kommit to conflict

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Notiz an das Gestaltungsteam Zur Feier im Rahmen von 20 Jahren HyperWerk haben wir als Redaktionsteam Einwegkameras an Menschen unterschiedlichen Alters und mit verschiedensten Verhältnissen zum HyperWerk verteilt. So können wir das Geschehen aus ihrer Perspektive miterleben oder zumindest nachempfinden. Viele Bilder sind unscharf oder unterbelichtet. Einige der abgebildeten Menschen kann ich nicht zuordnen. Ich habe mir Mühe gegeben, nicht zu stark zu selektieren und euch die etwas mehr als 100 eher brauchbaren Bilder (es ist etwas erkennbar) zur Verfügung zu stellen. Bis und mit Scan 100 sind die Bilder etwas abgeschnitten, ich habe mich aber dagegen entschieden, noch mal von vorne zu beginnen. Wenn ihr euch für einige Bilder entschieden habt, kann ich diese auch noch einmal hochauflösender und ganz scannen. Ich kann auch alle Bilder den Menschen zuordnen, denen wir die Kamera gegeben haben, mache das aber auch erst, nachdem ihr eure Auswahl getroffen habt und euch dafür entscheidet, dass es relevant ist.

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Beim Nachdenken über das Jahresthema kommit to conflict fällt mir die Redewendung «am selben Strick ziehen» ein. Wollen wir eigentlich am selben Strick ziehen? Vielleicht von verschiedenen Seiten? Vielleicht wenn es mehrere Seile wären, in der Mitte verknotet. Mit Gabelungen und Querverbindungen. Es entstünde ein Netz, auf welches wir mit unserer Zugkraft Spannung gäben. Ein Netz fängt auf, federt ab und hat die Möglichkeit sich zu bewegen, sich zu dehnen und auch zu wachsen. Wir zögen und blieben in Kontakt. Je fester die Knoten, desto stärker könnten wir ziehen. Je stärker wir zögen, desto fester die Knoten. Angenommen, wir zögen alle von derselben Seite an einem Strick, dann stellte sich mir die Frage, wie viel Strick kommt da noch? In Konflikten ziehen jedoch nie alle von derselben Seite. Wäre ein Konflikt nicht viel eher ein Seilziehen? Beim Seilziehen fällt doch die gewinnende Partei meist zu Boden. Natürlich hätte ich manchmal nicht schlecht Lust, einen Strick zu durchtrennen, eine Verbindung zu kappen und einige zwielichtige Seilschaften in den Abgrund stürzen zu lassen. Doch dann verschwindet die Verbindung, verschwindet das Mittel, Positionen zu verhandeln, Menschen zu bewegen. Wir ziehen in Richtungen und wollen mitziehen. Darum kommit! Wenn es gelingt, finden wir Halt, auch auf unsicherem Terrain.



Das Virus COVID–19 legte die Welt lahm. Alles fand nur noch online statt #sofakonzert #popcornzeitzuhause #workouttag25 #yeahaperomeeting oder #sauerteigbrot. Binge Watching wurde zu meiner Sportart und da entdeckte ich #dieschönstejackeever an der Hauptdarstellerin einer australischen Serie auf #netflix. Eine Jeansjacke in Kimono–Optik. Ich war Feuer und Flamme und wollte die Jacke nähen. Ich wollte raus aus der digitalen Welt und wieder was fühlen. Eine digitale Auszeit. Im Pinterest–Suchfeld gab ich Stichworte ein: Kimono einfach / Kimono diy / Schnittmuster Kimono / Jacke selber nähen. #bingo #tadaaa Ich habe das Schnittmuster #wikstenhaori gefunden, gekauft, ausgedruckt, zusammengeklebt, ausgeschnitten. Im Freundeskreis machte ich den Aufruf #altejeanshosen gesucht. Ich bekam Hosen von @c_schlumbi, @nikitalauraseaside, Eva, Nina, Michi und meinen Eltern. Auf YouTube habe ich Tutorials geschaut zu Patchwork–Nähverfahren. Ältere Damen und junge Frauen haben versucht mir zu erklären, wie #quilt funktioniert.


Dann ging es los. Während zwei Wochen wurde der Fussboden zum Schneide– und zum Auslegetisch für den Patch–Work–Stoff. #rückenschmerzen #daskommttrotzdemgut Ich fühlte mich wie eine Irre, war im Wahn. Ich fühlte mich wie das #tapfereschneiderlein und fand es gut. Genäht wurde in der Nacht und an den Wochenenden. Vor mir türmten sich Stoffreste und die neu entstandenen #hotpants. Etwas in den Händen zu halten, mein Gehirn mit #mathegedanken zu verwöhnen, mit Nadeln in die Finger zu stechen und einfach kreativ zu sein. #ididit Es war vollbracht. Die Jacke ist fertig. Ich bin fertig. Ich bin stolz. Die Jacke #wikstenhaori #memademay2020 #quiltedcoat #jeansjacket #friendsforever #sewinglove #iscrewedupbutohwell #indiesewing #sustainablesewing Dann wurde ich wieder eingesogen vom Sumpf der digitalen Welt. #imisstherealworld



Editorials sind e pain!

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hinein in die hitze der atem stockt feuchte trockene luft es brennt die unnatürliche hitze im sitzen oder im liegen in der lunge im gesicht bis der körper durchtränkt kaum mehr auszuhalten raus eisbad kaltes fliessen einatmen erleichterung zerschlagen der geist belebt und jeder stein ein federbett seit jahrhunderten bestehendes gestalten, dabei alles gleich behalten und doch alles verändern. wir empfinden schwitzen als genuss. das ist keine neue entdeckung. es gibt eine lange geschichte unterschiedlicher kulturen, in denen unabhängig voneinander eine form des schweissbadens entwickelt wurde. klar ist, dass es in unserem projekt


nicht darum geht, im 14. stock eine schicke sauna als statussymbol zu bauen. saunieren, oder schweissbaden, ist nicht bloss schwitzen in einem weiteren heissen raum. es ist ein erlebnis, das es sorgfältig zu kuratieren gilt. das zu gestaltende spektrum umfasst materialien, interaktionen, sinneswahrnehmungen und gefühle. bis heute entwickelt sich die praxis des schweissbadens weiter, dessen prozess wir hinterfragen. unsere gruppe ist vor allem mit dem europäischen, deutschsprachigen kulturraum vertraut und beobachtet, dass das saunieren als luxusgut wahrgenommen wird. die sauna wird oft als ein steriler, hygienischer, ruhiger raum verstanden. zweck soll die regeneration vom anstrengenden alltag sein. oder es gehört zum lifestyle, nach dem workout noch einmal schnell die muskeln zu entspannen. es ist einer der wenigen räume, in denen menschen gemeinsam nackt sind. viele betreten diesen raum deshalb kaum oder mit widerwillen. wir interessieren uns für unterschiedliche aspekte. einer ist die reduktion auf das minimum, das es braucht, um das erlebnis des schweissbadens zu ermöglichen. wir hinterfragen den ort des saunierens und versuchen, das erlebnis mit einer mobilen sauna an unerwarteten orten zu realisieren. wir freuen uns, wenn menschen bei unseren events zusammenkommen und zusammenschweissen. diese gemeinsame erfahrung wollen wir bewusst kuratieren und


mit ihr experimentieren, zum beispiel mit lesungen und bewegtbild–projektionen. all dies hat uns motiviert, anfangs das saunieren und später das schweissbaden im weiteren sinne zu studieren. das häufige saunieren zeigt uns, wie aussergewöhnlich dieses erlebnis ist. wir tauchen ein in diese welt, betrachten und untersuchen ihre komponenten und transformieren sie. in diesem prozess betrachten wir strukturen und dynamiken kritisch. es ist ein ständiger wechsel von recherche und produktion, die produktion wird zur recherche und die recherche ist produktion. notiz zu den autor*innen: wir sind teil des kollektivs kultursauna, das aus sechs schweissliebenden menschen besteht. die kultursauna wurde im märz 2020 ins leben gerufen; als folge zweier gelungener sauna–events am HyperWerk. die kultursauna bietet einen rahmen, um das gemeinsame schwitzen als soziales element in der gesellschaft zu etablieren. wir verwirklichen das saunieren an unerwarteten orten, wobei kulturelle formate in verbindung mit unnatürlicher hitze stehen.


Editorial brauchts Ein paar was Gedanken zur da? Publikation. Ich frage mich gerade,Wir, wiesoalsoschreiben wir das Editorial der Jahrespublikation. die Arbeitsgruppe Publikation, ausSilvan der sich die Redaktion, bestehend aus Johanna, Leo, und Janick bildet, haben ja eigentlich schon mehrDem als Beenden genügendeines Arbeitdreijährigen mit unseren restlichen Aufgaben. Bachelorstudiums anPublikation, der Fachhochschule Nordwestschweiz, dem Gestalten der dem Lektorieren derLeben Texte und all den Aufgaben, welche es in unseren sonst zu tun auf? gibt. Traditionell Weshalb halsen wir uns da auchetwas, noch das Editorial ist das ja sowieso das am HyperWerk immer durch den Institutsleiter geschrieben wurde. Gerade in diesem runden Studienjahr, innichtwelchem das Institut 20 Jahre alt wird. Würde das eher nach einer monumentalen Einleitung von gleich zwei Institutsleitern schreien, dem neuen und dem alten? Jasehrwenn ichmachen. so darüber nachdenke, würdewirdasesbestimmt Sinn Doch irgendwie haben geschafft, Matthias Böttger dieseund Aufgabe und Ehre wegzuschnappen. Danke Matthias, ich ziehe den Hut vor dir, denn es ist sicherlich nicht selbstverständlich, dass Merci dufürdiesdeinscheinbar Vertrauen.ohne zu zweifeln an uns abgibst. Nun sitzengemeinsam wir also alledie vier an unseren Rechnern und schreiben Einleitung in diese Publikation, die in so vielen Dingen anders istbeimals Thema die sind: vorhergehenden. Wenn wir schon Esdirekten ist meines die erste ohne Vorwort oder Text Wissens des Institutsleiters. Wenn ich darüber nachdenke, klingt dieses Editorial schreiben im Kollektiv ziemlich nach HyperWerk. Irgendwie erinnert es mich auch an einen Cadavre Exquis, ein bei den Surrealist*innen sehr beliebtes Spiel. Dabei nehmen mehrere Personen jeaufeinden Blatt.oberen Jede Teil Person zeichnet einen Kopf mit Hals ihres Blattes, danach wird es gefaltet, so dass die Zeichnung nicht sichtbar ist, und verdeckt weitergegeben. Auf die gleiche Weisedanach wird mit demdasOberkörper und den Beinen verfahren, sollte Blatt zweimal gefaltet sein.


Am Schluss werden die sich Blätter aufgemacht, unddas die Spielenden können nun prächtig über Entstandene amüsieren. IrgendwieKommit klingeltto bei mir im Hinterkopf da das Jahresthema Conflict. Cadavre ExquisVielleicht zu spielen istwirfürDiciannove mich auchaufeineine Kommit toauchConflict. sind Art alle ein bisschen Surrealist*innen. Wir lehnen uns gegen traditionelle Normen auf,vonlassen unszu Zeit von unseren Träumen leiten und vergessen Zeit vielleicht sogarübereinihr). wenig die Realität (oder stehen Für mich ist immer nochEditorial nicht ganz klar, was diees Anforderungen an ein sind. Was muss erfüllen – gibt es überhaupt Anforderungen? WasEditorial sind die Anforderungen, die wir als Redaktion an das stellen, was wollen wir damit aussagen? Aufim jeden Fall bin ich jetzt trotzdem schon mittendrin Schreiben dessen. NichtMensch unähnlich erlebte ichwasauchmensch unsergenau Diplomjahr. fragt sich so, macht, und schwupps, schon istsie,Mensch mittendrin imdie Studienjahr. Ja schnell läuft die Zeit, das hat Redaktion analledenunsere eigenen LeibernKonflikte erfahren. Irgendwie hatten wir eigenen und wollten uns auch nicht wirklich für die Publikation committen. Unversehens warjetzt da Mitte Februar, undPedale wir merkten, dass, wenn wir nicht voll in die treten, der Zug mit der Publikation wohl abgefahren ist. liess das eigene Pflichtbewusstsein dann doch nichtDaszu. HaEs war – undbeijetzt erinnere ich michTreffen auch wieder. einem dieser ersten im Redaktion neuen Jahr, an dem Luc Spühler, den wir leider für die verloren haben,nichtdie nehmen.» Idee hatte:So «Das Editorial lassen wir uns aber kam es, dass wir uns dafür entschieden, diese Ehre und den damit verbundenen Mehraufwand anausgesprochen uns zu reissen. Danke Luc, dafür, dass du diese Worte hast. Denn dadurch hast duZeilen uns schreiben die Möglichkeit verschafft, dass mir wir nun diese dürfen. Das bereitet nicht nur Vergnügen, sondern das gibt über uns als Redaktion die Möglichkeit, den Lesenden das ihren Händen zu sagen, was uns am Herzen Buch liegt. in

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Ort Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW Hochschule für Gestaltung und Kunst Freilager–Platz 1 4142 Münchenstein b. Basel Die Sonne brennt. Das Wasser verdunstet. Der «Beach» besteht aus angehäuften Kieselsteinen. Die Kieselsteine halten das Wasser zusammen und begrenzen es. Die Liegestühle FHNW–gelb. Grün–runde Sonnenschirme und beige–eckige Grossschirme. Palmen in Töpfen. Eine feine Plastikfolie, türkis mit weisslichen Streifen, gibt dem Wasser seine Farbe. Das Wasser ist nicht tief, es passt zur Oberfläche. Das «Werk» zum Betrachten gedacht? Wir, die wir immer noch mit Flugzeugen in den Urlaub fahren, um genau solche Anordnungen zu bespielen? Ein «Werk» zum Greifen nahe und doch nicht (an–)fassbar. Ich verstehe es nicht. Disloziertes Ich. Was reflektiert es in diesem Licht? Diese Anrichtung von Strand, Palmen und Swimmingpool beschäftigte mich seit Freitag. Am Montag würde ich hier mein Studium beginnen. Ich habe nach den ersten Bauchkrämpfen über den Anblick dann doch ein Bad genommen (um dem «Beach» eine Chance zu geben und meinem inneren Widerstand eine Gegenmöglichkeit zu bieten). Genüsslich habe ich mit nackten Füssen im Bassin geplanscht und grosse Schwimmbewegungen in der Luft verübt. Plötzlich sah ich auf dem Boden des Bassins


ein rotes «BETRETEN VERBOTEN». Nicht sehr gross, aber es stand dort. Beschämt musste ich das Bassin verlassen. Ich verstand jetzt auch, warum niemand sonst ein erquickendes Fussbad nahm, und war verstört. Wie kann man so etwas entwerfen und dann auch noch umsetzen? Eine Gelegenheit, diese Frage zu platzieren, bekam ich, nachdem ein Leiter eines HGK– Instituts einführende Worte in die erste Studiumswoche, die CoCreate–Woche 2019, formuliert hatte. Er sprach offen und einladend. Was mich hellhörig machte, war eine Bemerkung zum Fussball–Stadion–Projekt For Forest von Klaus Littmann, in welchem er temporär einen Wald auf den Rasen eines Fussballstadions pflanzte. Könnte das Mahnmal seine Idee oder Intervention verfehlt haben? Und sind wir alle Zuschauer*innen des sich wandelnden Klimas? Innere Verbindungen sehend, fragte ich den Leiter, warum man den «Beach» auf dem Campus–Areal nicht betreten dürfe. Ich könne mir denken, dass es wahrscheinlich baurechtlicher Kram sei, aber ich verstünde es trotzdem nicht und möchte das setzen. Der Leiter grinste verständnisvoll, sagte, das sei eine interessante Frage und dass er nachforschen und es mich und alle Ende Woche wissen lassen werde. Ende Woche musste ich ihn aufsuchen. Die Frage hatte er vergessen, aber der Zufall griff uns beiden unter die Arme, und der Leiter stand glücklicherweise direkt neben einem aus dem Entwicklungsteam. Er grinste wieder, ich solle doch direkt ihn fragen.


Er weist auf einen jungen Menschen neben sich. Wir waren wohl beide etwas schockiert. Ich legte also noch einmal meine Situation dar. Seine Reaktion war in etwa: Aaah, das habe er sich gar nicht überlegt. Die Folie sei halt nicht geeignet für 10’000 (?Wieso so viele?) Leute, aber die Idee sei schon gewesen, dass man den «Beach» dann nutzen könne. Das Ganze lief so reibungslos ab, dass ich anschliessend noch viel verstörter war. Glatte Oberflächen, ohne Ecken und Kanten. Unreflektierter Produktionswahnsinn. Den «Beach» gibt es jetzt nicht mehr. Er wurde just wenige Tage danach, im Zuge der Oslo Night, verwüstet und zerstört. Was wohl diese Haltung verspricht? Wohl auch nichts. Es bleibt ein fragendes Gesicht.



«Winning an argument» – so versteht mensch heute Konflikt. Manche denken gleich an Streit, Kampf oder sogar Krieg. Das Gegenüber gilt es zu besiegen, zu enteignen, zu entwürdigen, zu demütigen oder im Extremfall zu töten. Diese Denkensweise ist nicht nur durch und durch toxisch männlich, sondern auch schwarz–weiss. Sie dient lediglich der Aufteilung in Stark und Schwach. Sie ist ein Ringen um Macht. Diese Vorstellung von Konflikt beraubt uns der Möglichkeit, bei Auseinandersetzungen voneinander zu lernen und konstruktive Lösungen zu finden. Konflikt beinhaltet alle Unstimmigkeiten, auch innere. «Wir müssen Konflikt neu denken! Wenn wir von Eis reden, reden wir nicht automatisch von Stracciatella!» kommit to conflict bedeutet für uns die Bereitschaft zur Veränderung. Diese Bereitschaft ist für uns unentbehrlich, um gemeinsam als Gesellschaft voranzukommen – ohne Konflikte und die Absicht, sie zu lösen, bewegt sich gar nichts. Wir sind der festen Überzeugung, dass wir unsere Gewohnheiten ändern müssen, um unser Leben nachhaltiger zu gestalten. Gewohnheiten zu ändern bringt Konflikte, und Konflikte wiederum halten uns von unseren gewohnten Handlungsabläufen ab.


Wollen wir unseren Horizont erweitern, müssen wir uns also mit diesen ungewohnten Dingen befassen. «Ich benötigte eine Weile, um mich mit diesem Titel auseinanderzusetzen.» Wir leben im Konflikt. Sobald wir geboren sind, werden wir durch unsere blosse Existenz mit unzähligen Konflikten konfrontiert. Konflikte sind eine Haltung. Alles ist mit allem verbunden – nichts ist mit allem verbunden. Konflikte sind für uns nichts Abstraktes, sondern in unseren Alltag eingewoben. Konflikte können laut sein, klein, weich, schwimmend, leuchtend, stinkend, verschneuzt, orange, gestanzt, gasförmig, gleichzeitig, kurzlebig, für ein Leben, nie allein. Alles! Dabei wollen wir nicht die kindliche Utopie von einer friedsamen Welt träumen, in der es keine Konflikte mehr geben wird, sondern vielmehr den Konflikt als gegeben und in unserer Natur als Menschen verwurzelt akzeptieren. «Ich sehe und ich verstehe, in welche Richtung es gehen soll.»


Genau so müssen wir künftig Konflikt verstehen: als eine Möglichkeit, voneinander zu lernen und gemeinsam gestärkt weiterzuschreiten. Dabei entsteht ein Austausch, und dass wir Menschen uns austauschen, ist etwas vom Wichtigsten, das es gibt beziehungsweise das wir machen können. Commitment ist Bereitschaft, an etwas zu arbeiten; bereit sein, Mühe und Anstrengung auf sich zu nehmen; sich in Geduld zu üben und nicht nur auf das schnelle Glück zu hoffen. Wo Nachhaltiges entstehen soll, ist Commitment ein absolutes Muss. Dies gilt auch für andauerndes Glück. Nachhaltig ist nur, was mit dem Wandel mitgeht. Wie soll dieser andauernde Prozess standhalten ohne Menschen, die sich ihm verschreiben? «Mir stellt sich die Frage, ob Fortschritt als positive Reaktion auf einen Konflikt zu verstehen ist.» In unserer schnelllebigen Zeit ist es unüblich, sich einer klaren Aussage zu committen. Wir zeigen mit dem Begriff Commitment, dass es uns wichtig ist, dass mensch sich auf den Konflikt einlässt, ihn aushält und ihn vielleicht sogar begrüsst, um in ihm und durch ihn gemeinsam eine Lösung zu finden. Commitment bedeutet, nicht gleich aufzugeben.


Auf diesem gemeinsamen Weg versuchen wir, Konflikt als Werkzeug zu verstehen. Dabei ist die Selbstreflexion ein unverzichtbares Mittel, um dem Gegenüber Respekt zu garantieren. Sich dieser Konflikte bewusst zu werden und sie als Handlungsauftrag zu verstehen – darin sehen wir unsere Rolle als Gestalter*innen. Wir drücken dem negativ konnotierten Begriff Konflikt eine eigene positive Bedeutung auf. «Es geht um eine Welt, in der viele Welten Platz haben. Es geht um ein Jahresthema, in dem viele Untertitel Platz haben.» Das «K» in Kommitment ist eine Aufforderung mitzumachen. Komm auch Du mit!



Meine Dosis von Medien, die mir vermittelt haben, dass nur dünne Menschen die Hauptrolle haben können, dass nur diese Körper liebenswert, gesund und schön sind, hat gravierende Spuren hinterlassen. Vielleicht eher Narben als Spuren. Manchmal sichtbar, oft verborgen, wenn entblösst, erkennen trainierte Augen sie aber sehr schnell. Ich habe gelernt, mich so zu bewegen, dass ich sie am wenigsten merke, eine falsche Regung und es sticht. Meist unbewusst formen sie meine Handlungen. Und so sehr es diesen Text in populärer Wahrnehmung «spannender» machen würde, wenn ich mich vor mir auf den Operationstisch legte und die langsam heilenden Wunden fein säuberlich mit dem Skalpell erneut öffnete, tue ich das nicht. Meiner Inneren Fachstelle für Psychohygiene ist meine Verfassung zu wenig resistent. Die Innere Abteilung für Verarbeitung und Heilung beschäftigt sich schon länger mit diesem Fall und hat ein emotional sichereres, betreutes Aufarbeiten angeordnet. Darum werde ich meinen Narben kein Skalpell antun, indem ich auf persönliche Erlebnisse eingehe, sondern auf Medien, deren Konsument*innen sowie ihre expliziten und implizierten Aussagen zum Thema Körperbild und Fettfeindlichkeit. Diätkultur macht nie Pause – auch während einer Pandemie nicht. Das Internet verbreitet sie ungeachtet des Social Distancing und geschlossener Grenzen. Sie tummelt sich in der Spasskategorie einer Onlinezeitung, die der Mona Lisa ein Doppelkinn verpasst und sie «post–quarantine Mona» nennt, sie erheitert den


Familiengruppen­­chat mit dem Bild eines Kühlschranks, der mit «you’re not hungry you’re bored» beklebt ist. Sie steckt in der Werbung auf Google, die mir einen «flat tummy tea» suggeriert, der meinen Appetit drosseln und mir wahrscheinlich Verdauungsschwierigkeiten bereiten würde. Kurz nach der Schliessung der Fitnesscenter werden mir auf YouTube fünf neue Home–Workout–Videos vorgeschlagen. «Ja, es isch halt scho schwierig, gell, wenn de Küehlschrank jetzt immer so näch isch», erzählt mir eine Freundin bei einem Videogespräch. Die Sängerin Adele hat einen massiven Gewichtsverlust hinter sich und erntet von der hiesigen Boulevardpresse mehr Lob als nach Veröffentlichung eines neuen Albums. Alle diese Beispiele haben etwas gemeinsam. Sie reproduzieren Fettfeindlichkeit und halten schädliche Wertvorstellungen aufrecht. Klar, ich könnte diese Beispiele, die mir in den letzten Wochen unglücklicherweise über den Weg gelaufen sind, als schlechten Humor abtun. Ich könnte an meiner Cola Light nippen, mich zurücklehnen und zustimmend nicken, wenn (teils selbsternannte) Ärzt*innen finden, Fettleibigkeit zu glorifizieren sei gefährlich. Ich könnte «nicht so tun» und Verständnis aufbringen für die verzweifelten Versuche der Onlinezeitschriften und Familienchats, dieser Krise etwas Humorvolles abzugewinnen. Ich könnte, aber ich will nicht.


Ich weiss, dass diese Begegnungen, so banal sie klingen mögen, reale, negative Auswirkungen auf unser Körperbild haben. Sie legitimieren dicke, fette Menschen als Pointen renommierter Witze und erzählen uns, dass einen solchen Körper zu haben das Schlimmste ist, was mensch in dieser Pandemie passieren kann. Lebensmitteln werden sittliche Werte zugeschrieben, und ohne Restaurantbesuche hat mensch mehr Möglichkeiten denn je, jedes Gramm Essen in die Waagschale der Moral zu legen. Erneut wird der Körper einer Frau, der von Adele in diesem Fall, ungefragt kommentiert und bewertet. Sie glorifizieren ein zwanghaftes Verhältnis zu Sport, welches den Akt mit einer Notwendigkeit statt mit Freude konnotiert. Vor allem tragen sie zum bestehenden Umfeld bei, in dem dicke, fette und grosse Körper zum Beispiel durch Gesundheitspersonal und Modeindustrie diskriminiert werden. Kreiert wird eine zusätzliche, unnötige, psychische Belastung in Zeiten einer globalen Pandemie, in der Menschen um ihre Existenz oder ihre Gesundheit bangen. Diätkultur kommt «in all shapes and sizes». Die herrschende Vorstellung, welche Körper Menschenwürde verdient haben, nicht.



Wir treffen uns hin und wieder und dann lange Zeit nicht mehr. Wir drückten die Schulbank zusammen. Hinten rechts am Fenster. Aussicht aufs Atrium, die Pappeln im Blick. Wir tauschten Pausenbrote, von der Mama geschmiert, gegen ebenfalls von der Mutter gestrickte Wollsocken. Wobei ein Paar Socken den Wert von einer Wochenration Pausenbrote hatte. Ich trage die Socken noch heute. Hungerte also, als Langzeitinvestition. Wir hörten Jimi Hendrix vom Handylautsprecher und sperrten die Tür zur Dachterrasse auf, so dass die warme Luft der beheizten Schule den Zigarettenrauch im Treppenhaus nach aussen trug. Das war Musikunterricht im Winter. Der Lehrer gab uns vor der ganzen Schulklasse Spitznamen wie «Cool Joe» und «Der schöne Heiri». Darüber streiten wir bis heute, wer mit welchem Sympathie heuchelnden Spitznamen gemeint war. Doch nicht nur darüber streiten wir uns. Eines unserer Treffen könnte so stattfinden: Wir haben uns spontan per Instant–Messaging– Dienst verabredet und treffen uns in einem Lokal, das gutes Bier ausschenkt. Entweder sitzt er schon da und hat schon zwei Stangen getrunken, oder aber er kommt eine Stunde zu spät und lässt mich peinlich berührt vor einer Stange sitzend warten, die ich so langsam trinke wie es


überhaupt geht, weil ich mir diesen Genuss eigentlich nicht leisten kann. Wir sind dann irgendwann also beide da und umarmen uns zur Begrüssung. Wir reden eine Stunde über Studium, Arbeit, Freunde, Haarausfall und gelbe Flecken auf der Lunge, bevor es passiert. Es kann ein einziges Wort sein, eine Bemerkung, ein Satz, ein Witz, ein Gesichtsausdruck, sogar ein Schweigen im falschen Moment. Wir sind an dem Ort angekommen, wo es uns früher oder später immer hinzieht. Der jegliche Sympathie und gemeinsame Erlebnisse in Vergessenheit zerrende Konflikt. Mein unterer Bauchbereich fühlt sich flau an, und das Blut schiesst mir in den Kopf. Ein Rauschen legt sich auf meine Ohren, und trotzdem höre ich jedes Wort, jedes Glucksen und jeden Atemzug und untersuche sie auf Verwerflichkeit. Mein Sprachzentrum im Gehirn läuft auf Hochtouren. Die Sinne, mit denen ich zuvor die Bar, das Wetter, den grösser werdenden Hunger und die Gespräche am Nebentisch wahrnahm, fokussieren sich gänzlich auf mein Gegenüber. Es fühlt sich so an, als wären wir zwei Partikel, die von verschiedenen Energien angetrieben durch den Raum sausen. Bis das eine Partikel die Umlaufbahn des anderen tangiert und sie von da an durch gegenseitige Anziehung in einer Abwärtsspirale gefangen sind. Sie steuern in einem Sautempo und von verschiedenen Seiten auf das Ende der Spirale zu. Es fühlt sich so an


als bliebe die Zeit stehen. Der Weg zum Punkt X ist laut und turbulent. Ein Glas fällt zu Boden. Der Moment der Kollision ist leise. Ich sitze weit nach vorne gelehnt auf dem Stuhl. Wir wenden uns voneinander ab und meiden Augenkontakt. Es gibt nichts mehr zu sagen. Ein Zurück in die nette Belanglosigkeit, zu Haarausfall und Studium ist unmöglich. Wortkarg verabschieden wir uns. Keine Umarmung, keine Wärme. Ich bleibe sitzen und spüre noch immer das Kreisen in meinem Kopf. Ich höre seine Worte in mir, von denen ich nicht verstehe, dass er sie meinen kann, da wir doch in so ähnlichen Realitäten aufgewachsen sind. Dann höre ich meine Worte in mir, nur noch fragmentarisch. Ich bin überrascht, wie vehement ich Position beziehen kann. Als ich gehen und bezahlen möchte, sagt das Barpersonal, dass mein Freund schon bezahlt habe. Mein Freund. So könnte ein Treffen stattfinden. Das ist kein intellektuelles Sparring. Das ist Wut und Enttäuschung, und niemand gewinnt dabei. Wir verderben anderen Freundinnen und Freunden die Abende und sind ungern gesehene Gäste an schönen Orten. Ich weiss, dass es nicht nur das Beste in mir nach aussen trägt. Menschen sagen, ich komme ihnen fremd vor. Ich weiss, dass mich das Nichts–Sagen krank macht. Menschen bedanken sich, dass ich etwas gesagt habe.


