Bis zur kirchlichen Erfindung des Fegefeuers im 13. Jahrhundert galten die Chrematistik – die Kunst, Reichtum zu erwerben – und das damit verbundene Streben nach Gewinn und Wohlstand als Teufelswerk. Die Möglichkeit, sich durch Stiftungen, Almosen und Zinszahlungen von seinen Sünden reinzuwaschen, legitimierte das profitorientierte Handeln und die Systematisierung von Verschuldung. Die Hoffnung, der Hölle durch Zahlungen zu entkommen, erlaubte es dem Wucherer, Wirtschaft und Gesellschaft des 13. Jahrhunderts zu seinen Gunsten zu ändern, und ermöglichte den Aufstieg der modernen profitorientierten Geldwirtschaft. (Le Goff 2008, 131) Doch erst die Aufweichung des Zinsverbots verlieh dem bis dahin geächteten Geldverleih die notwendige gesellschaftliche Akzeptanz und legte den Grundstein für die heutige Geld-, Zinsund Schuldenproblematik.

«Schon mit der Geburt erben wir, so der hegemoniale Diskurs, gigantische Schuldensummen, die wir unser ganzes Leben lang abzuzahlen versuchen; das kapitalistische Schuldenbewusstsein hat auf diese Weise die christliche Vorstellung von der Erbsünde abgelöst.» Das Christentum hat bei der Entwicklung der heutigen europäisch-amerikanischen Kultur und ihrer Wirtschaftssysteme sowie bei der Gestaltung des Kapitalismus und des ökonomischen Denkens eine Schlüsselrolle gespielt. (Sedláček, 65f) Max Weber sieht die Geburt des Kapitalismus als Konsequenz des bürgerlich-protestantischen Berufsethos und der innerweltlichen Askese der protestantischen Ethik (Weber 1920), während Michael Novak den Einfluss des katholischen Menschbildes betont (Novak 1996). Mit seiner barocken


Sinnenfreude und universalen Ausstrahlung habe der Katholizismus dem Kapitalismus wichtige Impulse verliehen. Der moderne Finanzkapitalismus und dessen System der Verschuldung kann daher in erster Linie als ein Produkt der christlichen Kultur betrachtet werden. (Braun 2012, 160) Doch der Kapitalismus hat nicht nur seinen Ursprung im Christentum – er wird selbst zu einer religiösen Bewegung, deren Ziel das Aushalten bis zum Ende, die endliche, völlige Verschuldung Gottes ist (Benjamin 1921, 101). In der Verlängerung von Max Weber schreibt Walter Benjamin: «Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen des Kapitalismus begünstigt, sondern es hat sich in den Kapitalismus umgewandelt» (ebd., 102). Die moderne Struktur des Kapitalismus ist nicht nur, wie Max Weber meinte, ein religiös bedingtes Gebilde, sondern wird immer mehr zu einer religiösen Erscheinung. «Der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben» (ebd., 100).

«Die Integrationsform der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr die Geschichte in ihrer Gegenwart als Fortschritt oder Dekadenz, sondern die unbekannte Zukunft in ihrer Gegenwart als Krise. Solange man nicht weiß, wie es weitergeht, vergewissert man sich eines Stands der Dinge, auf den kein Verlass ist.» Die menschliche Kollektivschuld, die nur durch moralische und materielle Entschädigung, durch Wiedergutmachung und Reparation zu begleichen ist, mündet heute in eine Art Vergesellschaftung von Schuld und Schulden in Form von staatlicher Schuldenpolitik. Im Sinne von «Wie du mir, so ich dir» findet eine Konversion von nicht ökono-

mischen Werten in finanzielle Produkte statt – die materielle Zahlungsverpflichtung der Anderen wird zu meiner Entschädigung. (Weigel 2006) Geld wird zum Medium, das die Zukunft entscheidet und unsere moderne Gesellschaft zur Risikogesellschaft macht. Wir leben in einer kontingenten Welt, in der ein Gut nicht einfach das ist, was es ist, sondern mit allen anderen Gütern verglichen werden kann. Alles hat seinen Preis, auch wenn nicht alles gekauft werden kann. Die Zukunft ist offen und lässt sich durch Geld formen – denn Geld ist Zeit. Ein Kredit kauft und verkauft, beschwört und beeinflusst die Zukunft. Ein Bond ist nicht nur ein verzinsliches Wertpapier oder eine Anleihe, sondern eine emotionale Verbindung, eine moralische Verpflichtung. Ein Kredit ist immer ein Versprechen, die aufgenommenen Schulden zu begleichen. Das Abschließen eines Kredits heute beeinflusst daher die Möglichkeiten von morgen, wodurch Geld zum Bindeglied zwischen der Gegenwart und der heimtückischen Zukunft wird (Keynes 1936). Die gesamte moderne Finanzwirtschaft beruht auf dem Versprechen, dass Finanzprodukte in der Zukunft materialisiert werden können, und handelt somit im Prinzip in der Gegenwart mit der Ungewissheit der Zukunft (Esposito 2012, 10). Schulden schaffen Bindungen und werden zu Interventionen in der Zukunft, da sie die zukünftige Offenheit einschränken und verändern (ebd.). «Die Integrationsform der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr die Geschichte in ihrer Gegenwart als Fortschritt oder Dekadenz, sondern die unbekannte Zukunft in ihrer Gegenwart als Krise. Solange man nicht weiß, wie es weitergeht, vergewissert man sich eines Stands der Dinge, auf den kein Verlass ist» (Baecker 2011, 8). Die Vergangenheit bis zur Gegenwart lässt sich anhand von wissenschaftlichen Methoden analytisch durchdringen. Die Zukunft jedoch lässt sich nur mit Ideen und Visionen gestalten, für deren Zustandekommen wir selbst verantwortlich sind. Die gegenwärtige Krise zeigt, dass eine andere Form des Zusammenlebens, der Politik erstens möglich und zweitens notwendig ist. Im Hinblick auf eine mögliche Ablösung der ökonomischen Wachstumspolitik durch eine Postwachstumsökonomie (siehe Beitrag 74) entstehen immer mehr Systeme, die auf Kooperation, Solidarität und

Gemeinschaftlichkeit aufbauen und somit die scheinbar unveränderliche Gegebenheit von Geld und Schulden aufbrechen. Die Rolle des Geldes als Tauschmittel wird durch die Rückkehr zur direkten und persönlichen Kooperation hinterfragt. Der feste Fels unserer Schuldengläubigkeit beginnt zu bröckeln. Julian Rieken

Loick, Daniel: Everything is Borrowed. In: Texte zur Kunst, Nr. 88. Berlin, 2012. Mohr, Hubert et al. (Hg.): Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien. Stuttgart, 1999. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Leipzig, 1887. Novak, Michael: Die katholische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Trier, 1996. Sedláček, Tomáš: Die Ökonomie von Gut und Böse. München, 2012.

Literatur Baecker, Dirk: 16 Thesen zur nächsten Gesellschaft. In: Revue für postheroisches Management. Heft 9. Berlin, 2011, S. 8. Baecker, Dirk: Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt am Main, 2007. Benjamin, Walter: Kapitalismus als Religion [Fragment], in: Gesammelte Schriften, Hrsg.: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 7 Bde., Frankfurt am Main, 1991, Bd. VI, S. 100 – 102. Berking, Helmuth: Schenken. Zur Anthropologie des Gebens. Frankfurt/New York, 1996. Braun, Christina von: Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte. Berlin, 2012. Braun, Christina von; Ziege, Eva-Maria (Hg): Das ‹bewegliche› Vorurteil: Aspekte des internationalen Antisemitismus. Würzburg, 2004. Esposito, Elena: Die Zukunft der Futures. Die Zeit des Geldes in Finanzwelt und Gesellschaft. Heidelberg, 2010. Graeber, David: Schulden: Die ersten 5000 Jahre. Stuttgart, 2012. Kästner, Erich: Die Schuld und die Schulden, in: Erich Kästner Werke, Band 6: Publizistik. München, 1999, S. 502. Keynes, John Maynard: The General Theory of Employment, Interest and Money. London, 1936. Lazzarato, Maurizio: Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Berlin, 2012. Le Goff, Jacques: Wucherzins und Höllenqualen: Ökonomie und Religion im Mittelalter. Stuttgart, 2008.

Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Berlin, 1900. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I. Tübingen, 1920, S. 17-206. Weigel, Sigrid: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kulturund Naturwissenschaften. München, 2006.


Sinnenfreude und universalen Ausstrahlung habe der Katholizismus dem Kapitalismus wichtige Impulse verliehen. Der moderne Finanzkapitalismus und dessen System der Verschuldung kann daher in erster Linie als ein Produkt der christlichen Kultur betrachtet werden. (Braun 2012, 160) Doch der Kapitalismus hat nicht nur seinen Ursprung im Christentum – er wird selbst zu einer religiösen Bewegung, deren Ziel das Aushalten bis zum Ende, die endliche, völlige Verschuldung Gottes ist (Benjamin 1921, 101). In der Verlängerung von Max Weber schreibt Walter Benjamin: «Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen des Kapitalismus begünstigt, sondern es hat sich in den Kapitalismus umgewandelt» (ebd., 102). Die moderne Struktur des Kapitalismus ist nicht nur, wie Max Weber meinte, ein religiös bedingtes Gebilde, sondern wird immer mehr zu einer religiösen Erscheinung. «Der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben» (ebd., 100).

«Die Integrationsform der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr die Geschichte in ihrer Gegenwart als Fortschritt oder Dekadenz, sondern die unbekannte Zukunft in ihrer Gegenwart als Krise. Solange man nicht weiß, wie es weitergeht, vergewissert man sich eines Stands der Dinge, auf den kein Verlass ist.» Die menschliche Kollektivschuld, die nur durch moralische und materielle Entschädigung, durch Wiedergutmachung und Reparation zu begleichen ist, mündet heute in eine Art Vergesellschaftung von Schuld und Schulden in Form von staatlicher Schuldenpolitik. Im Sinne von «Wie du mir, so ich dir» findet eine Konversion von nicht ökono-

mischen Werten in finanzielle Produkte statt – die materielle Zahlungsverpflichtung der Anderen wird zu meiner Entschädigung. (Weigel 2006) Geld wird zum Medium, das die Zukunft entscheidet und unsere moderne Gesellschaft zur Risikogesellschaft macht. Wir leben in einer kontingenten Welt, in der ein Gut nicht einfach das ist, was es ist, sondern mit allen anderen Gütern verglichen werden kann. Alles hat seinen Preis, auch wenn nicht alles gekauft werden kann. Die Zukunft ist offen und lässt sich durch Geld formen – denn Geld ist Zeit. Ein Kredit kauft und verkauft, beschwört und beeinflusst die Zukunft. Ein Bond ist nicht nur ein verzinsliches Wertpapier oder eine Anleihe, sondern eine emotionale Verbindung, eine moralische Verpflichtung. Ein Kredit ist immer ein Versprechen, die aufgenommenen Schulden zu begleichen. Das Abschließen eines Kredits heute beeinflusst daher die Möglichkeiten von morgen, wodurch Geld zum Bindeglied zwischen der Gegenwart und der heimtückischen Zukunft wird (Keynes 1936). Die gesamte moderne Finanzwirtschaft beruht auf dem Versprechen, dass Finanzprodukte in der Zukunft materialisiert werden können, und handelt somit im Prinzip in der Gegenwart mit der Ungewissheit der Zukunft (Esposito 2012, 10). Schulden schaffen Bindungen und werden zu Interventionen in der Zukunft, da sie die zukünftige Offenheit einschränken und verändern (ebd.). «Die Integrationsform der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr die Geschichte in ihrer Gegenwart als Fortschritt oder Dekadenz, sondern die unbekannte Zukunft in ihrer Gegenwart als Krise. Solange man nicht weiß, wie es weitergeht, vergewissert man sich eines Stands der Dinge, auf den kein Verlass ist» (Baecker 2011, 8). Die Vergangenheit bis zur Gegenwart lässt sich anhand von wissenschaftlichen Methoden analytisch durchdringen. Die Zukunft jedoch lässt sich nur mit Ideen und Visionen gestalten, für deren Zustandekommen wir selbst verantwortlich sind. Die gegenwärtige Krise zeigt, dass eine andere Form des Zusammenlebens, der Politik erstens möglich und zweitens notwendig ist. Im Hinblick auf eine mögliche Ablösung der ökonomischen Wachstumspolitik durch eine Postwachstumsökonomie (siehe Beitrag 74) entstehen immer mehr Systeme, die auf Kooperation, Solidarität und

Gemeinschaftlichkeit aufbauen und somit die scheinbar unveränderliche Gegebenheit von Geld und Schulden aufbrechen. Die Rolle des Geldes als Tauschmittel wird durch die Rückkehr zur direkten und persönlichen Kooperation hinterfragt. Der feste Fels unserer Schuldengläubigkeit beginnt zu bröckeln. Julian Rieken

Loick, Daniel: Everything is Borrowed. In: Texte zur Kunst, Nr. 88. Berlin, 2012. Mohr, Hubert et al. (Hg.): Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien. Stuttgart, 1999. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Leipzig, 1887. Novak, Michael: Die katholische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Trier, 1996. Sedláček, Tomáš: Die Ökonomie von Gut und Böse. München, 2012.

Literatur Baecker, Dirk: 16 Thesen zur nächsten Gesellschaft. In: Revue für postheroisches Management. Heft 9. Berlin, 2011, S. 8. Baecker, Dirk: Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt am Main, 2007. Benjamin, Walter: Kapitalismus als Religion [Fragment], in: Gesammelte Schriften, Hrsg.: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 7 Bde., Frankfurt am Main, 1991, Bd. VI, S. 100 – 102. Berking, Helmuth: Schenken. Zur Anthropologie des Gebens. Frankfurt/New York, 1996. Braun, Christina von: Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte. Berlin, 2012. Braun, Christina von; Ziege, Eva-Maria (Hg): Das ‹bewegliche› Vorurteil: Aspekte des internationalen Antisemitismus. Würzburg, 2004. Esposito, Elena: Die Zukunft der Futures. Die Zeit des Geldes in Finanzwelt und Gesellschaft. Heidelberg, 2010. Graeber, David: Schulden: Die ersten 5000 Jahre. Stuttgart, 2012. Kästner, Erich: Die Schuld und die Schulden, in: Erich Kästner Werke, Band 6: Publizistik. München, 1999, S. 502. Keynes, John Maynard: The General Theory of Employment, Interest and Money. London, 1936. Lazzarato, Maurizio: Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Berlin, 2012. Le Goff, Jacques: Wucherzins und Höllenqualen: Ökonomie und Religion im Mittelalter. Stuttgart, 2008.

Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Berlin, 1900. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I. Tübingen, 1920, S. 17-206. Weigel, Sigrid: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kulturund Naturwissenschaften. München, 2006.


ÂŤWarum machst du denn immer noch was dazu?Âť 71


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Was rechtfertigt denn dieses Engagement im KaUnd das machen wir ja auch im Leben. Das pitalismus? Also kurz, was macht den Kapitalis- machen wir ja auch in Liebesbeziehungen, in mus so wünschenswert? Können wir diesem Freundschaften, das ist eben der Mehrwert, dass Schauspieler nicht Kohle ins Gesicht schmieren, wir zusammen herumstehen und Pizza essen. damit die Zuschauer wissen, er kommt aus einem Pollesch, René: Der Schnittchenkauf Bergwerk? Das ist die Herauspressung des Mehr2011–2012. Köln, 2012, S. 14-15. wertes. Und folgendes ist die Erzählung, die anHerausgegeben von René Pollesch, Christopher Müller und Daniel Buchholz. gestrebt werden müsste: Die Körper sind verwickelt in die Produktion von Mehrwert. Sie wollen Courtesy – Galerie Buchholz, ja lesbar sein und verstanden werden. Darin sind Neven-DuMont-Strasse 17, D-50667 Köln, Fasanenstrasse 30, D –10719-Berlin wir verwickelt, dass wir uns nicht kennenlernen können, ohne dass der andere einem sofort die Bezugsquelle – www.galeriebuchholz.de Familienfotos unter die Nase reibt. Was führt der da auf? denke ich immer. Was will der nur? Was für eine Geschichte will der mir erzählen? Gar nichts! Nichts, als dass er auch einen Mehrwert aus sich herauspressen kann, weil er weiss, das da vor mir, er, dieser Körper, kann nicht der Sinn sein. Den muss er immer woanders suchen. In der Herkunft, in den schönen Erlebnissen, die er hatte. Die Verwicklung deines Körpers in den Mehrwert kann ich aber auch hier sehen, hier zwischen uns. Und ich hasse ihn, ich kann nichts mit ihm

«Wenn du nach einem Kuss, den du mir gibst, hinterher noch verliebt kuckst, das ist das, womit ich nichts anfangen kann. Das ist nicht Leben, das ist der Tod.» anfangen. «Wenn du», wie der grosse Schauspieler Fabian Hinrichs sagte, «nach einem Kuss, den du mir gibst, hinterher noch verliebt kuckst, das ist das, womit ich nichts anfangen kann. Das ist nicht Leben, das ist der Tod.» Das ist die unmenschliche Gewalt des Kapitals. Die Herauspressung des Mehrwertes. Das Kapital ist nichts «anderes», nichts von dem du überrumpelt wurdest. Es klebt an dir, und es trennt sich von dir. Es ist dein verliebter Blick. Das Beispiel zeigt ganz deutlich, dass mit Verstehen keine Gemeinschaft möglich ist. Wir können uns doch nicht dauernd mit dem belästigen, was nur der Verständigung dient, was nur die Kommunikation sichern soll.


Was rechtfertigt denn dieses Engagement im KaUnd das machen wir ja auch im Leben. Das pitalismus? Also kurz, was macht den Kapitalis- machen wir ja auch in Liebesbeziehungen, in mus so wünschenswert? Können wir diesem Freundschaften, das ist eben der Mehrwert, dass Schauspieler nicht Kohle ins Gesicht schmieren, wir zusammen herumstehen und Pizza essen. damit die Zuschauer wissen, er kommt aus einem Pollesch, René: Der Schnittchenkauf Bergwerk? Das ist die Herauspressung des Mehr2011–2012. Köln, 2012, S. 14-15. wertes. Und folgendes ist die Erzählung, die anHerausgegeben von René Pollesch, Christopher Müller und Daniel Buchholz. gestrebt werden müsste: Die Körper sind verwickelt in die Produktion von Mehrwert. Sie wollen Courtesy – Galerie Buchholz, ja lesbar sein und verstanden werden. Darin sind Neven-DuMont-Strasse 17, D-50667 Köln, Fasanenstrasse 30, D –10719-Berlin wir verwickelt, dass wir uns nicht kennenlernen können, ohne dass der andere einem sofort die Bezugsquelle – www.galeriebuchholz.de Familienfotos unter die Nase reibt. Was führt der da auf? denke ich immer. Was will der nur? Was für eine Geschichte will der mir erzählen? Gar nichts! Nichts, als dass er auch einen Mehrwert aus sich herauspressen kann, weil er weiss, das da vor mir, er, dieser Körper, kann nicht der Sinn sein. Den muss er immer woanders suchen. In der Herkunft, in den schönen Erlebnissen, die er hatte. Die Verwicklung deines Körpers in den Mehrwert kann ich aber auch hier sehen, hier zwischen uns. Und ich hasse ihn, ich kann nichts mit ihm

«Wenn du nach einem Kuss, den du mir gibst, hinterher noch verliebt kuckst, das ist das, womit ich nichts anfangen kann. Das ist nicht Leben, das ist der Tod.» anfangen. «Wenn du», wie der grosse Schauspieler Fabian Hinrichs sagte, «nach einem Kuss, den du mir gibst, hinterher noch verliebt kuckst, das ist das, womit ich nichts anfangen kann. Das ist nicht Leben, das ist der Tod.» Das ist die unmenschliche Gewalt des Kapitals. Die Herauspressung des Mehrwertes. Das Kapital ist nichts «anderes», nichts von dem du überrumpelt wurdest. Es klebt an dir, und es trennt sich von dir. Es ist dein verliebter Blick. Das Beispiel zeigt ganz deutlich, dass mit Verstehen keine Gemeinschaft möglich ist. Wir können uns doch nicht dauernd mit dem belästigen, was nur der Verständigung dient, was nur die Kommunikation sichern soll.


72 Happy Jack’s gemeinschafts-

fördernde Gemeinschaftsspiele


72 Happy Jack’s gemeinschafts-

fördernde Gemeinschaftsspiele


Mein Name ist Happy Jack. Ich habe nur eine einzige Botschaft: Gemeinschaft ist das wichtigste Gut, das wir haben. Wir haben Bananen, wir haben Rückversicherer, wir haben Supersexxx. com. Trotzdem sind wir einsamer als je zuvor. Wir sprechen nicht mehr miteinander. Wir hören nicht mehr auf unsere Nächsten. Singen tun wir auch nicht. Also gemeinsam singen... im Chor, nicht so dämlich allein unter der Dusche. Dagegen bin ich angetreten. Happy Jack’s gemeinschaftliche Gemeinschaftsspiele stehen für Gemeinschaft. Sie sind gelebte Gemeinschaft, und ich mache das alles relativ uneigennützig. Bestellen Sie Happy Jack’s gemeinschaftsfördernde Spiele und Gimmicks bequem von zuhause aus. Bei Mehrfachbestellung erstatten wir Rabatte. Wir lieben Kinder. Kindergärten und Grundschulen bekommen ein Spiel gratis pro Bestellung (Gymnasien zahlen voll). Wir haben kein Problem mit Randgruppen. Wir finden auch Multikulti gut. An Weihnachten kaufen wir keinen Baum, sondern spenden 10 Euro an das Kinderhilfswerk. So sind wir: Happy Jack’s gemeinschaftsfördernde Spiele. Zu finden auch im gut geführten Einzelhandel und im Internet: www.happy-jack.org/jacks-inside Bastian Schneider Benedict Dackweiler Georg Egli Felicia Schäfer Johanna Wiesner Peter Blickenstorfer Sandra Kessler


Mein Name ist Happy Jack. Ich habe nur eine einzige Botschaft: Gemeinschaft ist das wichtigste Gut, das wir haben. Wir haben Bananen, wir haben Rückversicherer, wir haben Supersexxx. com. Trotzdem sind wir einsamer als je zuvor. Wir sprechen nicht mehr miteinander. Wir hören nicht mehr auf unsere Nächsten. Singen tun wir auch nicht. Also gemeinsam singen... im Chor, nicht so dämlich allein unter der Dusche. Dagegen bin ich angetreten. Happy Jack’s gemeinschaftliche Gemeinschaftsspiele stehen für Gemeinschaft. Sie sind gelebte Gemeinschaft, und ich mache das alles relativ uneigennützig. Bestellen Sie Happy Jack’s gemeinschaftsfördernde Spiele und Gimmicks bequem von zuhause aus. Bei Mehrfachbestellung erstatten wir Rabatte. Wir lieben Kinder. Kindergärten und Grundschulen bekommen ein Spiel gratis pro Bestellung (Gymnasien zahlen voll). Wir haben kein Problem mit Randgruppen. Wir finden auch Multikulti gut. An Weihnachten kaufen wir keinen Baum, sondern spenden 10 Euro an das Kinderhilfswerk. So sind wir: Happy Jack’s gemeinschaftsfördernde Spiele. Zu finden auch im gut geführten Einzelhandel und im Internet: www.happy-jack.org/jacks-inside Bastian Schneider Benedict Dackweiler Georg Egli Felicia Schäfer Johanna Wiesner Peter Blickenstorfer Sandra Kessler


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XX


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Die Dinge 1 Nofretete Im April dieses Jahres sah ich zum ersten Mal die Nofretete. Nicht im Fernsehen, auch nicht im Internet, nein, «in echt», in ihrer jetzigen Heimat im Neuen Museum in Berlin. Ich hatte nicht erwartet, dass mich der Anblick einer alten ägyptischen Büste derart beeindrucken würde. Eigentlich wollte ich vor allem das Neue Museum besuchen, weil ich ein Video gesehen hatte, in dem Sasha Waltz’ Tänzerinnen und Tänzer die herrlich leeren Räume anlässlich der Wiedereröffnung des Gebäudes ertanzten; zudem hatte ich in Richard Sennetts neuestem Buch Zusammenarbeit über das Neue Museum gelesen. Aber dann sah ich sie, die vielbesungene und in jüngster Zeit wieder in die Diskussion geratene Nofretete. Wie wunderschön sie war, voller Anmut und Ausstrahlung, lebendig auch nach so langer Zeit. Still ging ich einige Male um sie herum und staunte. Was für ein Kunstwerk, das unvergängliche Schönheit über so viele Jahrhunderte hinweg vermitteln kann! Aber auch das Neue Museum hinterliess bleibenden Eindruck bei mir. Sennett zeichnet dessen Restaurationsprozess nach: Im zweiten Weltkrieg

zerstört, blieb das Museum bis in die 1980er Jahre eine Ruine. Bäume wuchsen durch das offene Dach, die Wände und Säulen voller Einschüsse. Nach der Wiedervereinigung wurde lange diskutiert: Sollte man das Gebäude restaurieren, eine makellose Kopie des einstigen Zustands schaffen? Oder doch abreissen? Neu aufbauen, wie es jetzt mit dem Berliner Stadtschloss geschehen soll? Dabei stellte sich zugleich die Frage, wie Berlin mit seiner dramatischen Vergangenheit umgeht. Heute erzählt das Gebäude seine eigene Geschichte nach, aber nicht in Form eines Schaukastens, der die Vergangenheit ausstellt. Vielmehr soll der Besucher physisch nacherleben können, was hier geschah: Das Gebäude stellt seinen eigenen Transformationsprozess aus, schreibt Sennett (2012, 293). In einigen Räumen sind nach wie vor Kriegsschäden zu sehen, Fussboden und Wände erzählen von den verschiedenen Zeitaltern, die das Gebäude durchlebt hat. Eigentlich handelt Sennetts Buch von etwas anderem, nämlich von der Frage, wie Menschen kooperieren. Sennett versteht den Umbau des Neuen Museums als eine Metapher für das Nachdenken über die Reparatur von Kooperation. Die

des Lebens Fähigkeit zu anspruchsvoller Kooperation sei in jüngerer Zeit geschwächt worden, so eine seiner Thesen. Was ist anspruchsvolle Kooperation? «Sie versucht, Menschen zusammenzubringen, die unterschiedliche oder gegensätzliche Interessen verfolgen, die kein gutes Bild voneinander haben, verschieden sind, oder einander einfach nicht verstehen. Die Herausforderung besteht darin, auf andere Menschen nach deren Bedingungen einzugehen» (ebd., 18). Sennett plädiert nicht für eine simple Wiederherstellung eines alten Verständnisses von Kooperation, so wie auch das Neue Museum nicht einfach wiederhergestellt wurde. Vielmehr geht es um ein Reparieren im Sinne eines kreativen Weiterentwickelns, so dass ein neuer Wert entstehen kann: «Die Reparatur einer alten Maschine kann bei einem spielerischen Umgang mit dieser Aufgabe dazu führen, dass man sowohl den Zweck als auch die Funktionsweise der Maschine verändert. Auch die Reparatur sozialer Beziehungen kann zu unvorhergesehenen Ergebnissen führen, vor allem wenn sie informell geschieht» (ebd., 295). Haben wir das denn nötig? Eine Reparatur sozialer Beziehungen – im Sinne eines kreativen Umbaus?

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2 Tarlabasi

Während unseres Aufenthalts in Istanbul mit dem Dodici-Jahrgang führt uns die junge Stadtplanerin Evrim durch Tarlabasi. Hier endete einst die Stadt; heute ist das Quartier mitten in Istanbul, nahe der zentralen Flaniermeile Istiklal und dem Ausgehviertel Beyoglu. In Tarlabasi lebten einst die nichtmuslimischen Minderheiten, Griechen zum Beispiel, die über lange Zeit im ehemaligen Konstantinopel beheimatet waren und dort wichtige Posten in der Verwaltung besetzten. Heute leben hier vor allem illegale Einwanderer, Arme, Flüchtlinge. Das Quartier ist von offensichtlicher Armut geprägt, von Prostitution, Drogenhandel, Straßenkindern. Leinen voll bunter Wäsche sind quer über holprige Straßen gespannt, alte Häuser sind zum Teil längst schon verfallen, aber dennoch bewohnt, geflickt mit Latten, Brettern, mit bunten Tüchern behängt. Improvisiertes, unaufgeräumtes Leben am Rande des Existenzminimums – bricolage. Viele, die hier leben, arbeiten im glitzernden Nachtleben Beyoglus, von hier aus zu Fuß gut zu erreichen. Wer hier lebt, kann es sich nicht leisten, woanders zu wohnen, denn er könnte nicht einmal


Die Dinge 1 Nofretete Im April dieses Jahres sah ich zum ersten Mal die Nofretete. Nicht im Fernsehen, auch nicht im Internet, nein, «in echt», in ihrer jetzigen Heimat im Neuen Museum in Berlin. Ich hatte nicht erwartet, dass mich der Anblick einer alten ägyptischen Büste derart beeindrucken würde. Eigentlich wollte ich vor allem das Neue Museum besuchen, weil ich ein Video gesehen hatte, in dem Sasha Waltz’ Tänzerinnen und Tänzer die herrlich leeren Räume anlässlich der Wiedereröffnung des Gebäudes ertanzten; zudem hatte ich in Richard Sennetts neuestem Buch Zusammenarbeit über das Neue Museum gelesen. Aber dann sah ich sie, die vielbesungene und in jüngster Zeit wieder in die Diskussion geratene Nofretete. Wie wunderschön sie war, voller Anmut und Ausstrahlung, lebendig auch nach so langer Zeit. Still ging ich einige Male um sie herum und staunte. Was für ein Kunstwerk, das unvergängliche Schönheit über so viele Jahrhunderte hinweg vermitteln kann! Aber auch das Neue Museum hinterliess bleibenden Eindruck bei mir. Sennett zeichnet dessen Restaurationsprozess nach: Im zweiten Weltkrieg

zerstört, blieb das Museum bis in die 1980er Jahre eine Ruine. Bäume wuchsen durch das offene Dach, die Wände und Säulen voller Einschüsse. Nach der Wiedervereinigung wurde lange diskutiert: Sollte man das Gebäude restaurieren, eine makellose Kopie des einstigen Zustands schaffen? Oder doch abreissen? Neu aufbauen, wie es jetzt mit dem Berliner Stadtschloss geschehen soll? Dabei stellte sich zugleich die Frage, wie Berlin mit seiner dramatischen Vergangenheit umgeht. Heute erzählt das Gebäude seine eigene Geschichte nach, aber nicht in Form eines Schaukastens, der die Vergangenheit ausstellt. Vielmehr soll der Besucher physisch nacherleben können, was hier geschah: Das Gebäude stellt seinen eigenen Transformationsprozess aus, schreibt Sennett (2012, 293). In einigen Räumen sind nach wie vor Kriegsschäden zu sehen, Fussboden und Wände erzählen von den verschiedenen Zeitaltern, die das Gebäude durchlebt hat. Eigentlich handelt Sennetts Buch von etwas anderem, nämlich von der Frage, wie Menschen kooperieren. Sennett versteht den Umbau des Neuen Museums als eine Metapher für das Nachdenken über die Reparatur von Kooperation. Die

des Lebens Fähigkeit zu anspruchsvoller Kooperation sei in jüngerer Zeit geschwächt worden, so eine seiner Thesen. Was ist anspruchsvolle Kooperation? «Sie versucht, Menschen zusammenzubringen, die unterschiedliche oder gegensätzliche Interessen verfolgen, die kein gutes Bild voneinander haben, verschieden sind, oder einander einfach nicht verstehen. Die Herausforderung besteht darin, auf andere Menschen nach deren Bedingungen einzugehen» (ebd., 18). Sennett plädiert nicht für eine simple Wiederherstellung eines alten Verständnisses von Kooperation, so wie auch das Neue Museum nicht einfach wiederhergestellt wurde. Vielmehr geht es um ein Reparieren im Sinne eines kreativen Weiterentwickelns, so dass ein neuer Wert entstehen kann: «Die Reparatur einer alten Maschine kann bei einem spielerischen Umgang mit dieser Aufgabe dazu führen, dass man sowohl den Zweck als auch die Funktionsweise der Maschine verändert. Auch die Reparatur sozialer Beziehungen kann zu unvorhergesehenen Ergebnissen führen, vor allem wenn sie informell geschieht» (ebd., 295). Haben wir das denn nötig? Eine Reparatur sozialer Beziehungen – im Sinne eines kreativen Umbaus?