Der Konflikt besteht, vor und nach dem Treffen, ob wir uns sehen oder nicht sehen. Er macht müde. Ich frage mich, ob die Entscheidung, sich immer wieder zu treffen, das Nicht–Aufgeben und Versuchen, die gemischten Gefühle und der dicke Kloss im Hals, das Commitment zum Konflikt ist, über das wir sprechen.


Zur Reihenfolge: Falls Du’s bis jetzt noch nicht bemerkt hast: Die Texte sind von kurz nach lang sortiert. Irre, was? Wieso fragst Du? Wir haben nicht den Anspruch, die Texte thematisch oder qualitativ zu ordnen, nein. Eigentlich ist es uns viel wichtiger, dass Du, der*die Leser*in, einen passenden Text für Deine Zugreise, den Toilettenaufenthalt oder die Kaffeepause findest. Lesezeichen waren gestern – mundgerechte Häppchen sind der neue State of the Art.

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kommit to conflict. Das Jahresthema steht für HyperWerk in seiner reinsten Form. Während der Zeit in diesem Konstrukt werden alle Studierenden immer wieder von Neuem mit Konflikten konfrontiert. Persönlichen, allgemeinen, grösseren und kleineren. Alle, die sich auf diese Reise begeben, sehen sich diesen Konflikten gegenübergestellt. Es besteht immer die Wahl, sich auf den Konflikt einzulassen oder den Kopf einzuziehen und zu kuschen. Doch die Kneifenden veschwinden meist schnell wieder von der Karte. Die Verlockung, die Herausforderung nicht anzunehmen, ist zuweilen sehr gross. Doch wer wahrhaftig am HyperWerk studieren will, ganz darin eintauchen möchte, verpflichtet sich, einer Vielzahl an Konflikten zu begegnen und sie auszutragen. So begegnete ich in meinen drei Jahren diversen Konflikten. Von kleinen Flauten wie am Morgen nicht aufstehen zu wollen; an einem Projekt mitzuarbeiten, bei dem die anfängliche Euphorie in teerig lähmende Unlust umgeschlagen ist; bis hin zu wahren Kalmengürteln, in denen man gefangen ist und sich grundlegend zu hinterfragen beginnt: «Was zur Hölle suche ich an diesem Ort? Ist es wirklich das, was ich studieren möchte?» Manch eine Person ist an diesen Konfrontationen zerschellt und in der stürmischen See, die das HyperWerk zuweilen sein kann, untergegangen; so wurde auch mein treuester Begleiter von einem fernen Sirenenruf in die Tiefen gelockt.


Doch weitaus mehr haben es geschafft, sich mittels Sonne, Mond und Sternen oder einem Kompass durch dieses für alle anders erscheinende mare incognitum zu navigieren. Und wie bei Seefahrenden braucht es ein Commitment, um sich selbst immer wieder aufs Neue den Konflikten auszusetzen, die das eigene Schaffen und die Auseinandersetzung mit dem HyperWerk bergen. Wie oft war ich in der Zeit am HyperWerk frustriert, verärgert über mein oder das Handeln anderer, enttäuscht über Ergebnisse und verunsichert, meine Zeit nicht bestmöglich genutzt zu haben. Bereit zum Meutern, gegen mich selbst und andere, unzufrieden mit der Führung wollte ich mich auflehnen gegen das Kommando, um abrupt neuem Glück eine Chance zu geben. Ich wankte oft zwischen Planke und Pier, war hin und her gerissen zwischen privaten und HyperWerk–Projekten. Wollte mich nicht einbinden lassen, da ich meinte, der Wind würde mir dann aus den Segeln genommen. Projekte, die ich neben dem HyperWerk verfolgte, gaben mir Halt – weshalb hätte ich sie ausflaggen sollen, um sie unter dem HyperWerk X segeln zu lassen? Wieso eine neue Besatzung aus HyperMatros*innen anheuern, wenn ich doch schon mit der besten Crew segelte? Manchmal wiederum erschien ich mir selbst wie ein schiffbrüchiger Eigenbrötler, der alleine seine Dinge verfolgt und die Botschaft von


Gemeinschaft am HyperWerk nicht verstanden hat. Treibanker werfen und Fahrt verringern. Um es mit den Worten von Element of Crime zu sagen: «Scheiß doch auf die Seemannsromantik Ein Tritt dem Trottel, der das erfunden hat Niemand ist gern allein mitten im Atlantik» Ich war meines alten Gefährten beraubt, und das Wissen um meine Crew war durch das einsame Treiben auf einem dürftigen Floss zu einer schwachen Erinnerung verkommen. So blieb mir nur der Blick in die Flasche, in einer lärmigen Taverne voll anderer HyperMatros*innen. Ein Schluck für die Verbliebenen, ein Schluck für die Verlorenen und ihren Anteil, die See. Da besann ich mich abermals des Rückhalts meiner Crew der Freund*innen, mit welchen ich gemeinsam Projekte verfolgte. Doch es gab nicht nur sie: Ich hatte vor drei Jahren am HyperWerk angeheuert und war daher auch Teil der Diciannove–Crew; mit beiden lässt es sich Konflikte aushalten und austragen. Immer wieder fragte ich mich auch, ob ich nicht arg wenig machte, um dann abends mit brennenden Augen vor dem Computerbildschirm oder im Zug zwischen Basel und Zürich zu merken, dass an allen Ecken die Zeit fehlte. Je mehr Zeit ich aufwendete, umso schneller verrann sie, wie Wasser aus lecken Vorratsfässern. An diesen Projekten und den dadurch


aufschäumenden Konflikten wächst meine gestalterische Arbeit. Diese Auseinandersetzung besitzt nicht nur Berechtigung und Relevanz, sie macht mich auch zu dem Gestalter, der ich bin. Bis hierhin bin ich unter einem guten Stern gefahren. Eine Tour neigt sich nun dem Ende zu. Doch die Reise ist hoffentlich noch lange nicht vorbei. Unzähliges gibt es zu entdecken, Passagen sind zu befahren und Konflikte anzunehmen. Wir begaben uns gemeinsam und doch individuell auf die Suche nach Glück und Erfüllung, obwohl wir wussten, dass die Reise nicht leicht werden würde. Nach der gemeinsamen Fahrt auf einem stürmischen Meer sind wir nun an einem Sund angelangt, von wo aus wir auf einen scheinbar uferlosen Ozean hinaus treiben. Doch auch diese stille Weite wird in schier unerreichbarer Ferne von Gestaden eingefasst. Küsten, an denen es Leuchttürme gibt, die uns helfen, in einer sicheren Spur zu bleiben. Nicht alles ist Konflikt, genauso wie eine Reise auf einem Ozean nicht gleich Sturm ist. Dennoch können Stürme prägend sein und uns wie auch unseren Kurs nachhaltig ändern. Bei jeder neuen Fahrt müssen wir für uns anhand der gemachten Erfahrungen entscheiden, ob wir uns ein weiteres Mal hinaus begeben in die unsicheren Hände von Sturm und Konflikt.


Dieses Sich–bereit–Erklären, trotz Unsicherheit eine Herausforderung anzunehmen, ist HyperWerk. Wir kommen nur an ein Ziel, wenn wir uns auch auf den Weg machen. kommit to conflict – «Fair Winds and Following Seas»



Die Geschichte von Tattoos ist lang und vielseitig. Tattoos wurden und werden als Rüstung getragen, in Ehre gestochen und geraubt. Sie können an Schmerzhaftes, Berührendes und an Personen erinnern oder Zugehörigkeit symbolisieren. Für manche sind sie Zierde, für manche lebensnotwendig. Ihre Entstehung ist mit unterschiedlichen Erfahrungen verbunden. Im vergangenen Jahr habe ich mich mit der Geschichte, der Entstehung und dem Handwerk des Tätowierens beschäftigt. In diesem Text will ich auf den Zusammenhang von Tätowieren und Konsens eingehen. Mitte April war ich an einem Tattoo–Workshop in Berlin. Gegeben wurde dieser von der queeren Tätowiererin Laura Sobenes Sono. Ich war schon zuvor an Workshops und habe viel zum Thema recherchiert. Am meisten geblieben von den zwei Tagen ist mir ein Tipp von Laura, der im ersten Moment sehr nebensächlich schien, mich jedoch viel hat reflektieren lassen. Sie informiert immer alle ihre Kund*innen vor dem Termin darüber, dass rasierte Haut am besten tätowierbar ist, aber bietet an, dass die Personen das selbst zuhause machen können. Oder es ganz lassen können, wenn es unangenehm ist. Viele Menschen, die sich bereits professionell tätowieren liessen, dürften ähnlich erstaunt darüber sein wie ich es war. Bei keiner meiner Sitzungen wurde ich gefragt, ob es in Ordnung sei, die zu tätowierende Stelle zu rasieren. Bei den meisten wäre ich vermutlich auch direkt aus dem Studio geschickt worden, hätte ich darauf bestanden, mich nicht zu rasieren.


Mir war durchaus klar, dass vieles im Tattoo– Handwerk stark von Traditionalismen und damit verbundenen Hierarchien geprägt ist. Aber wie direkt das im Gegensatz zu meiner Vorstellung von Konsens steht, ist mir da erst bewusst geworden. Konsens ist die informierte Zustimmung aller Beteiligten und daher zwangsläufig auch die Einhaltung von deren Grenzen. Viele tätowierte Freund*innen haben – wie auch ich – immer mal wieder unangenehme bis Grenzen überschreitende Tattoo–Sitzungen erlebt. Ob es nun das Verweigern von Pausen ist, der despektierliche Umgang von Tätowierer*innen, oder ihr Reproduzieren von ohnehin schon geltenden strukturellen Machtverhältnissen. Die Liste ist lang, und da wirkt das Einverständnis zum Rasieren erstmal nebensächlich. Die Grenzen, von denen ich mir wünsche, dass sie respektiert werden, liegen vor dem Eindringen der Tinte und können vor dem Ansetzen der Nadeln thematisiert werden. Es ist üblich, eine Einverständniserklärung zu unterschreiben, da das Tätowieren als Körperverletzung gilt. Jedoch sollte diese Unterzeichnung kein Abtreten jeglicher Einspruchsrechte sein. Es wird häufig als selbstverständlich angenommen, dass eine Person weiss, auf was sie sich einlässt, wenn sie sich für eine Tätowierung entscheidet. Dass sie mit allen als notwendig bezeichneten Eingriffen, Nebenwirkungen und Konsequenzen klarkommen muss. Die häufig vorhandene Hierarchie kann auch schon bei der Motivwahl und –entstehung zu Verletzung des Konsenses führen.


Vielen Kund*innen ist es unangenehm, Korrekturen zu verlangen oder grundsätzlich danach zu fragen, ob ein Motiv angepasst werden kann, selbst wenn es ein custom piece ist. Als eine der grössten Fehlinterpretationen von Einverständnis erachte ich die Annahme, dass ein einmaliges Abfragen reicht. Doch vollständiges Einverständnis beruht auf informiertem Konsens, sonst ist es kein Einverständnis. Wenn eine Person nicht über alle Schritte Bescheid weiss, die fürs Tätowieren vorteilhaft bis notwendig sind, kann sie auch nicht zustimmen. Daher sehe ich die Verantwortung bei der*dem Tätowierer*in, den*die Kund*in nicht nur über die Körperverletzung aufzuklären, sondern auch über den detaillierten Ablauf des Tätowierens. Das übliche Formular könnte um viele wichtige Punkte erweitert werden, die mir noch nie auf einer Einverständniserklärung oder in einer Vorbesprechung begegnet sind, die jedoch Tattoositzungen sicherer gestalten können. Wie soll von Deinem Körper und Deinen Körperstellen gesprochen werden? Will der*die zu Tätowierende die Bedeutung des Tattoos teilen? Über welche Themen soll gesprochen werden? Welche sollen gemieden werden? Lösen notwendige Schritte der Sitzung Unbehagen aus?


Lösen vorteilhafte Schritte der Sitzung Unbehagen aus? Falls ja, können sie angepasst werden? Fällt es dem*der zu Tätowierenden leicht, sich verbal zu äussern, wenn etwas nicht stimmt? Konsens ist ein spartenübergreifend vernachlässigtes Konzept. Für mich ist es wichtig, den Menschen, die ich tätowiere, mit Respekt und so gut es geht auf Augenhöhe zu begegnen. Zusätzlich zu den vorhandenen Machtstrukturen unserer Gesellschaft kann schnell eine Hierarchie entstehen zwischen der*dem Künstler*in und der Person, die sich tätowieren lässt. Wenn diese Muster unreflektiert bleiben, werden fortlaufend Grenzen überschritten. Daher ist es notwendig, dass sich Personen, die vorhaben, ein Handwerk zu lernen, welches so intim ist wie das Tätowieren, besonders mit ihren Privilegien und gelernten Mustern auseinandersetzen. Dafür muss die Arbeit geleistet werden, sich zu fragen, wie sicherere Räume gestaltet werden können. Wenn Tätowierungen bestärkend und bereichernd sein sollen, ist es unerlässlich, dass ihre Entstehung mit informiertem Einverständnis passiert. Nur so kann das Überschreiten von Grenzen verhindert werden. Das funktioniert am besten durch Informieren, Reflektieren und Zuhören.


Im Workshop von Laura konnte ich durch ihre zuvor geleistete Arbeit und Reflexion viel profitieren, weil in ihrer Praxis ein Bewusstsein für verschiedene Lebensrealitäten stets Teil des Prozesses ist. Dabei habe ich mindestens so viel verlernt wie gelernt.



Obwohl diese Anweisung seit der Umgestaltung des HyperMagazine nicht mehr programmatisch über dem Diplomarchiv thront, hat sie doch nichts von ihrer Aktualität verloren. Alphabetisch sortiert liegen hier die Dokumentationen aller vergangenen Diplomprojekte und warten darauf, für zukünftige Vorhaben als Ratgeber zu dienen. Dass die Sammlung auch diesen Herbst wieder um ein Stück wächst, ist Grund genug, einen Blick hineinzuwerfen und nachzusehen, welche Schätze dort lagern. Das ganze Archiv erreicht man, wenn man hyperwerk.ch in den Browser eingibt, dann auf der Startseite ganz rechts im schwarzen Rand auf das Hashtag-Symbol klickt und dann in der alphabetischen Liste #diplomarchiv anwählt. Aber Achtung: Wer einen Ausflug dorthin unternimmt, sollte darauf achten, sich genug Zeit zum Stöbern zu nehmen. Es verhält sich ein wenig wie auf dem Flohmarkt: Die besten Dinge findet man immer dann, wenn man nicht danach gesucht hat. So erging es auch mir, als ich mich zum ­­ersten Mal dort umsah. Etwas planlos klickte ich mich vom einen zum nächsten, ohne etwas Bestimmtes zu suchen, bis mir etwas ins Auge fiel. Auf diese Art fand ich zum Beispiel die Diplomarbeit stattutopie von Livia ­Matthäus, Quattordici. Darin ruft sie zum bewussten Dilettantismus auf, indem sie sagt:


«Jede der drängenden Fragen des 21. Jahrhunderts stellt existierende Methoden, Ideologien und Strukturen infrage und fordert ein Denken jenseits der aktuell vorstellbaren Welt.» Oder salopp formuliert: Wollen wir etwas ­Neues schaffen, müssen wir auch neue Gedanken denken. Sie veranstaltete ein Festival, das einen Raum schaffen sollte, wo die Unsicherheiten ­von Profis und Amateuren zusammenfinden und in Austausch treten konnten, ebenso wie ihre Lösungsansätze für eine zukunftsfähige Welt. In Workshops und Diskussionsrunden wurden grosse Fragen – wie wir arbeiten, wohnen und zusammen leben wollen – thematisiert und Ideen für zukünftige Stadtpläne entwickelt, frei nach dem Motto: «Wir machen uns die Welt, widewide wie sie uns gefällt.» Ganz im Gegensatz dazu steht Franco Schwoerer, Tre, der sein Diplom 2004 machte. Seine Arbeit leftside/digital picnic erzählt von einer anderen Zeit, als die technische Revolution gerade erst richtig Fahrt aufnahm. Mit der Entwicklung der Webseite leftside wollte er die überregionale Vernetzung von VJs – kurz für Video–Jockeys – fördern. Besonders hängen geblieben bin ich an dem Satz: «Dank den verbesserten technischen Möglichkeiten, ist das Angebot an Musik– und Visualsoftware mittlerweile sehr vielfältig.»


Das ist schön gesagt, aber ich möchte daran erinnern, dass es damals nur einen Bruchteil der Möglichkeiten gab, die wir heute kennen. MySpace, die erste Musikstreamingseite, sollte erst ein Jahr darauf gegründet werden, und bis zur YouTube–Revolution waren es noch gut sechs Jahre. Was für ihn noch neu war, ist bei uns nicht mal mehr selbstverständlich, sondern längst veraltete Technologie. Solche Beispiele sind zahlreich, denn auch sein Jahrgangskollege Michel Pfirter, der von «SMS als meistgenutztem Mobile–Dienst» und «Schreiben auf einem neuner Ziffernblock» berichtet, hatte zu dieser Zeit noch nie etwas von WhatsApp und Smartphones gehört. Am HyperWerk ging es schon immer darum, Zukunft zu gestalten, aber der Begriff Zukunft hängt vom Standpunkt der Betrachtenden ab. Was heute noch Zukunftsdenken ist, wird morgen schon Realität oder Vergangenheit sein, und erst in der Retrospektive können wir feststellen, was davon eingetroffen ist. Darin liegt die Kostbarkeit des Diplomarchivs: Es bietet uns den Blick zurück; einen Perspektivenwechsel. Wir sind die Zukunft. Jedenfalls aus der Sicht der Vergangenheit. Ihr gegenüber können wir in die Rolle auktorialer Erzähler*innen schlüpfen und unterscheiden, welche Visionen Realität wurden, welche nicht. Gerade weil alle hier gesammelten Gedanken vergangen sind, sind sie so wertvoll: Sie lassen uns lernen. Das Diplomarchiv als Zeitmaschine, die uns in die Vergangenheit reisen lässt, ermöglicht Erkenntnisse, die uns als Grundlagen für weitere Zukunftsideen dienen.


Wir müssen unsere Vergangenheit kennen, um die ­Zukunft gestalten zu können. So hat jede der Diplomarbeiten ihren Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft geleistet und ihre Spuren hinterlassen. Manchmal im übertragenen Sinn, oftmals aber wörtlich gemeint. Wie bei stattutopie und leftside/digital picnic sind nicht selten als Teil des Prozesses Internetseiten entstanden, die es heute noch gibt. Einige werden noch genutzt, wie zum Beispiel codecheck.ch, entstanden aus der Arbeit des Uno Roman Bleichenbacher im 2002; andere versinken in der Bedeutungslosigkeit. Denn auch wenn Dinge mit der Zeit im begrenzten menschlichen Gedächtnis in den Hintergrund geraten und aus dem sozialen ­Bewusstsein verschwinden – das Internet vergisst nichts. Viele dieser Webseiten von ­vergangenen Projekten gibt es noch, sie befinden sich als Relikte in den unendlichen Weiten des Internets; solange sie nicht vom Server gelöscht werden, existieren sie vor sich hin. Sie wurden zu Denkmälern vergangener Generationen, einst beachtet, heute nur noch Zeugen einer vergessenen Zeit. Und wenn jemand zufällig darauf stösst, ­wundert er*sie sich möglicherweise ein wenig, denkt vielleicht noch ein, zwei Tage daran, und vergisst sie dann wieder. Macht mit seinem*ihrem Alltag weiter. Steht morgens auf und geht abends zu Bett, ohne sich noch daran zu erinnern, nur kurz nachdem er*sie eine der Seiten, in die Menschen einst ­mehrere Monate Arbeit gesteckt haben, im Internet


gefunden hat . Sie sind vergessene ­Monumente, versunken in einem Meer von Informationen. Ein digitales Atlantis, das nur darauf wartet, entdeckt zu werden. Dabei ist der Weg dorthin nicht schwer. Manchmal liegt der grösste Schatz direkt vor unseren Füssen, und wir brauchen uns nur zu bücken und ihn aufzuheben. Uns die Zeit zu nehmen, ihn anzuschauen und wertzuschätzen. So verhält es sich auch mit dem Diplomarchiv: Es befindet sich im Hintergrund, wo niemand zufälligerweise daran vorbeikommt, aber das ­bedeutet nicht, dass es wertlos ist. Mit der Zeit wurde es ein digitales Nirvana für Projekte, ­obwohl «Wunderland» seinem Inhalt doch so viel besser gerecht würde. Deshalb möchte ich euch, verehrte Leser*innen, dazu ermutigen, euch ­einmal dorthin zu begeben. Ein Ausflug lohnt sich – versprochen. Also los! Auf ins Land der vergessenen Projekte. Auf ins Diplomarchiv.



Dieses Jahr sind wir nicht mehr damit beschäftigt, Punkte zu verbinden, sondern widmen uns der Verbindlichkeit. Wir fragen uns, was es heisst, sich zu «kommitten». Unsere Generation vermeidet so ziemlich jede Form von Verpflichtung. Wir sind heute geprägt von Konzentrationsstörungen, Bindungsängsten, und wir misstrauen der Sicherheit. Unsere Geduld hat neue Tiefen erreicht, und Langeweile ist für uns so selten wie unerträglich. Sich zu ent–scheiden, zwischen endlos vielen Möglichkeiten einen Weg zu wählen und damit glücklich zu sein ist für viele eine Herausforderung. Es ist ein inzwischen vertrauter Widerspruch, dass ein Überschuss an Optionen uns Entschiedenes bezweifeln lässt. Den angeblichen Schlüssel zu jeder Tür zu besitzen wird eine Last, die viele belächeln, und dennoch sind diese Durchgänge mit einem toxischen Leistungsverhalten und einer Eigenverantwortung verbunden. Die volle Last unseres Glücks liegt auf unseren Schultern, das ­Scheitern ist allein unsere Schuld. Wir werden mit Angeboten bombardiert, unendlichen Varianten unseres Lebens, die alle koexistieren, so lange wir uns nicht an eine binden. Alles bleibt flüchtig, und wir sind dauernd im Wandel. Eine neue, bessere Version ist meistens nur einen Knopfdruck ­entfernt. Wir wissen, dass sich alles ändern wird, und lassen uns nur auf weniges langfristig ein. Wir wechseln Kleider, Haarfarben, wertvolle Geräte, Namen, Wertvorstellungen, Beziehungen und Wohnorte. Auch unsere Körper sind im Wandel und bekommen


die Wegwerfmentalität immer mehr zu spüren. Unsere Körperteile ­werden ausgetauscht, wenn sie nicht mehr funktionieren, verändert, wenn sie nicht richtig aussehen, oder entfernt, wenn sie überflüssig sind. Wann verschwimmen die Grenzen so stark, dass sich das Konzept eines Körpers komplett auflöst? Wie manifestiert sich unser Sein, wenn wir physisch austauschbar werden, gespeichert in einer Wolke, bereit für die Übertragung auf das nächste Modell? Noch haben wir eine klare Kontur, die uns zeichnet und unser Ende definiert. Eine Haut, die spürt und Spuren trägt. Sie lebt und stirbt im Sekundentakt, immer jünger als wir es sind. Eine Hülle, die uns von der Aussenwelt trennt. Unser Tastsinn entwickelt sich aus den fünf als erster und lässt uns schon im Bauch die eigenen Körpergrenzen erfahren. In einer tauben Haut wäre die Welt dumpf, und wir würden uns ­weniger mit anderen und mit uns selbst verbunden fühlen. Sie bringt uns die Welt näher und schützt uns zugleich vor ihr. In einer oberflächlichen Gesellschaft macht sie uns auch verletzlich, denn sie wird zu einer Verpackung, die uns definiert. Durch ihre Farbe, Struktur und Behaarung werden wir eingeordnet, diskriminiert und als Mensch eingeschätzt. Wir fühlen uns gezwungen, unsere Haut zu bräunen, zu bleichen, zu lasern, aufzuspritzen, zu vergiften und abzudecken, um dieses Bild zu beeinflussen. Doch Körpermodifikation kann etwas anderes als der Zwang eines Systems sein.


Sie kann ermächtigend und befreiend sein. Wir können expressiv sein und manchmal unseren Körper unseren Bedürfnissen nach verändern, um uns wohlzufühlen in unserer Haut. Verlorener Verlass Was unter die Haut geht, dringt ein durch die Oberfläche und wird Teil von uns. Oder ein weiterer Teil, der unser Ich ausmacht. Tattoos können Geschichten erzählen und Narben ­verdecken. Sie lassen uns Bilder unseres Inneren auf der Haut tragen, sichtbar gemacht für die Welt. Sie können auch bedeutungslos sein, fast organische Accessoires. Doch was sie ausmacht, ist ihre scheinbare Permanenz. Ihre Langlebigkeit widerspricht vielem in unserem momentanen Leben. Sie sind eine Entscheidung. Über die Bedeutung jahrtausendealter Tattoos können wir nur spekulieren. Wir schätzen sie als Amulette zum Schutz, als Zeichen der Liebe oder als therapeutische Massnahmen ein. Oft symbolisieren Tattoos auf verschiedenste Weisen Status und Zugehörigkeiten, als Zeichen der Bindung, die ein Leben lang unverdeckt zu sehen sind. Zugehörigkeit lässt sich in einer kapitalistisch getriebenen Gesellschaft eher kaufen und wird materiell sichtbar gemacht. Ein solches System treibt wechselnde Kriterien der Zugehörigkeit voran und lässt uns der sogenannten Sicherheit nicht trauen. Sie zwingt uns in die Freiheit des Ent–Scheidens. Diese tiefe Ungewissheit und Angst, verlassen zu werden oder sich gefangen


zu fühlen, prägt unsere Beziehungen und unsere Gabe, sich ehrlich einander verbunden zu fühlen. Ist unser Tattoo–Trend also ein Zeichen des unbeschwerten Umgangs mit der eigenen Haut, eine weitere Form des Selbstausdrucks des Individuums, oder markiert er die Bewegung einer Generation, die sich wieder eine permanente Zugehörigkeit wünscht? Eine authentische Aussage über ihre Person, die sie ausgrenzt oder dazugehören lässt? Einen kleinen Anker der Verlässlichkeit, einen Beweis dafür, dass wir noch fähig und bereit sind, ein Commitment einzugehen. Vertraute Verletzlichkeit Ich weiss, wie es sich anfühlt, taub zu sein.­ Monatelang hatte ich vom Bauch abwärts kein Gefühl. Ich sehnte mich sogar nach Schmerzen, denn nichts zu spüren war schlimmer. Schmerzen kenne ich aber auch. Ich weiss, wie es sich anfühlt, wenn Nadeln so oft in deinen Körper dringen, bis sich deine Haut verfärbt, bis ins Rückenmark hinein. Ich kenne unerträgliche Schmerzen, die wie Phantome im Körper weiterleben. Dass ich die Nadel in die eigene Hand genommen habe, hat mich selber verwundert. Ich fühlte mich fremd in dieser Position, als eine Verräterin. Es brauchte lange, bis ich die Gefahr dieser winzigen Nadelspitze überwinden konnte und die Schmerzen, die sie verursacht, mit positiven Gefühlen assoziierte. Schritt für Schritt traute ich mich an andere Häute und an meine eigene heran.


Ich sah, wie andere sich hingaben und sich mir anvertrauten. Ich kann nicht so tun, als hätte das Tätowieren für mich eine tiefere Bedeutung ­gehabt als eine aufregendere Unterfläche für m­eine Zeichnungen zu finden. Doch im ­Prozess lernte ich, mich mit schärfster, fast nicht zu übertreffender Konzentration diesem Moment zu widmen. Bei jedem Strich halte ich die Luft an und vergesse mich beinahe. Es ist ein meditativer Stressmoment. Für mich wurde es eine intime Erfahrung des Vertrauens. Die offenbare Verletzlichkeit der Person, die ich wortwörtlich verletzte. Ein gescheiterter Strich kann nicht mit der Z–Taste rückgängig gemacht werden, sondern wird Teil dieser Haut. Auch wenn ein Tattoo entfernt werden kann und nur ein blasser Schatten einer Entscheidung überlebt, bleibt die Entstehung permanent.



Nach wenigen Wochen am HyperWerk entdeckte ich, in einem von zwei Studierenden organisierten Workshop, die Virtuelle Realität, kurz VR. Der Traum meines zwölfjährigen Ichs, das mit Spielen wie Super Mario und Zelda gross geworden ist und seither eine Leidenschaft für Spiele beibehalten hat. In die Haut meiner Helden zu schlüpfen und ihre Abenteuer hautnah zu erleben – was für eine fantastische Möglichkeit. Ich ziehe mir eine Oculus Rift über, die dazumal verbreitetste VR–Brille, und mache meine ersten virtuellen Schritte. Die Steuerung habe ich schnell im Griff und zersäble mit Laserschwertern im Takt dröhnender Elektro–Musik neonfarbene Würfel oder bepinsle den inexistenten Raum um mich herum mit virtuellen Pinseln. Im Workshop erhalte ich auch Einblicke hinter die virtuelle Fassade und lerne, mit welchen Tools diese Welten gebaut und zum Leben erweckt werden. Objekte werden in einem 3D–Modellier–Tool erstellt und mit einer Game–Engine auf die VR–Brille gespielt. Als gelernter Chemielaborant für mich alles Neuland. Seit diesem Workshop sind nun zwei Jahre vergangen, und meine kindliche Euphorie ist einer Ernüchterung gewichen: VR–Anwendungen, seien es Spiele oder Gestaltungsanwendungen, unterhalten mich nur kurzfristig. Nach wenigen Minuten wird mein Kopf schwer und der virtuelle Schabernack anstrengend. Die Faszination für die Anwendungen beginnt zu verblassen. Meist haben sie ein tolles Konzept und geniale


I­ nteraktionen, die mich aber nicht lange genug begeistern können. Es fehlt den meisten VR– Spielen an spielerischer Tiefe. Sie glänzen mit innovativer Steuerung und nutzen die Möglichkeiten von VR gekonnt aus, doch mangelt es ihnen an Komplexität und strategischer Finesse. Diese Mängel sind teils auch den immensen Ansprüchen an die Hardware geschuldet, die VR stellt. So benutze ich für Spiele weiterhin den Computer. Er kann mit atemberaubender Grafik, schier endlosen Spielmechaniken und schnellem Multiplayer punkten. Doch weshalb fasziniert mich VR immer noch? Verfolgen zu können, wie sich ein Medium langsam aus einer Nische herausbewegt, begeistert mich. Die immer besser werdenden Brillen und die neuen Möglichkeiten, mit ihnen zu experimentieren, üben eine kaum vergleichbare Faszination auf mich aus. Doch der wichtigste Punkt ist die Immersion. Sie ist es, was VR von allem anderen abhebt. Sie umschlingt mich im Ganzen und lässt mich mit einem lang anhaltenden Gefühl der Schwerelosigkeit wieder los. Mit ihr kann ich mich fürchten, trauern, lieben oder meine Ängste überwinden. Sie lässt mich staunen und entdecken. Sie ermöglicht mir das Unmögliche und lässt mich wach träumen. Um meine eigenen Träume zu visualisieren, habe ich mit 3D–Modelling begonnen. Meine ersten Modelle habe ich noch alle mit dem 3D–Drucker ausgedruckt, da mir die Abbildungen auf dem Bildschirm zu wenig fassbar waren.


Bringe ich meine Modelle nun in VR, muss ich sie nicht mehr physisch vor mir haben. Sie werden durch die Immersion greifbar. So bekomme ich ein Gefühl für die Modelle, für ihre Form, und kann Fehler besser erkennen. Manchmal habe ich eine Idee, die in der Realität zu teuer, zu gross, oder schlicht unmöglich in der Umsetzung wäre. Wie zum Beispiel eine Reise durch das Herz eines Elefanten. Mit VR habe ich sie, je nach Umfang, in wenigen Stunden in der Brille und kann sie erlebbar machen. Im Rahmen des diesjährigen OpenHouse entstand ein VR–Parcours, eine Mischung aus ­virtueller und realer Welt. Hindernisse wie ein Balancierbalken oder schwebende Plattformen waren physisch im Raum platziert. Der sonst leere Raum konnte vor dem Parcours betrachtet werden, und trotzdem wagten einige nicht, von Plattform zu Plattform zu springen, aus Angst d ­ avor, ins Leere zu fallen. Auch wenn sich der Parcours mehr auf die Füsse konzentriert hat, war es doch möglich, mit den Controllern nach Dingen zu greifen. Für die Immersion ist es ­unabdingbar, auch die eigenen Hände zu sehen. Die Controller bringen aber eine weitere Hürde mit sich. Ich dachte immer, VR–Steuerung sei extrem intuitiv. Die Erfahrungen mit den Besucher*innen zeigte aber das Gegenteil. Für mich, der es gewohnt ist, mit Controllern zu spielen und zu interagieren, ist die Bedienung intuitiv. Aber gerade für ältere Generationen ist der Umgang mit Joysticks, Triggern und Buttons ungewohnt und fremdartig. Schon einfaches Greifen mit den Triggertasten am


Controller überforderte einige Besucher*innen. Nach dem Parcours waren jedoch alle begeistert. Die Immersion von VR zu erleben ist eine beflügelnde Erfarung, nach der fast alle mit einem Lächeln auf den Lippen die Brille ablegen. Und das ist das Spannende für mich. Ich selbst bewege mich wenig in VR. Für mich sind das Erstellen der Anwendung und die ­Reaktionen darauf das Interessante. Was für ­ Gefühle kann ich erzeugen, und welche Emotionen durchleben die Anwender*innen? Darauf will ich aufbauen. Nur gibt es meiner Meinung nach noch ein weiteres Problem mit VR: Man ist isoliert. Sobald ich die Brille aufsetze, bin ich in meiner eigenen Welt. Was um mich herum ­passiert, verschwindet, und meine Erfahrungen bleiben ungeteilt. An öffentlichen Orten fühle ich mich zudem exponiert. Gerade an Ausstellungen, bei denen viele Besucher*innen um einen ­herumstehen, fühlt man sich schnell begafft. Nicht nur VR ist die Attraktion, die teilnehmende Person selbst wird auch zum Ausstellungsobjekt. Dieses Bild will ich auflösen. Die Barriere zwischen Besucher*in und Nutzer*in soll durchbrochen und die Erfahrung eine gemeinsame werden. Dabei geht es mir nicht nur darum, passive und aktive Zuschauer*innen zu verbinden, sondern auch darum, VR selbst gemeinsam erlebbar zu machen. Schaut man zusammen einen Film, lacht, weint und fürchtet man sich mehr als wenn man dies alleine tut. Man erlebt


den Moment gemeinsam und teilt seine Emotionen und Erfahrungen mit den Mitmenschen. Aus diesem Grund zieht es mich immer weiter weg von der Brille, und ich frage mich, wie ich das Bild aus der Brille direkt in den Raum bringen kann. Beamer könnten die Wände, den Boden und die Decke bespielen – wie dies schon seit bald 30 Jahren mit dem Cave Automatic ­Virtual Environment (CAVE) gemacht wird. ­­ Der ­virtuelle Raum wird über die Realität gelegt, und wir könnten ihn gemeinsam erleben. Ich will die Immersion von VR in die Realität bringen und die Grenzen zwischen dem Digitalen und dem Physischen verschwimmen lassen. Auch wenn meine anfängliche Schwärmerei verflogen ist, sehe ich immer noch das immense Potenzial von VR. Gerade weil die Brillen günstiger, kleiner und zugänglicher werden, kratzen wir im Moment nur an der Oberfläche. Und vielleicht geht in 20 Jahren wieder ein Traum meines zwölfjährigen Ichs in Erfüllung. Doch bis dahin werde ich das Zepter in der Hand halten und mir meine Träume selbst erfüllen.



On the importance of defining conflict One screen, two people, and one theme that ­underlies a million things. kommit to conflict – this is our topic of the year, and I want to talk about it, as I had announced to Judith, my interlocutor for an hour. Why? Because I disagree. Because I do not want to have a commitment to conflict. Not if conflict means violence and aggression, not if conflict means le point de non– retour and degradation. Not if conflict necessarily indulges in crashes and pains. Not if the conflict is avoidable through a healthy and transparent communication. Judith agrees with me on that. Judith is a psychiatrist and specializes on couples therapy. She has been engaged in this from a professional point of view but she could easily engage with me in a personal way and reflect with me on my own experiences and thoughts. I start by giving my statements about why I would not encourage people to kommit to conflict. Her first reaction as a couples therapist was that she would generally advise her clients to commit to conflict because most couples have the tendency to run away from it. But then, upon reflection, yet only if conflict is seen through the glasses of positivity she would be glad to observe couples going through conflicts with a constructive attitude. Because it is only then that they will learn from it.


In order to put on those glasses of positivity we first need to agree on which subtitles we choose to approach conflicts. Subtitles such as evaluating the situation and circumstances, as interrogating compromises, as accepting the differences between each other and the subjectivity of each one. Such as trying to find a common language where you can give yourself into the conflict with the formal intention to connect back with the person you’re having the conflict with. If connection shall be the goal and the result of a conflict, then yes: let’s fight with each other! That means what it means. Fight WITH each other, not against each other. There’s a ­difference. If we fight against each other, it will only lead to one party attacking and the other party backing off and vice versa, and so on. Such a dynamics only will lead to isolation, physical or ­emotional, or both. But if we engage to fight WITH each other then we might find a way to agree on ­something. Either to agree on our disagreement or to agree on tolerating each other’s disagreement: accepting someone else’s world of subjectivity without collapsing our own world of subjectivity. Without collapsing those two worlds together but by making them cohabit with each other. On the importance of defining commitment If I can golden the skin of conflict by using my positivity glasses – what about committing? At first, I read on the internet that as a verb it


could mean: «perpetrate or carry out (a mistake, crime or immoral act)» (Lexico powered by Oxford, https:// www.lexico.com/en/definition/commit). I wonder. I search further commitment as a noun to deepen my argument. Two definitions retain my attention: «the state or quality of being dedicated to a cause or activity» (Lexico, https://www.lexico.com/en/definition/commitment) and: «an engagement, obligation or promise that restricts freedom of action». (Collins Dictionary, https:// www.collinsdictionary.com/dictionary/english–thesaurus/commitment)

After reading those definitions, I keep wondering: do I really want to commit to conflict? No. As before, I do not want to commit to the bare conflict itself but rather to my positivity glasses. Because conflict brings chaos, Unsicherheit, des problèmes, fears, borders, and limits. I still believe it is rather the final state of disagreement where solutions are hard to find because both sides are already hurt. Judith also shares that when she says about clients that they have a conflicted relationship, that ­doesn’t imply anything positive. It means they have unsolved issues, unfinished business. Usually, she says, when couples are getting in conflict in my room, it is always about the same issues that keep coming back. It is like a circle of disagreements that keeps looping (circling over time), and after a while it becomes the essence of the conflict: the unsolved issues, the dirty laundry. What if a conflict is a disagreement impossible to be solved, impossible to be dealt with?


What if a conflict is exactly the state before the Last Judgment, before the breakdown? Why would I want to carry out the same mistake over and over again, towards myself, towards my partner, and between each other? Conflicts need to be overcome, not perpetuated. We need to break the loop, not support it. On the importance of what I am committed to If I want to commit to something towards the point of conflict the first thing I need to agree with is what I’m committed to. I explained to Judith that for me, commitment feels more like a narrow thing since the previous definition would confirm as «an engagement or obligation that reduces freedom of action». It includes to commit in one direction and to exclude other alternatives. Related to relationships, we correlated the topic with the concepts of monogamy, polyamory and open relationships. Judith added that it does feel the same way to her: «to commit to someone includes to only commit to that person since committing addresses one thing and not many.» But in general, it might still be possible to commit to different relationships if what I’m committed to is actually the person itself and not the «common idea» of a relationship. Therefore, committing to the relationship itself rather than to the conflict of interests might be a key to navigate through interaction without it ending in conflictual results. With awareness,


I may commit to directions that serve my purpose better. For example, I could commit to transparency and communication into the process of ­contradictions. The key to commitment is to know and decide what I am committed to. However that may look – you better know how that feels. And it should feel right. Again, I do not want to commit to the conflict itself as such, even though I am not ­trying to deny its content and causes. What I want to commit to are actually its causes and ­processes, and not its results. What I want to commit to is carrying on and using tools of awareness to avoid the point of conflictual abrasion. Which means that I do not want to avoid the conflictual processes, only the abrasion: the unnecessary fire that burns mind, soul and heart, without leaving a space for the friction to be observed and processed properly. Truly, what we need is to go through conflict, to pass through it. Sometimes it means the conflict is transparent enough to just stay there as a disagreement. Some other times it means the conflict itself is valuable enough to be worked on, worth to reflect and maybe transform one’s self if the desire and purpose is to reconnect with the other side.But, to be sure, I do not want to stick to the c­ onflict and perpetuate it on purpose. I want to move on, or move with it but not closer to it. And for that purpose we need to learn to use communicative tools properly.



TW : Lieber Mattthias, drei Jahre HyperWerk sind für dich nun um. Du machst also mit diesem Jahrgang auch eine Art von Diplom. Kannst du deinen Weg im HyperWerk skizzieren? MB : Ich leite das Institut HyperWerk jetzt seit fast drei Jahren. Das ist genau die Zeit, die Studierende normalerweise bei uns verbringen. Der jetzige Abschlussjahrgang, die 19, sind mit mir gekommen, und wir haben zusammen versucht zu verstehen, was HyperWerk alles ist und bedeutet. Für mich war klar, dass so ein Institut ein gewachsenes und komplexes Projekt ist. Gerade Catherine Walthard und Max Spielmann, die von Anfang an dabei sind, haben das Institut intensiv geprägt und tun es auch weiterhin. Wir haben unser Team aber nun erweitert und neue Schwerpunkte gesetzt. Schon die letzten 20 Jahre hat das HyperWerk eine permanente Evolution und Weiterentwicklung durchlaufen. Das ist Teil der pädagogischen Haltung von Selbstermächtigung oder Empowerment, die ich gerne beibehalten möchte. Gleichzeitig wird es mit einem Weiteroptimieren nicht getan sein. Auf allen Ebenen brauchen wir neue Herangehensweisen und müssen uns unserer Beschränkungen und Privilegien bewusst werden – kommit to conflict! TW : Magst du deine Einflüsse als Architekt beschreiben, die du mit ins Hype gebracht hast?


MB : Als Architekt habe ich eine räumliche Perspektive auf die Welt, und ich würde sagen, dass diese sich nun auch verstärkt am Institut zeigt. Meine Definition von Architektur ist die räumliche Anordnung sozialer Prozesse. Hier koppelt sich meine vorherige Arbeit mit der Idee des HyperWerks. Ich habe viel als Kurator gearbeitet, und ähnlich sehe ich die Auswahl der Dozierenden und der Lehrangebote. Es ist ein Sorgetragen. TW : Zu den Mechanismen wie Patriarchat, Kapitalismus, Rassismus ist nun Corona hinzugekommen. Probleme, die in der Gesellschaft vorherrschen, spitzen sich deutlich zu. Menschen, die in prekären Umständen leben, stehen jetzt unter noch höherem Druck und leiden unter noch grösseren Ängsten. Es tauchen allerdings auch Lücken auf, wie zum Beispiel die Öffnungen von Fahrradwegen, auch wenn diese Lücken klein sind. Siehst du Ansätze, die eine Handlungsfähigkeit bei der aktuellen Transformation für uns Gestalter*innen ermöglichen? MB : Viele prekäre Situationen sind durch Corona noch prekärer geworden und werden noch weniger gesehen als vorher. Viele Menschen denken nun, dass sie selber genügend Probleme haben, und sehen ihre eigenen Privilegien nicht mehr. Veränderungen wie die Fahrradwege finde ich sehr spannend und motivierend. Leider gibt es aber auch entgegengesetzte Tendenzen. Die Menschen, die im Einfamilienhaus leben und mit dem Auto zur Arbeit fahren, fühlen sich in


ihrer Lebensweise bestätigt. Sie leben in ihrem Safe Space mit Garten und gutem Internetanschluss. Das ist schön für sie, aber als Leitbild fatal. Um weitere Flächenversiegelung zu vermeiden, können wir nicht alle so leben, und die meisten Menschen können es sich auch finanziell nicht leisten. Die Frage muss sein, wie wir den kleinen Wohnraum in der Stadt oder im Dorf gestalten können, um dort gut zu leben. Die Flucht der Reichen aufs Land ist so klassisch wie pervers.Der Platz für die Fahrradwege ist vor allem dadurch entstanden, dass durch den Shutdown viel weniger Autos unterwegs waren. Die Hoffnung ist natürlich, dass sich hier auf Dauer etwas ändert. Das hängt sehr davon ab, wie die kommenden Konjunkturpakete ausgestaltet werden. Wo wird der Hauptteil der Förderung hingehen? Das wird die nächste Zukunft entscheidend beeinflussen. Dort sehe ich die Aufgaben für die HyperWerker*innen. TW : Gabu Heindl hat in ihrem Vortrag bei euch ihre Arbeit DONAUKANAL PARTITUR vorgestellt und dort von einem «Nicht-Bebauungsplan» gesprochen Produkte sind für viele Gestalter*innen und Nutzer*innen immer noch das Resultat ihrer Arbeit. Wie ist deine Position zu den Produkten in der Gestaltung? MB : Ich denke, dass wir immer gestalten. Bei uns ist die Gestaltung nicht ans physische Objekt gebunden, sondern es geht um die Prozesse. Dies führt zu der Frage: «Wo ist denn dann nun euer Produkt?» Dass unsere Produkte nicht


physisch sind, macht diese aber nicht weniger zu Objekten der Gestaltung. Selbst in der Architektur, aus der ich komme, ist die Anleitung zur Nutzung eines Raumes manchmal genug Gestaltung. TW : Meint ihr mit eurem Jahresthema der Diciannove/19 – kommit to conflict auch diejenigen Konflikte, die sich jetzt während Corona zuspitzen? MB : Sowohl die Grundfrage am HyperWerk: «Wie können wir zusammen leben?» als auch das Jahresthema kommit to conflict passen leider sehr gut zu den aktuellen Umständen. Wobei ich sagen muss, dass die Umstände auch vorher schon schlimm genug waren und uns auch noch länger beschäftigen werden. Ganz direkt waren mit kommit to conflict Fragen von Gerechtigkeit, Resilienz, Nachhaltigkeit, Zukunftsfähigkeit, Diversität, intersektionaler Benachteiligung und struktureller Gewalt angesprochen. Meine Idee dazu ist, dass diese wichtigen Punkte nicht getrennt, sondern gemeinsam gedacht werden sollten – sie sind zwei oder mehr Seiten einer Medaille. TW : Wie weit geht euer Jahresthema ­kommit to conflict als eigene Arbeitsthese oder auch als Aufruf an andere Gestalter*innen? Wir sprachen vorhin über den Online– Vortrag von Gabu Heindl, dem ich auch aus Kiel beiwohnen konnte. MB : Der öffentliche Aufruf oder öffentliche


Vorträge werden die Blase nicht direkt ändern, denn auch du bist Teil davon. Die Schweiz ist an sich schon eine grosse Blase, und das Dasein an einer Kunsthochschule noch mehr. Trotzdem ist es natürlich unser Anspruch, aus dieser Blase herauszukommen. Die HyperWerker*innen gehen von hier in alle Richtungen. TW : Das Diplom ist circa in der Hälfte angelangt. Was sind eure weiteren Arbeiten, worauf können wir uns freuen im Diplom? MB : 2019 hatten wir das HyperFestival als öffentliches Format, um die Diplomarbeiten zu testen. Wie machen wir es 2020 nun mit den Einschränkungen durch Corona? Für kommit to conflict war immer offen, wie unser öffentliches Format aussieht, ob es nun ein Parcours oder eine Ausstellung wird. Jetzt wird es ein von Studierenden entwickelter Hybrid aus virtuellem Rundgang und Live–Momenten. Am 12. und 13. Juni wird dazu der Distrikt 19 eröffnen – eine Website wie die Fassade eines grossen Hauses, mit einem Raum für jede Diplomthese. Auch im Distrikt 19 geht es weniger um das Ausstellen fertiger Produkte, sondern um Feedback zu den einzelnen Diplomthesen und Prozessen. Ich bin sehr gespannt, wie sich das entwickeln wird. Im Herbst finden die Prüfungen dann hoffentlich wieder offline statt, das ist allerdings auch noch nicht ganz klar. Eine weitere Gruppe arbeitet an der Jahrespublikation, die in Form eines Taschenbuchs erscheinen wird und für die wir dieses Gespräch führen.


TW : Das Format eurer Publikation ist in diesem Jahr eher ein aktivistisches als ein akademisches. Wie kam es dazu? MB : Die Jahrespublikation wird in diesem Jahr noch mehr von den Studierenden selbst organisiert als sonst, und der Druck sollte nicht zu aufwändig sein, um möglichst viele Punkte lange in der Schwebe halten zu können. TW : In ‹klassischen› Publikationen von Kunst / Design Hochschulen spielen Lehrende häufig eine große Rolle. Sätze, wie zum Beispiel «Ich bin in der Klasse von ...» sind oft zu lesen. Nun habe ich dir die Fragen vorgesetzt. Zu welcher Thematik hättest du geschrieben, wenn du einen Beitrag verfasst hättest – oder was wäre eine Frage gewesen, die du gerne gestellt hättest? MB : Du hast mir tatsächlich viele Fragen gestellt, die ich mir auch gestellt hätte. Ein grosser Konflikt ist natürlich, dass alles, was ich neu gestalte, Wachstum befördert und Ressourcen verbraucht. Aber Aufgeben zählt nicht, und vielleicht geht es auch anders. Diesen Punkt hatte Gabu Heindl an ihrem Vortrag angesprochen: das genaue Überlegen, was getan wird und erst dann, wie es gut umgesetzt werden kann. «Klassische» Gestaltungsprozesse sind Fragen, wie etwas gemacht wird. Aber die Frage, was überhaupt und warum, auch aus welcher Positionalität und mit welchen ­Privilegien wird seltener gestellt.










Es ist ein sonniger Montagmorgen. Mitten in einer pandemischen Krise spielen zwei junge Menschen Tischtennis auf dem ­ausgestorbenen Vorplatz der Kunsthochschule (HGK). Ob sie Studierende sind oder nicht, ist nicht wichtig. Wir vier sind die einzigen Menschen hier. Ich ­sitze mit Elena auf einer Rollkiste voll vertrocknetem Gras. Wir befinden uns in einer Betonwüste. Hochschule für Gestaltung. Sie trägt eine graue, gemusterte Stoffhose, die Blume des Lebens ziert ihre Beine. Dazu ein dunkelblaues kariertes Flanellhemd und einen knallig roten Lippenstift. Ihre dunkelgrauen Haare sind zu einem wilden Bob geschnitten. Ihr Blick ist klar, offen und direkt. Unverfälscht. Mir scheint, es ist das erste Mal, dass wir uns wirklich in die Augen schauen, dabei sah ich Elena schon an meinem ersten Tag auf dem Campus. Tatsächlich war sie schon am HyperWerk, bevor dieses überhaupt HyperWerk war. Ich frage sie, wer sie ist, und sie meint lachend: «Eine Frau!» Aber von vorne. Elena kam 1991 nach Basel, ursprünglich nur für vier Monate. Danach wollte sie zurück nach Italien. Als die befristete Stelle bei der Ingeno Data definitiv zu besetzen war, entschied sie sich zu bleiben. Während vier Jahren besuchte sie wöchentlich an der Volkshochschule Basel den Abendkurs «Schreibwerkstatt», der von Friederike Kretzen geleitet wurde. In einem Gespräch mit Friederike erwähnte


Elena, dass sie auf Arbeitssuche war, und erfuhr, dass Friederikes Lebenspartner, Mischa Schaub, für seine neu gegründete HyperStudio AG eine Person für Administration und Buchhaltung suchte. Vom kleinen experimentellen HyperStudio über die erste Angliederung an eine Bildungseinrichtung, die Fachhochschule beider Basel, bis zum heutigen HyperWerk FHNW HGK begleitete sie die Entwicklung des Instituts. Mit der wachsenden Legitimation wuchsen allerdings auch die Einschränkungen und Forderungen, die die Angliederung an eine staatliche Hochschule halt so mit sich bringt. Doch trotz der eher behindernden als fördernden Erwartungen einer Hochschulleitung erinnert sie sich an die Progressivität des HyperWerks als Arbeitgeber. Vor zwanzig Jahren erblickte ihre Tochter das Licht der Welt und wurde in den Räumen des ehemaligen HyperZentrums am Totentanz grossgezogen. Wahrscheinlich die am meisten anwesende Lernende in der Geschichte des HyperWerks. Als ich frage, ob ihre Tochter schon einmal daran gedacht habe, hier zu studieren, zitiert Elena: «Niemals HyperWerk!» Wir lachen. Die Gefahr des «Hängenbleibens» ist allen wohlbekannt, die mit dem HyperWerk direkt oder indirekt zu tun haben. Am Totentanz mochte sie die Umgebung, die Studierenden und die Ideen,


welche durch die Gänge schwirrten. Von der technikorientierten Forschungsgruppe der Ingenieurs– und Architekturschule zur Prozessgestaltung. Vielleicht sind die meisten HyperWerk–Student*innen wegen dieses ambivalenten Werdegangs anders als die meisten Studierenden der HGK. Es war schon seit den Anfängen des Instituts immer ein Bestreben, eine gute Balance zwischen männlichen* und weiblichen* Student*innen zu generieren, hatten doch die männlichen Studierenden zu Beginn stark dominiert. Unter den Institutsangestellten war das Verhältnis allerdings schon immer sehr ausgeglichen. Als ich sie nach einem Vergleich der Interessen von damals zu heute frage, überlegt sie einen Moment. Früher habe man mehr versucht, aktuelle, lokale und globale Ist–Zustände konstruktiv zu erforschen und zu verbessern. Heute scheint ihr das HyperWerk viel provokanter, viel politischer. Natürlich waren Sexismus und die Frauen*bewegung schon immer relevante Themen, wurden allerdings im kleinen, konzentrierten Rahmen behandelt. Heute versuchen Student*innen eher, im grossen Rahmen zu provozieren. Vielleicht hat das mit Mischas Abgang als «Triebkraft des Instituts» zu tun und mit dem Bedürfnis der Student*innen, dieses Loch nun selbst zu füllen.


Die Student*innen waren schon immer dazu angehalten, den Inhalt des Unterrichts mitzugestalten. Nur die Themen haben sich oder ihre Relevanz verändert. Menschen, die im HyperWerk nach einer führenden Hand suchen, sind hier fehl am Platz. Was man hier allerdings lernen kann, ist eine Selbstsicherheit, den Mut, nein zu sagen und die eigenen Ideen umzusetzen. Grundsätzlich fehlte allerdings, in Anbetracht der vielen sehr jungen Student*innen ohne ­vorherige Ausbildung, ein konkret strukturierter Unterricht mit Bezug auf die betriebswirtschaftlichen, administrativen und rechtlichen ­Themen, um sich schlussendlich selbstständig eine Wirtschaftlichkeit aufbauen zu können. Als ich sie frage, ob sie denn gern mal einen Buchhaltungsworkshop geben würde, verneint sie fast schon erschrocken. Elena ist ein geradliniger Mensch, der nicht gern im Mittelpunkt steht. Sie weiss, was sie will, und sie wollte sich nie in die Inhalte der Studierenden einmischen, sondern souverän ihre Arbeit erledigen. Ich hätte gerne mehr von ihr gehört. Die wichtigsten Faktoren, die das HyperWerk von anderen Instituten unterscheiden, sind einerseits das Mitspracherecht der Student*innen über die Studieninhalte und andererseits die enge Zusammenarbeit mit dem*der persönlichen Mentor*in. Am HyperWerk wird mensch nicht alleine gelassen, muss sich allerdings selber


zurechtfinden. Als Tipp empfiehlt sie, sich eine*n Mentor*in auszusuchen, welche*r im besten Fall völlig gegensätzlich zum*zur Mentee denkt, um den Diskurs zu fördern. Auf die Frage, was denn das HyperWerk in ihr selbst verändert habe, meint sie: «Nichts». «Mischa ist ein Mensch, der einen immer ins kalte Wasser geworfen hat, er war provokativ und ist einer Konfrontation nie aus dem Weg gegangen, danach hatte man allerdings immer gute Gespräche mit ihm. Früher hatten wir eine provokative Schulleitung und agierende Student*innen, heute eine agierende Schulleitung und provokative Student*innen. Woran das allerdings liegt und was davon besser ist, weiss ich nicht.» Wir sprechen über die Zukunft des HyperWerks. Früher wurden die Institute wie eigenständige Firmen geführt, heute versucht die Hochschulleitung, die Unterschiede zwischen den Instituten abzuflachen. Individuelle Freiarbeit wird immer mehr erschwert, und sie glaubt nicht, dass dies für das Institut HyperWerk eine positive Entwicklung sei. Die Utopie wäre eine Privatschule. Die Wirtschaftlichkeit und die Chancengleichheit wären dann allerdings massiv infrage gestellt. Der immense Einsatz und das Fachwissen der Dozierenden kann unter den Anforderungen der Hochschule leider nur begrenzt entfaltet werden. Doch wie sich die Welt verändert, wird sich auch das HyperWerk mit ihr verändern.