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2 Tarlabasi

Während unseres Aufenthalts in Istanbul mit dem Dodici-Jahrgang führt uns die junge Stadtplanerin Evrim durch Tarlabasi. Hier endete einst die Stadt; heute ist das Quartier mitten in Istanbul, nahe der zentralen Flaniermeile Istiklal und dem Ausgehviertel Beyoglu. In Tarlabasi lebten einst die nichtmuslimischen Minderheiten, Griechen zum Beispiel, die über lange Zeit im ehemaligen Konstantinopel beheimatet waren und dort wichtige Posten in der Verwaltung besetzten. Heute leben hier vor allem illegale Einwanderer, Arme, Flüchtlinge. Das Quartier ist von offensichtlicher Armut geprägt, von Prostitution, Drogenhandel, Straßenkindern. Leinen voll bunter Wäsche sind quer über holprige Straßen gespannt, alte Häuser sind zum Teil längst schon verfallen, aber dennoch bewohnt, geflickt mit Latten, Brettern, mit bunten Tüchern behängt. Improvisiertes, unaufgeräumtes Leben am Rande des Existenzminimums – bricolage. Viele, die hier leben, arbeiten im glitzernden Nachtleben Beyoglus, von hier aus zu Fuß gut zu erreichen. Wer hier lebt, kann es sich nicht leisten, woanders zu wohnen, denn er könnte nicht einmal


das Geld für ein Nahverkehrsticket aufbringen, wie Evrim erzählt. In diesen Tagen wird Tarlabasi abgerissen. Längst haben Investoren die günstige Lage des Quartiers erkannt. Istanbul ist die Stadt der Gier, wie die Journalistin Gabriele Ohl uns gleich nach unserer Ankunft sagte. Von den teilweise bereits entkernten Gebäuden werden nur die schmucken Fassaden übrig bleiben, dahinter teure Wohnungen, Gated Communities, Ghettos für Reiche. Niemand, der jetzt hier wohnt, wird sich das leisten können. Was hier zerstört wird, ist nicht nur Bausubstanz, sondern auch das, was im Türkischen mahalle heisst und in Berlin «Kiez»: Die hier Lebenden haben bei minimalem Besitz Sozialstrukturen etabliert, die ihnen ihr Leben ermöglichen. Es ist eine Form kollektiver Überlebenskunst, die man hier erahnen kann. Zwei Dinge zeichnen Gemeinschaften als Gemeinschaften aus: 1. Die Beteiligten erleben sich durch eine kollektive Praxis als Gemeinschaft. 2. Sie grenzen sich in irgendeiner Form vom Umfeld ab (Rosa 2010, 84). Die Abschottung der Reichen dient dem Erhalt von Ungleichheit. Es ist eine Gemeinschaft unter Gleichen. Kiezgemeinschaften, wie Alexander Dill sie aus dem Berlin seiner Kindheit kennt, funktionieren anders: Dort spielt es «keine grosse Rolle, ob man sein bescheidenes Einkommen vom Sozialamt, von den Eltern oder aus Schwarzarbeit bezog. Wer dort lebte, gehörte zur Kiezgemeinschaft, egal, welcher Religion und Nationalität er angehörte oder welchen Beruf er ausübte. Selbst die tragischsten Schicksale – und denen begegnete man täglich vor der Haustür – erschienen im Kiez als Teile eines intakten Soziotops, nicht als zu beseitigende Abweichung oder zu behebendes Elend.» (Dill 2012, 142) Es gibt eben zwei Formen von Sozialkapital: bonding social capital und bridiging social capital. Ersteres ist der Zusammenschluss von Gleichen, eine Art mechanischer Solidarität; letzteres die Bereitschaft und Fähigkeit, Brücken zu schlagen zu Menschen, die anders sind, dem Fremden gegenüber offen zu sein, mit Fremden zu kooperieren (Putnam 2000, 22ff). Will eine Stadt ihr Sozialkapital erhalten, muss sie ihre Kieze pflegen (Dill 143).

3 Die Welt als Entwurf Es ist kein Zufall, dass wir gerade jetzt auf das Thema Gemeinschaft stoßen. Vielmehr begegnet dieses Thema uns zu einem Zeitpunkt, an dem unsere westlichen Gesellschaften eine ungeahnte Verletzlichkeit offenbaren und Europa sich sowohl wirtschaftlich als auch politisch und sozial in einer komplexen Krise befindet. Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass Wirtschaftswachstum und Wohlstand westlicher Gesellschaften auf einem enormen Ressourcenverbrauch beruhen, Ressourcen, die jedoch begrenzt sind. Neben unserem wackligen Wirtschaftskonstrukt – geprägt von Finanzmärkten, die von realen, materialisierbaren Werten längst entkoppelt sind – steht unserem Planeten die dramatischste Erwärmung seit 300 Millionen Jahren bevor. Die anstehende Transformation ist nur mit den ganz großen Achsenzeiten wie den Übergängen in die agrarische bzw. die Industriegesellschaft vergleichbar (Leggewie und Welzer 2010). Zwei Dinge zeichnen Gemeinschaften als Gemeinschaften aus: 1. Die Beteiligten erleben sich durch eine kollektive Praxis als Gemeinschaft. 2. Sie grenzen sich in irgendeiner Form vom Umfeld ab. In diesem Zusammenhang entstehen nun teils wissenschaftlich fundierte, teils auch pragmatische Entwürfe, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, die nicht von ständigem Wirtschaftswachstum abhängig ist und nicht auf einer ständig zunehmenden Ausbeutung natürlicher Ressourcen beruht. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie allesamt mit der Vorsilbe «Post-» beginnen und uns damit auf alles Mögliche hinweisen, was bald vorbei sein könnte oder schon Auslaufmodell geworden ist. Zu nennen ist die Idee einer Postwachstumsökonomie (Paech), die auf die Grenzen des Wirtschaftswachstums hinweist – das ohnehin immer magerer oder auch jetzt schon bisweilen ganz ausfällt – oder das Konzept einer Postwachstumsgesellschaft (Seidl und Zahrnt), das in dieselbe Kerbe schlägt, nur dass die Sache hier nicht mehr nur die Ökonomie, sondern unsere ganze

Gesellschaftskonzeption und -organisation betrifft. Wer noch düsterer in die Zukunft schaut, der entwirft das Szenario einer Post-Kollapsgesellschaft (Heimrath): das, was uns erwarten könnte, wenn die Welt, wie wir sie jetzt kennen, aufgrund von ökologischen oder ökonomischen Krisen untergeht. Das sind dann Krisen, in denen kein Finanz-Rettungsschirm mehr zur Hand ist und auch der herkömmliche Regenschirm gegen die klimawandelbedingten Flutkatastrophen nicht mehr hilft – was nach den jüngsten Berichten des Club of Rome ja durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Eine Reihe von Post-X-Entwürfen also, Entwürfe, die sich erst einmal im Titel von dem abgrenzen, was war oder ist, ohne so genau zu sagen, wohin es gehen könnte. Für uns als Designer im weitesten Sinne ist das interessant: Ist es nicht das, was wir können – Entwürfe in die Welt setzen? Die Welt als Entwurf, nannte der berühmte Otl Aicher einst sein Buch: «Design bezieht sich auf den kulturellen Zustand einer Epoche, der Zeit, der Welt. Die heutige Welt ist definiert durch ihren Entwurfszustand. Die heutige Zivilisation ist eine vom Menschen gemachte und also entworfen. Die Qualität der Entwürfe ist die Qualität der Welt.“ (Aicher 1991, 12) Und Design umfasst nicht nur Architektur-, Grafik-, Medien-, Mode-, Produkt- und Industriedesign, sondern auch die Gestaltung von Lebenswelten, Kommunikationsund Produktionsprozessen (Sachs 2010, 6). Allen genannten Post-X-Entwürfen gemeinsam ist, dass sie nur umsetzbar sind, wenn Gemeinschaften eine andere Rolle spielen als bisher; wenn offene, fluktuierende, produktive, diverse Gemeinschaften entstehen und die Menschen sich als gemeinschaftsfähig erweisen: Das Modell der Post-Kollapsgesellschaft beispielsweise fußt auf der Commons-Forschung (Helfrich 2012), der Forschung über Gemeingüter und Allmende, für die Elinor Ostrom den Nobelpreis erhielt und die in jüngster Zeit im deutschsprachigen Raum durch die Heinrich-Böll-Stiftung vorangetrieben wird, insbesondere durch Silke Helfrich. Alles läuft darauf hinaus, dass wir Gemeinschaft neu buchstabieren müssen. Das ABC einer zukunftsfähigen Gemeinschaft. Wie lautet es? Wer gestaltet es mit?

4 Die Einsamkeit der Dinge Bei seinen Überlegungen zur Bedeutung von Kooperation erzählt Sennett auch von den Ritualen in mittelalterlichen Werkstätten: Der Lehrling zeigte am Ende seiner Lehrzeit mit seinem Gesellenstück, was er sich an Fertigkeiten erworben hatte. Dabei durfte er aber interessanterweise nicht reden oder erklären; das von ihm Geschaffene sollte für sich sprechen: «Die übliche Anrede für Objekte lautete nicht ‹es›, sondern ‹du›. In der Sprache der mittelalterlichen Handwerker ging man noch einen Schritt weiter. Man behandelte die Objekte, als wären sie lebendig, als hätten sie sich auf magische Weise in Wesenheiten verwandelt, mit denen man diskutieren und streiten konnte» (Sennett 2012, 154). Heute hingegen sind die Dinge einsam geworden. Man spricht über sie, nicht mit ihnen. Und wir haben ja ohnehin so viel, dass der Wert des einzelnen Objekts relativ geworden ist. Wonach bemessen wir den Wert dessen, was wir erstehen? Damit Konsumaktivitäten überhaupt Sinn machen, brauchen wir die Ressource, die für die meisten am knappsten geworden ist: Zeit. Wer immer mehr hat, hat immer weniger Zeit, zu nutzen, was er hat. Schliesslich verbringt er dann seine Zeit nur noch damit, Konsumgüter zu suchen, zu vergleichen, zu prüfen, zu kaufen, unterzubringen (Paech 2011, 11f.). In der Fernsehsendung in.puncto auf ARD EinsPlus hingegen verkündet die Upcyclerin Sarah, die in bester Post-Wachstums-Manier aus Flohmarktfundstücken Design-Unikate bastelt, sie warte nur ab, bis die Dinge selber zu ihr sagten, was aus ihnen werden solle. Das führe sie dann aus. Natürlich sind auch Sarahs Objekte keine sprechenden Wunder aus dem Altkleidersack. Aber die Gründerin des Labels Die Edelspinner beherrscht eine schlichte Kulturtechnik: die des Zuhörens im umfassenden Sinn. Zuhören ist, wie bei Sennett deutlich wird, eine Voraussetzung für Kooperation – und kooperieren kann man nicht nur mit Menschen, sondern auch mit einem Material, mit seinen Grenzen, mit Bedingungen, die man vorfindet und auf die man sich einstimmen kann. Beim Zuhören «gilt es, genau darauf zu achten, was andere sagen, und es zu interpretieren, bevor man antwortet, und zwar


das Geld für ein Nahverkehrsticket aufbringen, wie Evrim erzählt. In diesen Tagen wird Tarlabasi abgerissen. Längst haben Investoren die günstige Lage des Quartiers erkannt. Istanbul ist die Stadt der Gier, wie die Journalistin Gabriele Ohl uns gleich nach unserer Ankunft sagte. Von den teilweise bereits entkernten Gebäuden werden nur die schmucken Fassaden übrig bleiben, dahinter teure Wohnungen, Gated Communities, Ghettos für Reiche. Niemand, der jetzt hier wohnt, wird sich das leisten können. Was hier zerstört wird, ist nicht nur Bausubstanz, sondern auch das, was im Türkischen mahalle heisst und in Berlin «Kiez»: Die hier Lebenden haben bei minimalem Besitz Sozialstrukturen etabliert, die ihnen ihr Leben ermöglichen. Es ist eine Form kollektiver Überlebenskunst, die man hier erahnen kann. Zwei Dinge zeichnen Gemeinschaften als Gemeinschaften aus: 1. Die Beteiligten erleben sich durch eine kollektive Praxis als Gemeinschaft. 2. Sie grenzen sich in irgendeiner Form vom Umfeld ab (Rosa 2010, 84). Die Abschottung der Reichen dient dem Erhalt von Ungleichheit. Es ist eine Gemeinschaft unter Gleichen. Kiezgemeinschaften, wie Alexander Dill sie aus dem Berlin seiner Kindheit kennt, funktionieren anders: Dort spielt es «keine grosse Rolle, ob man sein bescheidenes Einkommen vom Sozialamt, von den Eltern oder aus Schwarzarbeit bezog. Wer dort lebte, gehörte zur Kiezgemeinschaft, egal, welcher Religion und Nationalität er angehörte oder welchen Beruf er ausübte. Selbst die tragischsten Schicksale – und denen begegnete man täglich vor der Haustür – erschienen im Kiez als Teile eines intakten Soziotops, nicht als zu beseitigende Abweichung oder zu behebendes Elend.» (Dill 2012, 142) Es gibt eben zwei Formen von Sozialkapital: bonding social capital und bridiging social capital. Ersteres ist der Zusammenschluss von Gleichen, eine Art mechanischer Solidarität; letzteres die Bereitschaft und Fähigkeit, Brücken zu schlagen zu Menschen, die anders sind, dem Fremden gegenüber offen zu sein, mit Fremden zu kooperieren (Putnam 2000, 22ff). Will eine Stadt ihr Sozialkapital erhalten, muss sie ihre Kieze pflegen (Dill 143).

3 Die Welt als Entwurf Es ist kein Zufall, dass wir gerade jetzt auf das Thema Gemeinschaft stoßen. Vielmehr begegnet dieses Thema uns zu einem Zeitpunkt, an dem unsere westlichen Gesellschaften eine ungeahnte Verletzlichkeit offenbaren und Europa sich sowohl wirtschaftlich als auch politisch und sozial in einer komplexen Krise befindet. Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass Wirtschaftswachstum und Wohlstand westlicher Gesellschaften auf einem enormen Ressourcenverbrauch beruhen, Ressourcen, die jedoch begrenzt sind. Neben unserem wackligen Wirtschaftskonstrukt – geprägt von Finanzmärkten, die von realen, materialisierbaren Werten längst entkoppelt sind – steht unserem Planeten die dramatischste Erwärmung seit 300 Millionen Jahren bevor. Die anstehende Transformation ist nur mit den ganz großen Achsenzeiten wie den Übergängen in die agrarische bzw. die Industriegesellschaft vergleichbar (Leggewie und Welzer 2010). Zwei Dinge zeichnen Gemeinschaften als Gemeinschaften aus: 1. Die Beteiligten erleben sich durch eine kollektive Praxis als Gemeinschaft. 2. Sie grenzen sich in irgendeiner Form vom Umfeld ab. In diesem Zusammenhang entstehen nun teils wissenschaftlich fundierte, teils auch pragmatische Entwürfe, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, die nicht von ständigem Wirtschaftswachstum abhängig ist und nicht auf einer ständig zunehmenden Ausbeutung natürlicher Ressourcen beruht. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie allesamt mit der Vorsilbe «Post-» beginnen und uns damit auf alles Mögliche hinweisen, was bald vorbei sein könnte oder schon Auslaufmodell geworden ist. Zu nennen ist die Idee einer Postwachstumsökonomie (Paech), die auf die Grenzen des Wirtschaftswachstums hinweist – das ohnehin immer magerer oder auch jetzt schon bisweilen ganz ausfällt – oder das Konzept einer Postwachstumsgesellschaft (Seidl und Zahrnt), das in dieselbe Kerbe schlägt, nur dass die Sache hier nicht mehr nur die Ökonomie, sondern unsere ganze

Gesellschaftskonzeption und -organisation betrifft. Wer noch düsterer in die Zukunft schaut, der entwirft das Szenario einer Post-Kollapsgesellschaft (Heimrath): das, was uns erwarten könnte, wenn die Welt, wie wir sie jetzt kennen, aufgrund von ökologischen oder ökonomischen Krisen untergeht. Das sind dann Krisen, in denen kein Finanz-Rettungsschirm mehr zur Hand ist und auch der herkömmliche Regenschirm gegen die klimawandelbedingten Flutkatastrophen nicht mehr hilft – was nach den jüngsten Berichten des Club of Rome ja durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Eine Reihe von Post-X-Entwürfen also, Entwürfe, die sich erst einmal im Titel von dem abgrenzen, was war oder ist, ohne so genau zu sagen, wohin es gehen könnte. Für uns als Designer im weitesten Sinne ist das interessant: Ist es nicht das, was wir können – Entwürfe in die Welt setzen? Die Welt als Entwurf, nannte der berühmte Otl Aicher einst sein Buch: «Design bezieht sich auf den kulturellen Zustand einer Epoche, der Zeit, der Welt. Die heutige Welt ist definiert durch ihren Entwurfszustand. Die heutige Zivilisation ist eine vom Menschen gemachte und also entworfen. Die Qualität der Entwürfe ist die Qualität der Welt.“ (Aicher 1991, 12) Und Design umfasst nicht nur Architektur-, Grafik-, Medien-, Mode-, Produkt- und Industriedesign, sondern auch die Gestaltung von Lebenswelten, Kommunikationsund Produktionsprozessen (Sachs 2010, 6). Allen genannten Post-X-Entwürfen gemeinsam ist, dass sie nur umsetzbar sind, wenn Gemeinschaften eine andere Rolle spielen als bisher; wenn offene, fluktuierende, produktive, diverse Gemeinschaften entstehen und die Menschen sich als gemeinschaftsfähig erweisen: Das Modell der Post-Kollapsgesellschaft beispielsweise fußt auf der Commons-Forschung (Helfrich 2012), der Forschung über Gemeingüter und Allmende, für die Elinor Ostrom den Nobelpreis erhielt und die in jüngster Zeit im deutschsprachigen Raum durch die Heinrich-Böll-Stiftung vorangetrieben wird, insbesondere durch Silke Helfrich. Alles läuft darauf hinaus, dass wir Gemeinschaft neu buchstabieren müssen. Das ABC einer zukunftsfähigen Gemeinschaft. Wie lautet es? Wer gestaltet es mit?

4 Die Einsamkeit der Dinge Bei seinen Überlegungen zur Bedeutung von Kooperation erzählt Sennett auch von den Ritualen in mittelalterlichen Werkstätten: Der Lehrling zeigte am Ende seiner Lehrzeit mit seinem Gesellenstück, was er sich an Fertigkeiten erworben hatte. Dabei durfte er aber interessanterweise nicht reden oder erklären; das von ihm Geschaffene sollte für sich sprechen: «Die übliche Anrede für Objekte lautete nicht ‹es›, sondern ‹du›. In der Sprache der mittelalterlichen Handwerker ging man noch einen Schritt weiter. Man behandelte die Objekte, als wären sie lebendig, als hätten sie sich auf magische Weise in Wesenheiten verwandelt, mit denen man diskutieren und streiten konnte» (Sennett 2012, 154). Heute hingegen sind die Dinge einsam geworden. Man spricht über sie, nicht mit ihnen. Und wir haben ja ohnehin so viel, dass der Wert des einzelnen Objekts relativ geworden ist. Wonach bemessen wir den Wert dessen, was wir erstehen? Damit Konsumaktivitäten überhaupt Sinn machen, brauchen wir die Ressource, die für die meisten am knappsten geworden ist: Zeit. Wer immer mehr hat, hat immer weniger Zeit, zu nutzen, was er hat. Schliesslich verbringt er dann seine Zeit nur noch damit, Konsumgüter zu suchen, zu vergleichen, zu prüfen, zu kaufen, unterzubringen (Paech 2011, 11f.). In der Fernsehsendung in.puncto auf ARD EinsPlus hingegen verkündet die Upcyclerin Sarah, die in bester Post-Wachstums-Manier aus Flohmarktfundstücken Design-Unikate bastelt, sie warte nur ab, bis die Dinge selber zu ihr sagten, was aus ihnen werden solle. Das führe sie dann aus. Natürlich sind auch Sarahs Objekte keine sprechenden Wunder aus dem Altkleidersack. Aber die Gründerin des Labels Die Edelspinner beherrscht eine schlichte Kulturtechnik: die des Zuhörens im umfassenden Sinn. Zuhören ist, wie bei Sennett deutlich wird, eine Voraussetzung für Kooperation – und kooperieren kann man nicht nur mit Menschen, sondern auch mit einem Material, mit seinen Grenzen, mit Bedingungen, die man vorfindet und auf die man sich einstimmen kann. Beim Zuhören «gilt es, genau darauf zu achten, was andere sagen, und es zu interpretieren, bevor man antwortet, und zwar


die Gesten und Sprechpausen ebenso wie das explizit Gesagte.» (Sennett, 29) Was passiert, wenn Studierende zur Kehrrichtverbrennung in Basel gehen und den Müllbergen zuhören, wie im Workshop Critical Design geschehen? Was passiert, wenn wir auf unseren Umgang mit den Dingen lauschen? Sennett spricht von einem Gefühl, das viele teilen können, dem «Gefühl, dass wir angesichts der mit physischen Gegenständen vollgestopften Welt nicht recht wissen, wie wir von materiellen Objekten und Maschinen guten Gebrauch machen können.» (ebd. 9) Welchen Wert also werden die Dinge künftig haben? Können wir uns das überhaupt vorstellen, wir Generation Ikea, die wir damit aufgewachsen sind, dass so gut wie alles zu einem erträglichen Preis innerhalb kürzester Zeit zu kaufen ist, ausgetauscht, wieder weggeschmissen werden kann? «Kaufen für den Sperrmüll» nennt Harald Welzer das und verkürzt die ganze Sache auf zwei Worte, grossgeschrieben: ALLES IMMER (Welzer 2013). Dass uns dieses ALLES IMMER gar nicht glücklich macht, hat die Glücksforschung längst bewiesen: Ab einem bestimmten Pro-Kopf-Einkommen steigt das Glücksempfinden einfach nicht mehr; da hilft auch kein noch flacherer Flachbildschirm. Dennoch maximieren wir Erwerbsarbeit, um uns ein immer höheres Konsumniveau leisten zu können. Gleichzeitig aber berauben wir uns durch ständiges Wirtschaftswachstum der materiellen Basis, der Ressourcen, die Wirtschaftswachstum überhaupt erst ermöglichen. 5 Komm! Ins Offene, Freund! Wie also sieht die Alternative aus? Paechs Entwurf einer Postwachstumsökonomie zeichnet sich durch zwei Merkmale aus: 1. Eine «Ökonomie der Nähe» durch Verkürzung von Produktionsketten bis zur Lokal- oder Regionalversorgung. Eine solche Ökonomie braucht eine andere soziale Einbettung, weil zwischen den Akteuren direkte Beziehungen bestehen, die sich zudem mit der Region identifizieren. Beziehungen! Gemeinschaft heißt ja nichts anderes, als dass eine Gruppe von Menschen sich aufeinander beziehen. 2. Kreative Subsistenz als Ersatz für Industrieoutput. Subsistenz – im weitesten Sinne bedeutet das die Fähigkeit zur Selbstversorgung – ist für Paech

deswegen so wesentlich, weil unsere westlichen Industriegesellschaften im Moment komplett abhängig von Fremdversorgung und damit extrem verletzlich sind. Unsere Lebensmittel legen ungeheure Strecken zurück, bevor sie auf dem Teller landen. Das aber funktioniert nur, solange Öl billig ist und wir im April Äpfel aus Neuseeland kaufen können. Oder wie lange könnten Sie sich aus eigenen Vorräten ernähren? Wie labil aber unser Wirtschaftssystem ist, bekommen wir in den letzten Jahren deutlich zu spüren. Lebensmittelkonserven bunkern ist keine Alternative, kreative Subsistenz hingegen durchaus. Die entsteht, wie Paech sagt, zum Beispiel durch Nutzungsintensivierung in Form von Gemeinschaftsnutzung. Stichwort Teilen. Zweite Zutat: Verlängerung der Nutzungsdauer. Die aber ist, wie wir wissen, bei vielen Dingen von vornherein beschränkt. Die Dinge, mit denen wir uns umgeben, sind schon so gemacht, dass sie nicht lange halten. Langlebigkeit ist der Feind der Gewinnmaximierung. Die Dinge müssen also anders werden, wenn es besser werden soll. Oder sie müssen länger benutzt werden. Dritte Zutat für kreative Subsistenz: Eigenproduktion. Dinge werden wieder selbst hergestellt. Im Do-It-Yourself-Trend ist diese Idee schon längst angekommen, ebenso wie in den zahlreichen Initiativen zum Urban Gardening. Auch die überall entstehenden MakerLabs sind letztlich Werkstätten der Ermächtigung: Was du selbst machst, ist mehr wert – probier es aus, du wirst staunen, was du vermagst. Was heisst das fürs Design? Wer braucht Designer, wenn alle alles selber machen? Dann sind wir alle Gestalter, Gestalter unserer Lebenswelt. Natürlich wird der Designer als Spezialist nicht ersetzbar sein. Aber er kann auch nicht so weitermachen wie bisher, wenn er nicht will, dass er mit der Kreation von energiefressenden Luxusprodukten anderen auf der Welt die Lebensgrundlage raubt. Er wird sich als Re-Designer, als Upcycler, als kreativer Weiterverwender verstehen, als jemand, der Dinge umgestaltet, neu kombiniert, repariert, ergänzt. Jemand, der Dinge auf Dauerhaftigkeit ausrichtet und auf vielseitige Verwendbarkeit. Es reicht nicht, den falschen Produkten ein grünes oder soziales Plus zu verpassen wie bei

der verheerenden Müllproduktionsmaschine Nespresso, die jetzt 10 Prozent ihrer Kapseln mit Fairtrade-Kaffee füllt. Das macht die Aluminiumhütchen aber auch nicht umweltfreundlicher. Also erfindet die Konkurrenz Ökokaffeekapseln. Schon gilt als umweltfreundlich, was es vorher gar nicht gab und keiner brauchte. (Welzer 2013, 26f) «Es geht um das Re-Design des Verhältnisses zwischen Rohstoff und Erzeugnis. Wir brauchen also ein transformatives Design. Nicht nur andere, sondern weniger Energie. Nicht bessere, sondern weniger Produkte. Keine neuen Aufwände, sondern Wiederver wenden. Umnutzen. Nachnutzen. Mitnutzen. [...] Dazu bräuchte es Designer, die mehr im Blick haben als nur den Markt. Mehr als nur form und function. Sie müssten neue Energien entwickeln, wie so ein Leben in der Postwachstumswelt aussehen könnte.» (Welzer 2012) Dazu gehört auch die Gestaltung von Gemeinschaften, die Fähigkeit zu kooperieren, verschiedene Menschen einzubeziehen – kurz: Prozesse zu gestalten. Also, liebe Gestalterinnen und Gestalter: Vergesst die Welt von heute. Seid Gestalter der Welt von morgen. Entwerft eine Welt, die glücklich macht. Fangt jetzt damit an. Dies ist das Zeitalter des Entwurfs! Anka Semmig Literatur Dill, Alexander: Gemeinsam sind wir reich. Wie Gemeinschaften ohne Geld Werte schaffen. München, 2012. Heimrath, Johannes: Die Postkollapsgesellschaft. Berlin, München, 2012. Helfrich, Silke, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat. Bielefeld, 2012. Leggewie, Claus; Welzer, Harald: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Frankfurt am Main, 2010. Aicher, Otl: Die Welt als Entwurf. Berlin, 1991.

Paech, Nico: Vom grünen Wachstumsmythos zur Postwachstumsökonomie. In: Harald Welzer (Hg.): Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung: Wie sieht die Welt im Jahr 2050 aus? [Forum fürVerantwortung]. Frankfurt am Main, 2011, S. 131–151. Paech, Nico: Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachtumsökonomie. München, 2012, 2. Aufl. Putnam, Robert D.: Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community. New York, 2000. Rosa, Hartmut u.a. (Hg.): Theorien der Gemeinschaft zur Einführung. Hamburg, 2010. Sachs, Angeli (Hg.): Global Design. Internationale Perspektiven und individuelle Konzepte. Zürich 2010. Seidl, Irmi; Zahrnt, Angelika (Hg.): Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft. Marburg, 2010. Sennett, Richard: Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. München, 2012. Welzer, Harald: Beschränkt Euch! In: Süddeutsche Zeitung Magazin, Heft 39/2012. www.sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/ anzeigen/38551 Welzer, Harald: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt am Main, 2013. Zu den Berichten des Club of Rome: Der Club of Rome schlägt Alarm (NZZ, 10.05.2012): www.nzz.ch/aktuell/international/der-clubof-rome-schlaegt-alarm-1.16808938 Wir werden Bewohner eines neues Planeten (Süddeutsche Zeitung, 07.06.2013): www.sueddeutsche.de/wissen/berichtan-den-club-of-rome-wir-werden-bewohner-eines-neuen-planeten-1.1691091


die Gesten und Sprechpausen ebenso wie das explizit Gesagte.» (Sennett, 29) Was passiert, wenn Studierende zur Kehrrichtverbrennung in Basel gehen und den Müllbergen zuhören, wie im Workshop Critical Design geschehen? Was passiert, wenn wir auf unseren Umgang mit den Dingen lauschen? Sennett spricht von einem Gefühl, das viele teilen können, dem «Gefühl, dass wir angesichts der mit physischen Gegenständen vollgestopften Welt nicht recht wissen, wie wir von materiellen Objekten und Maschinen guten Gebrauch machen können.» (ebd. 9) Welchen Wert also werden die Dinge künftig haben? Können wir uns das überhaupt vorstellen, wir Generation Ikea, die wir damit aufgewachsen sind, dass so gut wie alles zu einem erträglichen Preis innerhalb kürzester Zeit zu kaufen ist, ausgetauscht, wieder weggeschmissen werden kann? «Kaufen für den Sperrmüll» nennt Harald Welzer das und verkürzt die ganze Sache auf zwei Worte, grossgeschrieben: ALLES IMMER (Welzer 2013). Dass uns dieses ALLES IMMER gar nicht glücklich macht, hat die Glücksforschung längst bewiesen: Ab einem bestimmten Pro-Kopf-Einkommen steigt das Glücksempfinden einfach nicht mehr; da hilft auch kein noch flacherer Flachbildschirm. Dennoch maximieren wir Erwerbsarbeit, um uns ein immer höheres Konsumniveau leisten zu können. Gleichzeitig aber berauben wir uns durch ständiges Wirtschaftswachstum der materiellen Basis, der Ressourcen, die Wirtschaftswachstum überhaupt erst ermöglichen. 5 Komm! Ins Offene, Freund! Wie also sieht die Alternative aus? Paechs Entwurf einer Postwachstumsökonomie zeichnet sich durch zwei Merkmale aus: 1. Eine «Ökonomie der Nähe» durch Verkürzung von Produktionsketten bis zur Lokal- oder Regionalversorgung. Eine solche Ökonomie braucht eine andere soziale Einbettung, weil zwischen den Akteuren direkte Beziehungen bestehen, die sich zudem mit der Region identifizieren. Beziehungen! Gemeinschaft heißt ja nichts anderes, als dass eine Gruppe von Menschen sich aufeinander beziehen. 2. Kreative Subsistenz als Ersatz für Industrieoutput. Subsistenz – im weitesten Sinne bedeutet das die Fähigkeit zur Selbstversorgung – ist für Paech

deswegen so wesentlich, weil unsere westlichen Industriegesellschaften im Moment komplett abhängig von Fremdversorgung und damit extrem verletzlich sind. Unsere Lebensmittel legen ungeheure Strecken zurück, bevor sie auf dem Teller landen. Das aber funktioniert nur, solange Öl billig ist und wir im April Äpfel aus Neuseeland kaufen können. Oder wie lange könnten Sie sich aus eigenen Vorräten ernähren? Wie labil aber unser Wirtschaftssystem ist, bekommen wir in den letzten Jahren deutlich zu spüren. Lebensmittelkonserven bunkern ist keine Alternative, kreative Subsistenz hingegen durchaus. Die entsteht, wie Paech sagt, zum Beispiel durch Nutzungsintensivierung in Form von Gemeinschaftsnutzung. Stichwort Teilen. Zweite Zutat: Verlängerung der Nutzungsdauer. Die aber ist, wie wir wissen, bei vielen Dingen von vornherein beschränkt. Die Dinge, mit denen wir uns umgeben, sind schon so gemacht, dass sie nicht lange halten. Langlebigkeit ist der Feind der Gewinnmaximierung. Die Dinge müssen also anders werden, wenn es besser werden soll. Oder sie müssen länger benutzt werden. Dritte Zutat für kreative Subsistenz: Eigenproduktion. Dinge werden wieder selbst hergestellt. Im Do-It-Yourself-Trend ist diese Idee schon längst angekommen, ebenso wie in den zahlreichen Initiativen zum Urban Gardening. Auch die überall entstehenden MakerLabs sind letztlich Werkstätten der Ermächtigung: Was du selbst machst, ist mehr wert – probier es aus, du wirst staunen, was du vermagst. Was heisst das fürs Design? Wer braucht Designer, wenn alle alles selber machen? Dann sind wir alle Gestalter, Gestalter unserer Lebenswelt. Natürlich wird der Designer als Spezialist nicht ersetzbar sein. Aber er kann auch nicht so weitermachen wie bisher, wenn er nicht will, dass er mit der Kreation von energiefressenden Luxusprodukten anderen auf der Welt die Lebensgrundlage raubt. Er wird sich als Re-Designer, als Upcycler, als kreativer Weiterverwender verstehen, als jemand, der Dinge umgestaltet, neu kombiniert, repariert, ergänzt. Jemand, der Dinge auf Dauerhaftigkeit ausrichtet und auf vielseitige Verwendbarkeit. Es reicht nicht, den falschen Produkten ein grünes oder soziales Plus zu verpassen wie bei

der verheerenden Müllproduktionsmaschine Nespresso, die jetzt 10 Prozent ihrer Kapseln mit Fairtrade-Kaffee füllt. Das macht die Aluminiumhütchen aber auch nicht umweltfreundlicher. Also erfindet die Konkurrenz Ökokaffeekapseln. Schon gilt als umweltfreundlich, was es vorher gar nicht gab und keiner brauchte. (Welzer 2013, 26f) «Es geht um das Re-Design des Verhältnisses zwischen Rohstoff und Erzeugnis. Wir brauchen also ein transformatives Design. Nicht nur andere, sondern weniger Energie. Nicht bessere, sondern weniger Produkte. Keine neuen Aufwände, sondern Wiederver wenden. Umnutzen. Nachnutzen. Mitnutzen. [...] Dazu bräuchte es Designer, die mehr im Blick haben als nur den Markt. Mehr als nur form und function. Sie müssten neue Energien entwickeln, wie so ein Leben in der Postwachstumswelt aussehen könnte.» (Welzer 2012) Dazu gehört auch die Gestaltung von Gemeinschaften, die Fähigkeit zu kooperieren, verschiedene Menschen einzubeziehen – kurz: Prozesse zu gestalten. Also, liebe Gestalterinnen und Gestalter: Vergesst die Welt von heute. Seid Gestalter der Welt von morgen. Entwerft eine Welt, die glücklich macht. Fangt jetzt damit an. Dies ist das Zeitalter des Entwurfs! Anka Semmig Literatur Dill, Alexander: Gemeinsam sind wir reich. Wie Gemeinschaften ohne Geld Werte schaffen. München, 2012. Heimrath, Johannes: Die Postkollapsgesellschaft. Berlin, München, 2012. Helfrich, Silke, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat. Bielefeld, 2012. Leggewie, Claus; Welzer, Harald: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Frankfurt am Main, 2010. Aicher, Otl: Die Welt als Entwurf. Berlin, 1991.

Paech, Nico: Vom grünen Wachstumsmythos zur Postwachstumsökonomie. In: Harald Welzer (Hg.): Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung: Wie sieht die Welt im Jahr 2050 aus? [Forum fürVerantwortung]. Frankfurt am Main, 2011, S. 131–151. Paech, Nico: Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachtumsökonomie. München, 2012, 2. Aufl. Putnam, Robert D.: Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community. New York, 2000. Rosa, Hartmut u.a. (Hg.): Theorien der Gemeinschaft zur Einführung. Hamburg, 2010. Sachs, Angeli (Hg.): Global Design. Internationale Perspektiven und individuelle Konzepte. Zürich 2010. Seidl, Irmi; Zahrnt, Angelika (Hg.): Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft. Marburg, 2010. Sennett, Richard: Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. München, 2012. Welzer, Harald: Beschränkt Euch! In: Süddeutsche Zeitung Magazin, Heft 39/2012. www.sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/ anzeigen/38551 Welzer, Harald: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt am Main, 2013. Zu den Berichten des Club of Rome: Der Club of Rome schlägt Alarm (NZZ, 10.05.2012): www.nzz.ch/aktuell/international/der-clubof-rome-schlaegt-alarm-1.16808938 Wir werden Bewohner eines neues Planeten (Süddeutsche Zeitung, 07.06.2013): www.sueddeutsche.de/wissen/berichtan-den-club-of-rome-wir-werden-bewohner-eines-neuen-planeten-1.1691091


75 Tomaten pflanzen im Auge des Sturms

«It’s like a psychotherapy», antwortet Dimitros, als wir ihn danach fragen, was es ihm emo tional bedeute, Teil von PER.KA. zu sein. Eine Antwort, an der die Ausmasse, die das Urban-Farming-Projekt angenommen hat, deutlich abzulesen sind. Zusammen mit rund 130 weiteren Hobby-Gärtnern bewirtschaftet Dimitros eine ehemalige Militäranlage, mitten in Thessaloniki. Dennoch könnte die kleine Gemeinschaft vom gewöhnlichen Stadtleben nicht weiter entfernt sein. Im ersten Moment fühlt man sich beim Anblick der Anlage an einen vernachlässigten Stadtpark erinnert. Der Gitterzaun, der die rund zwei Quadratkilometer grosse Fläche einfasst, ist verrostet, die wenigen geteerten Wege sind aufgesprungen wie trockene Haut, durch die Risse drängen Grashalme und Sträucher. Von den meisten der hellen Steinbaracken – den einzigen Zeugen der militärischen Vergangenheit – blieb nicht mehr zurück als ein brüchiges Skelett, umschlungen von Kletterpflanzen, den Armen der voranschreitenden Zeit. Acht Jahre lang war das Land brachgelegen, bevor sich im Januar 2011 eine Handvoll Men-

schen seiner annahmen. Dass vieles auch nach ihrem Einzug etwas heruntergekommen wirkt, hat mehrere Gründe: Zum einen ist es erklärter Teil des Konzepts, der Natur möglichst viele Freiheiten zuzugestehen. Zum anderen sind sie, was die finanziellen Mittel angeht, komplett auf sich selbst gestellt. Sogar Wasserleitungen mussten eigenhändig gelegt werden. Als man damals bei der lokalen Regierung den Antrag stellte, das Land umnutzen zu dürfen, stiess man zwar nicht auf taube, genauso wenig aber auf offene Ohren. Vielmehr liess die Regierung sich für die Entscheidung Zeit. Viel Zeit. So viel, dass die damals noch


75 Tomaten pflanzen im Auge des Sturms

«It’s like a psychotherapy», antwortet Dimitros, als wir ihn danach fragen, was es ihm emo tional bedeute, Teil von PER.KA. zu sein. Eine Antwort, an der die Ausmasse, die das Urban-Farming-Projekt angenommen hat, deutlich abzulesen sind. Zusammen mit rund 130 weiteren Hobby-Gärtnern bewirtschaftet Dimitros eine ehemalige Militäranlage, mitten in Thessaloniki. Dennoch könnte die kleine Gemeinschaft vom gewöhnlichen Stadtleben nicht weiter entfernt sein. Im ersten Moment fühlt man sich beim Anblick der Anlage an einen vernachlässigten Stadtpark erinnert. Der Gitterzaun, der die rund zwei Quadratkilometer grosse Fläche einfasst, ist verrostet, die wenigen geteerten Wege sind aufgesprungen wie trockene Haut, durch die Risse drängen Grashalme und Sträucher. Von den meisten der hellen Steinbaracken – den einzigen Zeugen der militärischen Vergangenheit – blieb nicht mehr zurück als ein brüchiges Skelett, umschlungen von Kletterpflanzen, den Armen der voranschreitenden Zeit. Acht Jahre lang war das Land brachgelegen, bevor sich im Januar 2011 eine Handvoll Men-

schen seiner annahmen. Dass vieles auch nach ihrem Einzug etwas heruntergekommen wirkt, hat mehrere Gründe: Zum einen ist es erklärter Teil des Konzepts, der Natur möglichst viele Freiheiten zuzugestehen. Zum anderen sind sie, was die finanziellen Mittel angeht, komplett auf sich selbst gestellt. Sogar Wasserleitungen mussten eigenhändig gelegt werden. Als man damals bei der lokalen Regierung den Antrag stellte, das Land umnutzen zu dürfen, stiess man zwar nicht auf taube, genauso wenig aber auf offene Ohren. Vielmehr liess die Regierung sich für die Entscheidung Zeit. Viel Zeit. So viel, dass die damals noch


kleine Gruppe beschloss, der Regierung die Entscheidung abzunehmen und einfach einzuziehen. Zu gross war plötzlich die Angst davor, eine weitere Grünfläche an die betonierungswütige Industrie zu verlieren. Damit war PER.KA geboren und ein Statement gesetzt. Seit der Gründung ist das Projekt stetig gewachsen, mit ihm die ideellen Hintergründe und Motivationen. Heute steht PER.KA neben Urban Farming vor allem für einen Ort des sozialen und kulturellen Austauschs. Hier treffen Menschen aus allen Gesellschaftsschichten in einer ungezwungenen Umgebung aufeinander. Nostalgiker, die in der Erde nach ihrer Kindheit graben, PolitAktivisten, die versuchen, sich aus dem Würgegriff des kapitalistischen Systems zu befreien und Alternativen aufzuzeigen, Selbstversorger, die hier damit beginnen, Naturfreunde, die ihrer Freude am Gärtnern frönen, Kinder, die spielen. Und natürlich Dutzende von Mischformen. Das Gemüsebeet wird dabei zum Brückenbauer und Vermittler, Tomate und Gurke zum kleinsten gemeinsamen Nenner. Die gesamte nutzbare Fläche ist aufgeteilt in einzelne Sektoren. Jeweils 30 Personen teilen sich

einen Sektor. Diese Untergruppen nennen sich wiederum PER.KA Zweimal im Monat gibt es eine Gesamtversammlung aller PER.KAs, um sich auszutauschen und Probleme zu diskutieren. «Are there tensions between the members?» fragen wir. «Yes, of course there are tensions. As everywhere, where people come together.» Die Antwort erschlägt mich in ihrer Direktheit. Ganz selbstverständlich verweist sie – ohne altklug zu wirken – auf die grunsätzliche Akzeptanz gegenüber dem Auftreten zwischenmenschlicher Differenzen. Und gesteht ihnen damit den Raum zu, den sie benötigen, um angegangen werden zu können. Für mich zeugt die Aussage von grosser Sozialkompetenz. Generell bin ich ergriffen von der Atmosphäre, die von diesem kleinen Flecken Erde und seinen «Bewohnern» ausgeht. Von der Bescheidenheit, die hier nicht auf grosse Tafeln geschrieben, sondern gelebt wird, von der Nähe und der Herzlichkeit, mit der man empfangen und aufgenommen wird, von der Ruhe, die als Gegenpol zur umliegenden Grossstadthektik noch vollkommener wirkt, und von der Ausgeglichenheit, die das Zusammenleben hier zu beherrschen scheint. Dabei fällt mir Dimitros’ Antwort auf unsere Frage nach dem emotionalen Bezug wieder ein, und je länger unser Besuch bei PER.KA dauert, desto deutlicher treten ihre Konturen in Erscheinung. Insbesondere was die sozialen Aspekte betrifft. Wie tiefgreifend aber ist der Einfluss der landwirtschaftlichen Tätigkeit an sich auf das Leben derer, die sie verrichten? Inwiefern wird beispielsweise die Sorgfalt, mit der man die Natur behandelt, als Vorbild genommen für andere Lebensbereiche? Wie gehen diese Menschen mit einfachen Verbrauchsgegenständen um? Gehören sie im Supermarkt zu denen, die keine zwei Flaschen Wasser tragen können, ohne dafür einen Plastiksack zu benötigen, oder gehören sie zu denen, die das eben nicht tun, weil sie wissen, in welchem Missverhältnis es steht? Gehören sie zu denen, die sagen; «Ja, man sollte es wirklich nicht tun», oder zu denen, die es eben einfach nicht tun? Oder mischt sich die Gartenarbeit überhaupt nicht in ihr sonstiges Dasein? Ich glaube, das tut sie sehr wohl. Denn je länger man zwischen den Beeten umherschlendert, desto mehr wird einem bewusst, wie zahlreich die Eigenschaften sind, die hier — gleich dem Gemüse — hochzegogen und kultiviert werden.

Als Beispiel liesse sich die Geduld nennen. Sie ist von der Gartenarbeit nicht wegzudenken. Vom Setzen der Samen bis zum Pflücken der Frucht vergehen Monate. Der gesamte Ablauf erfordert grossen Zeitaufwand, beinhaltet tägliches Giessen der Pflanzen, Jäten etc. Eine Garantie für ein gelungenes Resultat gibt es nicht. In einer Gesellschaft, in der auch der kürzeste Weg zum Ziel noch zu lang ist, wird bereits die Erwähnung einer solchen Zeitspanne als Persiflage verstanden. Hier dagegen scheint man sie mit offenen Armen anzunehmen. Damit stellen sie sich einer Tatsache, die im Strudel des Konsumdenkens vollständig übergangen wird: dass nämlich die Natur ihre eigenen Regeln befolgt und sich nur begrenzt daran interessiert zeigt, eigene Konzepte gegen die unseren einzutauschen. Sie nimmt sich die

Zeit, die sie braucht, auch wenn es unseren Plänen zuwiderläuft. Bei PER.KA. respektiert man das. Und ist man erst bei Respekt angelangt, ist der Weg zur Geduld vielleicht schon um einiges kürzer. Und kürzere Wege wären ja – wie oben erwähnt – in unserem Interesse. Nochmals denke ich zurück an Dimitros’ Antwort. Und wieder werden ihre Konturen schärfer. Donat Kaufmann


kleine Gruppe beschloss, der Regierung die Entscheidung abzunehmen und einfach einzuziehen. Zu gross war plötzlich die Angst davor, eine weitere Grünfläche an die betonierungswütige Industrie zu verlieren. Damit war PER.KA geboren und ein Statement gesetzt. Seit der Gründung ist das Projekt stetig gewachsen, mit ihm die ideellen Hintergründe und Motivationen. Heute steht PER.KA neben Urban Farming vor allem für einen Ort des sozialen und kulturellen Austauschs. Hier treffen Menschen aus allen Gesellschaftsschichten in einer ungezwungenen Umgebung aufeinander. Nostalgiker, die in der Erde nach ihrer Kindheit graben, PolitAktivisten, die versuchen, sich aus dem Würgegriff des kapitalistischen Systems zu befreien und Alternativen aufzuzeigen, Selbstversorger, die hier damit beginnen, Naturfreunde, die ihrer Freude am Gärtnern frönen, Kinder, die spielen. Und natürlich Dutzende von Mischformen. Das Gemüsebeet wird dabei zum Brückenbauer und Vermittler, Tomate und Gurke zum kleinsten gemeinsamen Nenner. Die gesamte nutzbare Fläche ist aufgeteilt in einzelne Sektoren. Jeweils 30 Personen teilen sich

einen Sektor. Diese Untergruppen nennen sich wiederum PER.KA Zweimal im Monat gibt es eine Gesamtversammlung aller PER.KAs, um sich auszutauschen und Probleme zu diskutieren. «Are there tensions between the members?» fragen wir. «Yes, of course there are tensions. As everywhere, where people come together.» Die Antwort erschlägt mich in ihrer Direktheit. Ganz selbstverständlich verweist sie – ohne altklug zu wirken – auf die grunsätzliche Akzeptanz gegenüber dem Auftreten zwischenmenschlicher Differenzen. Und gesteht ihnen damit den Raum zu, den sie benötigen, um angegangen werden zu können. Für mich zeugt die Aussage von grosser Sozialkompetenz. Generell bin ich ergriffen von der Atmosphäre, die von diesem kleinen Flecken Erde und seinen «Bewohnern» ausgeht. Von der Bescheidenheit, die hier nicht auf grosse Tafeln geschrieben, sondern gelebt wird, von der Nähe und der Herzlichkeit, mit der man empfangen und aufgenommen wird, von der Ruhe, die als Gegenpol zur umliegenden Grossstadthektik noch vollkommener wirkt, und von der Ausgeglichenheit, die das Zusammenleben hier zu beherrschen scheint. Dabei fällt mir Dimitros’ Antwort auf unsere Frage nach dem emotionalen Bezug wieder ein, und je länger unser Besuch bei PER.KA dauert, desto deutlicher treten ihre Konturen in Erscheinung. Insbesondere was die sozialen Aspekte betrifft. Wie tiefgreifend aber ist der Einfluss der landwirtschaftlichen Tätigkeit an sich auf das Leben derer, die sie verrichten? Inwiefern wird beispielsweise die Sorgfalt, mit der man die Natur behandelt, als Vorbild genommen für andere Lebensbereiche? Wie gehen diese Menschen mit einfachen Verbrauchsgegenständen um? Gehören sie im Supermarkt zu denen, die keine zwei Flaschen Wasser tragen können, ohne dafür einen Plastiksack zu benötigen, oder gehören sie zu denen, die das eben nicht tun, weil sie wissen, in welchem Missverhältnis es steht? Gehören sie zu denen, die sagen; «Ja, man sollte es wirklich nicht tun», oder zu denen, die es eben einfach nicht tun? Oder mischt sich die Gartenarbeit überhaupt nicht in ihr sonstiges Dasein? Ich glaube, das tut sie sehr wohl. Denn je länger man zwischen den Beeten umherschlendert, desto mehr wird einem bewusst, wie zahlreich die Eigenschaften sind, die hier — gleich dem Gemüse — hochzegogen und kultiviert werden.

Als Beispiel liesse sich die Geduld nennen. Sie ist von der Gartenarbeit nicht wegzudenken. Vom Setzen der Samen bis zum Pflücken der Frucht vergehen Monate. Der gesamte Ablauf erfordert grossen Zeitaufwand, beinhaltet tägliches Giessen der Pflanzen, Jäten etc. Eine Garantie für ein gelungenes Resultat gibt es nicht. In einer Gesellschaft, in der auch der kürzeste Weg zum Ziel noch zu lang ist, wird bereits die Erwähnung einer solchen Zeitspanne als Persiflage verstanden. Hier dagegen scheint man sie mit offenen Armen anzunehmen. Damit stellen sie sich einer Tatsache, die im Strudel des Konsumdenkens vollständig übergangen wird: dass nämlich die Natur ihre eigenen Regeln befolgt und sich nur begrenzt daran interessiert zeigt, eigene Konzepte gegen die unseren einzutauschen. Sie nimmt sich die

Zeit, die sie braucht, auch wenn es unseren Plänen zuwiderläuft. Bei PER.KA. respektiert man das. Und ist man erst bei Respekt angelangt, ist der Weg zur Geduld vielleicht schon um einiges kürzer. Und kürzere Wege wären ja – wie oben erwähnt – in unserem Interesse. Nochmals denke ich zurück an Dimitros’ Antwort. Und wieder werden ihre Konturen schärfer. Donat Kaufmann


Die Gärten an der Stadtmauer 76 Vorname Nachname

76

Für Istanbul hatten Peter Blickenstorfer und ich uns vorgenommen, herauszufinden, ob es in dieser riesigen Stadt auch Urban-Gardening-Projekte gibt. Gabriele Ohl, der langjährigen ARD-Korrespondentin in Istanbul, die uns während unseres Aufenthalts mit ihrem Wissen unterstützte, waren keine derartigen Projekte bekannt. Sie erzählte uns jedoch, dass entlang der alten Stadtmauer schon seit Jahren Gemüse angepflanzt werde. Dies weckte meine Neugierde, und zusammen mit Peter Blickenstorfer und Gabriele Ohl nahm ich einen Augenschein vor Ort. Während der Taxifahrt zu den im Südwesten der Stadt gelegenen Gärten erzählt uns Gabriele von der Geschichte der Stadtmauer. Die Theodosianische Mauer wurde unter Kaiser Theodosius II.

und dem Präfekten Anthemius zu Beginn des fünften Jahrhunderts zum Schutz des damaligen Konstantinopel errichtet. Die Mauer besteht aus insgesamt vier stufenförmig hintereinander angeordneten Befestigungslinien, die in ihrer gesamten Tiefe rund 70 Meter einnehmen. Sie ist etwa 20 Kilometer lang und hat massgeblich zum langen Bestehen des Byzantinischen Reichs beigetragen. Nicht ohne Grund gilt sie als die am besten konzipierte Befestigungsanlage, die je gebaut wurde. Nach einer rasanten Fahrt quer durch die Stadt erblicken wir die Gärten: eingepfercht zwischen der vierspurigen Autostrasse und der zweiten Befestigungslinie der Mauer, im ehemaligen Wassergraben. Links und rechts sehen wir nur Gärten und Stadtmauer. Wir stellen uns die Frage, wie das


Die Gärten an der Stadtmauer 76 Vorname Nachname

76

Für Istanbul hatten Peter Blickenstorfer und ich uns vorgenommen, herauszufinden, ob es in dieser riesigen Stadt auch Urban-Gardening-Projekte gibt. Gabriele Ohl, der langjährigen ARD-Korrespondentin in Istanbul, die uns während unseres Aufenthalts mit ihrem Wissen unterstützte, waren keine derartigen Projekte bekannt. Sie erzählte uns jedoch, dass entlang der alten Stadtmauer schon seit Jahren Gemüse angepflanzt werde. Dies weckte meine Neugierde, und zusammen mit Peter Blickenstorfer und Gabriele Ohl nahm ich einen Augenschein vor Ort. Während der Taxifahrt zu den im Südwesten der Stadt gelegenen Gärten erzählt uns Gabriele von der Geschichte der Stadtmauer. Die Theodosianische Mauer wurde unter Kaiser Theodosius II.

und dem Präfekten Anthemius zu Beginn des fünften Jahrhunderts zum Schutz des damaligen Konstantinopel errichtet. Die Mauer besteht aus insgesamt vier stufenförmig hintereinander angeordneten Befestigungslinien, die in ihrer gesamten Tiefe rund 70 Meter einnehmen. Sie ist etwa 20 Kilometer lang und hat massgeblich zum langen Bestehen des Byzantinischen Reichs beigetragen. Nicht ohne Grund gilt sie als die am besten konzipierte Befestigungsanlage, die je gebaut wurde. Nach einer rasanten Fahrt quer durch die Stadt erblicken wir die Gärten: eingepfercht zwischen der vierspurigen Autostrasse und der zweiten Befestigungslinie der Mauer, im ehemaligen Wassergraben. Links und rechts sehen wir nur Gärten und Stadtmauer. Wir stellen uns die Frage, wie das


denn bei uns funktionieren würde: In der Schweiz wäre eine Fläche, die direkt an ein historisches Bauwerk grenzt, am ehesten ein Park, aber bestimmt kein riesiges Gemüsebeet! Wir gehen die Gärten entlang und suchen eine Person, die uns erklären kann, was es mit diesen Gärten auf sich hat. Nach einigen hundert Metern sehen wir in einem der Felder einen älteren Mann. Wir gehen zu ihm hin und fragen ihn, ob wir ihm einige Fragen zu den Gärten stellen dürfen. Er antwortet jedoch, dass er nur ein Tagelöhner sei und dass wir weitergehen sollten, bis wir zu einem Haus kämen. Dort würden wir seinen Chef treffen, der uns mehr Informationen geben könne. Wir gehen weiter und kommen an unterschiedlichsten Gemüse- und Gewürzbeeten vorbei. Es ist ein beeindruckender Ort. Mauer so weit das Auge reicht; als hätte sie kein Ende. Doch man sieht ihr das Alter an. An vielen Orten ist sie eingestürzt und stellenweise

notdürftig mit anderen Ziegeln geflickt. Heimatschutz: Fehlanzeige. Die Szenerie erinnert uns einerseits an einen heruntergekommenen Freizeitpark; andererseits hat die Atmosphäre mit den Gärten im Abendlicht vor den uralten Steinen auch eine mystische Wirkung auf uns. Als wir endlich zum genannten Haus kommen, treffen wir auf einige Frauen und Männer, die uns aber ebenfalls keine genaueren Informationen zu den Gärten geben können. Sie schicken uns noch ein Stück weiter zu einem Händler, der direkt an der Strasse Gemüse verkauft. Auf dem Weg dahin kommen wir an Hütten vorbei, wie man sie sich in Slums vorstellt: aus Wellblech und Holzstücken zusammengezimmert, manche direkt an die Mauer gebaut. Einige Minuten später treffen wir schliesslich den besagten Gemüsehändler, der sich uns als Mustafa vorstellt. Nachdem wir ihm kurz schildern, was uns zu den Gärten respektive zu ihm führt, ist er bereit, unsere Fragen zu beantworten. Mustafa war lange als Koch tätig. Nun ist er Mitte 50 und seit seiner Pensionierung wieder zurück in dem Garten, wo er schon als zwölfjähriges Kind gearbeitet hatte. Ursprünglich stammt er aus der am Schwarzen Meer gelegenen Region Kastamonu, die für ihren Gemüseanbau bekannt ist. Wie alle anderen Gemüsebauern hat er auch die Fläche, die er hier an der Stadtmauer bewirtschaftet, von der Stadt gepachtet. Es ist eine Fläche von etwa 8000 bis 9000 Quadratmetern, die Mustafa zusammen mit seiner Frau, seinem Schwager und weiteren Verwandten und Bekannten betreibt. Gewöhnlich arbeiten sechs Personen auf dem Feld. In den Sommermonaten, wenn es viel zu tun gibt, werden Tagelöhner zur Bewältigung der Arbeit hinzugezogen. Alle können sich mit dieser Arbeit ihr Leben finanzieren. Ein Tagelöhner verdient auf dem Feld rund 50 TL (Türkische Lira) am Tag. Beim Verkauf auf dem Markt springen 100 L am Tag heraus. Rund 30 verschiedene Gemüse und Früchte bieten sie hier am Stand an. Wenn sie an den Markt fahren, kaufen sie am Grossmarkt noch weiteres Gemüse hinzu, um ein vielfältiges Angebot präsentieren zu können. Ein Kilogramm Bohnen kostet dort rund 1,5 TL und kann auf dem Markt für 4 TL gewinnbringend verkauft werden.