Elena empfindet sich als Beobachterin. Sicherlich hat sie enorm viel gesehen, viele verrückte Köpfe, viele ambitionierte, und viele Denker*innen. Viele junge Menschen sind gekommen und gegangen. Die einzige Aversion, die sie im Hochschulkontext empfand, war, wenn der Versuch von «oben» unternommen wurde, ihr zu sagen, was sie wie zu tun oder zu lassen habe. Und was macht Elena nach 26 Jahren HyperWerk noch immer so richtig wütend? Wenn jemand in einer Diskussion sagt: «Lassen wir das.» «Der Leitung der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) fehlt der Kontakt zu den Student*innen und zu der Frage, wie weit wir Freiheit definieren und ausleben wollen. Welchen Rahmen wir uns setzen und wie weit wir bereit sind, Kompromisse oder Risiken einzugehen, muss jede Person individuell entscheiden. Das HyperWerk bietet aber eine gute Grundlage, sich mit ebendiesen Fragen auseinanderzusetzen: Welche Sinnhaftigkeit und Relevanz hat das, was du am HyperWerk machst? Ist es neu? Wie kannst du deinen Inhalt auch post–HyperWerk anwenden? Darauf aufbauen?» Ich frage sie, ob es sie denn nicht stören würde, in einem öffentlichen institutionellen Format mit kritischer Stimme zu erscheinen. Sie lacht: «Ich werde sowieso bald pensioniert.»


In der Rente wird sie sich wieder ihrer Pre–­ HyperWerk–Leidenschaft widmen, dem Fotografieren. Wir danken ihr ganz herzlich für ihren Einsatz, ihr Kommitment zum Konflikt, und wünschen ihr alles Gute in ihrem wohlverdienten Ruhestand.


Wie im Konflikt, so auch in diesem Buch – um sich zurechtzufinden, braucht es die Bereitschaft zum Entdecken. Über 50 verschiedene Beiträge sind in diesem Buch vereint. Die Vorgabe der Redaktion war, dass es sich wie ein Suhrkamp-Taschenbuch anfühlen und lesen sollte. Lange Zeit sind wir bei einem sehr klassischen Layout geblieben. Dann haben wir begonnen, die SuhrkampÄsthetik mit verschiedenen Spielereien wie den Kopierschatten, gesprayten Stencils und Handschriften aufzulockern. Schlussendlich ist vom klassischen Reader nicht viel übrig geblieben. Zum Beispiel gibt es keinen Index und keine Seitenzahlen, weil auch der Verlauf vom Konflikt keiner vorhersehbaren Chronologie folgt. Mit analogen Merkmalen wollen wir eine Spannung erzeugen, Unerwartetes herbeizaubern, mit Details überraschen.

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Ho, was fürso einwie verrückter Text!Riding, Beim dem LesenEinreiten fühlt Mensch sich fast beim Bareback eines Wildpferdes. Den einen packt er, die anderen finden keinen Einstieg. sich auf undaus. schlägt zwei, dreiAufMal jeden kräftigFallmitbäumt beidener Hinterbeinen Ich habe den Ritt nun schon gefällt eine Handvoll Male durchgemacht, und irgendwie mir die kernigewieArtdieser ganz gut. Wichtig ist aber, glaube ich, zu wissen, rodeomässige Text zustande gekommen ist. Lucca Jäger,angefragt, seines Zeichens Ventidue, wurde von uns, der Redaktion, ob er nicht einen Text für die Publikation schreibenaufwolle. Ererstes sagteSemester zu. SeineamAbsicht war es, einen Rückblick sein HyperWerk zudazuliefern. Ganz in der Manier desText HyperWerks liess er sich auf ein Experiment ein. Der kommt als brieflicher Austausch mitgerade seinemumgekehrt fiktiven Onkel Remo daher. Doch ist er in Wahrheit herum entstanden Fragen zuerst– für da. einmal waren die Antworten auf die Lucca berichtete Siri über(der seinefiktive Erlebnisse amRemo) HyperWerk. Danach stellt ein Freund Onkel Fragen zuWoche, den wie Antworten. Die Reise beginnt mit der Co-CreatejedesdenStudienjahr an und der HGK, geht House über und Stationen wie HyperBirthday das Open endet mitSemesters. dem Corona-bedingten Lockdown Anfang seinesins zweiten Lucca beschreibt dabei den Eintritt HyperWerk und dasmitSuchen nach Sinn undHyperWerker*innen Unsinn, Schwierigkeiten, welchen wohl viele zuundkämpfen haben. des DasKopfes, Holprigedasverstärkt diese Odyssee das Schwirren mensch in dieser Situation verspürt, aus meiner Sicht sehr gut. Für mich zeigt der muss, Text, viel der vom sicherlich als Experiment betrachtet werden Jahresthema kommit to conflict. Lucca liess sich mit der Verwendung von Siri darauf ein,wurden, dass seine Stimme unddasAussage bis insdassGroteske verzerrt und ging dabei Risiko ein, er Sicht möglicherweise missverstanden wird. Das ist aus meiner nicht nur HyperWerk, sondern auch kommit to conflict! Ich kann EuchEuchnurfest ermutigen, EuchAchterbahnfahrt darauf einzulassen. Doch haltet auf dieser zwischen HyperWerkAlltag und moderner Technik.

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kommit to conflict ist unser Jahresthema. Für sich genommen kann es als aggressiv gelesen werden, als Aufforderung zum Streiten, als Legitimation für Kriege und Gewalt. Vielleicht bedarf es hier einer kleinen Relativierung. Ich verstehe das Wort Konflikt in unserem Jahresthema nicht als «eine mit kriegerischen Mitteln ausgetragene Auseinandersetzung zwischen Gegnern», sondern als eine «durch das Aufeinanderprallen widerstreitender Auffassungen, Interessen o.Ä. entstandene schwierige Situation» und als «Zwiespalt, Widerstreit aufgrund innerer Probleme». (Konflikt, Duden online, o.J.) Für mich steht das Jahresthema in erster Linie als Aufforderung, sich unliebsamen Veränderungen zu stellen. Wir als Gesellschaft entwickeln uns ständig weiter und kommen um Veränderungen nicht herum, auch wenn sie nur ganz klein sein mögen. Als die Gewohnheitstiere, die wir Menschen nun mal sind, fallen uns Veränderungen oft nicht leicht, gerade wenn sie in eine Richtung gehen, die wir im ersten Moment nicht gutheissen. Hier kommt das kommit ins Spiel, die Bereitschaft, sich mit ebenjenen Konflikten zu befassen, die wir auf den ersten Blick als nicht wichtig erachten. Das Jahresthema kann jedoch dazu verleiten zu meinen, dass sich jetzt auch alle anderen Menschen den Konflikten stellen müssen, die wir selber für wichtig halten, und dass wir darüber vergessen, dass andere Menschen mit anderen Konflikten befasst sind. Es besteht die Gefahr, dass wir andere zu Veränderungen verpflichten wollen, ohne unsere eigene Position zu


­ interfragen. Dessen müssen wir uns deutlich h bewusst werden, um nicht eine weitere Endlosschleife zu schaffen, wie es sie an anderen Orten bereits zur Genüge gibt. Ich nehme nun die Definition von Konflikt als kriegerischem Akt doch nochmals auf, da ich daraus etwas für mein Verständnis von kommit to conflict mitnehmen kann. Bei der Auseinandersetzung mit unserem Jahresthema musste ich immer wieder an die Ereignisse aus dem Ersten Weltkrieg denken, die unter dem Namen «Weihnachtsfrieden» in den Geschichtsbüchern verzeichnet sind. Ab dem 24. Dezember 1914 kam es in Flandern zu einer Waffenruhe zwischen deutschen und britischen Soldat*innen, die von den Befehlshabern nicht autorisiert war. Aus den Gräben hochgestiegen, konnten die Soldat*innen ihre Gegenüber einen Moment lang als lachende und feiernde Menschen erkennen, die die gleichen Weihnachtslieder sangen und mit ihnen das Bedürfnis nach einer friedlichen Weihnachtszeit teilten. Zwischen den Schrecken des Krieges entstand für eine kurze Zeit Nähe. Aus den Berichten geht hervor, dass nach dieser Zeit manch einer kämpfenden Person die Fortsetzung der Gefechte schwerfiel, da das ihr eingetrichterte Feindbild während dieses humanen Zwischenspiels nicht der Wirklichkeit entsprochen hatte. (Vgl. Weihnachtsfrieden (Wikipedia)) Eine Erfahrung, die in vielen heutigen Konflikten mit ihren Drohnen und Marschflugkörpern kaum wiederholbar ist. Es gibt keine Berührungspunkte mehr, nur noch Annahmen, Vorurteile, Stereotypen


und Ideologien, die sich nie einer direkten Überprüfung stellen müssen. Es fehlt die Nähe. Und es ist genau diese Nähe, die nötig ist, um Konflikte – und damit meine ich jetzt nicht nur die kriegerischen – nachhaltig auszutragen. Ich habe jetzt gross ausgeholt, dabei will ich doch eigentlich ins ganz Kleine gehen. Nicht dass uns grosse Konflikte nicht beschäftigen sollten. Es gibt jedoch genug kleine Konflikte, derer wir uns täglich annehmen können, wenn wir denn wirklich wollen, um unseren Teil zur Veränderung beizutragen. Im Grunde genommen ist ja bereits der Entscheid, ein Studium zu beginnen, ein kommit to conflict, eine Bereitschaft, die eigenen Ansichten und Einstellungen zu überdenken und sich auf neue Einflüsse einzulassen – und es geht gerade nicht darum, das hergebrachte Weltbild zu zementieren. Ein HyperWerk–Studium ist die Chance, die Nähe zu Menschen aus verschiedenen Ecken, mit unterschiedlichen Sichtweisen, zu nutzen, um sich vermehrt selbst zu hinterfragen. Wie wichtig diese Nähe für das Austragen von Konflikten ist, möchte ich anhand eines Beispiels erläutern. Vor meinem Studium habe ich mir über gendergerechte Sprache keine grossen Gedanken gemacht. Ich sah auch keine Notwendigkeit darin, eine Sprache, die in meinen Augen über Jahrhunderte gewachsen ist, in kurzer Zeit durch diverse Eingriffe zu verändern. Wenn ich entsprechende Artikel in der Zeitung las, konnte


ich das Bestreben der Verfechter*innen dieser Änderungen nicht nachvollziehen und dachte wohl auch das eine oder andere Mal, dass es Wichtigeres auf der Welt gebe, worum wir uns kümmern sollten. Für mich war und ist Text nicht einfach nur eine Ansammlung von Wörtern, die irgendeinen Inhalt vermitteln wollen. Text ist auch ein Bild, eine Komposition von Zeichen, Abständen und Leerzeilen, bei der jedes zusätzliche Sonderzeichen ein störendes Element darstellt. Gleichzeitig ist für mich das Lesen eines Textes auch nicht nur eine Informationsaufnahme, es ist auch ein Lied, das durch den Rhythmus einen Klang vermittelt, der auch nach dem Absetzen noch nachhallt. Jeder Schrägstrich, jede weitere Unterbrechung stört diesen Klang und nimmt mir etwas von dem, was ich so liebe. Es fühlte sich teilweise so an, als wäre ich ein Maler, und es würden mir nun Farben aus meiner Palette gestrichen. Nach meinem Empfinden hatte ich nie Personen durch meine Sprache ausgeschlossen. Dieser Satz mag nun bereits ein Affront an die Leser*innen sein. Aber er ist echt, er bildet die Wahrheit ab, was mein subjektives Empfinden von damals betrifft – oder eben glücklicherweise jetzt: betraf. Und genau hier müssen wir ansetzen, wollen wir durch kommit to conflict etwas verändern. Es bringt nichts, wenn wir Menschen, die eine gegenteilige Ansicht vertreten, unsere eigenen


Wahrheiten an den Kopf werfen. Sie kommen bei ihnen nie an und führen nur zu einer Verhärtung der jeweiligen Sichtweise und zu einer Lagerbildung – womit wir bald wieder bei jener Definition für Konflikt wären, die wir oben im ersten Abschnitt ausgeklammert haben. Wir müssen Nähe schaffen, damit die Argumente nicht ihr Gewicht verlieren. Es war auch diese Nähe, die mir in meinem Fall eine nachhaltige Auseinandersetzung mit der gendergerechten Sprache ermöglicht hat. Ich schreibe und lese heute mit einem anderen Empfinden und störe mich daran, wenn Menschen in Texten ausgeschlossen werden. Dies nicht nur, weil ich nun weiss, dass sich viele Menschen durch Sprache diskriminiert fühlen, sondern weil ich es wirklich so empfinde. Es ist zu meiner neuen subjektiven Wahrheit geworden. Noch kann ich nicht von mir behaupten, dass ich das immer umsetze, doch ich arbeite daran und bin dankbar, wenn ich auf Unterlassungen hingewiesen werde. Ein mit Sonderzeichen übersäter Text lässt sich häufig durch Umschreibungen vermeiden, wobei ich mittlerweile auf ein Sonderzeichen gar nicht mehr verzichten möchte, nämlich auf das Sternchen: *. Es hält für mich bei jedem Einsatz das Bewusstsein aufrecht, dass mit Frau und Mann noch nicht alle Menschen angesprochen sind. Für diesen ganzen Prozess brauchte es Bereitschaft von meiner Seite, aber auch Verständnis und Zeit in meinem Umfeld, sodass ich mich darauf einlassen konnte. Dieses Beispiel mag nur einen kleinen Konflikt abbilden. Es ist gewiss


nicht immer einfach, die nötige Nähe zu schaffen, doch es hilft, diese Überlegungen im Hinterkopf zu behalten. Ich möchte nun noch etwas weiter ins Kleine gehen, an die Orte, an denen die Nähe bereits vorhanden ist. Für mich ist die kleinste Form von kommit to conflict zu sagen, was ich wirklich denke. Dazu habe ich jeden Tag mehrmals die Gelegenheit, aber ich nutze sie nur selten, da ich das kommit – die Bereitschaft, mich mit dem darauffolgenden Konflikt auseinanderzusetzen – nicht aufbringen möchte. Doch es sind wahrscheinlich genau diese Gelegenheiten, bei denen ich den grössten Einfluss auf Veränderungen ausüben könnte. Dabei kommt auch die Frage in den Mittelpunkt, die für unser Institut so zentral ist: «Wie wollen wir in Zukunft zusammen leben?» Vielleicht sollten wir uns zuerst Gedanken darüber machen, wie wir denn jetzt leben, um anschliessend gemeinsam unsere Zukunftsgedanken zu formulieren. Sagen wir wirklich, was wir denken? Sprechen wir Konflikte an? Und sind wir dann auch bereit, diese Konflikte auszutragen? Hören wir hin, auch wenn es nicht unsere eigenen inneren Konflikte sind, wenn wir andere Ansichten haben? kommit to conflict – Durch Reibung entsteht Wärme; doch für Reibung braucht es Nähe.



On the importance of connection I am in the process of deepening my conversation on the annual topic with Judith, a psychiatrist who specializes in couples therapy. She expresses that: «a couple can commit to each other while remaining free to disconnect. That is what I like about this word: connection. It implies that you can connect and disconnect at any time although you keep committing to each other.» Judith introduced another factor in a relationship: the connection. Indeed, it is an essential factor! That’s why it occurred to me that it also could be a meaningful tool. What is connection? Is it not the strong and at the same time vulnerable and emotional link between two persons? Do we not need to have a strong connection with each other in order to avoid conflict? Is it not called «conflict» exactly because it implies caring about the other side? What if the idea of conflict itself would only depend on the care about the other’s view and the care for the viewer him*– or her*self ? What if to be in a conflict with someone you first need to be connected with that person – and when conflicts take place is precisely the moment when you disconnect? I believe that when you are fully


connected with your partner or with the person you’re having a disagreement with, then the ­disagreement does not become a conflict, it remains a disagreement. Conflict only happens because of the emotional disrupter. Because when you are connected to someone, this is protecting the relationship and you have more space for disagreeing properly. Disagreeing properly. What does that mean? It means that if you disagree you are not going to go against each other. You are not going to drive one or more of the Four Apocalyptic Horsemen, as John Gottman (world–renowned couples therapist) named them: criticism, contempt, defensiveness, and stonewalling, or as Judith described them to me in other words: accusation, devaluation, defence, and ignorance. Those four nouns mean lots of prejudice. If you are connected to your partner or to the person you’re having a disagreement with you are aware of the humanity of that person and you are humble enough not to harm him* or her* with the knives of your ego. To be connected with someone else dissolves, in a way, the prejudices of your ego, and then you’re available to react in a more reflected way. I believe that connection is what can save us from harmful conflicts. Not only is connection a factor in any relationship but can also be used as a tool in conflict situations. Ask yourself: am I connected enough to that person so that I care to overcome a conflict situation? What if it is just alright to disagree, and to do it with open eyes?


When is it just alright for someone to not ­ understand my perspective, and when is it just alright to compromise with one another? If I acknowledge the connection I have with my interlocutor then I might avoid engaging myself in an unnecessary conflict and stay available to all information and encourage myself to have a valuable communication with a person I actually appreciate. Although Judith explains: «Compromising is not really the way to solve a conflict. Compromising eventually only fixes an issue temporarily. Because when you compromise, it is none of what both want so none is bound to the same thing – and that cannot provide a true connection.» Regarding these words, I want to state precisely that to disagree properly does not necessarily mean compromise. Although compromising might be proof of care and connection with your partner, it might on the other hand be proof of a lack of connection with yourself. Also, not being understood by your interlocutor does not imply that you yourself have to engage in a compromise in order to solve an issue. But what usually happens is that while we are trying to be understood, we’re failing because of a lack of communicational tools. And that’s precisely the point where we start entering into conflict: when we start ­fighting to be understood.


On the importance of misunderstandings

It’s important to note that communication and being understood should be appreciated as two different things, even though we must admit that the motivation for communication is to be able to understand each other deeply. We try to communicate in order to feel understood and eventually to understand ourselves. Reciprocally, when we fail at communication, this leads to misunderstandings and conflicts. We start fighting when we can’t communicate and ­express ourselves properly, we don’t feel heard and still have this deep–inside need or ego ­prejudice to be understood. Maybe the key is to be able to deal calmly with a misunderstanding and not let the prejudices take over. Because ego prejudice leads to violent communication which again leads to conflict. We fight to be heard and yet we leave no space to be listened to. What if learning to communicate better is also learning to accept not being understood or not being appreciated? What if understanding myself better could help me communicate better with others? What if it could reduce my ego prejudice and teach myself to better understand misunderstandings?­ For that, you need to seek to understand the factors of misunderstandings which are based on the subjectivity of each one.To understand those


factors might already be to understand enough. We do not always need to convince someone to follow us into our little world of subjectivity. Often, we need our opinions to be recognized as relevant and we need to express our opinions for them to be recognized as relevant. Here is the problem. Here is where the ego prejudice operates. What we need to express and need to be recognized as relevant is only our emotions and perceptions of the world. If we need our opinion to be recognized then this means that we’re looking for validation or appreciation. Our emotions and perceptions don’t need validation to exist, to be expressed and be appreciated. They just need to be communicated, not understood. But in any case they need to be voiced rather than being kept in silence. On the importance of communication Communication, I seek you. I seek you in order to be able to seek others with confidence, values, and determination. I seek you to be able to talk with you in the most reliable way, in the most valuable way. I could make efforts on careful communication and still get a kick in the knees but, at least, I wouldn’t blame myself for keeping silent or rushing through the interaction. Working on communication is working on tolerating each other and each other’s dedication to express and understand


the world around you. We must learn proper communication even though we will still be defined by the multitude of our languages. Because to talk the language of communication is to accept differences and make them come together around the table of security and freedom of speech. In the end, communication and me, we are only one shape, we’re talking together. But that’s the end, and it probably takes a lifetime to get there. I really mean to get there, to reach this one shape, because we already function together, communication and me, we try to stick together. But often I go in despair. But often I go blind. Often communication leaves me alone and I go without a clue: I just talk. Most of the time, talking without communicating is just hurting. Talking is hurting. Communicating is caring. When I talk alone I hurt. When I talk with communication, I prevent myself and others from hurting: I communicate. Because to communicate makes us talk the same language even without clinging to the same ideas. On the importance of drawing a conclusion I now did kommit to conflict in this article, as well as in the previous one earlier in the publication and indeed throughout the school year but I do not give my commitment to this conflict year.


Through committing to the topic, I've ­learned that conflict isn’t actually the thing I want to commit to but that the essential things are to be found beneath this conflictual process. And slowly I'm learning how to use words, language and communication properly so that the conflict no longer might kick my face by surprise. Slowly I’m learning to empower myself with the vision given through the glasses of positivity: those glasses that see beneath any conflictual situations, words, and processes. Those glasses that do not bring the conflict to burn out in front of our eyes but let it truly bloom as a new flower taking roots in the deepest seeds of our empathy, patience, and ability to Love.


Notiz Diplomdoppelseiten Fester Bestandteilameiner Jahrespublikation HyperWerk ist ein Beitrag des abschliessenden Jahrgangs, in jedweder Form.inOftder wird beispielsweise ein Text Art einesFrühjahr Abstractbei abgedruckt. Weil wir im der Planung für die Beiträge der Diplomierenden stark anwarunsere Computer gebunden waren, es uns ein Anliegen, als Redaktion einen Gegenpol zu setzen. Deshalb entschiedendaswir uns, für die Diplombeiträge manuelle Erarbeiten derInBeiträge als Vorgabe zu setzen. irgendeiner Form mussten manuelle Arbeitsweisen eingebunden werden. Auch sollte allen Diciannove nur jeweils eine Doppelseite in der Publikation zur Verfügung stehen. Sofotokopiert, wurde gezeichnet, collagiert, von geschrieben Hand und mitund Schreibmaschine textil aufgeklebt. Resultat sind zwanzig wilde Das Doppelseiten.


Um auch das HinDigitalem und Herimzwischen Analogem und letzten Semester wiederzugeben, wollten wir eineArbeitsweisen Verbindung zwischen diesen beiden schaffen. Obwohl QR-Codes schon fast wieder der Vergangenheit angehören, bieten sie Digitales eine stabile Möglichkeit, Print und zu verbinden. InPortale, diesemumFallinteressierte dienen die Codes als Personen zuderden individuellen Beiträgen Diciannove auf die Distrikt-19Webseite zu teleportieren. Das erlaubt esauchuns,weitere neben den Doppelseiten Schritte im Arbeitsprozess der Abschliessenden zu zeigen.

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Ich führe ein Gespräch mit meinen Großeltern. Beide nahe den 90, beide aus einer Generation, die als Kinder den Zweiten Weltkrieg in Deutschland miterlebt hat. Sie sind seit über 60 Jahren verheiratet und in einer Gesellschaft sozialisiert worden, in der die Rollen von Männern und Frauen noch klassisch definiert wurden – ich schreibe bewusst nicht Frauen* oder FLINT*, da im Verständnis der 1950er Jahre exakt nur die binären Kategorien Mann und Frau existierten und weitere erst zu späterer Zeit anerkannt wurden. Dennoch will ich an dieser Stelle all jene nicht ausschließen, die sich auch damals schon nicht diesen Kategorien zuordneten – in einer Gesellschaft, in der bei Mahlzeiten klare Benimmregeln herrschten und in der Privates lieber privat blieb oder gar unter den fein angerichteten Tisch fiel und in den Alltagen unausgesprochen koexistierte. Ich bin im Haus meiner Großeltern aufgewachsen. Sie haben einen Großteil meiner späten Erziehung übernommen, damit meine Eltern beide arbeiten gehen konnten. Ich habe dadurch eine sehr enge Verbindung zu ihnen. Trotzdem bin ich ganz anders sozialisiert worden. Auch wenn ich im selben Haus mit demselben angerichteten Tisch und denselben Benimmregeln groß geworden bin, habe ich schnell die Wertvorstellungen, die sie versucht haben mir beizubringen, gegen die meiner Eltern eingetauscht und später, daran angelehnt, ganz eigene entwickelt.


Ich habe vor einigen Jahren den Ort, in dem ich aufgewachsen bin, für ein Studium in der Großstadt verlassen. Unterdessen habe ich bereits zweimal den Wohnort gewechselt. Sie leben nach wie vor dort, eigentlich schon ihr ganzes Leben. An unserer Beziehung hat sich seither dennoch wenig verändert. Trotzdem ist mir seit meinem Auszug zum ersten Mal richtig bewusst geworden, dass da eine große Lücke an gegenseitiger Unwissenheit zwischen unseren Leben klafft. Eine Lücke, die sich über zwei Generationen spannt. Chaos in der Nachkriegszeit vs. individuelle Freiheit in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, Provinzleben vs. Großstadt, kriegsbedingter Schulabschluss nach der Volksschule vs. Zweitstudium, gebügelte Feinrippunterwäsche vs. fleckenbesudelte Pullover, Dahoam is dahoam vs. Neo Magazin Royale. Wir können uns gegenseitig nicht annähernd in die jeweils andere Generation hineinversetzen. Unsere Gespräche beschränken sich auf Oberflächliches: Wetter, Kochen, Gesundheit. Scheint alles in Ordnung zu sein, hängen wir nach spätestens fünf Minuten auf. An redseligen Tagen nach fünfzehn. Bis ich wegzog, war mir das kaum aufgefallen. Seitdem allerdings unsere Alltage unterschiedlicher nicht sein könnten, ist es mehr als offensichtlich. Interessant also, mit diesem Hintergrund zu erfragen, was meine beiden Großeltern unter dem Begriff Konflikt verstehen.