Die Gemüsebeete werden nur von Frühling bis Herbst bewirtschaftet. Im Winter, wenn in Istanbul auch gut und gerne mal Schnee fällt, werden lediglich Zwiebeln und Rucola im eigenen Gewächshaus angebaut. Als Dünger verwenden sie einerseits Naturdünger aus der eigenen Kompostierung, andererseits beziehen sie von der Landwirtschaftskooperative Istanbuls aber auch Kunstdünger und Pestizide, ohne die sie das momentane Preis-Leistungsverhältnis nicht halten könnten. Mustafa fügt aber hinzu, dass er an seinem kleinen Haus im Norden der Stadt einen Garten hat, in dem er für seinen eigenen Bedarf nur biologisch anbaut. Gegen Ende unseres Gesprächs wird Mustafa immer lockerer. Wir fragen ihn, ob wir von ihm hinter dem Verkaufsstand einige Fotos machen dürfen. Ungeachtet dessen, dass gerade zwei Frauen ihre Einkäufe bei ihm tätigen wollen, willigt er sofort ein. Als die Kundschaft wieder weg ist,

fordert er uns auf, ihn auch mit seinen Mitarbeitenden unten auf dem Feld zu fotografieren. Natürlich willigen wir ein und folgen ihm hinab in den Garten. Mustafa setzt sich richtig in Szene und posiert regelrecht vor ihnen. Als Gabriele ihn fragt, ob das für die anderen o.k. sei, lacht er und sagt: «Macht schnell, bevor sie es sich anders überlegen.» Er ist hier definitiv der Patron! Mit den Taschen voller Feigen – den besten, die wir je gegessen haben – machen wir uns auf den Weg zurück in unser Hostel. Mit unserem Ausflug zu diesem grünen Paradies entlang der Stadtmauer haben wir einen Einblick in ein einzigartiges und altehrwürdiges Urban-AgricultureProjekt bekommen. Georg Egli Peter Blickenstorfer


denn bei uns funktionieren würde: In der Schweiz wäre eine Fläche, die direkt an ein historisches Bauwerk grenzt, am ehesten ein Park, aber bestimmt kein riesiges Gemüsebeet! Wir gehen die Gärten entlang und suchen eine Person, die uns erklären kann, was es mit diesen Gärten auf sich hat. Nach einigen hundert Metern sehen wir in einem der Felder einen älteren Mann. Wir gehen zu ihm hin und fragen ihn, ob wir ihm einige Fragen zu den Gärten stellen dürfen. Er antwortet jedoch, dass er nur ein Tagelöhner sei und dass wir weitergehen sollten, bis wir zu einem Haus kämen. Dort würden wir seinen Chef treffen, der uns mehr Informationen geben könne. Wir gehen weiter und kommen an unterschiedlichsten Gemüse- und Gewürzbeeten vorbei. Es ist ein beeindruckender Ort. Mauer so weit das Auge reicht; als hätte sie kein Ende. Doch man sieht ihr das Alter an. An vielen Orten ist sie eingestürzt und stellenweise

notdürftig mit anderen Ziegeln geflickt. Heimatschutz: Fehlanzeige. Die Szenerie erinnert uns einerseits an einen heruntergekommenen Freizeitpark; andererseits hat die Atmosphäre mit den Gärten im Abendlicht vor den uralten Steinen auch eine mystische Wirkung auf uns. Als wir endlich zum genannten Haus kommen, treffen wir auf einige Frauen und Männer, die uns aber ebenfalls keine genaueren Informationen zu den Gärten geben können. Sie schicken uns noch ein Stück weiter zu einem Händler, der direkt an der Strasse Gemüse verkauft. Auf dem Weg dahin kommen wir an Hütten vorbei, wie man sie sich in Slums vorstellt: aus Wellblech und Holzstücken zusammengezimmert, manche direkt an die Mauer gebaut. Einige Minuten später treffen wir schliesslich den besagten Gemüsehändler, der sich uns als Mustafa vorstellt. Nachdem wir ihm kurz schildern, was uns zu den Gärten respektive zu ihm führt, ist er bereit, unsere Fragen zu beantworten. Mustafa war lange als Koch tätig. Nun ist er Mitte 50 und seit seiner Pensionierung wieder zurück in dem Garten, wo er schon als zwölfjähriges Kind gearbeitet hatte. Ursprünglich stammt er aus der am Schwarzen Meer gelegenen Region Kastamonu, die für ihren Gemüseanbau bekannt ist. Wie alle anderen Gemüsebauern hat er auch die Fläche, die er hier an der Stadtmauer bewirtschaftet, von der Stadt gepachtet. Es ist eine Fläche von etwa 8000 bis 9000 Quadratmetern, die Mustafa zusammen mit seiner Frau, seinem Schwager und weiteren Verwandten und Bekannten betreibt. Gewöhnlich arbeiten sechs Personen auf dem Feld. In den Sommermonaten, wenn es viel zu tun gibt, werden Tagelöhner zur Bewältigung der Arbeit hinzugezogen. Alle können sich mit dieser Arbeit ihr Leben finanzieren. Ein Tagelöhner verdient auf dem Feld rund 50 TL (Türkische Lira) am Tag. Beim Verkauf auf dem Markt springen 100 L am Tag heraus. Rund 30 verschiedene Gemüse und Früchte bieten sie hier am Stand an. Wenn sie an den Markt fahren, kaufen sie am Grossmarkt noch weiteres Gemüse hinzu, um ein vielfältiges Angebot präsentieren zu können. Ein Kilogramm Bohnen kostet dort rund 1,5 TL und kann auf dem Markt für 4 TL gewinnbringend verkauft werden.

Die Gemüsebeete werden nur von Frühling bis Herbst bewirtschaftet. Im Winter, wenn in Istanbul auch gut und gerne mal Schnee fällt, werden lediglich Zwiebeln und Rucola im eigenen Gewächshaus angebaut. Als Dünger verwenden sie einerseits Naturdünger aus der eigenen Kompostierung, andererseits beziehen sie von der Landwirtschaftskooperative Istanbuls aber auch Kunstdünger und Pestizide, ohne die sie das momentane Preis-Leistungsverhältnis nicht halten könnten. Mustafa fügt aber hinzu, dass er an seinem kleinen Haus im Norden der Stadt einen Garten hat, in dem er für seinen eigenen Bedarf nur biologisch anbaut. Gegen Ende unseres Gesprächs wird Mustafa immer lockerer. Wir fragen ihn, ob wir von ihm hinter dem Verkaufsstand einige Fotos machen dürfen. Ungeachtet dessen, dass gerade zwei Frauen ihre Einkäufe bei ihm tätigen wollen, willigt er sofort ein. Als die Kundschaft wieder weg ist,

fordert er uns auf, ihn auch mit seinen Mitarbeitenden unten auf dem Feld zu fotografieren. Natürlich willigen wir ein und folgen ihm hinab in den Garten. Mustafa setzt sich richtig in Szene und posiert regelrecht vor ihnen. Als Gabriele ihn fragt, ob das für die anderen o.k. sei, lacht er und sagt: «Macht schnell, bevor sie es sich anders überlegen.» Er ist hier definitiv der Patron! Mit den Taschen voller Feigen – den besten, die wir je gegessen haben – machen wir uns auf den Weg zurück in unser Hostel. Mit unserem Ausflug zu diesem grünen Paradies entlang der Stadtmauer haben wir einen Einblick in ein einzigartiges und altehrwürdiges Urban-AgricultureProjekt bekommen. Georg Egli Peter Blickenstorfer


77

Anja Bornhauser, Lithographie, 2013 (Workshop Druckwerkstatt)


77

Anja Bornhauser, Lithographie, 2013 (Workshop Druckwerkstatt)


Von Gemeinschaften 78

zum Gemeinschaffen


Von Gemeinschaften 78

zum Gemeinschaffen


Was ist uns gemein? Gemeinschaften bewirtschaften, hüten und pflegen seit jeher gemeinsam Ressourcen. Sie erhalten was da ist und schaffen Neues. Im Deutschen ist oft von Gemeingütern oder (historisch) von der Allmende die Rede, im Englischen von Commons. Im deutschsprachigen Raum kennt sich zur Zeit kaum jemand besser aus mit diesem Thema als Silke Helfrich. Als Gastdozentin am HyperWerk verwies sie uns auf die aktuelle Relevanz der Gemeingüter und inspirierte eine ganze Reihe Studierender zu ihren Projekten. Eliane Gerber und Anka Semmig sprachen mit ihr über Commons und die Bedeutung des Themas für Kultur und Kreativwirtschaft.

Eliane Gerber: Du beschäftigst dich seit fast zehn zum Beispiel Software-Code. Wenn sie von EinJahren mit Commons. Wie hat sich dein Verständ- zelnen kontrolliert werden, führt das zwangsläunis von Commons durch die Beschäftigung mit fig zu sozialen Konflikten. dem Thema verändert? So bin ich auf den Begriff der Commons gestossen, der es vermochte, all diese Auseinandersetzungen Silke Helfrich: Während meiner Zeit in Mittel- zusammenzuführen. Ich habe begonnen, die Welt amerika haben wir sehr verschiedene Themen aus diesem Blickwinkel zu betrachten und immer bearbeitet – Umweltthemen, die Landfrage, die wieder zu fragen: Was gehört legitimerweise uns? Wasserproblematik, Menschenrechtsfragen, Frei- Was gehört legitimerweise keiner Person alleine? handel und so weiter. Wir haben all diese Dramen Wie können wir dafür sorgen, dass etwas, das uns und sozialen Konflikte gesehen und uns gefragt, gehört, auch unser bleibt? Und das führt direkt ob sie einen gemeinsamen Kern haben. Bei einer zur Frage, wer überhaupt zu diesem wir gehört. internationalen Konferenz hatten wir dann auch Da gerät man sehr schnell in eine überaus komeine Spezialistin aus der Freie-Software-Bewe- plexe Debatte. gung eingeladen. Und als dort das Problem des genLange haben wir nach einer passenden Übermanipulierten Saatguts auf das Problem mit pro- setzung des Begriffs Commons ins Deutsche geprietärem Softwarecode traf, habe ich plötzlich sucht: Wenn man von Gemeingütern spricht, gerät verstanden, was das verbindende Element all die- man sofort in eine ökonomistisch geprägte Disser Auseinandersetzungen ist: Es geht immer um kussion. Die klassische Ökonomie fokussiert auf Prozesse, in denen etwas bisher sozial Eingebet- Dinge, Güter und Sachen – als wären diese Dinge, tetes «eingehegt» wird. Das nennt man enclosure. Güter und Sachen getrennt von uns. In der ComEnclosure ist mehr als Privatisierung. Die Einhe- mons-Debatte aber geht es nicht um Dinge, songungsprozesse betreffen Dinge, die uns entweder dern um unsere Beziehung zueinander in Bezug von der Natur gegeben sind wie Land und Wasser, auf diese Dinge. oder die wir gemeinsam geschaffen haben, wie

Anka Semmig: Kannst du das an einem Beispiel eigentlich ein Wissens-Commons. Es geht also veranschaulichen? nicht nur um Governance, um das Definieren von Strukturen und Regeln. Das Entscheidende ist SH: Nehmen wir das Thema Wasser. Anstatt zu unsere Haltung und die daraus resultierende sofragen «Was ist Wasser?» fragen wir gewisser- ziale Praxis. massen nach der sozialen Form von Wasser: Wie nutzen wir es? Wie regeln wir unseren Zugang EG: Ist Commoning also eine Art Kultur? und unsere Umgangsrechte mit Wasser? Wie regeln wir das so, dass prinzipiell niemand ausge- SH: Absolut. Commoning ist eine Kultur des perschlossen wird und gleichzeitig das Wasser nicht manenten Auslotens von Zwischenräumen, und übernutzt wird? Diese Abkehr vom ökonomischen von unseren Handlungsmöglichkeiten jenseits von Diskurs hin zu politisch-sozialen Fragen war der Markt und Staat. Eine Kultur, basierend auf Prinerste grosse Schwenk, den ich in meinem Nach- zipien, die Balance, Zusammenhalt und Resilienz denken über Commons vollzogen habe. – Stabilität und Widerstandsfähigkeit – erzeugen. Das ist ein noch kaum erschlossenes ForschungsEG: Wie ging es weiter? feld. Als Forschende müssen wir also stärker in den Kulturbegriff einsteigen. SH: Der zweite grosse Schwenk bestand darin, zu begreifen, dass auch der Begriff Commons den AS: Was zeichnet denn Commoning als Kultur aus? Kern der Sache noch nicht trifft, weil er zu starr ist. Stattdessen spreche ich heute in Anlehnung an SH: Commons sind, wie gesagt, kein Ding, sonPeter Linebaugh von Commoning und lege damit dern sie werfen die Frage auf, wie wir uns zueidas Augenmerk auf einen Prozess, auf das Tun. nander verhalten, indem wir gemeinsam über die Auch hier ein Beispiel: Der dramatische Verlust Nutzung von Dingen bestimmen. Man kann also an Biodiversität, den wir weltweit beobachten, nicht pauschal Regeln für alle Commons definiehängt direkt mit den kapitalistischen Verwertungs- ren, weil diese jeweils an die vor Ort gegebenen strategien und Konzentrationsprozessen auf dem Bedingungen angepasst werden müssen. Aber man Saatgutmarkt zusammen. Man könnte das poli- kann sagen, welche Grundsätze diese Regeln betisch angehen. Das geschieht aber nicht, wäre es stimmen. In allen Commons findet man eine Kuldoch ein Affront gegen die jeweiligen Unterneh- tur der Selbstbestimmung, der Selbstorganisation, men und die Freie Marktwirtschaft. Also versucht aber auch des Selberreparierens und -adaptierens: sich die Staatengemeinschaft als Hüter des ge- Letztlich geht es darum, die Kontrolle über unsemeinsamen Saatgutpools. Sie will dem Problem re Lebensumstände nicht aus der Hand zu geben. dadurch begegnen, dass man Saatgut im ewigen Denn wer lässt sich schon gern kontrollieren? Eis, im norwegischen Svalbard Global Seed Vault Wir arbeiten daran, diese Grundsätze zusammeneinfriert und konserviert. Aber was passiert, wenn zutragen. Recht gut belegt ist etwa das Prinzip der wir dieses Saatgut dereinst aus der Tiefkühltruhe indirekten Reziprozität: Bei funktionierenden hervorholen? Draussen werden sich unterdessen Commons-Systemen gibt es einen Zusammenhang die sozialen, ökonomischen, kulturellen Bedin- zwischen Geben und Nehmen. Trittbrettfahren gungen massiv verändert haben – und nicht zu gilt nicht. Aber – und das ist relevant, weil sich vergessen das Klima. Die Menschen werden nicht Commoning darin vom Kapitalismus unterscheimehr wissen, wie man diese Pflanzen anbaut, wie det – dieses Geben und Nehmen kann in Qualität man sie pflegt, wie man sie nutzt. Der Erhalt der und Quantität voneinander entkoppelt sein. Das Saatgutvielfalt ist gebunden an eine tägliche Pra- heisst: Ich trage bei, auf der Basis dessen, was ich xis, an stetes Üben, an einen sozialen Prozess. beitragen kann. Und ich bekomme zurück, was Das heisst: Man kann Commons verlernen, weil verfügbar ist und fair geteilt wird. man Commoning verlernen kann – weil man das In vielen gemeinschaftlich organisierten RäuPflegen, Nutzen und Umgehen mit Commons als men sind Geben und Nehmen nicht wirklich enttägliche Praxis verlernt. Somit ist jedes Commons koppelt. Man muss den Gedanken erst einmal


Was ist uns gemein? Gemeinschaften bewirtschaften, hüten und pflegen seit jeher gemeinsam Ressourcen. Sie erhalten was da ist und schaffen Neues. Im Deutschen ist oft von Gemeingütern oder (historisch) von der Allmende die Rede, im Englischen von Commons. Im deutschsprachigen Raum kennt sich zur Zeit kaum jemand besser aus mit diesem Thema als Silke Helfrich. Als Gastdozentin am HyperWerk verwies sie uns auf die aktuelle Relevanz der Gemeingüter und inspirierte eine ganze Reihe Studierender zu ihren Projekten. Eliane Gerber und Anka Semmig sprachen mit ihr über Commons und die Bedeutung des Themas für Kultur und Kreativwirtschaft.

Eliane Gerber: Du beschäftigst dich seit fast zehn zum Beispiel Software-Code. Wenn sie von EinJahren mit Commons. Wie hat sich dein Verständ- zelnen kontrolliert werden, führt das zwangsläunis von Commons durch die Beschäftigung mit fig zu sozialen Konflikten. dem Thema verändert? So bin ich auf den Begriff der Commons gestossen, der es vermochte, all diese Auseinandersetzungen Silke Helfrich: Während meiner Zeit in Mittel- zusammenzuführen. Ich habe begonnen, die Welt amerika haben wir sehr verschiedene Themen aus diesem Blickwinkel zu betrachten und immer bearbeitet – Umweltthemen, die Landfrage, die wieder zu fragen: Was gehört legitimerweise uns? Wasserproblematik, Menschenrechtsfragen, Frei- Was gehört legitimerweise keiner Person alleine? handel und so weiter. Wir haben all diese Dramen Wie können wir dafür sorgen, dass etwas, das uns und sozialen Konflikte gesehen und uns gefragt, gehört, auch unser bleibt? Und das führt direkt ob sie einen gemeinsamen Kern haben. Bei einer zur Frage, wer überhaupt zu diesem wir gehört. internationalen Konferenz hatten wir dann auch Da gerät man sehr schnell in eine überaus komeine Spezialistin aus der Freie-Software-Bewe- plexe Debatte. gung eingeladen. Und als dort das Problem des genLange haben wir nach einer passenden Übermanipulierten Saatguts auf das Problem mit pro- setzung des Begriffs Commons ins Deutsche geprietärem Softwarecode traf, habe ich plötzlich sucht: Wenn man von Gemeingütern spricht, gerät verstanden, was das verbindende Element all die- man sofort in eine ökonomistisch geprägte Disser Auseinandersetzungen ist: Es geht immer um kussion. Die klassische Ökonomie fokussiert auf Prozesse, in denen etwas bisher sozial Eingebet- Dinge, Güter und Sachen – als wären diese Dinge, tetes «eingehegt» wird. Das nennt man enclosure. Güter und Sachen getrennt von uns. In der ComEnclosure ist mehr als Privatisierung. Die Einhe- mons-Debatte aber geht es nicht um Dinge, songungsprozesse betreffen Dinge, die uns entweder dern um unsere Beziehung zueinander in Bezug von der Natur gegeben sind wie Land und Wasser, auf diese Dinge. oder die wir gemeinsam geschaffen haben, wie

Anka Semmig: Kannst du das an einem Beispiel eigentlich ein Wissens-Commons. Es geht also veranschaulichen? nicht nur um Governance, um das Definieren von Strukturen und Regeln. Das Entscheidende ist SH: Nehmen wir das Thema Wasser. Anstatt zu unsere Haltung und die daraus resultierende sofragen «Was ist Wasser?» fragen wir gewisser- ziale Praxis. massen nach der sozialen Form von Wasser: Wie nutzen wir es? Wie regeln wir unseren Zugang EG: Ist Commoning also eine Art Kultur? und unsere Umgangsrechte mit Wasser? Wie regeln wir das so, dass prinzipiell niemand ausge- SH: Absolut. Commoning ist eine Kultur des perschlossen wird und gleichzeitig das Wasser nicht manenten Auslotens von Zwischenräumen, und übernutzt wird? Diese Abkehr vom ökonomischen von unseren Handlungsmöglichkeiten jenseits von Diskurs hin zu politisch-sozialen Fragen war der Markt und Staat. Eine Kultur, basierend auf Prinerste grosse Schwenk, den ich in meinem Nach- zipien, die Balance, Zusammenhalt und Resilienz denken über Commons vollzogen habe. – Stabilität und Widerstandsfähigkeit – erzeugen. Das ist ein noch kaum erschlossenes ForschungsEG: Wie ging es weiter? feld. Als Forschende müssen wir also stärker in den Kulturbegriff einsteigen. SH: Der zweite grosse Schwenk bestand darin, zu begreifen, dass auch der Begriff Commons den AS: Was zeichnet denn Commoning als Kultur aus? Kern der Sache noch nicht trifft, weil er zu starr ist. Stattdessen spreche ich heute in Anlehnung an SH: Commons sind, wie gesagt, kein Ding, sonPeter Linebaugh von Commoning und lege damit dern sie werfen die Frage auf, wie wir uns zueidas Augenmerk auf einen Prozess, auf das Tun. nander verhalten, indem wir gemeinsam über die Auch hier ein Beispiel: Der dramatische Verlust Nutzung von Dingen bestimmen. Man kann also an Biodiversität, den wir weltweit beobachten, nicht pauschal Regeln für alle Commons definiehängt direkt mit den kapitalistischen Verwertungs- ren, weil diese jeweils an die vor Ort gegebenen strategien und Konzentrationsprozessen auf dem Bedingungen angepasst werden müssen. Aber man Saatgutmarkt zusammen. Man könnte das poli- kann sagen, welche Grundsätze diese Regeln betisch angehen. Das geschieht aber nicht, wäre es stimmen. In allen Commons findet man eine Kuldoch ein Affront gegen die jeweiligen Unterneh- tur der Selbstbestimmung, der Selbstorganisation, men und die Freie Marktwirtschaft. Also versucht aber auch des Selberreparierens und -adaptierens: sich die Staatengemeinschaft als Hüter des ge- Letztlich geht es darum, die Kontrolle über unsemeinsamen Saatgutpools. Sie will dem Problem re Lebensumstände nicht aus der Hand zu geben. dadurch begegnen, dass man Saatgut im ewigen Denn wer lässt sich schon gern kontrollieren? Eis, im norwegischen Svalbard Global Seed Vault Wir arbeiten daran, diese Grundsätze zusammeneinfriert und konserviert. Aber was passiert, wenn zutragen. Recht gut belegt ist etwa das Prinzip der wir dieses Saatgut dereinst aus der Tiefkühltruhe indirekten Reziprozität: Bei funktionierenden hervorholen? Draussen werden sich unterdessen Commons-Systemen gibt es einen Zusammenhang die sozialen, ökonomischen, kulturellen Bedin- zwischen Geben und Nehmen. Trittbrettfahren gungen massiv verändert haben – und nicht zu gilt nicht. Aber – und das ist relevant, weil sich vergessen das Klima. Die Menschen werden nicht Commoning darin vom Kapitalismus unterscheimehr wissen, wie man diese Pflanzen anbaut, wie det – dieses Geben und Nehmen kann in Qualität man sie pflegt, wie man sie nutzt. Der Erhalt der und Quantität voneinander entkoppelt sein. Das Saatgutvielfalt ist gebunden an eine tägliche Pra- heisst: Ich trage bei, auf der Basis dessen, was ich xis, an stetes Üben, an einen sozialen Prozess. beitragen kann. Und ich bekomme zurück, was Das heisst: Man kann Commons verlernen, weil verfügbar ist und fair geteilt wird. man Commoning verlernen kann – weil man das In vielen gemeinschaftlich organisierten RäuPflegen, Nutzen und Umgehen mit Commons als men sind Geben und Nehmen nicht wirklich enttägliche Praxis verlernt. Somit ist jedes Commons koppelt. Man muss den Gedanken erst einmal


zulassen und aushalten können, dass du unabhängig davon, was du investiert hast, das bekommst, was das Leben ermöglicht. Das muss man denken und leben lernen. Man muss lernen, das Risiko zu teilen, und sich von der Idee verabschieden, dass dem, der mehr investiert hat, automatisch mehr zusteht. EG: Welche anderen Prinzipien gelten für Commoning? SH: Es gibt noch eine ganze Menge. Eines erscheint mir derzeit besonders wichtig: nämlich, dass man Commons schützen muss. Schliesslich sind Commons produktiv. In ihnen entsteht etwas für unser Leben, und dieses Entstehenkönnen müssen wir schützen, sonst wird es vom Markt kannibalisiert. Aber wer schützt was zu welchem Zweck? Wenn man sagt, man lässt etwas Gemeinsames offen für alle, und alle dürfen damit machen, was sie wollen, dann muss man darauf vorbereitet sein, dass die, die am Markt am mächtigsten sind, den ökonomischen Nutzen abschöpfen und damit ihre Geschäfte und Werbestrategien optimieren. Dabei erschöpfen sie aber unseren gemeinsamen Reichtum. Deshalb finde ich: Es geht nicht um Offenheit für jedweden Zweck. Wir dürfen niemandem erlauben, Commons zu plündern. Offenheit als Prinzip allein reicht nicht: Wir müssen quasi die Idee der Offenheit schützen. So wie etwa beim Copyleft: Es hat einen Schutzmechanismus eingebaut, so dass das, was einmal frei war, immer frei bleibt. Ein drittes Prinzip wäre Iteration. Denn wir kommen nur dann zu robusten Lösungen, wenn wir sie ausprobieren und sie immer wieder an die lokalen Gegebenheiten anpassen. Der ständige gelebte Umgang mit Commons ist zugleich ein Lernprozess. Commoning muss ständig gelernt werden. AS: Wo haben sich Commons bewährt? SH: Es gibt weltweit zahlreiche Beispiele für erfolgreiche und stabile Commons. Unbestritten ist ihre Rolle in den sogenannten Entwicklungsländern: Commons machen hier immer wieder den Unterschied zwischen Armut und Elend aus. Wenn es in einer Krisensituation funk-

tionierende Commons-Systeme gibt, gibt es zwar Armut, aber keine totale soziale Isolierung – gelingende Beziehungsgestaltung macht einen enormen Unterschied. Und wie wir unsere Beziehungen zueinander gestalten, das haben wir seit jeher in unseren Händen. Die technologische Entwicklung ermöglicht es uns nun, auch sehr komplexe Produktionsprozesse in unsere Hände zu nehmen. So können wir heute etwa Strom und Bücher selbst zu Hause produzieren. Und das verleitet meine Kollegen und mich im Grunde zu einer sehr weitreichenden Aussage: dass nämlich Commons die grosse Erzählung sind, die die Prinzipien des Kapitalismus ersetzen kann. Es ist ja ein Märchen, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt, dass wir konsumieren müssen, dass wir Wachstum brauchen. Wir erzählen uns, dass sonst unser ganzes Wirtschaftssystem zusammenbricht, und mit dieser Erzählung halten wir uns in Trance und auf Trab. Es braucht viel Mut, sich darüber hinauszuwagen. Also, über Commons nachdenken heisst fragen: Können wir in einer übersättigten Gesellschaft andere Strukturen denken und schaffen, noch bevor eine existenzielle Krisensituation eintritt? AS: Welches Potenzial siehst du vor diesem Hintergrund im Bereich Design/Kunst/Kultur, in dem wir als Gestaltungshochschule ja zu Hause sind? EG: Wenn es stimmt, dass wir nicht nur die geeigneten Regeln und Institutionen, sondern auch die geeigneten Infrastrukturen für Commons brauchen, dann müssen wir diese Infrastrukturen entsprechend den Prinzipien des Commoning gestalten. Eine wesentliche Aufgabe für Designer ist deshalb, Commons sehen zu lernen. Wenn man Commons bei der Gestaltung von Infrastrukturen übersieht, kann man diese nicht so gestalten, dass sie Commons schützen. Ein Beispiel für das Übersehen von Commons ist, wenn Grundstücke an Seen samt Uferweg an Privateigentümer verkauft werden und diese Wege dann plötzlich nicht mehr begehbar sind – dabei wollte man nur durch Grundstücksverkäufe die kommunalen Kassen auffüllen. Oder wenn Autofahrer einander keine Starthilfe mehr geben können, weil die Anschlüsse der Autobatterien das

nicht mehr vorsehen und die Klemmen nicht mehr passen. Ideen von Selbstreparierbarkeit, Modularität, Anschlussfähigkeit, Kombinierbarkeit und damit möglichst lange Nutzbarkeit in das Design von Dingen und Infrastrukturen miteinzubeziehen, das kommt profitorientierten Zielen nicht entgegen – sehr wohl aber den Commons. EG: Wie geht es für Dich weiter mit dem Thema? SH: Nach der grossen Konferenz Economics & the Commons in Berlin habe ich eine Menge Inspiration und Arbeit auf dem Tisch. Es steht viel Konzeptionelles an, und das möchte ich gerne in einem nächsten Sammelband fassen. Daneben ist es mir wichtig, Commoning sichtbar zu machen. Das mache ich etwa über die Commons-Sommerschule, die dieses Jahr zum zweiten Mal stattgefunden hat. Dort können wir verwegen denken und Commoning üben. Die Sommerschule ist ein wahrer Energiespender. Und aus diesen Schritten heraus werde ich den nächsten Schritt bestimmen. Genauer kann ich nichts voraussagen – es gibt keinen Businessplan für Commons. Helfrich, Silke, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg): Commons. Für eine Politik jenseits von Markt und Staat. Bielefeld, 2012. www.commonsblog.wordpress.com www.commons-sommerschule.webcoach.at