Es folgt ein Auszug aus einem Telefonat zwischen Basel und Bayern. [...] «Ich habe noch eine Frage an euch. Versteht ihr mich denn beide?», frage ich etwas nervös. Wir haben das übliche Gesprächsprotokoll nahezu durchlaufen und abgesegnet, also muss ich jetzt den Moment ergreifen, bevor meine Großmutter das Gespräch auf die Zielgerade lenkt und mich verabschieden will. «Ja, Opa ist auch noch hier, ja», entgegnet sie. Unverständliches Unverständnis seitens meines Großvaters aus dem Hintergrund. Oma wiederholt das Gesagte für Opa. Ich erkläre kurz – jetzt etwas lauter – den Hintergrund zu meinem Vorhaben und frage dann, was sie unter Konflikt verstünden. «Was verstehst du denn unter Konflikt?» entgegnet meine Oma prompt und geschickt ausweichend. Wir lachen beide verlegen. Wir wissen, dass ich sie ertappt habe, denn eigentlich ist sie unsicher, ob und was sie antworten soll. In diesem Fall übergibt sie dann meist an meinen Opa. So auch jetzt, er wisse vielleicht etwas dazu. Er weicht ebenfalls aus, indem er antwortet, dass er ja nicht verstünde, um was es gehe. «Ja, wenn nicht alles klappt», wirft er nach kurzem Überlegen ein. Meine Oma hat nun die gemütliche Position der Moderatorin eingenommen, spielt den Ball zwischen Opa und mir hin


und her und wiederholt schlicht. Ich bitte, weiter auszuführen, was er meine, und nehme einen Schluck Wasser aus dem Glas, das neben mir steht. Meine Oma beobachtet mich – wir telefonieren neuerdings per Video–Call, denn meine Großeltern verstehen mittlerweile, dass ich die Person auf dem Bildschirm bin, die sie live sehen können – und fragt, ob ich denn auch etwas esse. Sie habe eben erst eine Birne gegessen, die köstlich süß geschmeckt habe. Ich räume ein, dass ich lediglich Wasser getrunken habe. «Trink Bier, das ist vernünftiger als Wasser», kommentiert sie typisch bayrisch. Daraufhin folgt ein kurzer Exkurs über Bier, und ich erzähle, dass ich erst letztens alkoholfreies Bier getestet habe und über den guten Geschmack erstaunt war. Sie habe noch nie alkoholfreies Bier getrunken, merkt sie an. Ich versuche, das Gespräch wieder zurück auf meine Frage zu lenken, und wiederhole diese explizit für meine Oma, um sie endlich auch einzubinden und nicht wieder entwischen zu lassen. Bevor sie antworten kann, ergreift jedoch mein Opa erneut das Wort und bittet sie, ihm das Telefon zu reichen, obwohl bitten angesichts des exakten Wortlauts – «gib mal her» – vielleicht zu ausgeschmückt scheint. Er erfragt nochmals den Kontext. Danach folgt eine vage Ausformulierung zu dem vorhin Gesagten: «Man kann es so oder so auffassen, wenn es keine Konflikte gäbe, wäre alles in Ordnung. Und dann gibt es große Konflikte, die dann nicht hinhauen, wenn man etwas macht.» Ich hake weiter nach, was er


darunter genau verstehe. «Ja, wenn es nicht hinhaut … wir hatten schon große Konflikte, wenn es nicht gepasst hat.» Jetzt lachen beide Großeltern. Offenbar spielt er auf vergangene Streitigkeiten in ihrer Ehe an und lässt merken, dass er das nun nicht weiter ausführen will. Privates bleibt eben privat. Er verweist mich auf den Duden, der erkläre doch, was Konflikt bedeute. Um seinen Hinweis zu verdeutlichen, buchstabiert er langsam D U D E N. Darauf könne ich mich dann beziehen. Wir lachen. Offensichtlich versuchen mich meine Großeltern auszuspielen. Sie sind sehr gut darin, das muss ich zugeben. Vielleicht sind sie aber einfach auch überfordert und unsicher. Ich kann nur ahnen, wie schwer ihnen eine Definition oder Einordnung von etwas Abstraktem fallen mag. Ich bleibe hartnäckig und nehme erneut Anlauf: «Mich würde aber eure Sichtweise auf den Begriff interessieren.» Er betont, dass, wenn alles in Ordnung wäre, es keine Konflikte gäbe. Punkt. «Bei dir ist aber alles in Ordnung oder?», lenkt meine Oma wieder ab. Ich bejahe und ärgere mich insgeheim über das nächste von ihr gefundene Schlupfloch. «Du bist also konfliktfrei», scherzt mein Opa. Wir lachen wieder. Sie nehmen das Gespräch also wirklich nicht ernst. Jetzt aalt sich Opa aus meinen Klauen, indem er das Gespräch auf mich lenkt. Er sei neugierig und wundere sich, ob ich mit «dem Freund» Konflikte auszutragen hätte. Aha. Geschickt, aber zu


offensichtlich, denke ich. «Um Konflikte haben zu können, bräuchte ich erst eine*n Freund*in.» Ab jetzt nehme ich das Gespräch und mich selber auch nicht mehr wirklich ernst. Die Antwort war immerhin schlagfertig und für meine Großeltern hoffentlich auch glaubwürdig, denke ich. Ansonsten wäre jetzt ein großes Fass geöffnet und das Thema Konflikt durch das all–time–favorite Thema Paarbeziehung ersetzt. Zum Glück schlucken beide die Antwort und kommentieren lediglich: «Spaß muss ja auch ein bisschen sein.» Ich versuche es nun auch mit Spaß und frage meinen Opa, ob er denn auch Konflikte mit seiner Freundin hätte. Das finden wiederum nur ich und meine Oma witzig. Er weicht aus und beendet jetzt schnell das Gespräch. Vielleicht zu viel Spaß von meiner Seite. Wenn schon nicht Freund, soll ich doch immerhin meine «Genossen oder Kameraden» grüßen. Werde ich machen. «Servus.» Damit ist das Telefonat beendet. Ich stelle das Aufnahmegerät beiseite und mich damit keineswegs zufrieden. Warum nicht? Wenn ich das Gespräch per Wiedergabe–Button Revue passieren lasse, frustrieren mich die ausweichenden Antworten und die Ablenkungsversuche meiner Großeltern. Der Erkenntnisgewinn aus dem Telefonat scheint mager, der Versuch, den Begriff Konflikt durch ihre Brille zu analysieren, erfolglos. Offenbar zeigen sie wirklich keinerlei Interesse, so mein erster Impuls. Gleichzeitig schwingt


eine generelle Gleichgültigkeit an meinem Tun mit, ein bequemes Sichbeschränken auf Oberflächliches, alte Anekdoten und Tratsch. Zwei, drei Wiedergaben später klaren die Zeilen auf, und dazwischen ist zu erkennen, dass weniger das mangelnde Interesse als der offensichtlich fehlende Zugang zu meinem Anliegen, gepaart mit einer generellen Unsicherheit auf beiden Seiten, den Gesprächsverlauf lenkte. Womöglich stellte die spontane Konfrontation und der von mir forcierte Austausch meine Großeltern vor viele Fragezeichen. Zusätzlich führte meine eigene Unsicherheit zu vagen Formulierungen und Abstraktionen. Ich frage mich, ob ein solches Gespräch in zukünftigen Telefonaten erneut Platz finden wird. Vielleicht, und wenn, dann werde ich wesentlich konkreter ausführen, Einblicke und Beispiele aus meinem Leben beschreiben und sie kurzum mehr an die Hand nehmen müssen. Zwischen Wetter und Gesundheit pirsche ich mich nach und nach an die 65 Jahr heran, die uns trennen.



Hätte ich es doch nur selbst gemacht, dann ..., ja was dann? Eine Frage, die sich meistens eh erübrigt, da sich die Vergangenheit so schlecht verändern lässt. Aber stellen wir uns trotzdem einmal vor, wir hätten die Gelegenheit dazu. Wir hätten die Chance, alle Aufgaben selbst zu erledigen, von denen wir glauben, dass unsere Projektpartner*in sie unzureichend gemeistert haben. Allein die Vorstellung finde ich schrecklich: Ich denke mich in alte Projekte neu hinein, erarbeite minutiös alle Themen, erledige nicht zuletzt alle Aufgaben selbst und habe dabei noch den Anspruch, es zumindest besser als meine Vorgänger*innen zu machen. Das ist eine langwierige Zeitreise, und mir fallen ein Dutzend Dinge ein, die spannender wären. Ganz ehrlich: Es ist geradezu paradox, ausgerechnet einen Text über Teamwork alleine zu verfassen. Sozusagen ein Thema verfehlen in der Herangehensweise. Ich arbeite gerade mit Google Docs, einem Online–Schreibtool, das dafür geeignet ist, gemeinsam an Texten zu schreiben. Deswegen lade ich nun Tom Nieke ein, mit mir spontan über Kollaboration zu philosophieren, und lasse Dich, liebe*r Lesende*r, daran teilhaben. M : Hallo Tom, willkommen im Dokument! Schön, dass Du Dir Zeit nimmst! Hattest Du schon einmal eine richtig miese Zusammenarbeit?


Ich meine, «kommit to conflict» passt ja wie die Faust aufs Auge bei diesem Thema. T : mies Bedeutung: «In Verdruss, Ärger, Ablehnung; auf herausragende Weise schlecht; unter dem zu erwartenden Niveau» (Quelle: duden.de) – Nein, nicht nach dieser Definition. Aber es gibt Menschen, mit denen ich mich unwohl fühle. Es gab beispielsweise Zusammenarbeiten, die ich nicht wiederholen wollte. M : Wie hast Du die Mitarbeitenden nach der schlechten Zusammenarbeit eingeschätzt? T : In dem einen Fall als kompetent, ehrgeizig, fleissig, aber auch angespannt und unter Druck. Was macht denn Teamarbeit eigentlich aus? Eine Freundin von mir arbeitet als IT–Consultant in Berlin. Eine Methode, die ihr Unternehmen fördert, ist das Co–Coding. Als ich davon das erste Mal hörte, hat mich das ziemlich überrascht, weil ich Coding immer als so eine solo/single–Tätigkeit betrachtet habe. Aber eigentlich kann ich mir das total gut vorstellen, zu zweit nebeneinander vor dem Computer zu sitzen und sich gegenseitig über die Schulter zu schauen. Nicht auf eine kontrollierende Art, sondern unterstützend und ermutigend. Bei Unklarheiten kann die jeweils andere Person oft direkt weiterhelfen. Falls dem nicht so ist, arbeitet das Team gemeinsam an der Lösung.


M : Ja, ich finde es auch immer viel effektiver, motivierender und spassiger, Aufgaben zu zweit zu lösen. Aber manchmal frage ich mich auch, wo die Grenze zur Unwirtschaftlichkeit liegt. Also sehr kapitalistisch gedacht. Damit meine ich, dass es schneller ginge, wenn zwei Personen voneinander getrennte Aufgaben erledigten. – Diese Denkmuster können auch noch aus meiner Lehrzeit zum Schreiner kommen. Wir waren ein Zwei–Mann–Betrieb, also der Chef und ich als Lehrling. Zum einen liess sich mein Chef oftmals nicht helfen, wenn es darum ging, schwere Bauteile zu tragen. Andererseits erwartete er dies ebenfalls von mir, da es seiner Meinung nach deutlich unwirtschaftlicher gewesen wäre, besagte Ware zu zweit zu tragen. T : Genau das ist ja das Spannende an meinem Beispiel. Es handelt sich hier um eine etablierte Consulting–Firma, die dies als Strategie für bessere Arbeit weitergibt. Die haben auf jeden Fall wirtschaftliche Interessen. Ich kann mir ausserdem gut vorstellen, dass man beim Co– Coding einfach weniger Fehler macht, effizienter und konzentrierter ist. Ich glaube vor allem, dass die Iterationsschleife extrem verkürzt werden kann. M : Den Begriff Iterationsschleife musst Du mir bitte kurz erklären.


T : Damit meine ich zum Beispiel den zeitlichen Abstand zu einer Aufgabe, den ich brauche, um diese wieder selbstkritisch und mit offenen Augen betrachten zu können. Das verstehe ich unter Iterationsschleife. M : Ja, das stimmt total. Es fällt mir dabei allerdings oft sehr schwer, meinem Gegenüber mitzuteilen, wenn mir die Richtung nicht gefällt, in die er*sie das Vorhaben denkt. T : Möchtest Du, dass wir über etwas anderes sprechen? M : Warum? T : Weil es Dir schwerfällt, das zu sagen ;–) M : Scherzkeks! [Wir verabreden uns für morgen und wollen getrennt noch über das Thema nachdenken und dann mit frischen Gedanken erneut in das Gespräch gehen.] T : Hey Michael, wo waren wir stehengeblieben? M : Die Iterationsschleife. Eigentlich der perfekte Anknüpfungspunkt, da wir ja eine Nacht Zeit hatten, unsere Gedanken Revue passieren zu lassen. T : Ok, dann musst Du den Text jetzt einmal vorlesen.


[Michael liest den Text vor.] T : Welche Zusammenarbeiten würdest Du denn wiederholen wollen? M : Ich habe einmal mit meinem guten Freund und Schreiner–Kollegen Dominik eine Probe–Kabine für einen Trompeter gebaut. Diese 24 Stunden–Zusammenarbeit mit Dominik war einfach klasse. Wir haben uns gegenseitig extrem gut ergänzt und motiviert, bis das Ding fertig auf dem Hänger verladen war. T : Wie habt Ihr euch ergänzt und motiviert? M : Ich glaube, da trafen gleiche Interessen und ähnlicher Anspruch auf gute Freundschaft und Lust auf das Projekt. Wir wussten immer ganz genau, was der andere gerade macht. Wenn einmal einer nicht weiterkam, ist der andere eingesprungen oder hat mal geholfen, etwas Schweres zu tragen oder gemeinsam zu überlegen. Und obwohl wir uns beide gleichermassen verschätzt hatten, wie lang wir für dieses Projekt brauchen, konnte uns das nicht bremsen. Ganz im Gegenteil: Wir waren Feuer und Flamme, uns gegenseitig zu beweisen, dass wir es doch noch auf einen Tag und eine Nacht durchziehen können. T : Was sind denn überhaupt die Kriterien für gute Zusammenarbeit?


Geht es darum, dass man schnell fertig wird, dass man ein cooles Projekt macht, oder geht es um etwas ganz anderes? Mir geht es beim Studieren zum Beispiel ums Lernen. Aus Zusammenarbeiten, die mir keinen Spass gemacht haben, habe ich trotzdem oft sehr viel gelernt: beispielsweise über mich, über andere Personen und neue Arbeitsprozesse. Was sind also Kriterien für eine gute Zusammenarbeit? [Nach einem gemeinsamen Brainstorming schlägt Tom folgende Ziele guter Projektzusammenarbeit vor:] 1. Freude am Inhalt – persönliches Interesse am Thema, am Ort oder an den Metho- den, mit denen gearbeitet wird. 2. 3.

Zufriedener Abschluss – das Projekt ist bis zu einem Punkt entwickelt, an dem es beendet werden kann, und die Teilnehmenden sind damit zufrieden.

4.

Effizienz der Gruppe – Wie hat die Zusammenarbeit funktioniert? Wie war die Stimmung? Ging alles Hand in Hand, oder standen wir uns gegenseitig im Weg?

Persönlicher Lernerfolg – Was habe ich dazu gelernt? Was wollte ich lernen? Welches Wissen kam unerwartet? Was habe ich nicht gelernt?


5. Gemeinsame Lebensfreude – Wie oft wurde gelacht? Sind Freundschaften entstanden, oder ist der Kontakt abgebrochen? T : Nehmen wir jetzt einmal diese Kategorisierung, um damit bewerten zu können, was eine gute und schlechte Zusammenarbeit für mich ist. Als Beispiel nehme ich ein Projekt, das ich in Trømse (Norwegen) gemacht habe. Wir waren zu dritt: eine Landschaftsarchitektin, eine Künstlerin und ich, damals als Produktdesigner. 1.

Freude am Inhalt: Ich war auf jeden Fall von der Aufgabenstellung und den Inhalten begeistert! Stadtentwicklung, Architektur und das Ziel, am Ende vor Ort eine Interaktion zu bauen, fand ich toll.

2.

Zufriedener Abschluss: Wir haben das Projekt zu einem Schluss gebracht. Ich hatte viel aus dem Projekt gelernt, was ich mitneh- men konnte. Die beiden anderen waren nicht so zufrieden, weil sie etwas Fachspezi- fisches erwartet hatten.

3.

Persönlicher Lernerfolg: Die Zusammen- arbeit und der Einblick in die anderen Kompetenzen waren sehr wertvoll, weil ich verstanden habe, welche Kompetenzen die anderen in ihren Studiengängen entwi- ckeln und ich darüber besser meine eigenen Kompetenzen verstehen konnte.


4. Effizienz der Gruppe: Wir haben gut zusam- mengearbeitet und Aufgaben an die Perso- nen abgegeben, die diese gut machen konn- ten oder machen wollten. Dadurch entstand ein angenehmer Flow, und jede*r hatte seine Verantwortungen. 5.

Gemeinsame Lebensfreude: Spass hatten wir nicht so viel. Wir haben uns gut verstanden, kannten uns aber noch nicht so gut und sind erst gegen Ende warm geworden. M : Denkst du, dass die Idee eine wichtige Rolle für eine gute Kollaboration ist?

T : Nein, das finde ich nicht. Sie ist meiner Ansicht nach für ein gutes Projekt wichtig. Die Zusammenarbeit kann – glaube ich – auch mit einer schlechten Idee gut sein, beispielsweise wenn der Lernerfolg gross war. M : Ich bin noch nicht über unsere Kategorisierung von gerade eben zufrieden. Ich finde sie noch lückenhaft, und manche Ziele passen auf andere Projekte so gar nicht. T : Wer hätte gedacht, dass wir am Ende dieses Wagnisses [also am Ende des Texts, den Du gerade liest] über Ziele der Zusammenarbeit streiten? M : Ja, genau das meine ich. Wenn noch mehr Menschen an einem Projekt mitarbeiten, dann potenzieren sich natürlich die


Ideen und das Potenzial des Vorhabens. Aber dabei spielt einem vielleicht das eigene Ego einen Streich: Das Projekt – wie auch dieser Text – kann sich plötzlich in eine ganz andere Richtung entwickeln, als man es sich selbst noch am Anfang vorgestellt hat. Im schlimmsten Fall findet man diese Richtung nicht gut. Aber im besten Fall ist es ein Prozess, der weitaus besser und spannender ist, als man sich das am Anfang überhaupt hätte vorstellen können. In jedem Fall hat man danach mehr Meinungen und Ideen im Kopf als vorher und konnte neue Erfahrungen sammeln. T : Genau, deswegen will ich gute Zusammenarbeit und die Definition eines gutes Projekts unterscheiden. Aus einer Zusammenarbeit kann so viel mehr entstehen als nur ein weiteres Projekt fürs Portfolio. Es kann sogar ein komplett gescheitertes Projekt sein und dennoch einen grossen Mehrwert für eine*n persönlich haben, weil es beispielsweise eine tolle Zeit war oder weil ich selber viel gelernt habe. M : Wollen wir es dabei bestehen lassen? T : Findest Du das ein gutes Schlusswort? M : Ja.


Zine-Charakter in einem Taschenbuch – wieso?! Erstens: kommit to conflict. Zweitens: Anfangs Studienjahr sah unsere Idee zu dieser Publikation noch ganz anders aus. Wir wollten eine Art Abo machen, in dem man öfters kleine Publikationen erhält. Diese Publikationen hatten kein vorgegebenes Medium – wir wollten Publizieren nicht nur als Text und Print verstehen. Doch schon damals war uns klar, dass es uns hauptsächlich darum geht, den Menschen des HyperWerks, die etwas sagen möchten, eine Plattform zu bieten. Uns war also bewusst, dass wir dilettantisch funktionieren. Was soll das heissen? Wir lassen Fünfe auch mal grade sein. Natürlich möchten wir weder, dass die Qualität und somit die Glaubwürdigkeit und Reichweite der Publikation unter lausiger Rechtschreibung leiden, noch sollen sich die Texte gegenseitig abwerten. Vielmehr haben wir die Absicht, Platz zu lassen für individuellen Sprachgebrauch und die Möglichkeit, Sprache plastisch zu verstehen – man soll auch experimentieren und etwas wagen dürfen! Die meisten von uns sind Amateur*innen, die Autor*innen, die Gestaltenden und die Redaktion. Wir publizieren nicht, um mit einem professionellen Resultat zu beeindrucken, sondern aus einem Bedürfnis, uns mitzuteilen, und aus einem individuellen sowie gemeinsamen Gefühl der Dringlichkeit heraus. Gewissermassen ist diese Publikation also von Studierenden für Studierende und auch Studieninteressierte – und weil Dozierende am HyperWerk auch immer Lernende sind, schliesst sie dies nicht aus. Die Entscheidung, ein eher konservatives Taschenbuchformat zu nutzen, fällten wir unabhängig von der Notwendigkeit des Zine-Charakters, doch wir erkennen das Jahresthema darin wieder. So wird unser Dilettantismus selbstbewusst und liebevoll präsentiert im Mantel einer professionellen Publikation. Mit dem Suhrkamp-Taschenbuchformat wollten wir eine gewisse Portabilität begünstigen, während wir im Zine-Charakter die einzige Art sahen, wie wir als Studierende ohne Erfahrung im Publizieren von Büchern dies legitimieren können. Aber eigentlich nicht nur die einzige, sondern auch die schönste.

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Lieber Janick Du hattest mich angefragt, ob ich zum Thema «20 Jahre HyperWerk – was hat es mit mir gemacht?» einen Artikel schreiben würde. Deine Anfrage freute und irritierte mich. Nicht, dass ich nicht wüsste, dass Dinge, die wir gestalten und in die Welt setzen, uns immer auch selbst gestalten und formen. Eines meiner Lieblingszitate, welches Marshall McLuhan zugeschrieben wird, lautet «First we shape our tools and thereafter our tools shape us.» Ein Studiengang ist sehr gut als ein Medium oder ein Werkzeug der Bildung – und damit als Teil des gesellschaftlichen Normativs zu verstehen. Das Institut selbst ist Teil eines Machtapparats, den Michel Foucault so treffend als Dispositiv (Foucault 1978: 119) bezeichnet hat. Macht wird nicht nur durch Personen ausgeübt, sondern auch durch Gebäude, die uns zwingen, in einer bestimmten Art zu arbeiten, oder auch durch Regeln und stille Vereinbarungen, die wir bewusst und noch öfter unbewusst befolgen. Wir verinnerlichen, inkorporieren Verhaltensweisen. Es ist die Mischung aus Personen, Institutionen, Regeln und Normen, die uns formt. Wir selbst geben dieses Erlernte an Andere weiter. Pierre Bourdieu nennt dies «soziale Reproduktion» und spricht von der Tendenz einer vollständigen sozialen Reproduktion. Wir werden was unsere Eltern schon waren. Allerdings: Wir sehen nicht so aus wie sie, wir haben nicht die gleichen Berufe, wir tragen nicht die gleichen Kleider, hören nicht die gleiche Musik und


sprechen auch nicht mit den gleichen Wörtern. Aber wir reproduzieren. Dies tun wir auch in der Art wie wir Geschichten erzählen. Lebensgeschichten werden so meist zu Entwicklungsromanen, sie erzählen ein grosses Abenteuer. Idealerweise mit Leid, Schmerz und Niederlagen, um «eigensinnig» aus eigener Kraft zu Erfolg, zu romantischer Liebe oder zur gesuchten Erkenntnis zu gelangen. Unsere Wirklichkeit ist jedoch viel verwobener, von widersprüchlichen Interessen und Bedingungen, von Brüchen und Kurven geprägt. Jetzt ist ein guter Moment, um konkret zu werden und mit den Aufbauarbeiten des Studiengangs HyperWerk im Jahre 1998 zu beginnen. Doch ich starte lieber an dem Zeitpunkt, an dem ich zu einem gesellschaftlichen Individuum wurde, am Zeitpunkt des Coming of Age – des Erwachsenwerdens, wenn wir uns ausgerüstet mit den eigenen sozialen, kulturellen und ökonomischen Kapitalien und deren Inkorporationen, dem Habitus, in die Berufs– oder die höhere Ausbildungswelt hineinbegeben. Im Herbst 1977 begann ich in Basel das Medizinstudium mit der Absicht, Psychoanalytiker zu werden. Der Weg über das Medizinstudium erschien mir inhaltlich als vielseitiger und versprach berufliche Autonomie, weil die Tätigkeit mit einer Krankenkassenzulassung verbunden war. Die Psycholog*innen kämpfen noch heute um dieses Recht. Ich war die erste Person in


meiner Familie, die eine akademische Laufbahn ergreifen durfte oder sollte oder konnte. Nichts Ausserordentliches in meiner Generation, ich teile diese Erfahrung mit sicher fast der Hälfte meiner Klassenkollegen – ich war in einer nicht gemischten Klasse, deshalb keine Sterne. Mein Vater musste seinerzeit das Gymnasium aus finanziellen Gründen abbrechen, die Gründe waren auch in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts vor allem sozialer Art, die sich im Finanziellen äusserten. Meine Mutter, Tochter eines Steinhauers mit eigener Firma im Dreispitz – die Wege bleiben auch über Generationen hinweg erstaunlich kurz – war selbst geschickt im dreidimensionalen Umgang mit Steinen. Sie wurde deshalb einer damaligen Lehrerin der Bildhauerklasse der SFG vorgestellt. Aber eine künstlerische Ausbildung war für sie nicht denkbar – in ihren Äusserungen tönte dies auch im Alter noch wie etwas Unseriöses. Das Nicht– Denkbare war im Kern der unausweichliche soziokulturelle Bruch, den sie hätte auf sich nehmen müssen. So wurde sie Modeverkäuferin und verbesserte ein Leben lang ihre Fähigkeiten als Schneiderin ihrer eigenen Kleider. Paris ist nicht weit weg von Basel, gerade bei einem Arbeitgeber wie Manor. Sie selbst reiste nie dorthin. Ihre eigenen Wurzeln reichen jedoch nach Frankreich und Deutschland, migrierten doch ihre Vorfahren in den Melting Pot des sich industralisierenden Basel am Beginn des 20. Jahrhunderts; die jüdischen wohl aus dem Elsass, die pfingstadventistischen aus Freudenstadt – eine für Familienanekdoten geeignete und sozial geläufige


Mischung, wie sie wohl in allen Arbeiter*innen– und Angestelltenhäusern vorkamen, ob in Kleinhüningen, im St. Johann, im Gundeli oder im Horburgquartier. Und jetzt zur Alma Mater Ende der 70er Jahre, einem Haus der ideologischen Auseinandersetzungen mit verqualmten Hinterzimmern, und draussen die soziale Bewegung zur Verhinderung des AKW Kaiseraugst. Sie war und ist auch heute nicht elitär geprägt, sondern steht wie das Militär für die Durchmischung sozialer Schichten und regionaler Herkunft, «eine Maschine der Demokratie», in der die Elite durch Leistung zu erreichen ist. Aber gleichzeitig ist genau dieses Verständnis einer Chancengleichheit ein Teil einer sozialen Reproduktion, die das Verbergen von klaren Unterschieden in Schichten, Geschlecht oder Herkunft kultiviert. Die Universität selbst war für mich ein Nebenschauplatz mit dem Ritual jährlicher Prüfungen, die das Kurzzeitgedächtnis stark beanspruchten, aber ansonsten wenige Spuren hinterliessen. In meinem Zentrum standen neben den politischen Auseinandersetzungen bald die experimentelle Musik, der Aufbau eines Tonstudios und die Produktion von Tonträgern. Die Aussage, dass das Studium wenige Spuren hinterliess, ist gleichzeitig mehr selbstgefällige Verschleierung als Wahrheit. Beginnen wir doch bei den positiven Spuren des Studiums, bei den unterschiedlichen Wissensformen und der gegenseitigen Durchdringung von Praxis und Theorie, von Individuum und


Generalisierung in der Medizin. Für mich prägend war die Differentialdiagnostik. Ein professoraler pädiatrischer Ratschlag verfolgt mich bis heute: «Denkt daran – das Kind könnte auch Läuse UND Flöhe haben!» In einer komplexen Situation bildet eine einfache Lösung – nämlich kein komplexes seltenes Krankheitssyndrom, sondern eine Überlagerung zweier, gleichzeitig auftretender Erkrankungen – oft die richtige Diagnose. Die Abduktionslogik nach Charles S. Peirce in Reinkultur. Dies beschäftigt mich noch heute. Vieles in den Wissensformen in Design und Kunst lässt sich wohl zurückführen auf eine individuelle, situative und singulär geltende Abduktionslogik. Gleichzeitig prägten mich an der Universität die eigene Ausweichbewegungen. Ich betrat die sozialen Felder der Medizin und des universitären Bildungssystems möglichst wenig. Im Krankenhaus reagierte ich mit schwersten Asthmaanfällen auf den Druck, und an der Universität nahm ich im Wesentlichen an den Prüfungen, den Praktika und einigen interessanten Vorlesungen teil. So umging ich wohl unbewusst Teile des Hidden Curriculum, dieses versteckten Lehrplans der soziokulturellen Erziehung, um gleichzeitig die damit verbundenen Wissenskulturen erfreut aufzunehmen. Ich verstand es jedoch definitiv nicht, einen Platz im medizinischen Feld zu finden. Engste Studienfreunde hatten bereits den TOEFL (Test of English as a Foreign Language) und das Austauschjahr in Boston organisiert, da dachte ich noch über Foucault nach und wieso in reformierten Städten des deutschsprachigen Raums


psychiatrische Asyle rund 50 bis100 Jahre früher als in katholischen Städten entstanden waren. Wie damit akademisch etwas anzufangen wäre, lag ausserhalb meines Denkhorizonts. Ich schaue jetzt zurück in den Bockstecherhof als Heimat des Instituts HyperWerk. Wir verbrachten rund 15 Jahre in diesem protestantisch–barocken Hof gegenüber der Uniklinik. Uns begleitete das Image eines technologiegeprägten Instituts. Dieses Label blieb lange an uns kleben. Eigentlich ging und geht es noch heute um die Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Veränderungen als Designleistung. Technologie kann dabei wechselnd als Kulturtechnik, als Medium, als Aktant oder auch als Artefakt oder performative Handlung verstanden werden. Die Arbeit an dieser Fragestellung benötigt einen umrissenen Ort, ein Labor oder ein Atelier zur Bearbeitung. Dieser Ort ist physisch und heterotop, er ist gekennzeichnet durch eigene Regeln. Diese Regeln sind autonom im Sinne eines gemeinsamen Ringens mit den vorhandenen Rahmenbedingungen, den eigenen Bedürfnissen und Interessen, sowie den Zielen. Der Bockstecherhof hatte etwas von einer Villa Kunterbunt – jeder der zahlreichen kleinen Räume war von einer eigenen Stimmung getragen, und in ihnen entstanden die unterschiedlichsten Entwürfe als Versuche von Antworten. Der Bockstecherhof war gekennzeichnet durch eine gewisse selbstverständliche Abschottung nach aussen, er stand wie ein Pavillon in einer Landschaft von verwandten Gebäuden. Eine solche Abschottung läuft natürlich Gefahr, sich


nach aussen hin zu immunisieren und die Durchlässigkeit zu verlieren. Auch eine Anfälligkeit für familiär–autokratische Strukturen besteht. Doch ohne eine gewisse Immunisierung sind Gemeinschaften und qualitative Entwicklungen nicht denkbar – wir reden gern von Freiräumen, aber meinen die Notwendigkeit der Vertiefung. Mir selber gab diese Zeit die Möglichkeit zu lernen, mich zu formulieren, eigene Ideen und Standpunkte zu vertreten und eine Stimme zu entwickeln. Insofern hat das, was ich mitgestaltete, mich in eine Richtung geformt, die ich gesucht hatte. Eine solche Aussage lässt sich nicht verallgemeinern, schon gar nicht auf die damaligen Studierenden. Die Alumni*ae–Studie This is it (https://www.hypermagazine.ch/hypermagazine/this–is–why–hyperwerk/)

zeigt jedoch, dass es klare Hinweise gibt, dass viele Studierende ihre eigene Position am HyperWerk entwickeln konnten.