zulassen und aushalten können, dass du unabhängig davon, was du investiert hast, das bekommst, was das Leben ermöglicht. Das muss man denken und leben lernen. Man muss lernen, das Risiko zu teilen, und sich von der Idee verabschieden, dass dem, der mehr investiert hat, automatisch mehr zusteht. EG: Welche anderen Prinzipien gelten für Commoning? SH: Es gibt noch eine ganze Menge. Eines erscheint mir derzeit besonders wichtig: nämlich, dass man Commons schützen muss. Schliesslich sind Commons produktiv. In ihnen entsteht etwas für unser Leben, und dieses Entstehenkönnen müssen wir schützen, sonst wird es vom Markt kannibalisiert. Aber wer schützt was zu welchem Zweck? Wenn man sagt, man lässt etwas Gemeinsames offen für alle, und alle dürfen damit machen, was sie wollen, dann muss man darauf vorbereitet sein, dass die, die am Markt am mächtigsten sind, den ökonomischen Nutzen abschöpfen und damit ihre Geschäfte und Werbestrategien optimieren. Dabei erschöpfen sie aber unseren gemeinsamen Reichtum. Deshalb finde ich: Es geht nicht um Offenheit für jedweden Zweck. Wir dürfen niemandem erlauben, Commons zu plündern. Offenheit als Prinzip allein reicht nicht: Wir müssen quasi die Idee der Offenheit schützen. So wie etwa beim Copyleft: Es hat einen Schutzmechanismus eingebaut, so dass das, was einmal frei war, immer frei bleibt. Ein drittes Prinzip wäre Iteration. Denn wir kommen nur dann zu robusten Lösungen, wenn wir sie ausprobieren und sie immer wieder an die lokalen Gegebenheiten anpassen. Der ständige gelebte Umgang mit Commons ist zugleich ein Lernprozess. Commoning muss ständig gelernt werden. AS: Wo haben sich Commons bewährt? SH: Es gibt weltweit zahlreiche Beispiele für erfolgreiche und stabile Commons. Unbestritten ist ihre Rolle in den sogenannten Entwicklungsländern: Commons machen hier immer wieder den Unterschied zwischen Armut und Elend aus. Wenn es in einer Krisensituation funk-

tionierende Commons-Systeme gibt, gibt es zwar Armut, aber keine totale soziale Isolierung – gelingende Beziehungsgestaltung macht einen enormen Unterschied. Und wie wir unsere Beziehungen zueinander gestalten, das haben wir seit jeher in unseren Händen. Die technologische Entwicklung ermöglicht es uns nun, auch sehr komplexe Produktionsprozesse in unsere Hände zu nehmen. So können wir heute etwa Strom und Bücher selbst zu Hause produzieren. Und das verleitet meine Kollegen und mich im Grunde zu einer sehr weitreichenden Aussage: dass nämlich Commons die grosse Erzählung sind, die die Prinzipien des Kapitalismus ersetzen kann. Es ist ja ein Märchen, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt, dass wir konsumieren müssen, dass wir Wachstum brauchen. Wir erzählen uns, dass sonst unser ganzes Wirtschaftssystem zusammenbricht, und mit dieser Erzählung halten wir uns in Trance und auf Trab. Es braucht viel Mut, sich darüber hinauszuwagen. Also, über Commons nachdenken heisst fragen: Können wir in einer übersättigten Gesellschaft andere Strukturen denken und schaffen, noch bevor eine existenzielle Krisensituation eintritt? AS: Welches Potenzial siehst du vor diesem Hintergrund im Bereich Design/Kunst/Kultur, in dem wir als Gestaltungshochschule ja zu Hause sind? EG: Wenn es stimmt, dass wir nicht nur die geeigneten Regeln und Institutionen, sondern auch die geeigneten Infrastrukturen für Commons brauchen, dann müssen wir diese Infrastrukturen entsprechend den Prinzipien des Commoning gestalten. Eine wesentliche Aufgabe für Designer ist deshalb, Commons sehen zu lernen. Wenn man Commons bei der Gestaltung von Infrastrukturen übersieht, kann man diese nicht so gestalten, dass sie Commons schützen. Ein Beispiel für das Übersehen von Commons ist, wenn Grundstücke an Seen samt Uferweg an Privateigentümer verkauft werden und diese Wege dann plötzlich nicht mehr begehbar sind – dabei wollte man nur durch Grundstücksverkäufe die kommunalen Kassen auffüllen. Oder wenn Autofahrer einander keine Starthilfe mehr geben können, weil die Anschlüsse der Autobatterien das

nicht mehr vorsehen und die Klemmen nicht mehr passen. Ideen von Selbstreparierbarkeit, Modularität, Anschlussfähigkeit, Kombinierbarkeit und damit möglichst lange Nutzbarkeit in das Design von Dingen und Infrastrukturen miteinzubeziehen, das kommt profitorientierten Zielen nicht entgegen – sehr wohl aber den Commons. EG: Wie geht es für Dich weiter mit dem Thema? SH: Nach der grossen Konferenz Economics & the Commons in Berlin habe ich eine Menge Inspiration und Arbeit auf dem Tisch. Es steht viel Konzeptionelles an, und das möchte ich gerne in einem nächsten Sammelband fassen. Daneben ist es mir wichtig, Commoning sichtbar zu machen. Das mache ich etwa über die Commons-Sommerschule, die dieses Jahr zum zweiten Mal stattgefunden hat. Dort können wir verwegen denken und Commoning üben. Die Sommerschule ist ein wahrer Energiespender. Und aus diesen Schritten heraus werde ich den nächsten Schritt bestimmen. Genauer kann ich nichts voraussagen – es gibt keinen Businessplan für Commons. Helfrich, Silke, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg): Commons. Für eine Politik jenseits von Markt und Staat. Bielefeld, 2012. www.commonsblog.wordpress.com www.commons-sommerschule.webcoach.at


Gravieren mit der Sonne

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Das Projekt SunBun vermittelt, dass Sonnenenergie neben der Produktion von Strom und Warmwasser noch sehr viel mehr zu bieten hat. Dazu nutzt SunBun eine Graviermaschine, die mit Sonnenlicht Formen und Muster auf organische Materialien einbrennen kann. Mit seinem manuellen Kurbelantrieb und einer analogen Steuerung verführt SunBun sein Publikum spielerisch und regt damit an zur weiteren Nutzung des enormen Potenzials unserer grössten Energiequelle.

Kontext – In einer Zeit, in der Energie wertvoller wird und Ressourcen knapper werden, rückt die Sonne ins Zentrum energieeffizienter und verantwortbarer Produktionsformen. Mit einer publikumswirksamen Installation leistet SunBun einen freundlichen und faszinierenden Beitrag, der zum Umdenken im Umgang mit Ressourcen führen kann. Inhalt – Zu Beginn meiner Arbeit wollte ich einen anregenden Überblick zur Sonne als Energiequelle schaffen. Um das Thema attraktiv zu vermitteln, entschied ich mich, das bekannte Kinderspiel, Sonnenlicht durch eine Glasscherbe oder Lupe zu bündeln, auf eine etwas anspruchsvollere Ebene zu heben. Ich begann mit der Entwicklung einer durch Solarenergie betriebenen, rechnergesteuerten Graviermaschine, die gebündeltes Sonnenlicht als Brennquelle nutzen sollte. Dabei begriff ich, dass eine verantwortbar konzipierte Maschine doch besser keine Bleibatterie zur Stromspeicherung nutzen sollte. Ich entschied mich deshalb, meine Maschine komplett analog zu gestalten.

Produkt – SunBun leistet seinen Beitrag auf den Ebenen von Produkt und Prozess: als Sonnen-Graviermaschine und als anregende Dokumentation der durchgeführten Auftritte, die als Anleitung für verwandte Vorhaben dienen soll. Gemeinschaft – Die Sonne ist ein Gemeingut. Ich sehe darin eine Möglichkeit speziell für mittellose Menschen in südlichen Ländern, energieintensive Prozesse kostengünstig und nachhaltig zu optimieren. Indem ich das expressive Potenzial von Sonnengravur untersuche und die dazu entwickelten Konzepte und Produkte mit einer Creative-Commons-Lizenz auf Plattformen wie Thingiverse verbreite, leiste ich einen Beitrag zu den Gemeingütern der Welt. Coach – Mischa Schaub Kontakt – georg.egli@hyperwerk.ch

Team und Dank – Ein grosses Dankeschön an alle Involvierten, die mich mit Rat und Tat unterstützt haben: Tobias Wiesinger, Mischa Schaub, Mauro Tammaro, Neben dieser Maschine und ihrem performativen Ein- David Baur, Pan Thurneysen, Yvo Waldmeier, Kevin satz werden die öffentlichen Auftritte von SunBun Renz, Andreas Spalinger, Regula Egli, Christian Egli. durch Linsensysteme, Parabolspiegel und Sonnenkocher gekennzeichnet sein. Damit wollen wir uns an Veranstaltungen, Festivals und auf Plätzen zeigen, um so unsere Faszination mit der Sonne als einer quasi unbegrenzten Ressource zu vermitteln. Diplom Georg Egli


Gravieren mit der Sonne

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Das Projekt SunBun vermittelt, dass Sonnenenergie neben der Produktion von Strom und Warmwasser noch sehr viel mehr zu bieten hat. Dazu nutzt SunBun eine Graviermaschine, die mit Sonnenlicht Formen und Muster auf organische Materialien einbrennen kann. Mit seinem manuellen Kurbelantrieb und einer analogen Steuerung verführt SunBun sein Publikum spielerisch und regt damit an zur weiteren Nutzung des enormen Potenzials unserer grössten Energiequelle.

Kontext – In einer Zeit, in der Energie wertvoller wird und Ressourcen knapper werden, rückt die Sonne ins Zentrum energieeffizienter und verantwortbarer Produktionsformen. Mit einer publikumswirksamen Installation leistet SunBun einen freundlichen und faszinierenden Beitrag, der zum Umdenken im Umgang mit Ressourcen führen kann. Inhalt – Zu Beginn meiner Arbeit wollte ich einen anregenden Überblick zur Sonne als Energiequelle schaffen. Um das Thema attraktiv zu vermitteln, entschied ich mich, das bekannte Kinderspiel, Sonnenlicht durch eine Glasscherbe oder Lupe zu bündeln, auf eine etwas anspruchsvollere Ebene zu heben. Ich begann mit der Entwicklung einer durch Solarenergie betriebenen, rechnergesteuerten Graviermaschine, die gebündeltes Sonnenlicht als Brennquelle nutzen sollte. Dabei begriff ich, dass eine verantwortbar konzipierte Maschine doch besser keine Bleibatterie zur Stromspeicherung nutzen sollte. Ich entschied mich deshalb, meine Maschine komplett analog zu gestalten.

Produkt – SunBun leistet seinen Beitrag auf den Ebenen von Produkt und Prozess: als Sonnen-Graviermaschine und als anregende Dokumentation der durchgeführten Auftritte, die als Anleitung für verwandte Vorhaben dienen soll. Gemeinschaft – Die Sonne ist ein Gemeingut. Ich sehe darin eine Möglichkeit speziell für mittellose Menschen in südlichen Ländern, energieintensive Prozesse kostengünstig und nachhaltig zu optimieren. Indem ich das expressive Potenzial von Sonnengravur untersuche und die dazu entwickelten Konzepte und Produkte mit einer Creative-Commons-Lizenz auf Plattformen wie Thingiverse verbreite, leiste ich einen Beitrag zu den Gemeingütern der Welt. Coach – Mischa Schaub Kontakt – georg.egli@hyperwerk.ch

Team und Dank – Ein grosses Dankeschön an alle Involvierten, die mich mit Rat und Tat unterstützt haben: Tobias Wiesinger, Mischa Schaub, Mauro Tammaro, Neben dieser Maschine und ihrem performativen Ein- David Baur, Pan Thurneysen, Yvo Waldmeier, Kevin satz werden die öffentlichen Auftritte von SunBun Renz, Andreas Spalinger, Regula Egli, Christian Egli. durch Linsensysteme, Parabolspiegel und Sonnenkocher gekennzeichnet sein. Damit wollen wir uns an Veranstaltungen, Festivals und auf Plätzen zeigen, um so unsere Faszination mit der Sonne als einer quasi unbegrenzten Ressource zu vermitteln. Diplom Georg Egli


Critical Design

Wie thematisiert man als Designer kontroverse komplexe Themen wie Nuklearenergie, Weltraumtourismus oder Biotechnologie? Und welche Methoden stehen uns dazu zur Verfügung?

Abfalldiktatur, Lifestyle-Pharmazie und andere Szenarien

80

Design wird in erster Linie als Aktivität verstanden, die mehr oder minder nützliche Artefakte produziert. Die Gestaltung eines Artefakts jedoch verkörpert immer auch eine politische Haltung, wie wir leben, kommunizieren oder uns benehmen sollen. Design kann daher ebenso als politisches Instrument in der Form von Aktivismus verstanden werden, als ein Medium, um über mögliche Variationen der Zukunft zu diskutieren. Marlas Geschichte, die hier gleich erzählt wird, ist eine Zusammenfassung von vier studentischen Gruppenarbeiten, die im Critical-Design-Workshop entstanden sind, in dem wir komplexe Themen aus den Bereichen Technologie, Gesellschaft, Politik, Ökonomie oder Umwelt durch CriticalDesign-Practice thematisiert und untersucht haben. Dabei haben wir auf spekulative Zukunftsszenarien fokussiert, denn Gemeinschaft entsteht letzten Endes über die Geschichten, die wir uns erzählen. Critical Design versteht sich als verkörperte Kritik und als Kommentar zur Konsumkultur. Sowohl ein gestaltetes Artefakt als auch sein Gestaltungsprozess sollen dabei Reflexion und Diskussion über bestehende Werte, Sitten und Praktiken innerhalb eines kulturellen Rahmens auslösen. Critical Design fordert die Vorurteile und Erwartungen eines Zielpublikums heraus und provoziert neue Denkansätze über ein Objekt, seine Benutzung und seine Umgebung. Critical Design bedient sich verschiedener kreativer Werkzeuge und Methoden, die von konzeptionellem Kartieren, spekulativem Storytelling über Hacking und Zweckentfremdung bis hin zu satirischen Interventionen reichen.

mittag. Marla hat ihren Koffer zwischen den Beinen eingeklemmt. Ihr Autofokus versucht, den Lichtpunkten zu folgen, die über den Barfüsserplatz wandern, doch sie lässt diese nur passiv über ihr Gesichtsfeld gleiten. Die funkelnden Quadrate, die durch den irritierten Autofokus zu atmen scheinen, offenbaren zusammen mit dem schwindenden, diffusen Tageslicht ein ungewohntes Schauspiel auf dem Platz; irgendwie schön, wie sie findet. So ähnlich muss sich wohl Weihnachten angefühlt haben, als noch richtige Glühbirnen über den Strassen hingen, als noch Schnee fiel, wie ihre Grossmutter ihr das damals erzählte. Oder ist das jetzt einer dieser Glitch-Momente, von denen ihr Freund Stefan neulich erzählt hat? Bald wird sie mehr über Glitch erfahren; sie hat ja erst gerade mit ihrem Bachelor Tutorials in der YouTube-App begonnen. Marla lädt sich einen neuen Avatar auf ihr Gesicht, das nun stärker zu leuchten beginnt. Sie dreht sich um und erhellt mit dem Schein ihres Antlitzes die dunkle Ecke neben dem zerfallenen, längst nicht mehr benutzten Werbe-Display. Im bläulich-kalten Schimmer ihres Gesichts neben den toten LED-Quadranten erkennt Marla den unsicheren Blick eines jungen Mädchens, das sogleich ertappt und verlegen zu Boden schaut und dabei unabsichtlich ihre kaputten Schuhe und das Gekritzel am Boden beleuchtet, das von dieser Sekte sein muss, die Müll anbetet und diesen Guru Žižek verehrt. «Du sollst deinen Abfall lieben. Du sollst deinen Abfall nicht verleugnen.» steht da im Lichtkegel des Mädchens. Marla findet ihre Unbeholfenheit ziemlich liebenswürdig und offenbart ihr ihre Profildaten. Neugierig streicht die junge Frau über Marlas Gesichts-Screen, um mehr Marlas Geschichte über sie zu erfahren. Vom Highway-Tram hat man eine wunderbare Es bläst ein rauer Wind über den Barfüsserplatz, Aussicht über die Stadt. Das Tram fährt hoch zwidie schweren Wolken am Himmel lassen eine spä- schen den Häusern, und an manchen Stellen auch tere Zeit vermuten als die Uhr zeigt. Es ist Nach- über den Dächern von Alt-Basel. Marla lässt die


Critical Design

Wie thematisiert man als Designer kontroverse komplexe Themen wie Nuklearenergie, Weltraumtourismus oder Biotechnologie? Und welche Methoden stehen uns dazu zur Verfügung?

Abfalldiktatur, Lifestyle-Pharmazie und andere Szenarien

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Design wird in erster Linie als Aktivität verstanden, die mehr oder minder nützliche Artefakte produziert. Die Gestaltung eines Artefakts jedoch verkörpert immer auch eine politische Haltung, wie wir leben, kommunizieren oder uns benehmen sollen. Design kann daher ebenso als politisches Instrument in der Form von Aktivismus verstanden werden, als ein Medium, um über mögliche Variationen der Zukunft zu diskutieren. Marlas Geschichte, die hier gleich erzählt wird, ist eine Zusammenfassung von vier studentischen Gruppenarbeiten, die im Critical-Design-Workshop entstanden sind, in dem wir komplexe Themen aus den Bereichen Technologie, Gesellschaft, Politik, Ökonomie oder Umwelt durch CriticalDesign-Practice thematisiert und untersucht haben. Dabei haben wir auf spekulative Zukunftsszenarien fokussiert, denn Gemeinschaft entsteht letzten Endes über die Geschichten, die wir uns erzählen. Critical Design versteht sich als verkörperte Kritik und als Kommentar zur Konsumkultur. Sowohl ein gestaltetes Artefakt als auch sein Gestaltungsprozess sollen dabei Reflexion und Diskussion über bestehende Werte, Sitten und Praktiken innerhalb eines kulturellen Rahmens auslösen. Critical Design fordert die Vorurteile und Erwartungen eines Zielpublikums heraus und provoziert neue Denkansätze über ein Objekt, seine Benutzung und seine Umgebung. Critical Design bedient sich verschiedener kreativer Werkzeuge und Methoden, die von konzeptionellem Kartieren, spekulativem Storytelling über Hacking und Zweckentfremdung bis hin zu satirischen Interventionen reichen.

mittag. Marla hat ihren Koffer zwischen den Beinen eingeklemmt. Ihr Autofokus versucht, den Lichtpunkten zu folgen, die über den Barfüsserplatz wandern, doch sie lässt diese nur passiv über ihr Gesichtsfeld gleiten. Die funkelnden Quadrate, die durch den irritierten Autofokus zu atmen scheinen, offenbaren zusammen mit dem schwindenden, diffusen Tageslicht ein ungewohntes Schauspiel auf dem Platz; irgendwie schön, wie sie findet. So ähnlich muss sich wohl Weihnachten angefühlt haben, als noch richtige Glühbirnen über den Strassen hingen, als noch Schnee fiel, wie ihre Grossmutter ihr das damals erzählte. Oder ist das jetzt einer dieser Glitch-Momente, von denen ihr Freund Stefan neulich erzählt hat? Bald wird sie mehr über Glitch erfahren; sie hat ja erst gerade mit ihrem Bachelor Tutorials in der YouTube-App begonnen. Marla lädt sich einen neuen Avatar auf ihr Gesicht, das nun stärker zu leuchten beginnt. Sie dreht sich um und erhellt mit dem Schein ihres Antlitzes die dunkle Ecke neben dem zerfallenen, längst nicht mehr benutzten Werbe-Display. Im bläulich-kalten Schimmer ihres Gesichts neben den toten LED-Quadranten erkennt Marla den unsicheren Blick eines jungen Mädchens, das sogleich ertappt und verlegen zu Boden schaut und dabei unabsichtlich ihre kaputten Schuhe und das Gekritzel am Boden beleuchtet, das von dieser Sekte sein muss, die Müll anbetet und diesen Guru Žižek verehrt. «Du sollst deinen Abfall lieben. Du sollst deinen Abfall nicht verleugnen.» steht da im Lichtkegel des Mädchens. Marla findet ihre Unbeholfenheit ziemlich liebenswürdig und offenbart ihr ihre Profildaten. Neugierig streicht die junge Frau über Marlas Gesichts-Screen, um mehr Marlas Geschichte über sie zu erfahren. Vom Highway-Tram hat man eine wunderbare Es bläst ein rauer Wind über den Barfüsserplatz, Aussicht über die Stadt. Das Tram fährt hoch zwidie schweren Wolken am Himmel lassen eine spä- schen den Häusern, und an manchen Stellen auch tere Zeit vermuten als die Uhr zeigt. Es ist Nach- über den Dächern von Alt-Basel. Marla lässt die


Häuserfassaden an sich vorbeiziehen, doch an den verlassenen Gemäuern der Universität bleibt ihr Blick hängen. Sie ruft den augmentierten Wikipedia-Eintrag ab, der unaufdringlich am oberen Rand ihres Blickfeldes zur Vollansicht verfügbar blinkt. Wie es wohl war in diesen dunklen, mit Ventilatoren übersäten Blocks der Institute – konnte man wirklich kein Feedback zum Unterricht geben? Jedenfalls ist es sicher besser, diese Hallen für die Video-Server der Tutorial-Uni zu nutzen, sonst werden sie nur wieder von den retro-romantischen Abfall-Sektierern besetzt, und die bauen dann wieder ihre Altäre auf, aus altem Müll. Sie kann den Gestank nicht ausstehen. Das Mädchen ist ihr ins Tram gefolgt, sitzt ihr gegenüber im sonst leeren Viererabteil und hat nun ebenfalls ihr Profil für Marla geöffnet. Marla wischt sich durch die Bilder auf dem Gesicht des Mädchens: Das müssen ihre Eltern sein, die auf einem Müllhaufen stehen, sich allerlei Kabel um die Arme wickelnd; dann ein blutig zerkratzter weisser Rücken; ein älterer Mann, wahrscheinlich ihr Vater, die Hände vor dem Gesicht; nackte Körper in einem dunklen Korridor. Marla will die junge Frau zu den Bildern befragen, doch das Highway-Tram fährt in den Tunnel unter den Rhein, und die beruhigende Stimme in ihrem Chip im Ohr versetzt sie in eine wohlig-warme Apathie, so dass die Werbung an der Tunnelwand unwirksam an ihr vorbeiflackert. Marla lässt sich zurück in den Sitz sinken, hypnotisiert von der Stimme und dem durch die Werbetafel verursachten Farbwechsel im Innern des Trams. Bewusstopax war wirklich sein Geld wert, denkt sie sich. Ohne dieses Gadget, das von aussen kommende manipulative Einflüsse filtert, kann sie sich ihren Alltag nicht mehr vorstellen. Auf dem Sitz, auf dem vorhin das Mädchen sass, liegt eine Notiz aus Papier: «Meine Mutter ist im Sektor 19.» Marla erschrickt – es existiert also tatsächlich, das Sondergefängnis für Abfallproduzierer. Marla steigt aus dem Tram. Endlich ist sie angekommen: am Weltraumbahnhof. Elvira Grob Raphael Faeh


Häuserfassaden an sich vorbeiziehen, doch an den verlassenen Gemäuern der Universität bleibt ihr Blick hängen. Sie ruft den augmentierten Wikipedia-Eintrag ab, der unaufdringlich am oberen Rand ihres Blickfeldes zur Vollansicht verfügbar blinkt. Wie es wohl war in diesen dunklen, mit Ventilatoren übersäten Blocks der Institute – konnte man wirklich kein Feedback zum Unterricht geben? Jedenfalls ist es sicher besser, diese Hallen für die Video-Server der Tutorial-Uni zu nutzen, sonst werden sie nur wieder von den retro-romantischen Abfall-Sektierern besetzt, und die bauen dann wieder ihre Altäre auf, aus altem Müll. Sie kann den Gestank nicht ausstehen. Das Mädchen ist ihr ins Tram gefolgt, sitzt ihr gegenüber im sonst leeren Viererabteil und hat nun ebenfalls ihr Profil für Marla geöffnet. Marla wischt sich durch die Bilder auf dem Gesicht des Mädchens: Das müssen ihre Eltern sein, die auf einem Müllhaufen stehen, sich allerlei Kabel um die Arme wickelnd; dann ein blutig zerkratzter weisser Rücken; ein älterer Mann, wahrscheinlich ihr Vater, die Hände vor dem Gesicht; nackte Körper in einem dunklen Korridor. Marla will die junge Frau zu den Bildern befragen, doch das Highway-Tram fährt in den Tunnel unter den Rhein, und die beruhigende Stimme in ihrem Chip im Ohr versetzt sie in eine wohlig-warme Apathie, so dass die Werbung an der Tunnelwand unwirksam an ihr vorbeiflackert. Marla lässt sich zurück in den Sitz sinken, hypnotisiert von der Stimme und dem durch die Werbetafel verursachten Farbwechsel im Innern des Trams. Bewusstopax war wirklich sein Geld wert, denkt sie sich. Ohne dieses Gadget, das von aussen kommende manipulative Einflüsse filtert, kann sie sich ihren Alltag nicht mehr vorstellen. Auf dem Sitz, auf dem vorhin das Mädchen sass, liegt eine Notiz aus Papier: «Meine Mutter ist im Sektor 19.» Marla erschrickt – es existiert also tatsächlich, das Sondergefängnis für Abfallproduzierer. Marla steigt aus dem Tram. Endlich ist sie angekommen: am Weltraumbahnhof. Elvira Grob Raphael Faeh


junge menschen, was sucht ihr an den kunstakademien? kommt ans hyperwerk! In Anlehnung an den in der 4. Ausgabe der BauhausZeitschrift erschienen Studentenaufruf (1928)

81


junge menschen, was sucht ihr an den kunstakademien? kommt ans hyperwerk! In Anlehnung an den in der 4. Ausgabe der BauhausZeitschrift erschienen Studentenaufruf (1928)

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Micropolis «Micropolis» bedeutet übersetzt «kleine Stadt», und das soll sie im übertragenen Sinn auch sein. Ein Mikrokosmos, in dem die Besitzer und Mitwirker ihre Vorstellungen und Ideale von einer besseren, unkommerziellen Welt verfolgen und leben. Mit diesem Projekt versuchen sie, in Thessaloniki einen Freiraum für Kunst, Musik, Vorträge, Interaktion und Handwerk zu öffnen. In diesem Haus gibt es keinen Chef oder andere hierarchische Formen, die Organisation beruht auf Selbstmanagement und Autonomie. Alle Aktivitäten und Räume versuchen, durch Co-Design und auf basisdemokratischen Wegen ihre Aufgaben zu bewältigen. Geldeinnahmen werden fast ausschliesslich in die Erhaltung und die Weiterentwicklung des Hauses und seiner Projekte gesteckt. Ein Haus, wo die Tür immer offen zu stehen scheint.

82

stehen. Kleine Tische und bunte Stühle sowie kleine begrünte Balkons schaffen eine gemütliche Atmosphäre. Die Drinks an der Bar sind sehr preiswert, und zwischen 14:00 und 17:00 Uhr kann man zu einem sehr fairen Preis ein Menü zu sich nehmen. Auf der Bühne finden wöchentlich Konzerte und andere Darbietungen statt, die meist durch Kollekte unterstützt werden. Tauschbasar – Ein kleiner Raum voll mit Kleidern und anderen Gegenständen lädt zum Stöbern ein. Es ist ein kleiner Tauschbasar, wo jeder sich nach eigenem Ermessen bedienen darf. Wenn man etwas zu geben hat, gibt man, wenn etwas gefällt, dann nimmt man. Die Materialien sind alle in gutem Zustand und liegen schön geordnet in den Regalen.

Shop – Ein schlicht eingerichteter kleiner Laden verkauft regionale, selbstgemachte sowie FairCafé / Bar / Konzerthalle – Im ersten Stock des Trade-Produkte. Sie erheben nur einen minimalen Hauses befindet sich ein grosser Raum, in dem Aufschlag auf den Einkaufspreis, um den «festeine Bar und auf der anderen Seite eine Bühne angestellten» Mitarbeitern einen kleinen Lohn


Micropolis «Micropolis» bedeutet übersetzt «kleine Stadt», und das soll sie im übertragenen Sinn auch sein. Ein Mikrokosmos, in dem die Besitzer und Mitwirker ihre Vorstellungen und Ideale von einer besseren, unkommerziellen Welt verfolgen und leben. Mit diesem Projekt versuchen sie, in Thessaloniki einen Freiraum für Kunst, Musik, Vorträge, Interaktion und Handwerk zu öffnen. In diesem Haus gibt es keinen Chef oder andere hierarchische Formen, die Organisation beruht auf Selbstmanagement und Autonomie. Alle Aktivitäten und Räume versuchen, durch Co-Design und auf basisdemokratischen Wegen ihre Aufgaben zu bewältigen. Geldeinnahmen werden fast ausschliesslich in die Erhaltung und die Weiterentwicklung des Hauses und seiner Projekte gesteckt. Ein Haus, wo die Tür immer offen zu stehen scheint.

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stehen. Kleine Tische und bunte Stühle sowie kleine begrünte Balkons schaffen eine gemütliche Atmosphäre. Die Drinks an der Bar sind sehr preiswert, und zwischen 14:00 und 17:00 Uhr kann man zu einem sehr fairen Preis ein Menü zu sich nehmen. Auf der Bühne finden wöchentlich Konzerte und andere Darbietungen statt, die meist durch Kollekte unterstützt werden. Tauschbasar – Ein kleiner Raum voll mit Kleidern und anderen Gegenständen lädt zum Stöbern ein. Es ist ein kleiner Tauschbasar, wo jeder sich nach eigenem Ermessen bedienen darf. Wenn man etwas zu geben hat, gibt man, wenn etwas gefällt, dann nimmt man. Die Materialien sind alle in gutem Zustand und liegen schön geordnet in den Regalen.

Shop – Ein schlicht eingerichteter kleiner Laden verkauft regionale, selbstgemachte sowie FairCafé / Bar / Konzerthalle – Im ersten Stock des Trade-Produkte. Sie erheben nur einen minimalen Hauses befindet sich ein grosser Raum, in dem Aufschlag auf den Einkaufspreis, um den «festeine Bar und auf der anderen Seite eine Bühne angestellten» Mitarbeitern einen kleinen Lohn


auszuzahlen. Wenn durch die Einnahmen ein Gewinn generiert wird, wird er bei Bedarf in das Projekt Micropolis gesteckt; falls er mal höher ausfällt, wird er unter allen Beteiligten verteilt.

und auch fehlendes Know-How. Sie planen, baldmöglichst einen Workshop zu organisieren, um professioneller und schneller an ihren Möbelstücken arbeiten zu können.

Vortragssaal – Ein grosser Raum im zweiten Stock des Hauses bietet viel Platz für verschiedenste Aktivitäten. Oft werden hier Vorträge zu aktuellen Themen wie Missständen in der Gesellschaft und neuen Bewegungen gehalten. Diese Treffen werden immer öffentlich und mit freiem Eintritt abgehalten. Sie werden hauptsächlich von externen Parteien organisiert, Micropolis stellt den Raum zur Verfügung. Wenn gerade nichts Konkretes stattfindet, sind zwei Pingpongtische aufgestellt, wo öfters kleine freundschaftliche Wettkämpfe abgehalten werden.

Computerraum – Ein Computerraum ermöglicht Leuten ohne Computer einen freien Internetzugang. Es stehen ein paar alte Rechner im Raum, und ein mehr oder weniger schnelles Internet kann von Interessierten frei benützt werden.

Children’s Space – Der Children’s Space wird gleich gehandhabt wie der Rest von Mikropolis. Geführt wird er von engagierten Eltern, anderen Interessierten und natürlich den Kindern. Sie dürfen genauso mitentscheiden, was in diesem Raum passiert, und sind so auch Mitgestalter. Sie veranstalten Mittagstische, Spielnachmittage sowie auch Clownbesuche und andere Workshops und Performances. Der Raum ist fast flächendeckend mit bunten Farben überzogen und bietet einen kinderfreundlichen Spielplatz.

Eindrücke – Während unseres Aufenthalts konnten wir leider nicht die volle Brandbreite an Aktivitäten erleben, die in diesem offenen Raum stattfinden. Dennoch bekamen wir einen kleinen Einblick in das Leben von Micropolis. Die Mitarbeiter scheinen alle sehr freundlich, es gab jedoch ein paar Kommunikationsprobleme, da nur wenige Englisch sprachen. In der Bar fanden wir am ersten Abend einen guten Einstieg in das Nachtleben von Thessaloniki. Mit sehr preiswerten Getränken genossen wir als Hyper-Gemeinschaft eine gemütliche Atmosphäre mit angenehmer Hintergrundmusik. Selbstgemachter Honigraki versüsste uns den Abend. Ein Aufruf von Diana ermutigte sogar wildfremde Leute zu einem Gruppenfoto. Nur wenige verstanden wirklich, um was es ging, trotzdem waren sie so offen mitzumachen. An einem anderen Tag kosteten wir das günstige Essen. Sie bieten täglich ein Menü an, welches sie aus frischen Waren vom Shop herstellen. Für nur fünf Euro bekommt man eine volle Portion mit Salat, eine gute solide Hausmannskost. Vom Shop-Hüter erfahren wir, dass fast alle Personen freiwillig arbeiten. Nur selten gibt es eine kleine Bezahlung aus den generierten Einnahmen. Es kann für sie manchmal ein bisschen frustrierend sein, da sie die Früchte ihrer Arbeit nicht direkt sehen können. Dennoch hoffen sie, dass ihr Schaffen anderen Leuten die Augen öffnet und so neue Projekte und Lebenshaltungen entstehen. Je mehr solche Projekte ins Leben gerufen werden

Möbelwerkstatt – Die hauseigene Möbelwerkstatt ist vollgestellt mit alten Möbeln. Grösstenteils wurden sie auf der Strasse zusammengesucht. Eine junge Frau bearbeitet bei unserem Besuch einen alten Stuhl. Sie schleift das Holz ab und lackiert es neu. Die Sitzunterlagen werden auch mit rezyklierten Materialien neu bespannt. Momentan seien sie sehr beschäftigt, da sie die Stühle für das Micropolis wiederherstellten. Andere Möbelstücke verkaufen oder tauschen sie auf kleinen Flohmärkten wie zum Beispiel dem wöchentlichen Basar bei der besetzen Schule. Micropolis arbeitet oft mit der Schule zusammen, da sie sehr ähnliche Ideen haben und sich gegenseitig unterstützen wollen. Die Werkzeugesammlung besteht aus selbst mitgebrachten Utensilien, Gefundenem und auch Gekauftem. Es ist langsam schon eine recht ansehnliche Werkstatt; die Arbeiterin klagt dennoch über fehlende Werkzeuge

Bibliothek / Leseraum – In der kleinen Bibliothek von Mikropolis befinden sich hauptsächlich verschiedenste Sach- und Politikbücher. Die Tendenz ist eher links, sozialistisch oder anarchistisch. Man findet jedoch auch ökologische Themen, Kinderbücher und Romane.

und je mehr Leute partizipieren, desto eher können diese Initiativen einander durch gegenseitige Unterstützung am Leben erhalten. Die Teilnehmer arbeiten aus Liebe zur Sache und im Glauben an die transformative Kraft solcher offenen Räume. Alle Bereiche des Hauses werden durch gemeinschaftliche Entscheidungen und Ideen genutzt sowie weiterentwickelt. Solche Orte kann man auch in anderen Gebieten Europas und der USA entdecken, doch sie sind genau in Krisensituationen viel nötiger und gegenwärtiger als z.B. bei uns in der Schweiz. Man hat das Gefühl, dass die Krise solche Projekte stark antreibt, da man das Versagen der Konsum- und

Finanzgesellschaft viel klarer vor Augen geführt bekommt und dass man einen Weg finden muss, miteinander weiterzukommen. Es bleibt den betroffenen Menschen fast nichts anderes übrig, als sich gegenseitig zu unterstützen und neue Formen des Zusammenlebens zu suchen. David Baur


auszuzahlen. Wenn durch die Einnahmen ein Gewinn generiert wird, wird er bei Bedarf in das Projekt Micropolis gesteckt; falls er mal höher ausfällt, wird er unter allen Beteiligten verteilt.

und auch fehlendes Know-How. Sie planen, baldmöglichst einen Workshop zu organisieren, um professioneller und schneller an ihren Möbelstücken arbeiten zu können.

Vortragssaal – Ein grosser Raum im zweiten Stock des Hauses bietet viel Platz für verschiedenste Aktivitäten. Oft werden hier Vorträge zu aktuellen Themen wie Missständen in der Gesellschaft und neuen Bewegungen gehalten. Diese Treffen werden immer öffentlich und mit freiem Eintritt abgehalten. Sie werden hauptsächlich von externen Parteien organisiert, Micropolis stellt den Raum zur Verfügung. Wenn gerade nichts Konkretes stattfindet, sind zwei Pingpongtische aufgestellt, wo öfters kleine freundschaftliche Wettkämpfe abgehalten werden.

Computerraum – Ein Computerraum ermöglicht Leuten ohne Computer einen freien Internetzugang. Es stehen ein paar alte Rechner im Raum, und ein mehr oder weniger schnelles Internet kann von Interessierten frei benützt werden.

Children’s Space – Der Children’s Space wird gleich gehandhabt wie der Rest von Mikropolis. Geführt wird er von engagierten Eltern, anderen Interessierten und natürlich den Kindern. Sie dürfen genauso mitentscheiden, was in diesem Raum passiert, und sind so auch Mitgestalter. Sie veranstalten Mittagstische, Spielnachmittage sowie auch Clownbesuche und andere Workshops und Performances. Der Raum ist fast flächendeckend mit bunten Farben überzogen und bietet einen kinderfreundlichen Spielplatz.

Eindrücke – Während unseres Aufenthalts konnten wir leider nicht die volle Brandbreite an Aktivitäten erleben, die in diesem offenen Raum stattfinden. Dennoch bekamen wir einen kleinen Einblick in das Leben von Micropolis. Die Mitarbeiter scheinen alle sehr freundlich, es gab jedoch ein paar Kommunikationsprobleme, da nur wenige Englisch sprachen. In der Bar fanden wir am ersten Abend einen guten Einstieg in das Nachtleben von Thessaloniki. Mit sehr preiswerten Getränken genossen wir als Hyper-Gemeinschaft eine gemütliche Atmosphäre mit angenehmer Hintergrundmusik. Selbstgemachter Honigraki versüsste uns den Abend. Ein Aufruf von Diana ermutigte sogar wildfremde Leute zu einem Gruppenfoto. Nur wenige verstanden wirklich, um was es ging, trotzdem waren sie so offen mitzumachen. An einem anderen Tag kosteten wir das günstige Essen. Sie bieten täglich ein Menü an, welches sie aus frischen Waren vom Shop herstellen. Für nur fünf Euro bekommt man eine volle Portion mit Salat, eine gute solide Hausmannskost. Vom Shop-Hüter erfahren wir, dass fast alle Personen freiwillig arbeiten. Nur selten gibt es eine kleine Bezahlung aus den generierten Einnahmen. Es kann für sie manchmal ein bisschen frustrierend sein, da sie die Früchte ihrer Arbeit nicht direkt sehen können. Dennoch hoffen sie, dass ihr Schaffen anderen Leuten die Augen öffnet und so neue Projekte und Lebenshaltungen entstehen. Je mehr solche Projekte ins Leben gerufen werden

Möbelwerkstatt – Die hauseigene Möbelwerkstatt ist vollgestellt mit alten Möbeln. Grösstenteils wurden sie auf der Strasse zusammengesucht. Eine junge Frau bearbeitet bei unserem Besuch einen alten Stuhl. Sie schleift das Holz ab und lackiert es neu. Die Sitzunterlagen werden auch mit rezyklierten Materialien neu bespannt. Momentan seien sie sehr beschäftigt, da sie die Stühle für das Micropolis wiederherstellten. Andere Möbelstücke verkaufen oder tauschen sie auf kleinen Flohmärkten wie zum Beispiel dem wöchentlichen Basar bei der besetzen Schule. Micropolis arbeitet oft mit der Schule zusammen, da sie sehr ähnliche Ideen haben und sich gegenseitig unterstützen wollen. Die Werkzeugesammlung besteht aus selbst mitgebrachten Utensilien, Gefundenem und auch Gekauftem. Es ist langsam schon eine recht ansehnliche Werkstatt; die Arbeiterin klagt dennoch über fehlende Werkzeuge

Bibliothek / Leseraum – In der kleinen Bibliothek von Mikropolis befinden sich hauptsächlich verschiedenste Sach- und Politikbücher. Die Tendenz ist eher links, sozialistisch oder anarchistisch. Man findet jedoch auch ökologische Themen, Kinderbücher und Romane.

und je mehr Leute partizipieren, desto eher können diese Initiativen einander durch gegenseitige Unterstützung am Leben erhalten. Die Teilnehmer arbeiten aus Liebe zur Sache und im Glauben an die transformative Kraft solcher offenen Räume. Alle Bereiche des Hauses werden durch gemeinschaftliche Entscheidungen und Ideen genutzt sowie weiterentwickelt. Solche Orte kann man auch in anderen Gebieten Europas und der USA entdecken, doch sie sind genau in Krisensituationen viel nötiger und gegenwärtiger als z.B. bei uns in der Schweiz. Man hat das Gefühl, dass die Krise solche Projekte stark antreibt, da man das Versagen der Konsum- und

Finanzgesellschaft viel klarer vor Augen geführt bekommt und dass man einen Weg finden muss, miteinander weiterzukommen. Es bleibt den betroffenen Menschen fast nichts anderes übrig, als sich gegenseitig zu unterstützen und neue Formen des Zusammenlebens zu suchen. David Baur


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Raphael Lauper, Lithographie, 2013 (Workshop Druckwerkstatt)

XX


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Raphael Lauper, Lithographie, 2013 (Workshop Druckwerkstatt)

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Halbi Sau Wüsse isst alles Diplom Peter Blickenstorfer

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Wir essen zu viel Fleisch. Das Projekt Halbi Sau – Wüsse isst alles thematisiert den Fleischkonsum in der Schweiz und macht auf die daraus entstehenden Herausforderungen aufmerksam. Halbi Sau erkundet Möglichkeiten, das Bewusstsein der VerbraucherInnen von Fleischprodukten zu schärfen und sie dazu zu bewegen, mit mehr Bedacht zu konsumieren. Kontext – Der Bedarf an Fleisch steigt stetig, was zur Folge hat, dass Mensch, Tier und Umwelt zunehmend ausgebeutet werden. Gemäss einer Studie der Erklärung von Bern (EvB) könnten wir komplett auf Fleischund Futtermittelimporte verzichten, wenn wir unseren Fleischkonsum halbierten und das ganze Tier verspeisen würden.

Produkt – Die Essenz der erarbeiteten Informationen über die Herausforderungen des Fleischkonsums – die auf der Web- und Facebook-Seite von Halbi Sau zu finden sind – fliessen zusammen mit den Rezepten zu allen Teilen der halben Sau in ein kleines Buch ein. So entsteht eine Publikation, die Genuss und bewussten Konsum bestmöglich verbindet.

Inhalt – Die Idee der EvB – den Fleischkonsum zu halbieren und das ganze Tier zu verspeisen – habe ich aufgegriffen und nach Ansätzen gesucht, mit dem Thema bei den Konsumierenden von Fleisch Gehör zu finden. Schliesslich habe ich, um selbst zu erfahren und zu zeigen, was alles hinter dem Schnitzel im Supermarkt steckt, das Vorhaben gestartet, selbst eine halbe Sau so komplett wie möglich – vom «Schnörrli» bis zum «Schwänzli» – zu verarbeiten, zuzubereiten und zu verspeisen. Zu diesen Essen habe ich die Menschen, die mich zu dieser Idee inspiriert und zur Ralisierung dieses Projektes einen Teil beigetragen haben, eingeladen und mich mit ihnen über die brennenden Fragen unterhalten. Über diese Erlebnisse habe ich dann berichtet. Mit diesem Prozess habe ich einen polarisierenden Ansatz gefunden, der bei den Konsumierenden von Fleisch das Interesse für das Thema weckt und ihre intrinsische Motivation anregen soll, einen bewussten und nachhaltigen Fleischkonsum zu verfolgen.

Gemeinschaft – Nehmen und Geben müssen im Gleichgewicht sein, damit Gemeinschaften funktionieren können. Durch unseren immensen Fleischkonsum und die damit verbundene Übernutzung von Ressourcen geschieht jedoch genau das Gegenteil. Wir nehmen uns mehr als uns zusteht und stehen so in der Schuld derer, die nicht genug zu essen haben – der Soja, der für unseren übermässigen Fleischkonsum angebaut wird, könnte ihnen zur Lebenserhaltung dienen. Halbi Sau macht darauf aufmerksam.

Es ist nicht mein Ziel, Konsumierende davon zu überzeugen, kein Fleisch mehr zu essen. Ich will auf die mit dem Fleischkonsum verbundenen Herausforderungen aufmerksam machen und – frei nach dem Motto «Weniger ist mehr» – dafür begeistern, Fleisch bewusster zu essen.

Dank an das gesamte Team für den unermüdlichen Einsatz, Mannik Keng und Andrea Ebener für den fotografischen Rat, Schwarzenbach Weinbau für die passenden Weine, Jaime, Fabio, Friedel und Selina sowie Freunden und Familie für die Unterstützung während der drei Jahre am HyperWerk.

Coaches – Jan Knopp, Friedel Bachmann. Kontakt – oink@halbisau.ch, halbisau.ch, facebook.com/halbisau Team und Dank – Konzept, Grafik und Text: Benedict Dackweiler, Benedikt Achermann, Markus Schmet. Menüplanung, Fleischverarbeitung und Küche: Luc und Beni Stehli.


Halbi Sau Wüsse isst alles Diplom Peter Blickenstorfer

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Wir essen zu viel Fleisch. Das Projekt Halbi Sau – Wüsse isst alles thematisiert den Fleischkonsum in der Schweiz und macht auf die daraus entstehenden Herausforderungen aufmerksam. Halbi Sau erkundet Möglichkeiten, das Bewusstsein der VerbraucherInnen von Fleischprodukten zu schärfen und sie dazu zu bewegen, mit mehr Bedacht zu konsumieren. Kontext – Der Bedarf an Fleisch steigt stetig, was zur Folge hat, dass Mensch, Tier und Umwelt zunehmend ausgebeutet werden. Gemäss einer Studie der Erklärung von Bern (EvB) könnten wir komplett auf Fleischund Futtermittelimporte verzichten, wenn wir unseren Fleischkonsum halbierten und das ganze Tier verspeisen würden.

Produkt – Die Essenz der erarbeiteten Informationen über die Herausforderungen des Fleischkonsums – die auf der Web- und Facebook-Seite von Halbi Sau zu finden sind – fliessen zusammen mit den Rezepten zu allen Teilen der halben Sau in ein kleines Buch ein. So entsteht eine Publikation, die Genuss und bewussten Konsum bestmöglich verbindet.

Inhalt – Die Idee der EvB – den Fleischkonsum zu halbieren und das ganze Tier zu verspeisen – habe ich aufgegriffen und nach Ansätzen gesucht, mit dem Thema bei den Konsumierenden von Fleisch Gehör zu finden. Schliesslich habe ich, um selbst zu erfahren und zu zeigen, was alles hinter dem Schnitzel im Supermarkt steckt, das Vorhaben gestartet, selbst eine halbe Sau so komplett wie möglich – vom «Schnörrli» bis zum «Schwänzli» – zu verarbeiten, zuzubereiten und zu verspeisen. Zu diesen Essen habe ich die Menschen, die mich zu dieser Idee inspiriert und zur Ralisierung dieses Projektes einen Teil beigetragen haben, eingeladen und mich mit ihnen über die brennenden Fragen unterhalten. Über diese Erlebnisse habe ich dann berichtet. Mit diesem Prozess habe ich einen polarisierenden Ansatz gefunden, der bei den Konsumierenden von Fleisch das Interesse für das Thema weckt und ihre intrinsische Motivation anregen soll, einen bewussten und nachhaltigen Fleischkonsum zu verfolgen.

Gemeinschaft – Nehmen und Geben müssen im Gleichgewicht sein, damit Gemeinschaften funktionieren können. Durch unseren immensen Fleischkonsum und die damit verbundene Übernutzung von Ressourcen geschieht jedoch genau das Gegenteil. Wir nehmen uns mehr als uns zusteht und stehen so in der Schuld derer, die nicht genug zu essen haben – der Soja, der für unseren übermässigen Fleischkonsum angebaut wird, könnte ihnen zur Lebenserhaltung dienen. Halbi Sau macht darauf aufmerksam.

Es ist nicht mein Ziel, Konsumierende davon zu überzeugen, kein Fleisch mehr zu essen. Ich will auf die mit dem Fleischkonsum verbundenen Herausforderungen aufmerksam machen und – frei nach dem Motto «Weniger ist mehr» – dafür begeistern, Fleisch bewusster zu essen.

Dank an das gesamte Team für den unermüdlichen Einsatz, Mannik Keng und Andrea Ebener für den fotografischen Rat, Schwarzenbach Weinbau für die passenden Weine, Jaime, Fabio, Friedel und Selina sowie Freunden und Familie für die Unterstützung während der drei Jahre am HyperWerk.

Coaches – Jan Knopp, Friedel Bachmann. Kontakt – oink@halbisau.ch, halbisau.ch, facebook.com/halbisau Team und Dank – Konzept, Grafik und Text: Benedict Dackweiler, Benedikt Achermann, Markus Schmet. Menüplanung, Fleischverarbeitung und Küche: Luc und Beni Stehli.


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Ressourcen gemeinsam nutzen

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Elinor Ostrom (1933 – 2012) war eine Politikwissenschaftlerin und erhielt 2009 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Sie beschäftigte sich jahrzehntelang mit der Frage, «wie gemeinschaftliches Eigentum von Nutzerorganisationen erfolgreich verwaltet werden kann» (aus der Würdigung der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften.) In ihrem Hauptwerk Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action (1990) erarbeitete sie auf der Basis von zahlreichen Einzeluntersuchungen Regeln für die erfolgreiche gemeinsame Nutzung von Gütern. Speziell bei begrenzten Ressourcen (Landnutzung, Wasser, Fischfang) konnte sie zeigen, dass eine gemeinschaftlich organisierte Nutzung meist nachhaltiger und langfristig erfolgreicher ist als ihre privat- oder planwirtschaftliche Alternative. In der Schweiz ist die über Jahrhunderte betriebene genossenschaftliche Bewirtschaftung von Alpweiden exemplarisch für die Form der gemeinschaftlichen Nutzung. Elinor Ostroms «Design-Prinzipien» für erfolgreiche Allmenden im Überblick: 1. Abgrenzbarkeit Es existieren eindeutige und lokal akzeptierte Grenzen zwischen legitimen Nutzern und Nichtnutzern. Ebenso gibt es klare Grenzen zwischen einer bestimmten Gemeinressource (z.B. einem See mit Fischen) und den sozioökologischen Systemen in ihrer Umwelt (Dörfer mit Wäldern, Wiesen inmitten von Bergen).

können an Entscheidungen teilnehmen, die Spielregeln des Managements festlegen oder verändern. 4. Monitoring Sind Individuen selber Nutzer oder zumindest für die Nutzung verantwortlich, beobachten und überwachen sie die Aneignung der Ressource und überwachen zeitnah ihren Zustand (z.B. können Fischer erfahren, welche Fischer wie viele Fische aus dem See fangen). 5. Abgestufte Sanktionen Sanktionen beginnen auf niedrigem Niveau, verschärfen sich aber bei wiederholten Verstößen gegen die gemeinsam vereinbarten Regeln. 6. Konfliktlösungsmechanismen Es existieren lokale Arenen für die schnelle, günstige und direkte Lösung von Konflikten zwischen Nutzern sowie zwischen Nutzern und Behörden. 7. Anerkennung von Rechten Die Regierung räumt lokalen Nutzern ein Mindestmaß an Rechten ein, sich eigene Regeln zu setzen. 8. Verschachtelte Institutionen

Ist eine Gemeinressource eng verbunden mit einem umfassenden sozioökologischen System (z.B. ein Gletschersee inmitten von Bergen und 2. Kohärenz mit lokalen Bedingungen Wäldern), dann werden die Regeln auf vielen inDie Regeln für die Aneignung und Bereitstellung einander verschachtelten Ebenen und nicht hierder Ressource überfordern die lokalen sozialen archisch organisiert (polycentric governance). und ökologischen Gegebenheiten nicht. Die EntZitiert nach der Bundeszentrale für Politische Bildung, Berlin nahmeregeln sind auf die Bereitstellungsregeln (www.bpb.de/apuz/33204/ abgestimmt, die Kosten werden proportional zum elinor-ostrom-und-die-wiederentdeckungNutzen verteilt. der-allmende?p=all) 3. Gemeinschaftliche Entscheidungen Die meisten Individuen, die von einem bestimmten Regime der Ressourcennutzung betroffen sind,

Literatur Ostrom, Elinor: Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action. Cambridge, 1990. Deutsch: Die Verfassung der Allmende. Tübingen, 1999.


Ressourcen gemeinsam nutzen

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Elinor Ostrom (1933 – 2012) war eine Politikwissenschaftlerin und erhielt 2009 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Sie beschäftigte sich jahrzehntelang mit der Frage, «wie gemeinschaftliches Eigentum von Nutzerorganisationen erfolgreich verwaltet werden kann» (aus der Würdigung der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften.) In ihrem Hauptwerk Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action (1990) erarbeitete sie auf der Basis von zahlreichen Einzeluntersuchungen Regeln für die erfolgreiche gemeinsame Nutzung von Gütern. Speziell bei begrenzten Ressourcen (Landnutzung, Wasser, Fischfang) konnte sie zeigen, dass eine gemeinschaftlich organisierte Nutzung meist nachhaltiger und langfristig erfolgreicher ist als ihre privat- oder planwirtschaftliche Alternative. In der Schweiz ist die über Jahrhunderte betriebene genossenschaftliche Bewirtschaftung von Alpweiden exemplarisch für die Form der gemeinschaftlichen Nutzung. Elinor Ostroms «Design-Prinzipien» für erfolgreiche Allmenden im Überblick: 1. Abgrenzbarkeit Es existieren eindeutige und lokal akzeptierte Grenzen zwischen legitimen Nutzern und Nichtnutzern. Ebenso gibt es klare Grenzen zwischen einer bestimmten Gemeinressource (z.B. einem See mit Fischen) und den sozioökologischen Systemen in ihrer Umwelt (Dörfer mit Wäldern, Wiesen inmitten von Bergen).

können an Entscheidungen teilnehmen, die Spielregeln des Managements festlegen oder verändern. 4. Monitoring Sind Individuen selber Nutzer oder zumindest für die Nutzung verantwortlich, beobachten und überwachen sie die Aneignung der Ressource und überwachen zeitnah ihren Zustand (z.B. können Fischer erfahren, welche Fischer wie viele Fische aus dem See fangen). 5. Abgestufte Sanktionen Sanktionen beginnen auf niedrigem Niveau, verschärfen sich aber bei wiederholten Verstößen gegen die gemeinsam vereinbarten Regeln. 6. Konfliktlösungsmechanismen Es existieren lokale Arenen für die schnelle, günstige und direkte Lösung von Konflikten zwischen Nutzern sowie zwischen Nutzern und Behörden. 7. Anerkennung von Rechten Die Regierung räumt lokalen Nutzern ein Mindestmaß an Rechten ein, sich eigene Regeln zu setzen. 8. Verschachtelte Institutionen

Ist eine Gemeinressource eng verbunden mit einem umfassenden sozioökologischen System (z.B. ein Gletschersee inmitten von Bergen und 2. Kohärenz mit lokalen Bedingungen Wäldern), dann werden die Regeln auf vielen inDie Regeln für die Aneignung und Bereitstellung einander verschachtelten Ebenen und nicht hierder Ressource überfordern die lokalen sozialen archisch organisiert (polycentric governance). und ökologischen Gegebenheiten nicht. Die EntZitiert nach der Bundeszentrale für Politische Bildung, Berlin nahmeregeln sind auf die Bereitstellungsregeln (www.bpb.de/apuz/33204/ abgestimmt, die Kosten werden proportional zum elinor-ostrom-und-die-wiederentdeckungNutzen verteilt. der-allmende?p=all) 3. Gemeinschaftliche Entscheidungen Die meisten Individuen, die von einem bestimmten Regime der Ressourcennutzung betroffen sind,

Literatur Ostrom, Elinor: Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action. Cambridge, 1990. Deutsch: Die Verfassung der Allmende. Tübingen, 1999.