Doch die Zeit bleibt nicht stehen. Der Druck eines ökonomisch ausgerichteten Verständnisses von Kultur, Gestaltung und Kunst wuchs stetig. Fast alles wird kommodifiziert. Dies gilt für Bildung, für Forschung ebenso wie für Gestaltung und Kunst. Seit dem Umzug auf den Campus der Künste profitieren wir von den zentralen Werkstätten und müssen um die Rückzugsorte mit eigenen Regelwerken kämpfen. Das soziale Feld der Kultur als Kampfplatz der Distinktion und Kreationsort der Kennzeichen solcher sozialen Distinktionen wurde sicht– und spürbarer, als dies in den über die Stadt verteilten «Pavillons» der HGK der Fall war. Dies war


immer Teil eines Curriculums des Erlernens und der Bestätigung des Habitus’ unseres sozialen Feldes. Am Campus wurde dies Alltag. Die studiengangsübergreifenden Lehrangebote werden oft mit Erhöhung der Wahlfreiheiten begründet, gleichzeitig unterstützen sie eine Kanonisierung. Die Nischen und Freiräume, die geschützten Ateliers, in denen der Eigensinn hochgehalten wird, gilt es dabei immer wieder neu zu finden und zu ermöglichen. Die institutseigene Beschäftigung mit der Gestaltbarkeit des Zusammenlebens sensibilisiert uns für die Beantwortung von Fragen wie: Wie entwickeln wir die eigenen Stimmen in ihrer Unterschiedlichkeit, Vielzahl und Mehrstimmigkeit? Dazu öffnen wir heterotope Räume mit eigenen Regeln – dies aus Lust, Freude und aus der schieren Notwendigkeit heraus. Seit einigen Jahrzehnten verfolgen wir eine interessante Entwicklung – «Designmethoden» werden von der Wirtschaft übernommen, um die innovativen Stärken der situativen, agilen, kleinen, selbstorganisierten Projektgruppen in Grosskonzernen zu nutzen. Welchen Weg gehen wir selbst? Den umgekehrten? Lieber Janick, Was hat HyperWerk mit mir und was habe ich mit HyperWerk gemacht? Sicher den oft erfolgreichen Versuch, Eigenständigkeit im Bewusstsein einer komplexen Gemengelage und der stetigen Notwendigkeit der


Selbstreflexion zu verfolgen und zu fördern. Der Entwicklungsroman lässt sich nicht ausrotten, auch in diesem Text nicht – aber er ist posthumanistisch durchbrochen: Wir als handelnde Subjekte sind verwobenen mit den menschlichen und nicht–menschlichen Akteur*innen und stehen nicht im Zentrum. Doch wir sind der Selbstbeobachtung, der Reflexion und der poetischen Hervorbringung fähig. «Die Kunst ist ein Fest!» – dieser Satz wird dem deutschen Dramatiker Heiner Müller zugeschrieben. Darum geht es auch. Dir und allen 19er*innen wünsche ich alles Gute auf der Suche nach Nischen, Ateliers und Labors! LG maX

Weiterführende Literatur: — Bourdieu, Pierre. 1982. Die feinen Unterschiede. Suhrkamp, Frankfurt am Main — Bourdieu, Pierre. 2002. Ein soziologischer Selbstversuch. Suhrkamp, Berlin — Braidotti, Rosa. 2014. Posthumanismus. Campus, Frankfurt — Esposito, Roberto. 2004. Immunitas, Schutz und Negation des Lebens. Diaphanes, Berlin — Foucault, Michel. 1978. Dispositive der Macht. Merve, Berlin



Winter 2005. Es ist so richtig gruusig draussen. So pflotschig–nass–grau wie es nur in den Städten im Winter sein kann. Ich bin erst vor ein paar Wochen von Zürich nach Bern gezogen und tue mich schwer damit, in der Stadt Fuss zu fassen. Kulturschocks begleiten mich auf Schritt und Tritt. Ich bin dankbar, als mich eine Bekannte fragt, ob ich am Sonntag zum Kochen in die Gassenküche mitkomme. Die Gassenküche, ein basisdemokratisches Kollektiv, kochte jeden Sonntag eine warme vegetarische Mahlzeit und verteilte diese an einem möglichst geschützten Ort im öffentlichen Raum an Bedürftige, vor allem an Drogenabhängige. Über mein Aussenseitertum fühlte ich mich den Junkies irgendwie verbunden und freundete mich mit dem Gedanken an, durch das Kochen in der Gassenküche etwas Gutes zu tun. Bei meinem ersten Besuch wurde ich sogleich zum Mitkochen aufgefordert. Wir hörten Musik und führten Gespräche, nebenbei wurde ich «beschnuppert» und in gewisse Einzelheiten der «Direkten Aktion», des Essenverteilens, eingeweiht. Das gefiel mir. Alles war sehr stressfrei, gemächlich, und ich konnte auch mein Bier dazu trinken. Dann passierte es! Eine Kameradin forderte mich auf, ihr zu folgen. Sie nahm mich mit ins Rüümli der Gassenküche. Ich hatte schon von diesem Rüümli gehört, wusste, wo es etwa war und was darin so passierte. Es jetzt selbst zu betreten war ein besonderer Moment. Stell dir vor, du bist verliebt und stehst das erste Mal vor der Wohnung deines Schwarms. Diese Aufregung, gepaart mit einer Prise Ehrfurcht und dem Verlangen, den Raum mit allen Sinnen


aufzusaugen, entlädt sich mit dem langsamen Öffnen der knarzigen Holztüre. Ich staunte ob der Spuren, die die Bewegung in diesem Raum hinterlassen hatte. Als Sprüche, Bilder, Tags; mit Fahnen und Farbe; auf den wenigen freien Flecken der Wände, auf dem Tisch, am Fenster, an der Decke, überall, mit allem. Da war «demokratur» gekrizelt, über der Uhr an der hinteren Wand. Von der Decke hing eine Polizeijacke wie eine Trophäe, flankiert von der schwarz–roten Fahne der Antifa. Ein grosses «A» über den Tisch gezogen lag dem «amore, anarchia, subito» auf dem riesigen Wandschrank neben dem Eingang zu Füssen. Ich sah das immense Materiallager und fühlte die Enge. Zwischen den Stühlen am langen Tisch und den mit Lebensmitteln vollgestopften Regalen an der rechten Wand passte ich Spränzel knapp durch. An der gegenüberliegenden Wand türmten sich mysteriöse Metallschubladen–Stöcke und nahmen den Tisch und die Stühle vollends ins Sandwich. Ich atmete das Gemisch von kaltem Rauch und Bierdunst, das seit der letzten Sitzung den Raum veredelte, nicht aber die Mäuse von ihren nächtlichen Besuchen abgehalten hatte. Was aber, wenn eine Gruppe willkürlich zusammenkommt? Quasi als Zwangsgemeinschaft in einen Raum fällt und dort für eine gewisse Zeit zusammensein muss? Können sie sich auch als Kollektiv sehen? Oder sich zu einem entwickeln?


Hier also wurde so richtig an der Revolution gearbeitet! Hier lagerte der Stoff, offen gammelnd oder ungestüm verstaut, mit dem sich die Welt verändern liess. Nach einigen Wochen stetigen Mitkochens am Sonntag durfte ich das erste Mal an der offiziellen Sitzung am Dienstag teilnehmen. Über diese Sitzung wurden alle regelmässigen und ausserordentlichen Aktionen geplant und unser Verhalten zur Umwelt diskutiert und definiert. Dort wurde ich dann quasi aufgenommen, indem ich einen persönlichen Schlüssel für das Rüümli überreicht bekam. Und es passiert etwas Magisches in den Momenten. Wir bekräftigen uns gegenseitig, das Projekt Sauvage anzupacken. Das erste, was ich am nächsten Sonntag tat, war, eine Stunde vor den Andern zu kommen. Nur um mir dieses Rüümli in vollkommener Stille zu Gemüte zu führen und ein paar Bier im Kühlschrank zu deponieren, für mich und für die anderen, die nach der Aktion auch Durst hatten. Die Sitzungen empfand ich als sehr angenehm, als eine Art «aktiven Stammtisch». Alles ging langsam, wurde gründlichst diskutiert. Manchmal sassen wir zwei, drei Stunden im Rüümli, es war keine Eile spürbar. Wir hatten ja unseren Kühlschrank mit Proviant. Es gibt keinen Zwang zur Teilhabe. Ist ein Teil aber dabei, hat er das Recht, innerhalb der


Grundbedingungen an allen Entscheidungen teilzuhaben und auch Diskussionen bzw. Prozesse zu initiieren. Das führt zu einer hohen Identifikation und möglicherweise auch grossem Verantwortungssinn. Anfangs verstand ich nur Bahnhof. Was die Gruppe da diskutierte, war mir mehr als schleierhaft. Meine Nachfragen wurden geduldig, aber bestimmt beantwortet und durch basisdemokratische Basics ergänzt. Ich mag mich nicht mehr erinnern, ob ich die Erklärungen aus Ehrfurcht, aus blindem Vertrauen oder wieso auch immer akzeptierte. Je grösser die Gruppe, desto komplexer wird der Austausch – was an einigen Orten zur Anwendung von Gesprächsstrukturen führt, die, so finde ich, unweigerlich Machtgefälle einbauen. Aber ich nahm die Erklärungen auf und fing an, sie zu verstehen, integrierte mich und lernte die verschiedenen Dynamiken dieses Mikrokosmos kennen. Schnell war mir zum Beispiel klar, wer die «Alten Hasen» waren. Sie hatten eine gewisse Machtposition inne, weil sie Träger des «Kollektiven Gedächtnisses» waren, die Geschichte der Gruppe lange zurück und ihre Zusammenhänge kannten. Sie kannten die Verbindungen zur «Aussenwelt», wussten, wer unsere Freunde und unsere Feinde waren. Dann gaben sich mir die «Aktiven» zu erkennen. Sie trugen mit grossem Engagement die Aktivitäten der Gruppe. Durch ihr Handeln lernten sie autodidaktisch, machten ihre Erfahrungen und teilten diese


in der Gruppe. Die Aktiven nahmen sich auch der «Neuen» in einem «Gotte/Götti–System» an und führten sie durch die erste Zeit. Es gab dabei so etwas wie Narrenfreiheit für die Neuen. Es wurde viel verziehen, was Sitzungstechnisches anging. Dafür wurde bei der sonntäglichen Aktion auf «geschlossene Reihen» geachtet. Ausscheren war dort nicht angesagt. Dauernd wechselnde Taktiken hätten die solidarischen Helfer*innen davon abgehalten, unverbindlich zu helfen. Die «Passiven» halfen wegen Zeitmangel oder anderer Interessen nur sporadisch. Sie waren nichtsdestotrotz sehr wichtig, wie sich noch zeigen wird. Nina und ich konnten die Party nicht allein stemmen, ausser wir hätten es auf eine kleine Geburtstagsfeier in privatem Rahmen abgesehen. Wir aber, wir wollten etwas Grosses machen. Wir wollten die Stadt bewegen! Der eigentümlichste Schlag Menschen, der mir begegnete, war der der sogenannten «Sitzungstiger». Wer kennt sie nicht, die Menschen die (fast) ausschliesslich der sozialen Interaktion wegen in (meist mehreren) Gruppen teilnehmen? In ihrer reinsten Form, unter sich, können sie wohl an jeglichen Stammtischen beobachtet werden. Sitzungstiger sind immer an allen Sitzungen dabei, was den Eindruck erweckt, sie seien Aktive. Mit der Zeit bemerkte ich, wie wenig die Tiger effektiv zur Gruppe beitragen, ja die Gruppe sogar fast sabotieren. Sie teilen sich oft und ausführlich mit, reissen neue Projekte aus übertriebenem Idealismus an, übernehmen aber nur vereinzelt bis gar nicht Verantwortung.


Beim nächsten Milestone stellt die Gruppe fest, dass kaum etwas umgesetzt wurde. Irgendwie fehlten den Ideen der Sitzungstiger ein Realitätsbezug, was eine konkrete Umsetzung erschwerte. Zu guter Letzt sassen auch die «Stillen» in der Runde und trugen ihren Teil zum Bestehen der Gruppe bei. Es war nicht so, dass sie nichts zu sagen hatten, im Gegenteil. Mir schien, als ob sie mit Bedacht alles aufsogen, genüsslich durch ihre Hirnwindungen drehten, um eine feine und klare Essenz darzureichen – wenn ihnen Platz und Zeit eingeräumt wurde. Selbstverständlich gab es Überschneidungen und/oder Wechsel in den Rollen und noch manche Facetten mehr. Aber alles war sehr wohlwollend: Die Alten Hasen liessen die Neuen geduldig vor dem Bau rumtollen, pfiffen diese aber auch zurück, wenn jemand zu weit ging; die Aktiven spannten Interessierte ein und vermittelten Wissen, standen mit Rat und vor allem Tat zur Seite; die Passiven schauten wie Verwandte ab und zu vorbei, halfen wo sie konnten; die Stillen sorgten für die nötige Klarheit und die «Sitzungstiger» regelmässig für latentes Chaos und Abwechslung. So war das, und es war gut so. Und sonst wurde kommuniziert. Mir wurde schnell klar, dass ich nicht mit einem Bier bei der Aktion dabei sein konnte. Und wenn ich mich zum Einkaufen gemeldet hatte, war es besser, nicht am Vorabend z’Bode zgah. Einmal passierte es, dass ich den Einkauf aus Egoismus sausen liess. Die anderen Male jagte mir der Schreck genug Adrenalin durch den Körper, sodass ich die Verpflichtung wahrnehmen konnte. Unsere «Hauptaufgabe» am Sonntag erfüllten wir also zuverlässig; daneben waren wir aktiv in diversen


anderen Aktionen und Kampagnen, unter anderem gegen die «Säuberung» des öffentlichen Raumes. Und genau auf diesem Terrain wurden wir dann angegriffen. Die Stadt hatte uns wegen Bauarbeiten ungefragt einen neuen Platz bei der Drogenabgabestelle zugewiesen. Das konnten wir nicht akzeptieren – wir wollten mitreden. Dies Stadt zeigte sich bei den Gesprächen als nicht kooperativ, und so begannen die Kämpfe mit der Stadtverwaltung, den Medien und dem Tränengas. Unter gewissen Bedingungen ja, finde ich. AUF WELCHE FRAGE WIRD HIER GEANTWORTET? Zuerst ist es aber einfach mal eine Community, eine Gemeinschaft, eine Schicksalsgemeinschaft. Findet sich die gleich zu Beginn des Szenarios zusammen und ihre Mitglieder definieren ihre egalitären Grundprinzipien gemeinsam, so ist ein erster Schritt getan. Wir aktivierten unsere Netzwerke, brachten am folgenden Sonntag einige Dutzend Unterstützer*innen mehr auf die Strasse und besetzten einen neuen, eigenen Platz. Daneben organisierten wir eine Demonstration, um unseren Anliegen Gehör zu verschaffen. Das war ein grosses Stück Arbeit für eine Kerngruppe von etwa fünfzehn Personen. Darum hielten wir die Demonstration möglichst einfach und setzten auf Kreativität statt Radikalität. In dieser Zeit hielten wir einige Extra–Sitzungen, um alles zu koordinieren. Der Rest formte sich in separaten, dynamischen Prozessen, im Vertrauen.


Wir kannten uns ja mehr oder weniger schon seit zwei, drei und mehr Jahren. Der zweite Schritt, meiner Meinung nach, ist die Pflege dieser Prinzipien. Konkret heisst das: Vertrauen aufbauen. Vertrauen in die Kapazität, dass diese Prinzipien verinnerlicht sind oder werden. Vertrauen darauf, dass in schwierigen Situationen die Prinzipien stark genug ausgebildet sind, um nicht an der Situation zu zerbrechen. Der Zufall wollte es, dass die Polizei uns am Sonntag vor der Demonstration medienwirksam mit Tränengas von unserem neuen Platz verjagt hatte. Am Donnerstag standen wir wieder – wohl überraschend für viele – mit viel Pomp und 300 Sympathisant*innen auf der Strasse und brachten dem Stadtparlament einen überdimensionalen Scheisshaufen aus Pappmaché zur Sitzung. Das sass! Die Lokal–Medien überrannten uns mit Anfragen, auf die wir aus basisdemokratischen Gründen, sprich: wegen dilettantischen Unvorbereitetseins nicht reagieren konnten. Es wurde dann Etliches über unser Tun geschrieben, das nicht stimmte und uns ärgerte. Was aber schlussendlich egal war. In Zukunft wurden wir an unserem eigenen Platz in Ruhe gelassen. Die Stadt bootete uns aus, indem sie uns unsere «Kund*innen» durch das sonntägliche Öffnen der Drogenanlaufstelle inklusive gratis Abendessen abjagte. Uns war auch das egal, ja es freute uns regelrecht! Das sonntägliche Öffnen der Anlaufstelle war eines der Ziele, für das die Gassenküche gekämpft hatte.


Was folgte, war die Sinnkrise. Wenn wir vorher über hundert Essen ausgegeben hatten, kamen nachher nur noch knapp fünfzehn Personen zum Essen. Mehrmals diskutierten wir an Sitzungen die Neuausrichtung der Gassenküche. Einige «Kreative» wollten das Konzept ändern, neue Formate ausprobieren. Ich selber fühlte aber kaum Bereitschaft, meine gewohnten Strukturen zu verlassen. Im Gegenteil: Durch die wenigen «Kund*innen» war das sonntägliche Kochen noch gemütlicher. Zeit und Geld hatten wir im Überfluss, und ein besseres Abendprogramm für den Dienstag konnte ich mir auch schlecht vorstellen. Andere hatten andere Gründe gegen eine Veränderung – wir fanden jedenfalls keine Lösung. «Basisdemokratie konserviert halt», hiess es mal. Das stiess einigen sauer auf, und die Gruppe verlor nadisnah an Kraft. Hier ist die Schwierigkeit: Wenn ein Teil nicht mit den anderen Teilen der Gruppe einverstanden ist und er sich zwar abgrenzen kann, eine Abkapselung aber unmöglich ist. Die Gassenküche war meine Ausbildungsstätte für Basisdemokratie. Sie lehrte mich stoisches Ausharren an Diskussionsrunden und gab mir das nötige Sitzleder, wie Mensch so schön sagt. Mir wurde dort klar, wie komplex die Zusammenhänge auch in einem kleinen Ökosystem sein können. Wie wichtig Rücksichtnahme, aber auch (zuweilen blindes) Vertrauen für ein funktionierendes Kollektiv sind. Und wie wir alle unvorhersehbaren Dynamiken unterliegen, auf die wir mal besser, mal schlechter vorbereitet sind.








2019 – zu dem Zeitpunkt, zu dem ich dies schreibe, vergangenes Jahr – wurde das HyperWerk 20 Jahre alt. Das ist schon eine ganz schön lange Zeit. Etwa ein Jahr nach der Institutsgründung wurde ich im Herbst 2000 als Technischer Angestellter – mensch könnte auch sagen, als Abwart – hier eingestellt. Um aber die sich stetig wandelnde Realität wieder etwas besser abzubilden, wurde ich 2012 vertraglich auch auf eine Lehrtätigkeit verpflichtet. Ich bin also schon eine Weile dabei, in der ersten Hälfte meines HyperWerk– Lebens mehr mit den Dingen, in der zweiten mehr mit den Menschen befasst. Meine Wahrnehmung des Instituts als Technischer Angestellter hat sich natürlich von der eines Lehrenden unterschieden, gleichzeitig bin ich aber dieselbe Person geblieben, auch wenn ich hoffentlich in diesen Jahren etwas dazugelernt habe. Ob nun in einer Art Rückschau auf das Institut – darum soll es in diesem Text ja gehen – die Perspektive eines Abwarts mehr oder weniger interessant ist als die eines Dozenten, kann ich nicht deutlich bestimmen. Ich bin ja weiterhin dieselbe Person mit meinem eigenen Zugang zur Welt, die immer schon aus Lebewesen und Dingen und den Beziehungen zwischen ihnen bestand. Um den momentanen Ist–Zustand in einem kleinen persönlichen Ausschnitt zu skizzieren: Anfang April beginnt (und endet nach sechs Wochen wieder) das Modul solve & produce, das jeweils vorletzte Modul eines Studienjahres im HyperWerk, und aus einer etwas seltsamen Erbfolge heraus verantworte ich die Gestaltung


dieses Moduls. Für das diesjährige Modul hatte ich mir vorgestellt, den Studierenden ein verlockendes Angebot zu machen: «Ins Handeln kommen» war die Formulierung. Das sollte nicht heissen, dass bisher noch nicht gehandelt wurde, aber für viele Studierende könnte es wichtig sein, noch etwas näher an das heranzukommen, was wir Praxis, Realität oder Welt nennen. So meine Vorstellung bis kurz vor Beginn des Moduls. Und dann änderte sich die Realität um uns herum, und wir taumelten als Institut – gleich dem Rest der Welt – in den pandemiebedingten Lockdown, und statt besonders physisch mit der materiellen Welt zu interagieren, durften wir uns nur noch online, digital, medial betätigen. Das Modul sollte aber natürlich trotzdem stattfinden. Aus den dazu geführten Gesprächen, wie wir was in diesen Workshops tun können, zitiere ich hier nun eine Reihe von Notizen, Merksätzen und Absichten: •

Die grundsätzlichen Konzepte der Work- shops bleiben: Studierende erhalten hier eine erstklassige Gelegenheit, einen erhellenden, weiterführenden und realisierenden Dialog zu ihren Projekten oder Projektvorhaben zu führen – leider nicht wie ursprünglich gedacht.

Analoge, reale, physische Begegnungen dürfen wir auf keinen Fall provozieren, erwarten und voraussetzen.


Aber umgekehrt wird die Sehnsucht nach direkter und analoger Begegnung diese umso wertvoller machen.

Verständnis, Einsicht und Inspiration durch Haptik, Materialität, Geruch usw. werden ebenfalls wertvoller – beides ist auch ein positiver Effekt. Wir haben das irgendwann wieder, und dann werden wir es umso mehr schätzen. Und jetzt kann das zu einem star- ken Handlungsantrieb werden.

Online stehen uns diverse Werkzeuge zur Verfügung, wir haben darüber gesprochen:

[...]. Es folgt eine Aufzählung all der uns zur Verfügung stehenden Online–Dienste und ihrer verschiedenen Möglichkeiten. Wir haben das alle kennen gelernt in diesen Wochen und Monaten. Vieles hat sich als sehr brauchbar herausgestellt und wird in Zukunft sicher nicht mehr nur als Ersatz, sondern als ein erweiterndes Werkzeug angesehen werden. Aber die nochmals gesteigerte Abhängigkeit von Technologie, die Diskriminierung mancher durch die unterschiedlichen Zugänglichkeiten dazu, der Mangel an ungeplanten Begegnungen und an dem, was gelegentlich daraus entstehen kann, sowie vieles andere mehr sind ebenso nicht ignorierbar. •

Welcher dieser Dienste genutzt wird, ändert wenig an der eigentlichen Situation – die


Unterscheidung zwischen Kommunikations weg und Datenspeicher ist auf jeden Fall genau und bewusst zu beachten. Und zusätzlich sollte immer noch ein analoges Element (ein Atemloch in der Eisdecke) eingeplant werden.

Online muss genau und bewusst unterschieden werden zwischen live erzeugten und abgespeicherten Inhalten.

Das Erlebnis/die Aktivitäten werden sich in sehr vielen Fällen von Gruppen oder Kollektiven zu Einzelempfindungen hin verschieben. Ein Workshop wird sich ver- mutlich häufig in aneinandergereihte Einzel- betreuung wandeln. Also wenn Ihr einer Gruppe etwas präsentiert, wird es vermutlich idR jede*r Studierende als Einzelwesen wahrnehmen, auch so darauf Bezug nehmen und sich auch so an Euch wenden.

• Die Verschiebung von der Gruppe zur 1:1–Betreuung können wir auch als Vorteil nutzen, denn gleichzeitig kann das zu einer intensiven Teilhabe der jeweils anderen Stu dierenden führen, wenn sie den Betreuungs- gesprächen der jeweils anderen zuhören können. •

Ausserdem ist die Frage/Überlegung ent- standen, ob vier Workshops jeweils das Internet/den online–Workshop einzeln neu erfinden sollen, oder ob nicht alle


vier in einen grossen gemeinsamen Pool verwandelt werden und (frei fantasiert) zB eine Mentoring–Station entstehen könnte, die über vier Wochen ein Programm von Beratung und Strukturierung für diverse verschiedene Projekte und Studierende/ Teams anbietet. Ob als Lotterie oder streng durchgetaktet oder wie eine Tankstelle in der Wüste – das ist alles denkbar.

• Neu sind wir zu grossen Teilen auf räumlich getrennte Formate beschränkt. Ebenso fallen wichtige Strukturen wie die Werkstätten und die Gleichzeitigkeit und Vielfalt bestimmter Sinneseindrücke weg. Wir können zwar nicht mehr gemeinsam an einer Sache schrauben oder schmecken, aber wir können (a) lernen, mit dem was bleibt optimal umzugehen; (b) erforschen, was trotzdem geht; (c) feststellen, was uns fehlt und uns darauf vorbereiten, wenn es wieder da ist; und (d) herausfinden, wie es nochmals anders sein könnte. So sieht es also heute aus, Bulletpoints und Online–Workshops. Listen machen hilft manchmal. Doch was hat das mit dem gewünschten Rückblick auf 20 Jahre HyperWerk zu tun? Zumindest einen inneren Kontrast kann ich so zu zeigen versuchen. Ich greife zurück auf ein Fragment von vor elf Jahren (das praktischerweise selbst auch schon ein Rückblick ist), danach werde ich auch noch etwas von mir erzählen,


das aus meiner persönlichen VorHyperWerkZeit stammt. Aber zuerst zur Kulturtechnik des Hausmeisterns im HyperWerk: Hard– und Software (HyperWerk_09_Plexwerk (Auberger 2009, 48)) Seit dem Jahr 2000 arbeite ich im HyperWerk. Eingestellt wurde ich von Mischa Schaub nach einem etwa zehn Sekunden dauernden Vorstellungsgespräch mit der Begründung: «HyperWerk braucht dringend einen Haushofmeister.« – Ich stellte mir so etwas wie eine Mischung zwischen Verwalter und Gastgeber vor; dass ich da nicht ganz richtig lag, wurde mir aber bald klar. [– Gründlich verhört hatte ich mich.] Im HyperWerk war zu diesem Zeitpunkt alles Strukturelle und auch das Materielle in einem leicht utopischen System der Selbstregulierung organisiert: Software war in blauen Plastikboxen gelagert, diese in einem Regal, und wer immer etwas brauchte, nahm es sich einfach. Diese Boxen hatten nebenbei die tückische Eigenschaft, etwas schmaler zu sein als die CDs breit waren, so dass öfter mal eine CD beim Wiedereinpacken zerbrach – falls sie überhaupt jemals wieder aufgetaucht war. Natürlich war auch die Lizenzierung der Software stark vom Wahlspruch der Drei Musketiere geprägt: «Alles für einen, eines für alle!» Die Hardware dagegen hatte gar


keinen regulären Ort – sie floss als eine Art Protoplasma meistens unsichtbar durch die Räume des HyperWerks. Wer etwas davon zu sehen und zu fassen kriegte, hielt es fest und liess nicht mehr los, bis er oder sie abgelenkt wurde und durch diese Unaufmerksamkeit den Kontakt zum Objekt der Begierde wieder verlor. Nur Dinge, die zu schwer zum Fliessen waren, befanden sich recht zuverlässig dort, wo sie zuletzt gesehen worden waren. Im Eingangsbereich stand zum Beispiel ein Server, sicher einhundert Kilogramm schwer, dunkelrotes Metallgehäuse, Silicon Graphics Inc. hiess der Hersteller – ich persönlich habe nie beobachtet, dass das Ding sich oder etwas anderes bewegt hätte. Aber es muss seinerseits eine legendäre Maschine gewesen sein. Anschaffungen von Hard– oder Software wurden meist nicht allzu planvoll getätigt, sondern abwechselnd im Stil einer sofortigen und unbedingten Wunscherfüllung und über ein ausgeklügeltes System der Sekretariatsbeeinflussung. Auf die Dauer war das Verhältnis von Geldverbrauch zu Verfügbarkeit des Vorhandenen nicht befriedigend, und deshalb existiert seit dem Sommer 2002 ein Lager und Verleihsystem für Hard– und Software. So war das also früher. Schön ist, dass das Lager immer noch existiert und funktioniert. Die Software ist natürlich kaum noch auf CDs, und mittlerweile gehen wir auch viel überlegter bei den Anschaffungen vor – obwohl; nicht


immer. Und das ist ja auch gut so, gehört doch serendipity genauso zum HyperWerk wie eine – fast – aus dem Ruder laufende Jahrespublikation. Und tatsächlich gilt Martin Sommer, der dankenswerterweise die Hege und Pflege der (und oft auch das Wiedereinfangen entlaufener) Hardware übernommen hat, als Helfer in der Not bei vielen Studierenden, auch bei denen unserer Nachbarinstitute. Besonders zu Zeiten von Diplomausstellungen und Abschlussarbeiten. Weil wir nämlich immer noch irgendwas im Lager haben, was niemand dort vermutet hätte. 2000 habe ich also im HyperWerk angefangen Ordnung zu machen. Aber ich hatte auch davor schon ein Leben und war neben einer eigenen Arbeit im Atelier auch im Betrieb des Basler Kaskadenkondensator – ein Offspace, also ein nicht kommerzieller Ausstellungsraum – engagiert gewesen. Und aus dieser Situation heraus war Folgendes entstanden: Knapper Bericht über eine Kunstaktion in Frankfurt 1999 Material und Konzept: Donnerstag, 11. März – Wir fahren nach Frankfurt. Eingeladen von Vera, packen wir nach ein paar klärenden Telefongesprächen Kinder, Schlafsäcke und etwas Werkzeug, um in einer Bank zu arbeiten.Kein Wunder, dass wir nach Frankfurt fahren. Der Wahrheit zuliebe muss ich aber auch gestehen, dass wir aus der Schweiz kommen.