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«Yasamak! Bir agaç gibi tek ve hür ve bir orman gibi kardesçesine, bu hasret bizim!» «Leben! Einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht!» Nâzim Hikmet, aus dem Gedicht «Davet» (Einladung) in: Die Luft ist schwer wie Blei. Hava Kursun Gibi Agir. Gedichte. Berlin, 2000. Übersetzung des Gedichtabschnittes: Karl Dietz (http://karldietz.blogspot.ch/2012/06/nazim-hikmet-davet-die-einladung.html)


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«Yasamak! Bir agaç gibi tek ve hür ve bir orman gibi kardesçesine, bu hasret bizim!» «Leben! Einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht!» Nâzim Hikmet, aus dem Gedicht «Davet» (Einladung) in: Die Luft ist schwer wie Blei. Hava Kursun Gibi Agir. Gedichte. Berlin, 2000. Übersetzung des Gedichtabschnittes: Karl Dietz (http://karldietz.blogspot.ch/2012/06/nazim-hikmet-davet-die-einladung.html)


Aufruf zum Jahresthema 2013/14

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Aufruf zum Jahresthema 2013/14

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Die Axt für das gefrorene Meer in uns 89

Der Titel zu Kafkas Prosastück Gemeinschaft wurde von Max Brod gesetzt, der nach Kafkas Tod dessen nachgelassene Texte herausgegeben hat. Warum heißt das Prosastück nicht «Freundschaft»? Das Wort «Gemeinschaft» kommt im Text gar nicht vor und wirkt, hat man sich den Text einmal auf der Zunge zergehen lassen, wie ein ironischer Kommentar dazu. Der Text ist nach 1920 entstanden und stammt damit aus der letzten Schaffensphase Kafkas. Er enthält Zeit- und Lokalkolorit nur in minimalen Spurenelementen und mutet auch dadurch wie ein Modell an, ein Passepartout für jegliche Form von Gemeinschaft. Nur das Tor, neben dem sich die fünf Freunde aufreihen, mag als Spur einer vergangenen Lebenswelt aufgefasst werden, in der es breite Handkarren und Pferdefuhrwerke gab, die nicht durch Türen, sondern nur durch Tore passten. Und der ausgeschlossene sechste wirft die Lippen auf in einer Grimasse hartnäckigen Unmuts, die uns heute nicht mehr selbstverständlich vor Augen steht. Die Erzählstimme spricht aus der Gemeinschaft heraus und liefert eine Innensicht – Wir sind [...]. Als die fünf – wir alle – dann in einer Reihe stehen, zeigen die Leute auf sie und bezeichnen sie als Gruppe. Der Impuls zum Selbstverständnis als Gruppe wird also von außen gesetzt, von den Leuten, die auf diese Zufallsreihe aufmerksam werden, sie als Die fünf bezeichnen und ihr eine – vollkommen kontingente – Gruppenidentität zuschreiben. Bemerkenswert ist, dass die Leute das nicht zu den fünfen sagen, sondern bloß zueinander. Damit sind die fünf auf den flüchtigsten, banalstmöglichen gemeinsamen Nenner gebracht. Es ist nicht mehr geschehen, als dass Außenstehende ihnen in einer zufälligen Situation das Gemeinsam-auseinem-Haus-Gekommensein zusprechen. Und nun kommt das Seltsame: Das allein reicht aus, dass sich die fünf fortan als Freunde bezeichnen und zusammen leben. Nun könnte alles gut sein. Aber gleich die nächsten beiden Halbsätze stehen im Irrealis und bezeichnen eine kontrafaktische Situation: Es könnte alles so friedlich sein, wenn sich nicht ein sechster immerfort einmischen und eindrängen würde. Es ist also kein friedliches Leben, weil ein sechster hereinwill. Der sechste ist von den fünfen nur dadurch unterschieden, dass er nicht bei der Urszene des Gemeinsam-aus-

dem-Haus-Gekommenseins dabei war. Sprachlich ist er, wenn schon nicht eingeschlossen, als ein sechster aber doch unwillkürlich angeschlossen. Danach folgt ein Redeschwall, in dem erst einmal ein auf den ersten Blick plausibles Ausschlusskriterium angegeben wird: Wir kennen ihn nicht. Diesem Kriterium wird aber im nächsten Satz umgehend der Boden entzogen, indem mit zwar ein Gegenargument eingeräumt und mit und wenn man will einem möglichen Einwand Aussenstehender vorauseilend stattgegeben wird, dahingehend, dass auch die fünf einander weder früher gekannt haben noch einander jetzt kennen. Nach diesem logischen Durchstreichen des ursprünglichen Kriteriums wird mit aber übergeleitet auf angeblich objektive, jedoch im Dunkeln bleibende Möglichkeiten und Duldungsregeln. Mit Ausserdem wird auch dieses Kriterium verlassen, zugunsten einer apodiktischen Unwillensbekundung. Dann der Gipfel: Überdruss und Groll glühen auf im Und was soll überhaupt, das den Rundumschlag einleitet, der dem fortwährenden Beisammensein jeglichen Sinn abspricht – und damit das Zusammenleben ablehnt, das doch eben noch das allein genannte Merkmal für den Vollzug der zugeschriebenen Gemeinschaftsidentität gewesen ist. Da passt es auch, dass Beisammensein – wie in ‚‹geselliges Beisammensein› – eine temporärbierselige Schwundstufe von Zusammenleben bezeichnet. Und die Eingangsbehauptung Wir sind fünf Freunde ist damit ebenfalls eingestürzt. Dieses literarische Verfahren Kafkas, einmal gesetzte Aussagen durch anschliessende, gewissermassen negierende Begründungen wieder durchzustreichen und zu kassieren, hat der Tübinger Germanist Jörgen Kobs herausgearbeitet in seiner bis heute maßgeblichen Monographie Kafka. Untersuchungen zu Bewusstsein und Sprache seiner Gestalten. Trotz der solchermaßen misslungenen Argumentation für den Ausschluss des sechsten will man am Status quo nichts ändern – eben auf Grund unserer Erfahrungen. Welche aber wären diese? Sie liefen wohl hinaus auf die Befürchtung, dass, nähme man den sechsten auf, sogleich ein siebter Einlass begehrte. Nun kommt ein resümierender Sprung auf die strategische Metaebene: Das alles dem sechsten beizubringen hiesse – schon fast – ihn aufnehmen. In unsern Kreis – wobei der Kreis


Die Axt für das gefrorene Meer in uns 89

Der Titel zu Kafkas Prosastück Gemeinschaft wurde von Max Brod gesetzt, der nach Kafkas Tod dessen nachgelassene Texte herausgegeben hat. Warum heißt das Prosastück nicht «Freundschaft»? Das Wort «Gemeinschaft» kommt im Text gar nicht vor und wirkt, hat man sich den Text einmal auf der Zunge zergehen lassen, wie ein ironischer Kommentar dazu. Der Text ist nach 1920 entstanden und stammt damit aus der letzten Schaffensphase Kafkas. Er enthält Zeit- und Lokalkolorit nur in minimalen Spurenelementen und mutet auch dadurch wie ein Modell an, ein Passepartout für jegliche Form von Gemeinschaft. Nur das Tor, neben dem sich die fünf Freunde aufreihen, mag als Spur einer vergangenen Lebenswelt aufgefasst werden, in der es breite Handkarren und Pferdefuhrwerke gab, die nicht durch Türen, sondern nur durch Tore passten. Und der ausgeschlossene sechste wirft die Lippen auf in einer Grimasse hartnäckigen Unmuts, die uns heute nicht mehr selbstverständlich vor Augen steht. Die Erzählstimme spricht aus der Gemeinschaft heraus und liefert eine Innensicht – Wir sind [...]. Als die fünf – wir alle – dann in einer Reihe stehen, zeigen die Leute auf sie und bezeichnen sie als Gruppe. Der Impuls zum Selbstverständnis als Gruppe wird also von außen gesetzt, von den Leuten, die auf diese Zufallsreihe aufmerksam werden, sie als Die fünf bezeichnen und ihr eine – vollkommen kontingente – Gruppenidentität zuschreiben. Bemerkenswert ist, dass die Leute das nicht zu den fünfen sagen, sondern bloß zueinander. Damit sind die fünf auf den flüchtigsten, banalstmöglichen gemeinsamen Nenner gebracht. Es ist nicht mehr geschehen, als dass Außenstehende ihnen in einer zufälligen Situation das Gemeinsam-auseinem-Haus-Gekommensein zusprechen. Und nun kommt das Seltsame: Das allein reicht aus, dass sich die fünf fortan als Freunde bezeichnen und zusammen leben. Nun könnte alles gut sein. Aber gleich die nächsten beiden Halbsätze stehen im Irrealis und bezeichnen eine kontrafaktische Situation: Es könnte alles so friedlich sein, wenn sich nicht ein sechster immerfort einmischen und eindrängen würde. Es ist also kein friedliches Leben, weil ein sechster hereinwill. Der sechste ist von den fünfen nur dadurch unterschieden, dass er nicht bei der Urszene des Gemeinsam-aus-

dem-Haus-Gekommenseins dabei war. Sprachlich ist er, wenn schon nicht eingeschlossen, als ein sechster aber doch unwillkürlich angeschlossen. Danach folgt ein Redeschwall, in dem erst einmal ein auf den ersten Blick plausibles Ausschlusskriterium angegeben wird: Wir kennen ihn nicht. Diesem Kriterium wird aber im nächsten Satz umgehend der Boden entzogen, indem mit zwar ein Gegenargument eingeräumt und mit und wenn man will einem möglichen Einwand Aussenstehender vorauseilend stattgegeben wird, dahingehend, dass auch die fünf einander weder früher gekannt haben noch einander jetzt kennen. Nach diesem logischen Durchstreichen des ursprünglichen Kriteriums wird mit aber übergeleitet auf angeblich objektive, jedoch im Dunkeln bleibende Möglichkeiten und Duldungsregeln. Mit Ausserdem wird auch dieses Kriterium verlassen, zugunsten einer apodiktischen Unwillensbekundung. Dann der Gipfel: Überdruss und Groll glühen auf im Und was soll überhaupt, das den Rundumschlag einleitet, der dem fortwährenden Beisammensein jeglichen Sinn abspricht – und damit das Zusammenleben ablehnt, das doch eben noch das allein genannte Merkmal für den Vollzug der zugeschriebenen Gemeinschaftsidentität gewesen ist. Da passt es auch, dass Beisammensein – wie in ‚‹geselliges Beisammensein› – eine temporärbierselige Schwundstufe von Zusammenleben bezeichnet. Und die Eingangsbehauptung Wir sind fünf Freunde ist damit ebenfalls eingestürzt. Dieses literarische Verfahren Kafkas, einmal gesetzte Aussagen durch anschliessende, gewissermassen negierende Begründungen wieder durchzustreichen und zu kassieren, hat der Tübinger Germanist Jörgen Kobs herausgearbeitet in seiner bis heute maßgeblichen Monographie Kafka. Untersuchungen zu Bewusstsein und Sprache seiner Gestalten. Trotz der solchermaßen misslungenen Argumentation für den Ausschluss des sechsten will man am Status quo nichts ändern – eben auf Grund unserer Erfahrungen. Welche aber wären diese? Sie liefen wohl hinaus auf die Befürchtung, dass, nähme man den sechsten auf, sogleich ein siebter Einlass begehrte. Nun kommt ein resümierender Sprung auf die strategische Metaebene: Das alles dem sechsten beizubringen hiesse – schon fast – ihn aufnehmen. In unsern Kreis – wobei der Kreis


ein Bild fürs Erlauchte einer Tafelrunde und fürs perfekt Geschlossene ist. Also wird nichts erklärt und damit auch nicht aufgenommen. Das ist nun stichhaltig und wird nicht wieder kassiert. Das nicht erklärte Nichtzugelassen- beziehungsweise Verurteiltsein ist ein zentrales Motiv bei Kafka, in Der Proceß, Das Schloß und In der Strafkolonie, wird aber hier für einmal aus der ausschliessenden Gemeinschaft heraus begründet. Das Schlussbild zeigt, wie die fünf und ihr sechster womöglich für immer aufeinander bezogen bleiben müssen: Die einen stoßen weg, und der andere kommt wieder. Nach der Lektüre beisst man sich auf die Lippe und denkt «Ja, so ist es.» Das ist eine Blaupause für eine Gemeinschaft, die keine neue Vereinigung zulässt und erstarrt ist. Das Prosastück spricht seinem Titel Hohn, und deshalb ist der gut gewählt. Der gesamte leere Mechanismus funktioniert über Zahlwörter und das einzig durch die Urszene und die Ausschlussbewegung mit Gehalt gefüllte Personalpronomen wir – wobei bereits der zweite Satz das wir mit dem unbestimmten Zahlwort alle zusammenspannt, die vorherige Aufzählung abschliesst und die definitiv erreichte, wohlgeordnete Vollständigkeit feststellt: Schliesslich standen wir alle in einer Reihe. Dies ist bereits gesagt noch bevor die Zuschreibung von aussen geschildert wird. – Bei abermaligem Lesen werden viele zunächst unauffällige Aussagen gewichtig und doppelbödig; das ist eine Funktion von Kafkas berühmter «Wörtlichkeit», unter der sich dann Falltüren in die Bodenlosigkeit auftun. Ein dritter Faktor ist das man, das unpersönlich Anschlussfähige, das changiert. Zweimal ist die Erzählinstanz auf seiner Innenseite und könnte es durchs wir ersetzen: wo man ihn nicht haben will beziehungsweise wie soll man aber das alles [...]; und einmal kommt es von einer aussenstehenden, skeptischen Instanz: in der Einwandvorwegnahme und wenn man will. In die beiden letztgenannten Stellen schiesst plötzliche Übersicht und Reflexion ein: Die Erzählinstanz sieht mit diesen Wendungen für jeweils einen Moment von ihrem Raisonnement ab und versetzt sich in eine Aussenperspektive, die das eigene sprachliche Handeln beobachtet. Eine dritte einschlägige Stelle – ohne man – ist die Meta-Frage nach dem Sinn des Beisammenseins, die aber sofort nieder-

geschlagen wird: auch bei uns fünf hat es keinen Sinn. Die Gemeinschaftsmaschine baut ein, was ihr grade in den Kram passt, über alles andere rollt sie hinweg – ein Redeschwall eben. Und was ist mit dem Quecksilberkügelchen und seinem so leichten Gleiten? Hier kommt mir ein Buch des Schauspielers und Autors Hanns Zischler in den Sinn, der in oft langwieriger und detektivischer Arbeit die Filme identifiziert hat, die Kafka als leidenschaftlicher Kinogänger gesehen hat. Zischler sucht nach deren Spuren im Werk, weist aber auch auf das Geisterhaft-Geschwinde vieler Szenen im zeitgenössischen Stummfilm insgesamt hin: Hanns Zischler, Kafka geht ins Kino. Und als konkrete Lebenswirklichkeit kommen Quecksilberkügelchen zu Kafkas Zeit wohl aus zerbrochenen Thermometern und vereinigen sich in charakteristischer Weise wieder, wenn sie einander per Zufall nahe genug kommen, dass sie einander anziehen können – ein Vergleich aus der unbelebten Natur für den Drang zur Vereinigung. Und was soll uns das sagen? Das Prosastück ist ein Passepartout für das Reden all derer, die sich in ihrer Gemeinschaft eingerichtet haben und die Anderen draußen lassen wollen. Lampedusa kommt einem in den Sinn und – vielfach verschachtelt – der Nahe Osten; überhaupt Diskriminierung jeder Art. Kafkas Text funktioniert: Manche tagesaktuelle Situation, manches Versatzstück wird dem aufmerksamen Leser wie ein Echo darauf vorkommen. A propos Diskriminierung – im Deutschen hat das Wort ausschließlich negative Bedeutung; im Englischen dagegen ist nur discrimination against negativ; ohne die Präposition against meint discrimination – wie auch das lateinische discrimen – Unterscheidung und kritisches Urteilsvermögen, also überaus positive Dinge. Unterscheiden ist nur schlecht, wenn es gegen jemanden gerichtet wird. Wird es das nicht, ist es das Mittel zur möglichst akkuraten Modellierung von Wirklichkeit, zur angemessenen Erfassung von Komplexität. Man soll sich nicht der Unterscheidungen begeben und Unterschiede einebnen, zugunsten eines diffusen Wunsches nach Angekommensein und Aufgehobenheit in einer Gemeinschaft. Folgerichtig kann eine Aussenseiterposition dazu verhelfen, kritisch-hellsichtiges Urteilsvermögen einzuüben – Kafkas Existenz als deutschsprachiger Jude in

Prag ist Beleg dafür, in Tagebüchern und Briefen immer wieder reflektiert. Orhan Kipcak erzählt im zweiten Teil seiner Trilogie (siehe Beitrag 66) eine vergleichbare autobiographische Geschichte vom Religionsunterricht in einer doppelten Diaspora – man erlebt beim Lesen, wie bewusstseinsbildend dieses Gemeinschaftliche gewirkt hat. Max Spielmann hat in seinem Beitrag Gemeinschaft! Verschont uns (siehe Beitrag 10) bereits die wesentlichen Schlussfolgerungen aus Kafkas Text gezogen und in den Kontext der einschlägigen theoretischen Anstrengungen gestellt. Im Gespräch meinte er unlängst, dass jede Beschwörung, jedes Einfordern von Gemeinschaft schädlich für sie sei, weil sie dann zum Disziplinierungsinstrument verkomme: Sei gut, sei brav, sei Gemeinschaft! Mein vorliegender Text macht noch etwas anderes stark: die künstlerische Leistung Franz Kafkas, das Faszinosum seines Werks, an das sich unablässig Interpretationen anschliessen – gemeinschaftliche Arbeit, commoning mit anderen an der Sprache, die der Güter Gefährlichstes ist. Ralf Neubauer Literatur Kafka, Franz: Gemeinschaft. In: Die Erzählungen. Frankfurt am Main, 1996, S. 373. Kobs, Jörgen: Kafka. Untersuchungen zu Bewusstsein und Sprache seiner Gestalten. Bad Homburg, 1970. Zischler, Hanns: Kafka geht ins Kino. Reinbek, 1996.


ein Bild fürs Erlauchte einer Tafelrunde und fürs perfekt Geschlossene ist. Also wird nichts erklärt und damit auch nicht aufgenommen. Das ist nun stichhaltig und wird nicht wieder kassiert. Das nicht erklärte Nichtzugelassen- beziehungsweise Verurteiltsein ist ein zentrales Motiv bei Kafka, in Der Proceß, Das Schloß und In der Strafkolonie, wird aber hier für einmal aus der ausschliessenden Gemeinschaft heraus begründet. Das Schlussbild zeigt, wie die fünf und ihr sechster womöglich für immer aufeinander bezogen bleiben müssen: Die einen stoßen weg, und der andere kommt wieder. Nach der Lektüre beisst man sich auf die Lippe und denkt «Ja, so ist es.» Das ist eine Blaupause für eine Gemeinschaft, die keine neue Vereinigung zulässt und erstarrt ist. Das Prosastück spricht seinem Titel Hohn, und deshalb ist der gut gewählt. Der gesamte leere Mechanismus funktioniert über Zahlwörter und das einzig durch die Urszene und die Ausschlussbewegung mit Gehalt gefüllte Personalpronomen wir – wobei bereits der zweite Satz das wir mit dem unbestimmten Zahlwort alle zusammenspannt, die vorherige Aufzählung abschliesst und die definitiv erreichte, wohlgeordnete Vollständigkeit feststellt: Schliesslich standen wir alle in einer Reihe. Dies ist bereits gesagt noch bevor die Zuschreibung von aussen geschildert wird. – Bei abermaligem Lesen werden viele zunächst unauffällige Aussagen gewichtig und doppelbödig; das ist eine Funktion von Kafkas berühmter «Wörtlichkeit», unter der sich dann Falltüren in die Bodenlosigkeit auftun. Ein dritter Faktor ist das man, das unpersönlich Anschlussfähige, das changiert. Zweimal ist die Erzählinstanz auf seiner Innenseite und könnte es durchs wir ersetzen: wo man ihn nicht haben will beziehungsweise wie soll man aber das alles [...]; und einmal kommt es von einer aussenstehenden, skeptischen Instanz: in der Einwandvorwegnahme und wenn man will. In die beiden letztgenannten Stellen schiesst plötzliche Übersicht und Reflexion ein: Die Erzählinstanz sieht mit diesen Wendungen für jeweils einen Moment von ihrem Raisonnement ab und versetzt sich in eine Aussenperspektive, die das eigene sprachliche Handeln beobachtet. Eine dritte einschlägige Stelle – ohne man – ist die Meta-Frage nach dem Sinn des Beisammenseins, die aber sofort nieder-

geschlagen wird: auch bei uns fünf hat es keinen Sinn. Die Gemeinschaftsmaschine baut ein, was ihr grade in den Kram passt, über alles andere rollt sie hinweg – ein Redeschwall eben. Und was ist mit dem Quecksilberkügelchen und seinem so leichten Gleiten? Hier kommt mir ein Buch des Schauspielers und Autors Hanns Zischler in den Sinn, der in oft langwieriger und detektivischer Arbeit die Filme identifiziert hat, die Kafka als leidenschaftlicher Kinogänger gesehen hat. Zischler sucht nach deren Spuren im Werk, weist aber auch auf das Geisterhaft-Geschwinde vieler Szenen im zeitgenössischen Stummfilm insgesamt hin: Hanns Zischler, Kafka geht ins Kino. Und als konkrete Lebenswirklichkeit kommen Quecksilberkügelchen zu Kafkas Zeit wohl aus zerbrochenen Thermometern und vereinigen sich in charakteristischer Weise wieder, wenn sie einander per Zufall nahe genug kommen, dass sie einander anziehen können – ein Vergleich aus der unbelebten Natur für den Drang zur Vereinigung. Und was soll uns das sagen? Das Prosastück ist ein Passepartout für das Reden all derer, die sich in ihrer Gemeinschaft eingerichtet haben und die Anderen draußen lassen wollen. Lampedusa kommt einem in den Sinn und – vielfach verschachtelt – der Nahe Osten; überhaupt Diskriminierung jeder Art. Kafkas Text funktioniert: Manche tagesaktuelle Situation, manches Versatzstück wird dem aufmerksamen Leser wie ein Echo darauf vorkommen. A propos Diskriminierung – im Deutschen hat das Wort ausschließlich negative Bedeutung; im Englischen dagegen ist nur discrimination against negativ; ohne die Präposition against meint discrimination – wie auch das lateinische discrimen – Unterscheidung und kritisches Urteilsvermögen, also überaus positive Dinge. Unterscheiden ist nur schlecht, wenn es gegen jemanden gerichtet wird. Wird es das nicht, ist es das Mittel zur möglichst akkuraten Modellierung von Wirklichkeit, zur angemessenen Erfassung von Komplexität. Man soll sich nicht der Unterscheidungen begeben und Unterschiede einebnen, zugunsten eines diffusen Wunsches nach Angekommensein und Aufgehobenheit in einer Gemeinschaft. Folgerichtig kann eine Aussenseiterposition dazu verhelfen, kritisch-hellsichtiges Urteilsvermögen einzuüben – Kafkas Existenz als deutschsprachiger Jude in

Prag ist Beleg dafür, in Tagebüchern und Briefen immer wieder reflektiert. Orhan Kipcak erzählt im zweiten Teil seiner Trilogie (siehe Beitrag 66) eine vergleichbare autobiographische Geschichte vom Religionsunterricht in einer doppelten Diaspora – man erlebt beim Lesen, wie bewusstseinsbildend dieses Gemeinschaftliche gewirkt hat. Max Spielmann hat in seinem Beitrag Gemeinschaft! Verschont uns (siehe Beitrag 10) bereits die wesentlichen Schlussfolgerungen aus Kafkas Text gezogen und in den Kontext der einschlägigen theoretischen Anstrengungen gestellt. Im Gespräch meinte er unlängst, dass jede Beschwörung, jedes Einfordern von Gemeinschaft schädlich für sie sei, weil sie dann zum Disziplinierungsinstrument verkomme: Sei gut, sei brav, sei Gemeinschaft! Mein vorliegender Text macht noch etwas anderes stark: die künstlerische Leistung Franz Kafkas, das Faszinosum seines Werks, an das sich unablässig Interpretationen anschliessen – gemeinschaftliche Arbeit, commoning mit anderen an der Sprache, die der Güter Gefährlichstes ist. Ralf Neubauer Literatur Kafka, Franz: Gemeinschaft. In: Die Erzählungen. Frankfurt am Main, 1996, S. 373. Kobs, Jörgen: Kafka. Untersuchungen zu Bewusstsein und Sprache seiner Gestalten. Bad Homburg, 1970. Zischler, Hanns: Kafka geht ins Kino. Reinbek, 1996.


Abspann A Achermann, Beni Aeby, Jonas Ahmetaj, Edon Ambrasas, Povilas Andereggen, Martin Andereggen, Viviane Andreoli, Georgio Auberger, Rasso Autenrieth, Ulla B Bachmann, Friedel Bani, Hicham Bänziger, Benjamin Barandun, Niculin Bardill, Severin Bahtsetzis, Sotirios Bauer, Cécile Baur, David Bellwald, Werner Bernhard, Klaus Bichsel, Peter Bielefeldt, Stephan Bitterlin, Florian Blagsvedt, Sean Blanc, Zoë Blatz, Etienne Blickenstorfer, Peter Bornhauser, Anja Bregy, Carmen Brief, Alexander Bürgi, Frédéric Burkhalter, Simon Buschle, Matthias

C Cam, Birkan Cavdar, Hakan Muharem Chanson, Selina Chatziiakovou, Lydia Chebbah, Kerim Chen, Yuyu Chikramane, Ameya Cladé, Lucas Cloux, Christine Cormano, Denis Cunningham, James D Dackweiler, Benedict Daffney, Shreya Dammeyer, Florian Decker, Brad Demleitner Polonyi, Adrian Diamond, Jamie Dopler, Teresa Dreier, Dominique Duo, Fabio E Ebener, Andrea-Laura Ebener, Pius Eberhard, Melanie Eggli, Florian Egli, Christian Egli, Georg Egli, Regula Eichkorn, Sedrik Emer, Jason Will

F Faccin, Moritz Faeh, Raphael Felber, Valentin Ferrari, Pablo Fietzek, Frank Fischer, Sabine Fitzthum, Marco Fluri, Nathalie Forbach, Mathias Franke, Daniel Frehner, Andreas Frich, Bastian Frich, Yannick Friese, Heidrun Frohwein, Lothar G Gassenbauer, Iris Gasser, Claudio Gaudey, Daniel Gavriilidou, Eleftheria Geiser, Julia Geisser, Josh Gerber, Dimitri Gerber, Eliane Giraudel, Florian Gmünder, Lucie Goechnahts, Samuel Goepfert, Nicola Gossenreiter, Anna Gossner-Ham, Gregory C. Greco, Tibor Grenl, Roland Gresenz, Julian

Grether, Billie Grieder, Jonas Grieder, Nathan Grob, Dominik Grob, Elvira Guesmia, Yanis Güldenberg, Lola H Halter, Regine Hedge, Akshatha N. Heider, Ekaterina Heimrich , Michael Heinrich, Uwe Heinz, Leon Heinzen, Marco Helfrich, Silke Herzig, Nico Horst, Gianni Huber, Stefan Hundahl, Dorte Huser, David I Iezzi, Marco Iten, Andrea Ivancic, Dominik J Jäger, Ronny K Kalatha, Antonia Kantowsky, Anja Kapeti, Victoria

Karabelas, John Kartsiou, Alkisti Käufeler, Patricia Kaufmann, Donat Keng, Mannik Kessler, Sandra Kessler, Walter Kioutsoukis, Elie Kipcak, Orhan Kliem, Johanna Klötzli, H.P. Klüppel, Wolfgang Kniel-Fux, Bern Kniel-Fux, Lucie Kniel, Benjamin Knopp, Jan Koch, Thomas Koechlin, Julian Koechlin, Michael Kohler, Sebastian Kolaxizis, Ioannis Kolb, Carolin Kox, Sebastian Kraner, Jakob Krieger, Simon Kröll, Norbert Kropfitsch, Mathias Krüger, Gunnar Krumhaar, Brigitte Krummenacher, Livia Kubitz, Peter Paul Kummler, Dominic Künzli, Tilla L Lauper, Raphael Leuenberger, Friederike Leuenberger, Lea Linsin, Lisa M Mack, Andreas Maniscalco, Davide Manousiakis, Dimitris Martin, Harry Masar, Ivana Matare, Tendai Matthäus, Livia McGovern, Kris

Mehrtens, Johanna Meïer Moncler, Jonathan Meier, Manuela Meier, Moritz Meisel, Gabriel Mettler, Jonas Meuter, Dominik Michel, Janine Miglioretto, Manuel Miglioretto, Nicolas Mischler, Dominique Moerikofer, Christoph Mordechai, Annita Mores, Elena Müller, Fabian Müller, Johanna Müller, Luca Murray, Freeman Musale, Kamal

Renz, Kevin Rieken, Julian Roskamm, Johannes Rossel, Oliver Roy, Niklas Roy, Noëlle Ruoff, Andreas

S Sames, Joel Santi, France Savvidis, Christos Schäfer, Felicia Schaffner, Martin Schaffner, Nicholaus Schärer, Rebekka Schaub, Mischa Scheidegger, Sandino Schmet, Markus Schmid, Benjamin Schmid, Pablo N Schneider, Bastian Neubauer, Ralf Schoeps, Daniel Schonlau, Inga O Schvitz, Gidon Oberle, Jaime Schwarz , Sandra Ofosu, Yeboaa Seiler, Andre Ohl, Gabriele Semmig, Anka Oster, Robin Shady, Ink Shama, Rasagy P Silber, Alex Papadimitriou, Katerina Papadopoulou, Konstantina Sommer, Anna Papakostas, George Sommer, Martin Parkar, Hafsah Spalinger, Andreas Pavloski, Roland Spielmann, Noëmi Peduto, Yannick Spielmann, Max Pestalozzi, David Spinnler, Kilian Petignat, Fabian Stahel, Claude Petri, Elisa Stehli, Beni Pfammatter, Diana Stehli, Luc Pilloud, Marc Stocker, Dominik Pointner, Stefan Stricker, Ramon Prasad, Archana Stylidis, Stathis R Raich, Lorenz Rao, Gopinatha Ravanidou, Nora Reichmuth, Yvonne

T Taglinger, Harald Tammaro, Mauro Tanner, Amina Jael Thomé, Pierre

Thurneysen, Pan Treutein, Nils Truschner, Maria Tzortzatou, Maria U Urbonaite, Rasa V Varisco, Luca Vieli, Daniela Angela Vogler, Andreas von Blarer, Dieter von Gunten, Romana W Waldmeier, Yvo Walthard, Catherine Wandeler, Jonas Wanka, Miel Weber, Linus Weber, Matthias Weilenmann, Marc Weissheimer, Gaspard Wetter, Ignaz Wieser, Johanna Wiesinger, Tobias Winkelmann, Saskia Winterberg, Michel Wirz, Alain Wolf, Gabriel Wurm, Laura Würth, Matthias Wüst, Manuel Wüst, Nicole Z Zaehner, Fabian Zehetmayer, Sophie Zehnder, Till Ziliotis, Dominik Zussy Ubezio, Sarah

90


Abspann A Achermann, Beni Aeby, Jonas Ahmetaj, Edon Ambrasas, Povilas Andereggen, Martin Andereggen, Viviane Andreoli, Georgio Auberger, Rasso Autenrieth, Ulla B Bachmann, Friedel Bani, Hicham Bänziger, Benjamin Barandun, Niculin Bardill, Severin Bahtsetzis, Sotirios Bauer, Cécile Baur, David Bellwald, Werner Bernhard, Klaus Bichsel, Peter Bielefeldt, Stephan Bitterlin, Florian Blagsvedt, Sean Blanc, Zoë Blatz, Etienne Blickenstorfer, Peter Bornhauser, Anja Bregy, Carmen Brief, Alexander Bürgi, Frédéric Burkhalter, Simon Buschle, Matthias

C Cam, Birkan Cavdar, Hakan Muharem Chanson, Selina Chatziiakovou, Lydia Chebbah, Kerim Chen, Yuyu Chikramane, Ameya Cladé, Lucas Cloux, Christine Cormano, Denis Cunningham, James D Dackweiler, Benedict Daffney, Shreya Dammeyer, Florian Decker, Brad Demleitner Polonyi, Adrian Diamond, Jamie Dopler, Teresa Dreier, Dominique Duo, Fabio E Ebener, Andrea-Laura Ebener, Pius Eberhard, Melanie Eggli, Florian Egli, Christian Egli, Georg Egli, Regula Eichkorn, Sedrik Emer, Jason Will

F Faccin, Moritz Faeh, Raphael Felber, Valentin Ferrari, Pablo Fietzek, Frank Fischer, Sabine Fitzthum, Marco Fluri, Nathalie Forbach, Mathias Franke, Daniel Frehner, Andreas Frich, Bastian Frich, Yannick Friese, Heidrun Frohwein, Lothar G Gassenbauer, Iris Gasser, Claudio Gaudey, Daniel Gavriilidou, Eleftheria Geiser, Julia Geisser, Josh Gerber, Dimitri Gerber, Eliane Giraudel, Florian Gmünder, Lucie Goechnahts, Samuel Goepfert, Nicola Gossenreiter, Anna Gossner-Ham, Gregory C. Greco, Tibor Grenl, Roland Gresenz, Julian