Vera macht ein Ausstellungsprojekt, das, wenn ich mich richtig erinnere, atelier–bourgeois heisst, eingebunden in eine Ausstellungsreihe mit dem Titel Aufbau [...], die ihren Platz im Ausstellungsraum einer Bank hat, genauer: im Forum der Frankfurter Sparkasse 1822. Vera lädt wiederum zwei weitere Künstler in ihr Projekt ein, zusammen mit ihr mal wieder so richtig traditionell zu arbeiten. Einer davon bin ich, und um das Klischee wirklich ganz klassisch zu erfüllen, komme ich mit Frau und zwei kleinen Kindern, alle halb verhungert. [Vera Bourgeois hatte als Künstlerin an einer von mir verantworteten Ausstellung teilgenommen, auf die ich auch heute noch stolz bin (Vaterbild, Kaskadenkondensator, 1998 (kann gegoogelt werden).] In Frankfurt fangen wir sofort an, Arbeitsmaterial und Schlafplätze zu organisieren, und kaum ist das erledigt, kommt auch schon das Wochenende, an dem man in der Bank natürlich nicht arbeiten darf. Gerade eben noch vor Freitag 17:00 habe ich einszweidrei Abgüsse von Gesichtern in Gips machen können, die zusammen mit denen von daheim schon nach Arbeit aussehen. Die Frankfurter Sparkasse kümmert sich im übrigen in Person von Frau W. [...] rührend um Kinder und Mittagessen, an dieser Stelle nochmal ganz herzlichen Dank. Am Sonntag, wir haben in der Zwischenzeit


den Zoo usw besucht, sind wir wieder in der Bank, diesmal, um uns mehrere Kurzvorträge zum Thema Material und Konzept anzuhören, als Künstler an der anschliessenden Diskussion teilzunehmen und dem Buffet seinen Sinn zu geben. Die Vorträge sind gar nicht schlecht, und meine Beobachtung, dass Vorträge umso interessanter sind, je weiter sie sich vom vorgegeben Thema entfernen, kann ich auch hier wieder machen. Ich finde sogar Gelegenheit, mich selber zu äussern, was mir unter fremden Menschen (eventuell auch klischeegerecht) sonst eher schwerfällt. Es wird gefragt nach dem Unterschied und der Bedeutung von Handarbeit und Kopfarbeit, oder auch – laut Titel der Veranstaltung – dem von Material und Konzept. Meine Erfahrung auf dem Gebiet sagt mir, dass der Unterschied letztlich in der Zugänglichkeit für den Einzelnen liegt, nicht aber in irgendeiner Qualität. Ich will damit sagen, dass die Kunst nicht im Kopf oder in den Händen des/der Künstlers/Künstlerin entsteht, oder dass eines von beiden besser geeignet ist dafür. Wahrscheinlich sind es vor allem die äusseren Umstände (wo wer wann warum was macht und wer warum was wem zeigt, sagt, verkauft ...), die Kunst produzieren, und nicht so sehr die Produktionsmittel, ob das Sprache, Bilder oder Töne usw sind. Genauso wie in unserem Fall Gespräche oder Zeichnungen, Videos oder Ölbilder, Plastiken oder Ausstellungsarbeit sich nicht unbedingt als einan-


der ausschliessend gegenüberstehen. Die sinnliche Befriedigung, die ich beim Arbeiten mit dem Gips in Frankfurt erlebe, macht mich ganz sehnsüchtig nach mehr davon. Und mehr davon mache ich dann auch in den nächsten fünf Tagen. Jeder, der die kleine Strapaze, sich eine halbe Stunde nicht zu bewegen, sein Gesicht von mir erst mit Fett, dann mit Gips eingeschmiert zu bekommen und nur wenig Luft zum Atmen zu haben, auf sich nimmt (also praktisch alle, die ich frage), wird abgegossen. Von diesen Abgüssen – sogenannte Negative – mache ich wieder Positive, die in der Form nahezu naturidentisch mit den Gesichtern der Menschen sind. Von mir kommt eigentlich sehr wenig eigene kreative Leistung dazu, eher meine handwerkliche Virtuosität im Umgang mit dem Material und mein eigenes Fasziniertsein von den Gesichtern der Menschen. Es ist eine sammelnde Tätigkeit, die es auch möglich macht, auf einzelne Abgüsse zu verzichten; nämlich dann, wenn jemand sein Gesicht liebend gerne behalten will. Am Schluss ist es so rausgekommen, dass all die Gesichter immer noch in Frankfurt in einer Schachtel verpackt darauf warten, dass ich sie abhole, und ich hier in Basel mir wünsche, von Vera wieder mal zu so einer Woche intensiver Handarbeit eingeladen zu werden. — Rasso, Basel, 30. Juni 1999


Da die zitierten Texte Vergangenheit haben, sind sie wohl nicht immer korrekt gegendert. Dafür erzählen sie etwas vom Vorher, vom Danach und vom Jetzt. Das finde zumindest ich. Es befriedigt mich, dass es auf jeden Fall immer noch um das geht, was zwischen Kopf und Hand passiert. Oder, wie ich zu Beginn dieses Textes behauptet habe, zwar mal mehr um die Dinge und mal mehr um die Menschen, aber stets vor allem um die Beziehungen zwischen ihnen. Und das scheint mir am Ende nicht nur mein privater Fokus zu sein, sondern auch ein wichtiger Arbeitsbereich unseres Instituts und ein zentrales Interesse der Studierenden.


Die Privilegienfrage gehört zuIchkommit to conflict wie die Streifen zum Zebra. behaupte, dass diese Auseinandersetzung in den letzten drei Jahren, unter anderem durchhat.unseren Jahrgang, stark an Gewicht gewonnen Trotzdem diese Frage nur in wenigen Texten berührt.wird Dafür gibtmöchte, es vieleda das Gründe, dieeineichAusrede hier nicht nennen auch wäre. Tatsache ist: Die Redaktion besteht aus vier weissen Menschen, davon sind sogar drei (oder heterosexuell und cis-männlich. Am HyperWerk allgemein an dernurHGK) zumanstudieren ist lang ein riesiges Privileg. Nicht weil drei Jahre einen der freiesten Studiengänge geniessen darf, sondern die vorausgesetzte Einstellung zu besitzen erfordert auch eine gewisse Freiheit. Damitundmeine ich die Möglichkeit, sich dem finanziellen psychischen Druck zu widersetzen, dass mandieeine ‹angesehene› Ausbildung absolvieren muss, ‹gute› Job-Chancen bietet. Dies aus, siehtundsicher nicht für jede n Studierende n gleich es wäre * * anmassend behaupten, dass nicht auch wirwären. mit finanziellenzuHerausforderungen konfrontiert Tatsache ist aber, dass durchlaufen, wir reihenweise offene, automatische Glastüren die für Menschen mit weniger Privilegien geschlossen bleiben, und diesPublikation. zeigt sich wohl auch ein Stück weit in dieser Das Thema der Privilegien ist nichtaufmerksam völlig abwesend, und doch müssen wir reflektieren, zuhören undunslernen, diesewiePrivilegien anzuerkennen. Wir müssen fragen, wir die Publikation das Institut zugänglicher machen können. und

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The pedagogical models implemented by design education are becoming central to any reflection on globalisation in a world where the political conditions of the present are embodied in the material and immaterial novelties con-sumed by people all over the planet. The logics of globalisation and the issue of social justice, diversity, and environment, as well as ethnicity, nationalism and gender, affect design as a social practice, and design as a practice for social change. They foster the redefinition of design pedagogy as an alternative site of production for renewed cultural forms that are aesthetically, symbolically and materially at the crossroads of the dynamic circulation of people, ideas, artefacts and cultural heritages. (Leyla Belkaïd Neri) For the International Workshops in Banasthali, Gaborone, and Canberra, the focuses chosen as orientation were problem, material, and discourse. They turned out to make very good sense, and they allow of a more precise design and application of modules and subject matters. (Regine Halter) It is interesting for me to observe myself and realize how this trip is now, after the event, challenging me to see the positive in what was critical. What have I learned, which opinion have I developed? Do I know now what I don’t want and therefore at the same time what I want? (Isabelle Baumgartner)

Auch nach Mitteleuropa sei der Klimawandel gekommen, um zu bleiben, meint Joachim Rukwied, Präsident des Deutschen Bauernverbands. Die Folgen schlügen sich, nach drei Jahren teils extremer Dürren in Folge, vor allem im Westen Deutschlands in um bis zu 30% niedrigeren Ernteergebnissen nieder. Nun müsse man über eine «angepasste Ackerbaustrategie nachdenken, die auch Bewässerung mit einbezieht», und sich um die Züchtung trockenheitsresistenter Nutzpflanzen kümmern. – In diesen dürren Worte kommt das daher, in den Deutschlandfunknachrichten vom 18.08.2020;


so von der Seite in die sogenannte Zweite Welle rein. Ausserdem: «Deutschland verzeichnet mit 618’000 Arbeitslosen infolge von Corona im zweiten Quartal den grössten Rückgang der Erwerbsarbeit seit 1990. Kurzarbeitende sind nicht berücksichtigt. Die sonst übliche Frühjahrsbelebung blieb aus.» Eine stille Explosion in extremer Zeitlupe. Schnell noch raus einkaufen, hit and run bevor mittags die aufgedrehten Massen auf die Strassen und in die Gassen strömen. Baumreihe an Restmüll und Hundekot, manche Blätter schon am Vergilben; Automobile rauschen glitzernd vorbei; jenseits der Strasse Beton/Glas/Beton/ Gitter/Beton und ein paar Büsche/Farne. Alles so plastisch und knusprig im Hochsommerlicht – die Welt kann wunderschön sein, vor allem wenn mensch sich zur Risikogruppe zählt und seit bald einem halben Jahr Eremitage ohne Garten oder Balkon exerziert. Es weht auch noch ein leichter Wind. Maske auf im angenehm dünn besetzten Tram von der Peripherie (Hinteres Kleinbasel) ins Zentrum. Erst auf den Marktplatz: vollreife Brombeeren und Pflaumen direkt vom Biobauern hinter der Grenze, Feinstoffliches fürs Immunsystem und die allgemeine Lebhaftigkeit (und weil mich die Plastikverpackungen in den Supermärkten anwidern); dann ins Labyrinth: etwas Lektüre zur Selbstoptimierung (und für die allgemeine Lebhaftigkeit). Wie schnell mensch sich an die Maske gewöhnt. Und die Nichtmaskierten beargwöhnt. Überhaupt: Wie schnell Menschen sich an etwas gewöhnen.


Corona ist nun die erste Katastrophe, die ohne die Globalisierung nicht denkbar wäre und die auch die gesamte globalisierte Welt angeht – niemand kann sich zurücklehnen und sagen, dass das Andere betrifft, aber nicht uns. Überall auf der Welt tragen die Menschen Masken, und wenn sie sie zwischendurch abnehmen, werden sie belohnt mit dem kurzen kühlen Hauch im Gesicht. Die Gesichtsverhüllung selbst erzeugt unter anderem ein verstärktes Gefühl des Beisichseins, a certain remoteness – nicht unangenehm; jedenfalls nicht im Tram. Cultural Spaces and Design – Prospects of Design Education ist der Titel eines von Dr. Regine Halter, bis zu ihrer Emeritierung im 2015 Professorin für Gestaltungstheorie am HyperWerk, und Catherine Walthard, Professorin für Designpraxis ebenda, herausgegebenen Bandes, der Berichte und Bilder aus dem gleichnamigen Projekt sowie die Beiträge des Abschlusskolloquiums Globalisation is a Design Issue vom Juni 2017 versammelt. In der Endphase der Textredaktion, im Januar 2020, hatte ich noch einige Texte übersetzt und dann alles Korrektur gelesen. Lange zuvor hatte Regine immer wieder berichtet, wie viele Mails hatten geschrieben und wie viele Überarbeitungen hatten erbeten werden müssen, bis endlich alles erstmal im Kasten war (vom Aufbau der Kontakte und der eigentlichen Organisation der internationalen Workshops über Jahre hinweg und dem Zusammenkratzen der Finanzierung nicht zu reden). Die enorme und auf den ersten Blick so oft unsichtbare


Arbeit, die in jedem anspruchsvollen Buch – in jeder anspruchsvollen Gestaltung steckt. Im Februar hatte der Verleger die Redaktion zu einem Essen eingeladen. Danach verabschiedeten wir uns zwar bereits ohne Händeschütteln voneinander; aber niemand ahnte wohl, dass unserem Buch ein ähnliches Schicksal drohen würde wie jenem Bob–Dylan–Album Love and Theft, das am 11.09.2001 erschienen war und lange keine Beachtung fand. Das Buch markiert den vorläufigen Endpunkt der seit 2009 vom HyperWerk aus erfolgten Anstrengung, in der Gestaltungsausbildung Erfahrungen von Fremdheit und, daraus folgend, von erlebter Interkulturalität zu stiften und damit im Entwurfsverhalten zu verankern. Anfangs hiess das Projekt Travel Trains Talent; im 2012 wurde es zum Jahresthema der Dodici und hiess Upstream: Prospects through Design. Es ging darum, mit etwas Fremdem, mit einem Aussen konfrontiert zu werden, und zwar mittels Gestaltungsaufgaben, die im Laufe ihrer gemeinsamen Bearbeitung die jeweils anderen Vorstellungen von Gestaltung und damit auch die unterschiedlichen Weltbilder aufdecken. Auf dass wir nicht meinen, die Anderen müssten unsere Probleme immer auch als die ihren verstehen. Mensch muss sich manche Probleme ja auch erst einmal leisten können. (Diesen Gedanken verdanke ich Luc Spühler. Uns zertrampeln hier nämlich keine Elefanten unsere Gemüseplantagen – in Botswana müssen Methoden entwickelt werden, Elefanten zu verscheuchen.) HyperWerkStudierende konnten zu


Partnerhochschulen nach Australien (Canberra), Botswana (Gaborone), Indien (Banasthali) fliegen und «das Gastland mit allen Sinnen erleben und dort unvergessliche Erfahrungen machen» – Die An– und Abführungszeichen vor und hinter dieser vollmundigen Phrase spielen darauf an, dass sie nach Tourismuswerbung klingt. Aber sie ist durchaus wahr. Cultural Spaces – Kulturräume: Der Begriff ist sehr weit gefasst und bezeichnet physische Orte und Regionen, wo sich in Tradierungsprozessen spezifische Formen des Umgangs von Menschen mit Natur und miteinander zu Lebenswelten ausgeprägt haben. (Proto–)Design und (Proto–) Politik gehen Hand in Hand. Globalisierung wird überall immer lauter und manifestiert sich in nahezu allen konkreten lokalen Situationen. In diesem Umgang und diesen Prozessen werden auch mentale, spirituelle Räume – der Kunst und des Mythos – gestiftet und erschlossen, und zwar durch das Erzählen von Geschichten. Folgerichtig bietet das Buch 36 Texte, von denen die meisten die konkreten Umstände betrachten, unter denen die jeweilige Gestaltung entstanden ist. Und das nicht immer gleich offensichtliche, aber doch fast allen Berichten zugrunde liegende Thema ist – wie könnte es anders sein – Wasser. Im Zentrum stehen neben den individuellen Erfahrungen die gestalteten und organisierten Erlebnisräume oder auch: die Gefässe, in denen Begegnungen stattfinden und Unterschiede verhandelbar werden konnten.


Wie selbstverständlich wurde davon ausgegangen, dass interkulturelle Zusammenarbeit in leibhaftigen Begegnungen gegründet sein muss; ohne diese kommt sie, wenn überhaupt, nur schwer in Gang. Dass das kostspielig und schon deshalb schwierig durchzuführen ist, wird durchaus reflektiert; auch Flugscham aus Klimagründen steigt manchmal auf. Leibhaftige Begegnung. Was in Cultural Spaces and Design dokumentiert ist, war etwas grundsätzlich anderes als das, was wir jetzt erleben. – Eine gemeinschaftliche Produktionsrealität on site gehört zum Inhalt jeder konkreten Utopie, zu jedem Traum vom Guten Leben. «Etwas ist schwierig, aber dann machen immer mehr mit, und es kommt in Gang; es entsteht das, was Flow heisst; und es wird dann doch noch gut; sogar so gut, dass es vorzeigbar und anschlussfähig ist.» So das Kantinen–Basisnarrativ im Theater, beim Film, bei jeglichem gemeinschaftlichen Entwerfen und Bauen, beim Kochen, fürs Buch usw. usf. Hinterher erzählt sich als schöne Geschichte, wie irre das alles war, wie verschieden die Menschen waren und wie sich doch Verbindungen ergaben. «Und am Schluss lagern sich die Beteiligten und ihre Nächsten im Abendlicht auf der Magerwiese ums Lagerfeuer und sind nach einem währschaf– veganen Abendessen und sauberem Leitungswasser tief zufrieden und eine Zeit lang wunschlos. Im Hintergrund ruht still das offenporige Werk.» Ungefähr so soll das doch sein. Ein Leuchtfeuer zwischen Jahren der Ödnis in den Mietwohnungen und Büros und Fabriken, hinter den


Schreibtischen, Kassen, Steuerrädern, Monitoren, Werkbänken, an den Maschinen, in den Krankenhäusern, Kirchen und Kerkern. Jilly Traganou von der Parsons School of Design in New York City hat sich in ihrem Beitrag zur Abschlusskonferenz mit dem Protest-Camp Standing Rock befasst. Standing Rock in North Dakota bestand von April 2016 bis Februar 2017 auf Land, das gemäss einem Vertrag von 1851 der Sioux–Nation gehört. Über 300 Gruppen von Indigenen und Nichtindigenen versuchten, die Verlegung einer Ölpipeline unter dem Missouri zu verhindern, die die Trinkwasserversorgung der Menschen dort und auch im weitaus grösseren Umkreis gefährden würde. Im September 2016 lebten etwa 4000 Menschen im Camp, und an den Wochenenden kamen jeweils weitere 1000 dazu. Traganou hebt das oben skizzierte Narrativ ins Abstrakte: «What are the ethics of design at sites of intercultural learning? [...] I will read Standing Rock as a site of proto-design as well as of proto-politics. I consider as proto-design the engagement with materiality that emerges when establishing a new ephemeral territorial ground, such as that of a protest camp. Proto-design emerges from the position of the non-expert designer often as a spontaneous act of survival in conditions of suppression, or precariousness. I consider proto-politics the process of both finding and questioning commonality, creating both otherness and


a new sense of selfhood. I will be looking at the prefigurative space of the Standing Rock as a learning opportunity for designers as both political and ethical subjects that act in collectivity.» (76) Traganou zitiert dann aus ihrem Interview mit dem Camp-Mitglied Mary K.: «There are meetings all day. There is at least one meeting per day about construction. We have dedicated teams that work diligently for countless hours to winterize this camp. We look out for each other. We gather around fires at night and share food around tables bustling with conversation, and glowing with connnection. [...] Many of us are here to stay. Many of us are coming.» (84) Besonders die letzten beiden Sätze lassen mich an das Diplom–Camp der Diciassette im 2018 denken, das in der HyperWerk–Jahrespublikation Wir halten Haus reichhaltig dokumentiert ist, und an den legendären Off–the–Grid–Workshop, in dem Rasso Auberger, Oli Rossel und Michael Tatschl gemeinsam mit den Teilnehmenden irgendwo in der steirischen Wildnis in einem kleinen alten leeren einsamen Bauernhaus ohne Strom und fliessend Wasser eine Woche lang campierten. Reduce to the max. Um zu erfahren, was alles veränderbar ist, durch und zwischen und auch in uns; was können wir denn für Menschen sein, wenn wir uns selbst ermächtigen und uns als handlungsfähig erleben?


Die Erderwärmung, die mit ihren mehr oder weniger lauten und unterschiedlich schnellen Explosionen die gesamte Biosphäre zunehmend heftiger umgestaltet, und jetzt auch die globale Pandemie, die alle Kontakte mehr oder weniger riskant macht, bestimmen die kulturellen Räume, in denen verantwortungsvolle Gestaltung stattfindet. Klimawandel und Pandemie sind Folgen und Momente der Globalisierung – zwei neue Frequenzen in unserem Wachstums– und Fortschritts–Tinnitus. Die Wirklichkeit wird immer mehr zum Dickicht. Wie weit werden wir es kommen lassen? Und von Sand/Plastik/Artensterben/Fliegen/Seeblindheit/Streaming/Bodenversiegelung etc. ist noch gar nicht gesprochen, auch nicht von Migration/Kriegen/Diskriminierung/Unterdrückung/Ausbeutung usw. usf. (Wir hier, auf unserem alpinen Archipel, wähnen uns ja ohnehin entrückt.) – Dass diese drängenden Probleme hier in zwei Gruppen aufgezählt sind, bedeutet nicht, dass die einen fundamentaler als die anderen und damit vordringlich wären. Vielmehr sind sie alle dermassen miteinander verfilzt und ineinander verstrickt – globalisiert eben, dass sie alle vordringlich sind. (Das Verwobensein, die überkommene Metapher der Textualität, ist zu geordnet für die Wirklichkeit.) Da wird es essenziell, Situationen aufzusuchen, in denen mensch irgendwie schlau und auch irgendwie plötzlich aus der neoliberalen Subjektzüchtungsmaschine mit ihrem digitalen Aufmerksamkeitskapitalismus (die uns zusammen unsere berühmten «Komfortzonen» gestalten)


herausgerissen ist, und nach ganz anderen Formen der Vergesellschaftung beziehungsweise der Vergemeinschaftung zu tasten. Aufwachen und durchatmen. These: Erst wenn Du in Deiner Gestaltung wohnst, ist sie zukunftsfähig. (Steil – auch nicht unmittelbar einsichtig, sondern mehrschichtig; eher ein Denkbild – aber anders geht’s nicht vorwärts. Tu den Satz in Deine geistige Backentasche und bring ihn auf Körpertemperatur.) Die Meeresspiegel steigen, die Archipelisierung schreitet fort und verändert unsere kulturellen Räume. Wir sehen vom Archipel nur die scheinbar verstreuten Inselchen, die unter der Meeresoberfläche jedoch verbunden sind; eigentlich sind sie die Spitzen eines Gebirgsmassivs. Die Menschen auf den Inseln müssen immer weiter übers Meer fahren, wenn sie einander begegnen wollen; und das bewohnbare Land wird immer kleiner, das Lagerfeuer immer kostbarer. Das Bild passt eben auch auf den Prozess unserer Kommunikationssituationen. Die Abstände zwischen uns werden weiter, die maskierten Gesichter im Realraum kaum noch lesbar. In unseren medialen Fensterchen gibt es immer nur einen mehr oder weniger kleinen Bild– und/ oder Textausschnitt, der einigermassen ansprechend vor uns aufgestellt ist, und eine vorbestimmte Auflösung. Die wirklichen, konkreten Lebensumstände unseres Gegenübers bleiben aussen vor, die unseren natürlich auch; und die digitale Netiquette tut ihr Übriges. Wir können nicht die Köpfe drehen und schauen,


was sonst noch so da ist. Wir können nicht die Türen in den Hintergründen öffnen und schauen, was draussen ist. We can’t see for ourselves. Wir bekommen nur eine Repräsentation. Alles ist gestellt. Und wir werden getrackt und ausgehorcht. Durch die Dachluke scheint die Abendsonne auf den alten Campingtisch. Hundert Gramm «Bio–Baby–Spinat» in hübscher Klarsichtplastikwanne (Aufheben zum Sachen reintun), Klasse A aus Italien, unter Schutzatmosphäre verpackt, umstandslos verzehrbar. Im DLF unter anderem wieder der Bauernpräsident. Danach Haferschleim oder auch: Porridge – Risottos kleiner Bruder, ebenfalls unendlich variierbar und mit einem der höchsten Ballaststoffanteile im Reich der Kohlenhydrate, und im Schleim auch noch das fabelhafte Beta–Glucan (Anti– Ageing–Elixier, bis zu 20%, seriös an Mäusen getestet). Heute mit einer Dose portugiesischem Tintenfisch in eigener Tinte (Schreiben). Englischer Blue Stilton (Zähne/Knochen/Nägel); dazu japanischer Grüntee (ZNS). Überhaupt: das wunderbare Kleinbasler Leitungswasser (Alles). Material/Problem/Diskurs. Das Buch ist in mehreren Exemplaren am HyperWerk verfügbar. Cultural Spaces and Design. Prospects of Design Education. Herausgegeben von Regine Halter und Catherine Walthard. Basel/Frankfurt am Main: Librum, 2019



Diese komischen Tauben tauchen immer wieder auf. Hier am Stadtrand fühlen die sich sowieso wohl. Die sollten aber hier nicht sein, auf unserem Balkon, die sind laut und die scheissen alles voll und sie haben einmal ein Nest gebaut, auf der Geländermauer, die einen vor dem Runterfallen schützt. Das war noch bevor ich eingezogen bin. Sogar Eier haben sie hineingelegt, zu spät entdeckt. Philipp hatte im Internet nachgeschaut was jetzt zu tun sei und gelesen, er solle die Eier einfrieren. Wieso überhaupt einfrieren? Hat das einen Vorteil gegenüber Kochen oder Kaputtschlagen? Hat er dann aber sowieso nicht gemacht, sondern sie einfach die 15 Meter runtergekippt. Das stinkende Nest leicht angehoben und geschüttelt bis sich die verkackkrusteten Eier von dem Nest ablösten. Unten platzten die zwei leise auf. Philipp hatte dann ein schlechtes Gewissen. Nahm mit den Handschuhen das Nest und stopfte es in den Müll. Die Tauben scheint das aber nicht beeindruckt zu haben. Sie versuchen jetzt ihr Nest nicht mehr auf dem Geländer, sondern unter dem Sofa zu bauen. Da müssten wir jetzt schon härter fahren mit denen. Vielleicht die Eier vor ihnen essen, aber Philipp ist ja Veganer. Ich könnte das tun oder Dennis. Oder sie mit den eigenen Eiern füttern. Vor drei Wochen war der Boden hier voll mit einer dicken Schicht Kot. Die frischen Ausscheidungen waren durchsichtig grünlich und spiegelten die Umgebung ein bisschen, auch mein Gesicht. Dennis hat dann alles weggeputzt. Das stand so auf der Anleitung zur Tauben–