Grether, Billie Grieder, Jonas Grieder, Nathan Grob, Dominik Grob, Elvira Guesmia, Yanis Güldenberg, Lola H Halter, Regine Hedge, Akshatha N. Heider, Ekaterina Heimrich , Michael Heinrich, Uwe Heinz, Leon Heinzen, Marco Helfrich, Silke Herzig, Nico Horst, Gianni Huber, Stefan Hundahl, Dorte Huser, David I Iezzi, Marco Iten, Andrea Ivancic, Dominik J Jäger, Ronny K Kalatha, Antonia Kantowsky, Anja Kapeti, Victoria

Karabelas, John Kartsiou, Alkisti Käufeler, Patricia Kaufmann, Donat Keng, Mannik Kessler, Sandra Kessler, Walter Kioutsoukis, Elie Kipcak, Orhan Kliem, Johanna Klötzli, H.P. Klüppel, Wolfgang Kniel-Fux, Bern Kniel-Fux, Lucie Kniel, Benjamin Knopp, Jan Koch, Thomas Koechlin, Julian Koechlin, Michael Kohler, Sebastian Kolaxizis, Ioannis Kolb, Carolin Kox, Sebastian Kraner, Jakob Krieger, Simon Kröll, Norbert Kropfitsch, Mathias Krüger, Gunnar Krumhaar, Brigitte Krummenacher, Livia Kubitz, Peter Paul Kummler, Dominic Künzli, Tilla L Lauper, Raphael Leuenberger, Friederike Leuenberger, Lea Linsin, Lisa M Mack, Andreas Maniscalco, Davide Manousiakis, Dimitris Martin, Harry Masar, Ivana Matare, Tendai Matthäus, Livia McGovern, Kris

Mehrtens, Johanna Meïer Moncler, Jonathan Meier, Manuela Meier, Moritz Meisel, Gabriel Mettler, Jonas Meuter, Dominik Michel, Janine Miglioretto, Manuel Miglioretto, Nicolas Mischler, Dominique Moerikofer, Christoph Mordechai, Annita Mores, Elena Müller, Fabian Müller, Johanna Müller, Luca Murray, Freeman Musale, Kamal

Renz, Kevin Rieken, Julian Roskamm, Johannes Rossel, Oliver Roy, Niklas Roy, Noëlle Ruoff, Andreas

S Sames, Joel Santi, France Savvidis, Christos Schäfer, Felicia Schaffner, Martin Schaffner, Nicholaus Schärer, Rebekka Schaub, Mischa Scheidegger, Sandino Schmet, Markus Schmid, Benjamin Schmid, Pablo N Schneider, Bastian Neubauer, Ralf Schoeps, Daniel Schonlau, Inga O Schvitz, Gidon Oberle, Jaime Schwarz , Sandra Ofosu, Yeboaa Seiler, Andre Ohl, Gabriele Semmig, Anka Oster, Robin Shady, Ink Shama, Rasagy P Silber, Alex Papadimitriou, Katerina Papadopoulou, Konstantina Sommer, Anna Papakostas, George Sommer, Martin Parkar, Hafsah Spalinger, Andreas Pavloski, Roland Spielmann, Noëmi Peduto, Yannick Spielmann, Max Pestalozzi, David Spinnler, Kilian Petignat, Fabian Stahel, Claude Petri, Elisa Stehli, Beni Pfammatter, Diana Stehli, Luc Pilloud, Marc Stocker, Dominik Pointner, Stefan Stricker, Ramon Prasad, Archana Stylidis, Stathis R Raich, Lorenz Rao, Gopinatha Ravanidou, Nora Reichmuth, Yvonne

T Taglinger, Harald Tammaro, Mauro Tanner, Amina Jael Thomé, Pierre

Thurneysen, Pan Treutein, Nils Truschner, Maria Tzortzatou, Maria U Urbonaite, Rasa V Varisco, Luca Vieli, Daniela Angela Vogler, Andreas von Blarer, Dieter von Gunten, Romana W Waldmeier, Yvo Walthard, Catherine Wandeler, Jonas Wanka, Miel Weber, Linus Weber, Matthias Weilenmann, Marc Weissheimer, Gaspard Wetter, Ignaz Wieser, Johanna Wiesinger, Tobias Winkelmann, Saskia Winterberg, Michel Wirz, Alain Wolf, Gabriel Wurm, Laura Würth, Matthias Wüst, Manuel Wüst, Nicole Z Zaehner, Fabian Zehetmayer, Sophie Zehnder, Till Ziliotis, Dominik Zussy Ubezio, Sarah

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Beitragsverzeichnis

01 02 03 04 Franz Kafka Gemeinschaft

Jan Knopp Create, produce, use

Max Spielmann, Andrea Iten Jetzt Gemeinschaft! – Ein Jahresthema entsteht

91

Donat Kaufmann Die fetten Jahre sind vorbei!

05 06 07 08 Donat Kaufmann Carte Blanche

Julian Rieken Das Manifest

David Baur Ein Zelt geteilter Träume

David Baur Carte Blanche

09 10 11 12 Andrea Ebener, Diana Pfammatter Fremd in der Stadt

Max Spielmann Gemeinschaft! Verschont uns

Ralf Neubauer Notizen

Etienne Blatz


Beitragsverzeichnis

01 02 03 04 Franz Kafka Gemeinschaft

Jan Knopp Create, produce, use

Max Spielmann, Andrea Iten Jetzt Gemeinschaft! – Ein Jahresthema entsteht

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Donat Kaufmann Die fetten Jahre sind vorbei!

05 06 07 08 Donat Kaufmann Carte Blanche

Julian Rieken Das Manifest

David Baur Ein Zelt geteilter Träume

David Baur Carte Blanche

09 10 11 12 Andrea Ebener, Diana Pfammatter Fremd in der Stadt

Max Spielmann Gemeinschaft! Verschont uns

Ralf Neubauer Notizen

Etienne Blatz


13 14 15 16 Eliane Gerber Über die Eigenfrequenz von Luftschlössern

Eliane Gerber Carte Blanche

Anka Semmig, Inga Schonlau, Wolfgang Klüppel Der Finkenschlag

Julian Rieken, Anka Semmig Jetzt Gemeinschaft! Zu Gast im Finkenschlag

17 18 19 20 Julian Gresenz Die multimediale Bühne

Julian Gresenz Carte Blanche

21 22 23 24

25 26 27 28

Yannick Frich Eine vertikale Teefarm

Mannik Keng Wenn Heimat Heimat bliebe

Yannick Frich Carte Blanche

Mannik Keng Carte Blanche

Julian Rieken Platz nehmen! Verortung eines Unorts

Astrid Frefel Ägyptens Generation Facebook nimmt einen zweiten Anlauf

Regine Halter, Ralf Neubauer, Benedikt Achermann Vom Logos zu den Logos

Julian Rieken, Sarah Zussy Occupy Barfi!

Alexander Brief, Johannes Roskamm Die Welt ist Klang

Yuyu Chen

29 30 31 32 Jan Knopp Das sind keine Freunde

Diana Pfammatter GET SHOT! Momentaufnahme einer Generation

Diana Pfammatter Carte Blanche

Catherine Walthard La Paranthèse

33 34 35 36 Anja Bornhauser

Andrea Ebener †2013 *2213 — Medienzerfall im digitalen Zeitalter

Andrea Ebener Carte Blanche

Andrea Iten Menschsein ist streng


13 14 15 16 Eliane Gerber Über die Eigenfrequenz von Luftschlössern

Eliane Gerber Carte Blanche

Anka Semmig, Inga Schonlau, Wolfgang Klüppel Der Finkenschlag

Julian Rieken, Anka Semmig Jetzt Gemeinschaft! Zu Gast im Finkenschlag

17 18 19 20 Julian Gresenz Die multimediale Bühne

Julian Gresenz Carte Blanche

21 22 23 24

25 26 27 28

Yannick Frich Eine vertikale Teefarm

Mannik Keng Wenn Heimat Heimat bliebe

Yannick Frich Carte Blanche

Mannik Keng Carte Blanche

Julian Rieken Platz nehmen! Verortung eines Unorts

Astrid Frefel Ägyptens Generation Facebook nimmt einen zweiten Anlauf

Regine Halter, Ralf Neubauer, Benedikt Achermann Vom Logos zu den Logos

Julian Rieken, Sarah Zussy Occupy Barfi!

Alexander Brief, Johannes Roskamm Die Welt ist Klang

Yuyu Chen

29 30 31 32 Jan Knopp Das sind keine Freunde

Diana Pfammatter GET SHOT! Momentaufnahme einer Generation

Diana Pfammatter Carte Blanche

Catherine Walthard La Paranthèse

33 34 35 36 Anja Bornhauser

Andrea Ebener †2013 *2213 — Medienzerfall im digitalen Zeitalter

Andrea Ebener Carte Blanche

Andrea Iten Menschsein ist streng


37 38 39 40 Die Lalas Vreni fragt nach: Das Phänomen Lala

Die Zungenabschneider Weit weg. Ganz nah: Die Zungenabschneider

Moritz Meier Gemeinsam Messer machen

Moritz Meier Carte Blanche

41 42 43 44 Mischa Schaub Der blinde Fleck

45 46 47 48 Yvo Waldmeier BAsel bekommt ein FAbrikLAbor

Andreas Ruoff Ein Archiv für Mulhouse

Martin Schaffner Der Han der Goldschmiede in Istanbul

Andreas Ruoff Carte Blanche

Pan Thurneysen BIY– bamboo it yourself

Jean Rottner «Ich wünsche mir ein lachendes Mulhouse.»

Pan Thurneysen Carte Blanche

49 50 51 52

53 54 55 56

Richard Sennett Zusammenarbeit

Ramon Stricker, Luca Müller Flieg, Drohne, flieg!

Andrea Iten «Die Welt ist nicht aus Zucker gemacht!»

Ramon Stricker Fink & Star. Ein Luftfahrtunternehmen

Lisa Linsin Flugangst?

Lisa Linsin Carte Blanche

Luca Müller Arbeiten im Luftraum – Eine Überschau

Ramon Stricker, Luca Müller Carte Blanche

57 58 59 60 Manuel Wüst

Valentin Felber Stimmstoff – Ein Abstimmungstutorial

Valentin Felber Carte Blanche

Max Spielmann Warum? Jetzt Gemeinschaft!


37 38 39 40 Die Lalas Vreni fragt nach: Das Phänomen Lala

Die Zungenabschneider Weit weg. Ganz nah: Die Zungenabschneider

Moritz Meier Gemeinsam Messer machen

Moritz Meier Carte Blanche

41 42 43 44 Mischa Schaub Der blinde Fleck

45 46 47 48 Yvo Waldmeier BAsel bekommt ein FAbrikLAbor

Andreas Ruoff Ein Archiv für Mulhouse

Martin Schaffner Der Han der Goldschmiede in Istanbul

Andreas Ruoff Carte Blanche

Pan Thurneysen BIY– bamboo it yourself

Jean Rottner «Ich wünsche mir ein lachendes Mulhouse.»

Pan Thurneysen Carte Blanche

49 50 51 52

53 54 55 56

Richard Sennett Zusammenarbeit

Ramon Stricker, Luca Müller Flieg, Drohne, flieg!

Andrea Iten «Die Welt ist nicht aus Zucker gemacht!»

Ramon Stricker Fink & Star. Ein Luftfahrtunternehmen

Lisa Linsin Flugangst?

Lisa Linsin Carte Blanche

Luca Müller Arbeiten im Luftraum – Eine Überschau

Ramon Stricker, Luca Müller Carte Blanche

57 58 59 60 Manuel Wüst

Valentin Felber Stimmstoff – Ein Abstimmungstutorial

Valentin Felber Carte Blanche

Max Spielmann Warum? Jetzt Gemeinschaft!


61 62 63 64 Hakan Cavdar Romeo und Julia in Kleinbasel

Hakan Cavdar Carte Blanche

65 66 67 68 Daniel Gaudey Carte Blanche

Orhan Kipcak (nicht) dabei

Jetzt Gemeinschaft! Wir waren da

Benjamin Kniel Klinch. Zwischen Brand und Label

Daniel Gaudey φῶς [pho:s] Licht

Benjamin Kniel Carte Blanche

69 70 71 72

73 74 75 76

Benjamin Kniel Fischer am Bosporus

Anonym Hey my friends from Istanbul

Julian Rieken Schuld und Schulden

Anka Semmig Die Dinge des Lebens

René Pollesch Warum machst du denn immer noch was dazu?

Happy Jack Gemeinschaftsfördernde Gemeinschaftsspiele

Donat Kaufmann Tomanten pflanzen im Auge des Sturms

Georg Egli, Peter Blickenstorfer Die Gärten an der Stadtmauer

77 78 79 80 Anja Bornhauser

Silke Helfrich Von Gemeinschaften zum Gemeinschaffen

Georg Egli Gravieren mit der Sonne

Elvira Grob, Raphael Faeh Critical Design

81 82 83 84 Anonym Occupy

David Baur Micropolis

Raphael Lauper

Peter Blickenstorfer Halbi Sau. Wüsse isst alles


61 62 63 64 Hakan Cavdar Romeo und Julia in Kleinbasel

Hakan Cavdar Carte Blanche

65 66 67 68 Daniel Gaudey Carte Blanche

Orhan Kipcak (nicht) dabei

Jetzt Gemeinschaft! Wir waren da

Benjamin Kniel Klinch. Zwischen Brand und Label

Daniel Gaudey φῶς [pho:s] Licht

Benjamin Kniel Carte Blanche

69 70 71 72

73 74 75 76

Benjamin Kniel Fischer am Bosporus

Anonym Hey my friends from Istanbul

Julian Rieken Schuld und Schulden

Anka Semmig Die Dinge des Lebens

René Pollesch Warum machst du denn immer noch was dazu?

Happy Jack Gemeinschaftsfördernde Gemeinschaftsspiele

Donat Kaufmann Tomanten pflanzen im Auge des Sturms

Georg Egli, Peter Blickenstorfer Die Gärten an der Stadtmauer

77 78 79 80 Anja Bornhauser

Silke Helfrich Von Gemeinschaften zum Gemeinschaffen

Georg Egli Gravieren mit der Sonne

Elvira Grob, Raphael Faeh Critical Design

81 82 83 84 Anonym Occupy

David Baur Micropolis

Raphael Lauper

Peter Blickenstorfer Halbi Sau. Wüsse isst alles


85 86 87 88 Peter Blickenstorfer Carte Blanche

Max Spielmann Ressourcen gemeinsam nutzen

N창zim Hikmet Einladung

Jan Knopp Realize!

89 90 91 92 Ralf Neubauer Die Axt f체r das gefrorene Meer in uns

Abspann

Beitragsverzeichnis

Impressum


Impressum Herausgeber und Konzept: Max Spielmann Andrea Iten Anka Semmig Julian Rieken

Redaktion: Max Spielmann Andrea Iten Anka Semmig Ralf Neubauer Julian Rieken

Lektorat: Ralf Neubauer

Gestaltung: Markus Schmet Lea Leuenberger Benedict Dackweiler Anja Bornhauser Pascal Heimann Julian Rieken Mit der Unterstützung von Atlas Studio

Schrift: Venus URW Times Papier: Recyconomic Color Offset-Recycling Premium Recycling Balance Pure Recycling Lettura 72 Acta Duplex Auflage: 1000 Exemplare

Druck: freiburger graphische betriebe GmbH & Co. KG Bebelstrasse 11 D-79108 Freiburg Urheberrechte: Die meisten Beiträge dieser Publikation erscheinen unter der Creative-Commons-Lizenz »CC BY-NC-SA 3.0« (http:// creativecommons.org/licenses/ by-nc-sa/3.0/de/)

Fotos: Amina Jael Tanner Andrea Ebener Andrea Iten Andreas Ruoff Benjamin Kniel Catherine Walthard Daniel Gaudey Daniela Vieli David Baur Diana Pfammatter Georg Egli Gündem Elçi Hakan Cavdar Julian Gresenz Thomas Raggam Julian Rieken Lisa Linsin Mannik Keng Martin Schaffner Matthias Würth Max Spielmann Mischa Schaub Peter Blickenstorfer Sarah Zussy

Sie dürfen · das Werk bzw. den Inhalt vervielfältigen, verbreiten und öffentlich zugänglich machen · Abwandlungen und Bearbeitungen des Werkes bzw. Inhaltes anfertigen Sie müssen · den Namen des Autors/ Rechteinhabers in der von ihm festgelegten Weise nennen. · Dieses Werk bzw. dieser Inhalt darf nicht für kommerzielle Zwecke verwendet werden. · Wenn Sie das lizenzierte Werk bzw. den lizenzierten Inhalt bearbeiten oder in anderer

Illustrationen: Anja Bornhauser Etienne Blatz Julia Geiser Lucie Gmünder Manuel Wüst Markus Schmet Raphael Lauper Yuyu Chen

Weise erkennbar als Grundlage für eigenes Schaffen verwenden, dürfen Sie die daraufhin neu entstandenen Werke bzw. Inhalte nur unter Verwendung von Lizenzbedingungen weitergeben, die mit denen dieses Lizenzvertrages identisch oder vergleichbar sind. Jede der vorgenannten Bedingungen kann aufgehoben werden, sofern Sie die ausdrückliche Einwilligung des Rechteinhabers dazu erhalten. Weitere Informationen: max.spielmann@fhnw.ch

Davon ausgenommen sind folgende Beiträge: 23 Die Rechte am Text liegen bei Astrid Frefel. 24 Die Rechte der verwendeten Filmstills liegen bei den Filmemachern Alexander Brief, Johannes Roskamm. Aus: Tracks of Cairo (2012) www.movimientos.net/cairo 27 Bild 1 Justice: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Justicecross1.jpg Nicole Blommers (Fotograf), CC BY 2.0

http://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Bed-In_for_Peace,_ Amsterdam_1969_-_John_ Lennon_%26_Yoko_Ono_17. jpg 37, 38, 72 Die Rechte an den Texten liegen bei den Autoren. 49 Zitat R. Sennett Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, Vilshofener Str. 10, 81679 München. Sennett, Richard: Zusammenarbeit. München: Carl Hanser Verlag, 2012, S. 275-277.

Bild 2 Jay-Z: https://commons. wikimedia.org/wiki/File:Jay-Z02-mika.jpg CC BY-NC-SA 3.0

50 Bild Fastenbrechen Ramadan: Gündem Elçi / www.demotix. com

Bild 3: Crass Logo: https:// commons.wikimedia.org/wiki/ File:Crasslogo.png Dave King (Fotograf), Free Art Licence

56 Die Bildrechte liegen bei den Künstlern Daniel vom Keller, Li Tavor, Maria Trenkel, Niklaus Mettler

Bild 4 Juggalos: https://secure. flickr.com/photos/26728047@ N05/5675035364/in/ photolist-9Du3ij-2G8tHF44mgwT-bC2nWn-73JKLtBuAJD-BuzRL-Buz2v-BuAQnBuzJH-Buz7f-Buzd3-8PCN1Gr1ChU-9cdDZc-3XobFp-mTngi-9V6ok9-2svyAn-9Sft2x7XPCtC-4us6T7-7LmCgMaf6Gjr-dk7Dru-8QRjYH CC BY 2.0

66 Bild Grazer Dom: https:// commons.wikimedia.org/wiki/ File:Graz_Dom_20061216. jpg / die Autoren sind Marion Schneider & Christoph Aistleitner

Bild 5 Slipknot 1: https:// commons.wikimedia.org/wiki/ File:Slipknot_Live_In_London_ at_Live_Download_2009.jpg Stuart Sevastos (Fotograf), CC BY 2.0

70 Titelbild: Bonds: Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten Konferenz. Kartografie. Theater. 6.-8.12.2012 Bureau d‘Etudes „Cancelling Debts“ (Detail) © Bureau d‘Etudes www.bondsconference.de/ home/

Bild 6 Kurt Cobain: CC BY-NCSA 3.0 36 Yoko Ono und John Lennon, Bed-in for peace, 1969, Amsterdam CC by Nationaal Archief, Den Haag

Bild Eisbrecher: http://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Icebreaker_Sisu_1939.jpg CC BY-NC-SA 3.0

Bild 2: Michelangelo Buonarroti Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies Deckenfresko, Sixtinische Kapelle, Rom. Quelle: www.heiligenlexikon.de/

Fotos/Eva2.jpg Public Domain 71 Zitat René Pollesch Die Rechte liegen bei Galerie Buchholz. Wir danken der Galerie Buchholz für die Freigabe des Zitates aus ihrer Publikation: Pollesch, René: Der Schnittchenkauf 2011-2012. Köln, 2012 Zu beziehen bei: Galerie Daniel Buchholz & Christopher Müller, Neven-DuMont-Str. 17, 50667 Köln, http://www.galeriebuchholz.de 87 Das Zitat stammt aus dem Gedicht Davet (Einladung) von Nâzim Hikmet Eine deutsche Übersetzung findet sich in Hikmet, Nâzim: Die Luft ist schwer wie Blei. Hava Kursun Gibi Agir. Gedichte. Übersetzt und herausgegeben von Dagyeli-Bohne und Yildirim Dagyeli. Berlin, 2000. Die verwendete Übersetzung stammt von Karl Dietz (http:// karldietz.blogspot.ch/2012/06/ nazim-hikmet-davet-die-einladung.html)

Administration: Elena Mores Elena.mores@fhnw.ch Telefon: +41 61 269 92 30 Fax: +49 61 269 92 26 Weitere Informationen zum Jahresthema: http://gemeinschaft.hyperwerk.ch Weiterführende Links: http://publikation13.hyperwerk.ch Die Publikation gibt es auch als PDF-Download im Internet: www.issuu.com/hyperwerk Eine Publikation von HyperWerk Institute for Postindustrial Design Hochschule für Gestaltung und Kunst / Fachhochschule Nordwestschweiz

ISBN-13 978-3-905693-26-3

Kalligraphie: hatyazi www.hatyazi.com Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen teilweise verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht. Kontakt: FHNW HGK Institut HyperWerk Totentanz 17/18 4051 Basel Schweiz www.fhnw.ch/hgk/ihw www.hyperwerk.ch www.facebook.com/ cometohyperwerk Institutsleitung: Mischa Schaub mischa.schaub@fhnw.ch

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Impressum Herausgeber und Konzept: Max Spielmann Andrea Iten Anka Semmig Julian Rieken

Redaktion: Max Spielmann Andrea Iten Anka Semmig Ralf Neubauer Julian Rieken

Lektorat: Ralf Neubauer

Gestaltung: Markus Schmet Lea Leuenberger Benedict Dackweiler Anja Bornhauser Pascal Heimann Julian Rieken Mit der Unterstützung von Atlas Studio

Schrift: Venus URW Times Papier: Recyconomic Color Offset-Recycling Premium Recycling Balance Pure Recycling Lettura 72 Acta Duplex Auflage: 1000 Exemplare

Druck: freiburger graphische betriebe GmbH & Co. KG Bebelstrasse 11 D-79108 Freiburg Urheberrechte: Die meisten Beiträge dieser Publikation erscheinen unter der Creative-Commons-Lizenz »CC BY-NC-SA 3.0« (http:// creativecommons.org/licenses/ by-nc-sa/3.0/de/)

Fotos: Amina Jael Tanner Andrea Ebener Andrea Iten Andreas Ruoff Benjamin Kniel Catherine Walthard Daniel Gaudey Daniela Vieli David Baur Diana Pfammatter Georg Egli Gündem Elçi Hakan Cavdar Julian Gresenz Thomas Raggam Julian Rieken Lisa Linsin Mannik Keng Martin Schaffner Matthias Würth Max Spielmann Mischa Schaub Peter Blickenstorfer Sarah Zussy

Sie dürfen · das Werk bzw. den Inhalt vervielfältigen, verbreiten und öffentlich zugänglich machen · Abwandlungen und Bearbeitungen des Werkes bzw. Inhaltes anfertigen Sie müssen · den Namen des Autors/ Rechteinhabers in der von ihm festgelegten Weise nennen. · Dieses Werk bzw. dieser Inhalt darf nicht für kommerzielle Zwecke verwendet werden. · Wenn Sie das lizenzierte Werk bzw. den lizenzierten Inhalt bearbeiten oder in anderer

Illustrationen: Anja Bornhauser Etienne Blatz Julia Geiser Lucie Gmünder Manuel Wüst Markus Schmet Raphael Lauper Yuyu Chen

Weise erkennbar als Grundlage für eigenes Schaffen verwenden, dürfen Sie die daraufhin neu entstandenen Werke bzw. Inhalte nur unter Verwendung von Lizenzbedingungen weitergeben, die mit denen dieses Lizenzvertrages identisch oder vergleichbar sind. Jede der vorgenannten Bedingungen kann aufgehoben werden, sofern Sie die ausdrückliche Einwilligung des Rechteinhabers dazu erhalten. Weitere Informationen: max.spielmann@fhnw.ch

Davon ausgenommen sind folgende Beiträge: 23 Die Rechte am Text liegen bei Astrid Frefel. 24 Die Rechte der verwendeten Filmstills liegen bei den Filmemachern Alexander Brief, Johannes Roskamm. Aus: Tracks of Cairo (2012) www.movimientos.net/cairo 27 Bild 1 Justice: https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Justicecross1.jpg Nicole Blommers (Fotograf), CC BY 2.0

http://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Bed-In_for_Peace,_ Amsterdam_1969_-_John_ Lennon_%26_Yoko_Ono_17. jpg 37, 38, 72 Die Rechte an den Texten liegen bei den Autoren. 49 Zitat R. Sennett Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, Vilshofener Str. 10, 81679 München. Sennett, Richard: Zusammenarbeit. München: Carl Hanser Verlag, 2012, S. 275-277.

Bild 2 Jay-Z: https://commons. wikimedia.org/wiki/File:Jay-Z02-mika.jpg CC BY-NC-SA 3.0

50 Bild Fastenbrechen Ramadan: Gündem Elçi / www.demotix. com

Bild 3: Crass Logo: https:// commons.wikimedia.org/wiki/ File:Crasslogo.png Dave King (Fotograf), Free Art Licence

56 Die Bildrechte liegen bei den Künstlern Daniel vom Keller, Li Tavor, Maria Trenkel, Niklaus Mettler

Bild 4 Juggalos: https://secure. flickr.com/photos/26728047@ N05/5675035364/in/ photolist-9Du3ij-2G8tHF44mgwT-bC2nWn-73JKLtBuAJD-BuzRL-Buz2v-BuAQnBuzJH-Buz7f-Buzd3-8PCN1Gr1ChU-9cdDZc-3XobFp-mTngi-9V6ok9-2svyAn-9Sft2x7XPCtC-4us6T7-7LmCgMaf6Gjr-dk7Dru-8QRjYH CC BY 2.0

66 Bild Grazer Dom: https:// commons.wikimedia.org/wiki/ File:Graz_Dom_20061216. jpg / die Autoren sind Marion Schneider & Christoph Aistleitner

Bild 5 Slipknot 1: https:// commons.wikimedia.org/wiki/ File:Slipknot_Live_In_London_ at_Live_Download_2009.jpg Stuart Sevastos (Fotograf), CC BY 2.0

70 Titelbild: Bonds: Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten Konferenz. Kartografie. Theater. 6.-8.12.2012 Bureau d‘Etudes „Cancelling Debts“ (Detail) © Bureau d‘Etudes www.bondsconference.de/ home/

Bild 6 Kurt Cobain: CC BY-NCSA 3.0 36 Yoko Ono und John Lennon, Bed-in for peace, 1969, Amsterdam CC by Nationaal Archief, Den Haag

Bild Eisbrecher: http://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Icebreaker_Sisu_1939.jpg CC BY-NC-SA 3.0

Bild 2: Michelangelo Buonarroti Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies Deckenfresko, Sixtinische Kapelle, Rom. Quelle: www.heiligenlexikon.de/

Fotos/Eva2.jpg Public Domain 71 Zitat René Pollesch Die Rechte liegen bei Galerie Buchholz. Wir danken der Galerie Buchholz für die Freigabe des Zitates aus ihrer Publikation: Pollesch, René: Der Schnittchenkauf 2011-2012. Köln, 2012 Zu beziehen bei: Galerie Daniel Buchholz & Christopher Müller, Neven-DuMont-Str. 17, 50667 Köln, http://www.galeriebuchholz.de 87 Das Zitat stammt aus dem Gedicht Davet (Einladung) von Nâzim Hikmet Eine deutsche Übersetzung findet sich in Hikmet, Nâzim: Die Luft ist schwer wie Blei. Hava Kursun Gibi Agir. Gedichte. Übersetzt und herausgegeben von Dagyeli-Bohne und Yildirim Dagyeli. Berlin, 2000. Die verwendete Übersetzung stammt von Karl Dietz (http:// karldietz.blogspot.ch/2012/06/ nazim-hikmet-davet-die-einladung.html)

Administration: Elena Mores Elena.mores@fhnw.ch Telefon: +41 61 269 92 30 Fax: +49 61 269 92 26 Weitere Informationen zum Jahresthema: http://gemeinschaft.hyperwerk.ch Weiterführende Links: http://publikation13.hyperwerk.ch Die Publikation gibt es auch als PDF-Download im Internet: www.issuu.com/hyperwerk Eine Publikation von HyperWerk Institute for Postindustrial Design Hochschule für Gestaltung und Kunst / Fachhochschule Nordwestschweiz

ISBN-13 978-3-905693-26-3

Kalligraphie: hatyazi www.hatyazi.com Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen teilweise verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht. Kontakt: FHNW HGK Institut HyperWerk Totentanz 17/18 4051 Basel Schweiz www.fhnw.ch/hgk/ihw www.hyperwerk.ch www.facebook.com/ cometohyperwerk Institutsleitung: Mischa Schaub mischa.schaub@fhnw.ch

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