Schreck–Maschine von Amazon: zuerst die Kacke wegputzen und dann das Teil aufstellen. Dennis hat gesagt, als er den verkackkrusteten Boden abgespachtelt hat, hätten die Tauben auf dem Balkon gegenüber gesessen, etwa fünf Stück, und die waren laut. Die haben ihm ein bisschen Angst gemacht. Er hatte das Gefühl die fliegen jeden Moment auf ihn zu. Wahrscheinlich fühlen sich die Tauben wohl in ihrer eigenen Scheisse und umgeben sich gern mit diesem kartonartigen Geruch, das gibt denen ein Gefühl von Zuhause. Und die merken, wenn gerade ihr Territorium zerstört wird. Die Maschine sieht aus wie ein Plastik–Souvenir– Vogelhaus ganz in Grün. Nur der Einschaltknopf ist weiss und aus nicht ersichtlichen Gründen auf der einen Seite eckig und auf der anderen rund. Die kleine Maschine macht ein leises Sirenengeräusch. Wirklich ein ziemlich leiser Ton, als ob die Batterien schwach sind. Aber ist ja alles neu gekauft. Und es stimmt schon: Nach einer Weile versteht man den Schrecken, den dieses leise ununterbrochene Geräusch verbreiten kann. Das Schlimme daran ist, dass du dir einbildest, es gleich ausblenden zu können, doch es bleibt und es verändert sich in deinem Kopf. Dadurch wirst du plötzlich unsicher, ob du es dir nur noch einbildest, ob es irgendwann wieder weggeht. Ein sehr hohes Pfeifen, das monoton noch höher wird, etwa eine Sekunde lang, um dann wieder auf den Anfangston zurückzufallen. Ein Geräusch, das nicht aus einer bestimmten Richtung kommt, das sich sehr geschickt in die Umgebung


einflechtet und sie doch dominiert. Ein gefühlskaltes Pfeifen direkt in den Kopf. Wenn der Boden geputzt ist und das Gerät seine Arbeit tut, dann werden die Tauben anfangs noch kommen, doch dann den Ort mehr und mehr meiden. So steht es auf der Verpackung. Das grüne Häuslein ist fleissig und gut. Beim Rauchen auf dem Balkon schalten wir es aus, sonst spiesst es einem das Gehirn auf. Die Tauben tauchen schon immer wieder auf, aber sie kacken nicht hier, sondern gucken nur. Gestern hab ich dann auf dem Tauben–Schreck–Erklärzettel gesehen, dass jetzt eventuell Taubenzecken auf dem Balkon sein könnten, die auch weg müssen. Hab ich auch Dennis und Philipp gesagt und die finden das echt hässlich. Ich soll mich darum kümmern, haben sie gesagt. Dennis geht nicht mal mehr auf den Balkon, jetzt wo er das weiss. Hab’s gegoogelt und gleich hat’s mich überall gejuckt. Es ist so, dass das Zeckenschädlinge sind, die diese Drecks–Tauben befallen. Sie kriechen unter die Federn, zu der Haut und saugen das Blut. Wenn sie prall und satt sind, warten sie bis die Taube beim Nest ist, fallen ab und suchen sich Löcher und Ritzen, in denen sie ihre Eier legen. Die sind ziemlich sicher noch da. Die können auch neun Jahre ohne Blut auskommen. Aber – und jetzt kommt’s: Diese Viecher saugen auch Menschen und zwar wenn keine Tauben mehr im Angebot sind. Und dann übertragen sie denen ihre Krankheiten auf uns! Habe auch Bilder online gesehen: Flache Körper mit einem wulstigen Muster obendrauf, das etwas von


verbrannter Haut hat, in den Furchen dieser Haut kannst du in den Körper hineinsehen, in dem dunkle Gefässe sind. Diese schwarze Flüssigkeit ist bestimmt gefüllt mit Virenschädlingen, die ganz scharf darauf sind im Menschensaft zu schwimmen wo mehr Platz ist. Heute Morgen hat Philipp erzählt, dass er gekifft hat auf dem Balkon und eine Taube ist sehr nahe zu ihm geflogen. Er war fasziniert und hat sie lange angeschaut, hat ihr in ein Auge gesehen, das erzählt er, und da war etwas nicht richtig. Da war etwas Unnatürliches, er schwört es. Für einen ganz kurzen Moment im richtigen Licht konnte er im schwarzen Auge drin scharfe Kanten und glatte Flächen sehen. Etwas nicht Tierisches. Der glaubt, dass darin eine Steuerung oder eine Kamera war, mit der die Regierung oder ihre Geheimdienste ihn überwachen. Vor ein paar Tagen sei einer ausgebrochen aus dem Knast, der werde jetzt überall gesucht und der sehe ihm ähnlich. Bei den News hat er das gesehen. Jetzt denken die, dass das er sei und checken das ab. Tauben sind für sowas perfekt, da fragt sich keiner wieso kommen die immer wieder. Ich habe ihm dann gesagt, dass das Blödsinn ist. Er ist wütend geworden und meinte ich soll endlich den Balkon von den Zeckenviechern befreien, damit Dennis nicht immer drinnen raucht. Ich will nicht nochmals googeln wie ich die Schädlinge wegbekomme, sondern mach’s mit Gift und ‘nem Messer, das nützt sicher. Diese Geländermauer hat ein paar ganz schön tiefe


Ritzen. Ich schmiere ein bisschen Abflussreiniger, das Giftigste was ich gefunden hab ans Messer. Ich leuchte mit meinem Handy in eine Vertiefung. Der Spalt zieht sich tief in die Mauer hinein. Die Seitenwände sind trocken und porös. Tatsächlich sind da ein paar Zecken–Eier angeklebt, dicht beieinander, in einem regelmässigen Muster. Ich gehe mit der vergifteten Klinge ran und kann fühlen wie die Brut bei leichtem Druck aufplatzt. Es sieht aus als wären da noch sehr viele Eier mehr, Tausende. Ich kann die gar nicht erreichen mit dem Messer. Der Taubenschreck pfeift ununterbrochen, ich hab ihn doch gerade ausgestellt. Ich lasse das Messer stecken und greife zur grünen Vogelhaus–Maschine. Etwas kriecht meinen Arm hoch. Eine Scheiss–Zecke! Sie verschwindet in der Häuschen–Maschine. Gerade hat noch ein Bein herausgeschaut, aber jetzt ist sie dort drin. Ich schaue durch den kleinen Spalt, in den sie gekrochen ist. Er wirkt plötzlich sehr gross. So dass ich vielleicht meinen Kopf durchstecken kann. Es geht tatsächlich! Etwas Licht schimmert durch die dünne Plastikwand. Mein Kopf schaut in einen modernen Raum, schwarze Möbel mit scharfen Kanten und glatten Flächen. Ich kann problemlos ganz in den Raum schlüpfen. Der Steinboden ist mit einer durchsichtigen glatten Schicht überzogen und vom Licht der Wand grün verfärbt, ich sehe mich von unten her hochschauen. Der Saal ist kühl. Die Wände sind voller Monitore und es zeigen


alle das gleiche Bild: einen dicken Walfisch mit komischem Grinsen. Er ist blau mit einem Loch oben im Rücken, aus dem eine ebenfalls blaue Fontäne spritzt. Die Augen sind rund, weiss mit einer kleinen Pupille, die im Kreis herumfährt. Sie dreht sich schnell und gleichmässig im Uhrzeigersinn. Der Mund ist auffällig, weil er orange ist. Er besteht aus dem orangenen Pfeil des Amazon–Logos. Eine von links nach rechts geschwungene Linie, die in der Mitte dicker wird und am Ende vor der entkoppelten Pfeilspitze wieder ausdünnt. Der Walfisch füllt fast das ganze Bild aus. Er scheint direkt unter der Oberfläche des hellblauen Wassers zu schweben, nur das kleine Loch in seinem Rücken und die Fontäne darüber schauen heraus. Plötzlich setze ich mich in Bewegung. Meinem Körper scheint völlig klar zu sein was zu tun ist. Ich verstehe nicht woher es kommt, aber ich setze mich in Bewegung. Gehe leise über den glatten Boden, hin zu einem grossen Tisch in der Mitte des Raumes. Als ich mich setze machen sich meine Hände sofort an dem Schalt–Panel zu schaffen. Die Tafel ist etwa 20 auf 20 cm gross und darauf ist ein schachbrettartiges Raster mit Schiebereglern. Sechs der Kanäle, in denen die Regler laufen sind horizontal und sechs vertikal. Dort wo sie sich jeweils treffen kann der Regler die Richtung wechseln, also von einer Horizontalen nach oben und unten abweichen. Meine Finger gleiten schnell darüber. Und stellen alles so ein wie es sein soll. Dann tut sich etwas auf den Monitoren: Das Wasser verfärbt sich von blau


zu grün und das Auge kullert langsamer. Die Fontäne aus dem Rücken versiegt und das Loch des Walfischs wird mehr ins Zentrum gerückt. Es schiessen aus den vier Bildecken Anker hervor und alle treffen mit einem Haken das Loch. Ihre Bewegung dreht sich jetzt um, die Ketten werden angezogen und ziehen das Loch auf. Es wird grösser und im Innern ist plötzlich Philipp zu sehen wie er auf dem Balkon sitzt und raucht. Das Bild ist ein wenig gebeult. Zuckend bewegt es sich, doch Philipp ist ganz ruhig, er kommt mit dem Kopf näher, da löst sich das Bild vom Balkon. Ich sehe die anderen Balkone, den Innenhof, dann die Dächer der Häuser, das ganze Quartier, die ganze Stadt. Plötzlich wechselt das Bild auf eine Google Maps–Ansicht und zeigt erst das ganze Land, dann umliegende Länder, dann das Meer und schlussendlich die ganze Welt. Ich fange an zu verstehen. Es ist nichts was ich wiedergeben kann, aber es hat zu tun mit den Tauben – und allem – der Gesamtheit an sich. Es ist so, dass mein Sein plötzlich in einen alles verbindenden Strom geraten ist, Nehmen und Geben, ich selbst völlig unwichtig, ein dünner Faden in einem gigantischen Netz. Dann wird wieder hineingescrollt. Die Erde fällt Richtung Bildschirm, bremst ab als wieder das Quartier am Stadtrand zu sehen ist. Dann sehe ich mich selbst auf dem Balkon. Ich liege da bewege mich nicht.


Die Haut übersät von kleinen schwarzen Punkten. Es scheint eine Art Zeitrafferaufnahme zu sein, denn die Pflanzen zittern unnatürlich schnell im Wind. Die schwarzen Punkte wachsen zu Bällen an, während ich immer dünner und dünner werde und zu einer Hülle zusammenfalle. Es sind die Zecken. Sie inhalieren mich. Ich bin nur eine saftige Fleischwurst, zack und weg. Ihre Leiber dehnen sich mit einer Füllung aus mir. Oder sind es sie, die vorher leer waren und sich durch mich zu normaler Grösse formen? Kleine Vakuums. Das Bild zeigt auch mein Gesicht. Die Augen sind ganz eingesunken. Ich kann nicht länger auf den Bildschirm schauen. Erst jetzt merke ich, dass ich nicht mehr alleine im Raum bin. Auch eine Taubenzecke ist da, prallvoll, so gross wie ich. Sie hat sich an den grossen dunklen Tisch gesetzt. Vor ihr ein ähnliches Schachbrett–Panel wie meines, das sie sorgfältig bedient. Dabei geht ein leises Surren von ihr oder dem Panel aus. Sie scheint grösser zu werden. Schon werde ich um einen Kopf überragt. Der surrende Ton kommt von der gespannten Haut. Von ihrem Volumen wird ihr Stuhl zuerst vom Tisch weggedrückt und zerbricht dann unter dem Gewicht. Alles zittert als sie zu Boden geht. Ein Monitor fällt von der Wand und zersplittert. Einige Stühle werden vom riesigen Leib zur Seite gedrängt und der Tisch mit einem Ruck in die Höhe gedrückt. Die Tischplatte knallt mir ins Gesicht, ich berapple mich und renne in Richtung Spalt. Nur noch ein paar Meter sind es zu der Öffnung, doch jetzt donnert mir eine warme


Wand in den Rücken, schiebt mich weiter und drückt mich in die Ritze. Ich liege auf dem Balkon. Die Sonne scheint und alle meine Glieder knacken. Jetzt wo ich aufstehe ist mir schlecht. Keine Tauben sind hier und auch keine Zecken. In der Küche sitzt Philipp. Ich stolpere gleich ins Bad um zu kotzen das muss alles raus. Es kommt fast nur Magensäure. Ich putze mir die Zähne meine Beine sind schwach also setze ich mich auf die WC–Schüssel. Ich höre eine Stimme rufen: Es hat Ameisen in der Küche. Ich kenne die Stimme nicht und schaue mit Mühe nach, wer da mit Philipp in der Küche ist. Doch da sitzt nur einer und es scheint nicht Philipp zu sein aber jemand der sehr ähnlich aussieht. Ich kann irgendwie nicht nahe an ihn heran weil er so viel Raum einnimmt. Der, der da sitzt sagt nochmals zu mir: Es hat Ameisen hier drin. Und tatsächlich gibt es viele Ameisen auf den Ablagen und auf dem Boden. Sie haben Strassen und Systeme gebildet, um alles für sie Verwertbare in unserer Küche abzubauen. Die Küche ist blitzblank. Wo ist Dennis frage ich. Der kommt doch schon seit Tagen nicht aus seinem Zimmer raus. Er sagt ich soll mal zu ihm gehen und ihn beruhigen. Dennis’ Türe ist an den Rändern gelb verfärbt vom Rauchen. Ich klopfe, er macht mir sofort auf und haut mir dabei die Türe leicht gegen den Kopf. Er muss hintendran auf mich gewartet


haben. Direkt an die Tür ist eine Matratze gepresst, im Spalt zwischen ihr und dem Türrahmen verschwindet eine Hand. Ich quetsche mich hindurch ins Zimmer. Er sagt, er hat mich schon gehört in der Küche vorher und dass er froh ist mich zu sehen. Sein Kopf macht ein paar zuckende Bewegungen, ein bisschen wie die von einer Taube. Als ich ein paar Schritte in das von einer Leuchtstoffröhre sehr hell beleuchtete Zimmer mache, reisst plötzlich meine Socke auf. Ein Fetzen wird weggerissen aus der feinen maschinell gearbeiteten Struktur. Er klebt auf einem transparenten Streifen, der quer durchs Zimmer verläuft. Ich soll aufpassen, sagt Dennis, das seien starke Klebefallen gegen die Ameisen. Sie retten ihm das Leben sagt er. Aber ich sehe nirgends eine Ameise kleben. Wenn sie kommen, sagt Dennis, dann sei er hier sicher und ich solle auch bleiben. Er setzt sich aufs Bett. Als ich weg war seien immer wieder Ameisen in die Küche gekommen, erzählt er. Am ersten Tag einige wenige dann immer mehr. Er habe Ameisenköder bestellt. Diese handflächengrossen Scheiben wo alle Ameisen reinlaufen. Angelockt von irgendeinem Duft, weil die sich ja mit der Nase wie auf Duftgleisen bewegen. Die seien bald weg gewesen, alle drin, Tausende, und dann wollte er wissen wie die alle in dem kleinen Ding Platz haben. Mit einem scharfen Messer habe er dann versucht diese grüne Plastikscheibe zu öffnen. Da es nicht funktionierte, hat er in die kleine Öffnung für die Ameisen geschaut und diese sei grösser als erwartet gewesen, so dass er erst den Kopf reinstecken und dann ganz reinkriechen konnte.


In das kleine Ding, sagt er. Auf dem Boden seien diese transparenten Klebestreifen gewesen. Er ging weiter hinein und es kam ein kalter, dunkler Raum. In der Mitte sei ein Computer gewesen und davor sass eine Ameise und tippte. Sie habe ihn bemerkt und kam blitzschnell auf ihn zu, doch vor einem Klebestreifen stoppte sie. Er ist rausgerannt und dabei sind einige der klebrigen Bänder an ihm hängen geblieben. Das seien die hier in seinem Zimmer. Das erzählt er mir und schaut mich jetzt an. Irgendwas an mir erschreckt ihn. Seine Kopfzuckungen werden stärker. Er will, dass ich mich sofort aus seinem Zimmer verpisse. Er drängt mich in Richtung Türe, drückt mich dort hin. Ich trete wieder auf eine der Klebefallen, genau dort wo jetzt kein Stoff mehr ist. Es reisst mir ein Stück Haut von der Fusssohle. Ich gebe komplett nach durch den Schmerz und werde bis zur Matratze geschoben. Er quetscht mich so dagegen, dass ich kaum die Klinke zu fassen kriege. Dann spüre ich sie, kalt und glatt. Ich schlüpfe zwischen Matratze und Türe. Öffne sie – doch weit geht das nicht, denn im Gang stehen Menschen dicht gedrängt. Nein, da steht nur jemand, Phillip, aber er scheint den ganzen Gang zu versperren. Ich kann nur meinen Kopf rausstrecken. Unter der Decke fliegen Tauben, ihre Flügel klatschen. Phillip steht regungslos im Gang. Meinen Kopf kann ich nicht mehr zurückziehen. Mein Fuss beginnt noch mehr zu brennen. Meine Augen tränen. Die Tränen tropfen auf den Boden, wo die Ameisen umherlaufen. Die riesigen Tränen–


Aufschläge schleudern Ameisen durch die Luft. Ich werde immer stärker gegen die Tür gepresst. Eine Paket–Drohne fliegt in den Gang und zerfetzt eine Taube nach der anderen. In die Ströme der Tränen mischt sich das Blut, darin ertrinken die Ameisen. Irgendwie schafft es die Drohne ein grosses Paket direkt vor mein Gesicht zu manövrieren, darin ein riesiges Stück Butter. Ich verstehe sofort, winde eine Hand nach vorne und greife zu. Mit einer Handvoll Butter reibe ich meinen Hals ein mit ein paar weiteren meinen ganzen Körper. Auf dem Tränen–Blut schwimmen Fettaugen. Der Druck hinter mir wird immer stärker. Und flutsch – drückt es mich durch die Tür und ich fliege über Phillip hinweg. Meine Tränen trocknen. Ich streife die Decke leicht und hinterlasse einen Fettfleck. Ich fühle mich so frei wie nie zuvor in meinem Leben. Dann lande ich in dem Blut–Tränen–Fett–Gemisch, meine Lunge füllt sich damit und ich ertrinke.


Liebe Anna und lieber Silvan Da hab ich lang und spitzfindig-spitzfingrig dran rumgemacht und bin schlussendlich bei einem konsequent-inkonsequenten (– nicht etwa umgekehrt!) Interpunktionsregime gelandet. Also so dass nirgendwo alles einfach in Ordnung ist. Kommas hab ich gemacht immer vor Konjunktionalsätzen; bei eingeschobenen Relativsätzen hab ich das schliessende Komma weggelassen; kein Komma vor erweiterten Infinitiven, vor Vergleichen und indirekten Fragen. Generell muss die Geschwindigkeit stimmen, es wird ja auch alles langsam schneller. Es gibt durchaus indirekte Rede im Konjunktiv, aber meistens halt nicht. – Und es gibt lustige zusammengesetzte Substantive wie den „TaubenSchreck-Erklärzettel“ oder die „Zecken-Eier“; da hab ich auch den „Tränen-Aufschlägen“ einen Bindestrich gegeben. Bei „[…] mach's mit Gift und 'nem Messer“ habe ich mich zu einem Apostroph vor dem „nem“ entschlossen. (Weil drei Wörter weiter links schon einer im „mach’s“ steht, obwohl – oder mittlerweile doch eher weil – der dann so raussticht, jedenfalls für mich. Andernfalls sieht’s halt auch wie schlampiges Korrektorat aus.) Das „'nem“ mit seinem Apostroph hab ich türkis hinterlegt, weil der Apostroph noch kein richtiger Apostroph ist, sondern ein einfaches Anführungszeichen. Auf dem Drive krieg ich nur das, und in den Sonderzeichen hab ich ihn nicht gefunden. Bitte mach da einen Apostroph hin, liebe Anna. Auf der letzten Seite wird „Philipp" zu „Phillip“. Das erklärt sich aus der Erzählung. Herzlich grüßt Euch Ralf

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«If we want to create a cultural climate where biases can be challenged and changed, all border crossings must be seen as valid and legitimate. This does not mean that they are not subjected to critique or critical interrogation, or that there will not be many occasions when the crossings of the powerful into the terrains of the powerless will not perpetuate existing structures.» (hooks 1994: 131)

Ich erinnere mich, wie wir Klebeband auf dem Boden angebracht haben, um unsere Diskussionen zu visualisieren. Wir standen plötzlich zwischen lauter farbigen Linien, die uns trennten und gleichzeitig im Raum verbanden. Und dieses Dilemma. Wir wollten uns von Dichotomien lösen. Gleichzeitig liess sich das Feld, in dem das Jahresthema bereits zu erkennen war, am besten in den Gegensatzachsen Nähe–Distanz, Moment-Kontinuität sowie Glück–Konflikt fassen und visualisieren. Zudem gab es rundherum ein Seil, das unsere Bubble symbolisieren sollte, und die Frage stand im Raum, ob und wie wir auch ausserhalb dieser Bubble intervenieren können. Ich denke an den Moment, in dem das Jahresthema für mich begonnen hat, im DreamLab. Da war, meiner Wahrnehmung nach, noch wenig Mitkommen, wenig Commitment im Raum. Stattdessen war da ein Elefant im Raum. Mehrere ungelöste Konflikte, von denen zwar alle wussten, die aber (zumindest im Plenum) kaum angesprochen wurden.


Dass sich etwas geändert hatte, war ein paar Tage später zu merken, als eine Gruppe von Studierenden die Kartierung zum Thema Konflikt vorstellte. An die in der Karte dargestellten Verortungen und Zusammenhänge erinnere ich mich nicht im Detail, die Materialität der Karte hinterliess dagegen einen bleibenden Eindruck: Mit einer groben, selber aus einem 120mm–Nagel geschliffenen Nadel waren die «Konflikte» aus Wolle in die Kartengrundlage aus weissem Papier gewebt – spitz und entschlossen; grellfarbig, warm und weich; trocken und zerreissbar. Rückblickend kann der Titel dieser Karte schon damals nur kommit to conflict gewesen sein. Für mich erscheint das ‹Mitkommen› zum Konflikt vor allem mit Blick auf den Prozess während dieses Jahres. In diesem wurde für mich immer deutlicher, wie wirkmächtig meine eigenen soziale Positionalität ist. Zum einen erlebe ich spezifische strukturelle Konflikte in Form von Sexismus. Gleichzeitig entspreche ich als weisse 1, able–bodied Cis–Frau einer Normvorstellung und bin damit in vielerlei Hinsicht privilegiert. Privilegiert sein wiederum bedeutet nicht, glücklicher zu sein, sondern innerhalb der Gesellschaft spezifische, unverdiente Vorteile zu haben. Diese Vorteile diskriminieren andere auf einer systematischen Ebene, ob ich das will oder nicht. Das ist auch der Grund, warum sowohl in der Politik, in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, in den Medien, aber auch in Kultur– und Bildungs-


1 «weiss» und «weisssein» bezeichnen ebenso wie «Schwarzsein» keine biologische Eigenschaft und keine Hautfarbe, sondern eine politische und soziale Konstruktion. Mit Weisssein ist die dominante und privilegierte Position innerhalb des Machtverhältnisses Rassismus gemeint, die sonst zumeist unausgesprochen und unbenannt bleibt. Weisssein umfasst ein unbewusstes Selbst– und Identitätskonzept, das Weisse Menschen in ihrer Selbstsicht und ihrem Verhalten prägt und sie an einen privilegierten Platz in der Gesellschaft verweist, was z.B. den Zugang zu Ressourcen betrifft. Eine kritische Reflexion von Weisssein besteht in der Umkehrung der Blickrichtung auf diejenigen Strukturen und Subjekte, die Rassismus verursachen und davon profitieren. Diese kritische Reflexion etablierte sich in den 1980er Jahren als Paradigmenwechsel in der englischsprachigen Rassismusforschung. Anstoss hierfür waren die politischen Kämpfe und die Kritik von People of Color.

institutionen weisse, Cis–, Hetero–Männer, wie du oder ich, noch immer die einflussreichen Stellen und damit sowohl die Deutungs– als auch die Entscheidungsprozesse besetzen. Diese Homogenität hat verheerende Konsequenzen, weil bestimmtes Wissen innerhalb von gesellschaftlichen Diskussionen fehlt. Das gilt durchaus auch für unsere Hochschule.

Und wer diese strukturellen Diskriminierungen beim Namen nennt, steht oft mit gesellschaftlichen Normvorstellungen und nicht selten mit privilegierten Menschen im Konflikt. Ich frage mich, wie ich als Individuum und als dozierende Person, aber auch wir als Institution mit dem Fakt verantwortlich umgehen können, dass wir als privilegierte Menschen strukturelle Unterdrückung oftmals nicht nur nicht erkennen, sondern sie selbst auch zusätzlich reproduzieren. In der Konsequenz bleiben systematische Diskriminierungen zum Beispiel in Form von Rassismus, Heteronormativität, weisse Vorherrschaft, Ableismus, Sexismus, Ageismus,


Trans–Feindlichkeit und Klassismus zu oft unwidersprochen. Zudem fehlt es Menschen, die diesen Normen nicht entsprechen, an Vorbildern. Wie wollen wir als Institut, welches sich die Frage des zukünftigen Zusammenlebens aller zur Aufgabe macht, damit umgehen? Diese Frage stelle ich mir auch konkret aufs Jahresthema bezogen. Ich frage mich, ob ich aus meiner privilegierten Position heraus überhaupt etwas über die Konflikte sagen kann, zu denen wir uns «committen» wollen. Bin ich nicht die meiste Zeit meines Lebens in der Lage, mich selbst zu entscheiden, ob ich mich mit einem bestimmten Konflikt beschäftigen will oder nicht? Vielleicht auch deshalb erwische ich mich dabei, wie für mich die Frage des Mitkommens und Committens die ganze Zeit wichtiger und präsenter war als die des Konflikts. Interessant, dass du als männlich sozialisierte Person das Mitkommen und Committen betonst. In diesem Zusammenhang würde mich auch interessieren, wie du über Unsicherheit, Verletzlichkeit und Verbindlichkeit nachdenkst. Mir ist aufgefallen, dass du als männlich gelesene Person und speziell als Mann mit Kind am HyperWerk beeinflusst, was sagbar ist, respektive wie gesprochen wird. Bei deiner Anwesenheit meine ich zu beobachten, dass insbesondere männlich gelesene Studierende sich offener und auch emotionaler äussern.


Bei mir hat das Freude ausgelöst, aber auch eine gewisse Wut, weil es die Wirkmächtigkeit von Vorbildern und von sozialem und kulturellem Geschlecht zeigt. Für mich, als weiblich gelesene und sozialisierte Person dagegen, war der Aspekt vom Konflikt zentral. Die Möglichkeit, eigenständig Konflikte einzugehen, ist für mich immer noch mit der Erfahrung und Gefahr verbunden, dass meine Anliegen als Frau ignoriert, delegitimiert, relativiert oder aber auf einer persönlichen Ebene abgewertet werden – der Fachterminus dafür ist Misogynie. Das Jahresthema ermöglicht einen anderen Konfliktzugang, indem wir das Commitment und damit das Zuhören und Respektieren als zentrale Bedingung beschreiben. Es ist ein Versprechen, den Kontakt nicht abreissen zu lassen, und gleichzeitig eine Einladung, sich durch ein Gegenüber in Frage zu stellen. Damit eröffnen wir ein Fenster, in dem das, was zurzeit als «normal» erachtet wird, gemeinsam reflektiert und dadurch verhandelbar und gestaltbar wird. Gleichzeitig ist es anstrengend, sich auf Konflikte anderer einzulassen, sich zu committen und die eigenen Konflikte hintanzustellen. Dabei treten Machtverhältnisse zu Tage, und es stellt sich die Frage, wer diese Priorisierung bestimmt. Wer hat die Freiheit, über welche Konflikte zu sprechen und sie zum Gegenstand des Commitments zu machen?


Und das HyperWerk lockt ja gerade mit dieser vermeintlichen Freiheit. Rosa Luxemburg hat in ihrem berühmten Satz gezeigt, dass Freiheit nur kommit to conflict sein kann: «Freiheit ist immer nur die Freiheit des Andersdenkenden.» Schon im nächsten Satz betont sie, dass «Freiheit» ihre Wirkung verliert, sobald sie «zum Privilegium wird.» (Luxemburg 1922: 109) Freiheit ist ein hohes Gut und muss am HyperWerk entsprechend interpretiert werden, wenn es um die Frage geht: «Wie können wir zusammen leben?» Freiheit kann eben auch bedeuten, mit– und füreinander zu handeln, mitzugestalten, Beziehungen einzugehen und sich von bestehenden Machtstrukturen zu emanzipieren. So formuliert die Philosophin und Genderwissenschaftlerin Katrin Meyer in einem Vortrag: «Freiheit beruht auf Befreiung und Beziehung.» (Meyer 2019) Diese intersektionale, feministische Idee von Freiheit entwickelt sie mit Hilfe der Forderungen Schwarzer, lesbischer und 2 Das Manifest des Combahee River Collective machte in den 1980er Jahren feministischer intersektionale Erfahrungen und, abgeleitet davon, politische Forderungen Denker*innen und Schwarzer Frauen in den Vereinigten Aktivist*innen des Staaten öffentlich. Das Schwarze, queerCombahee River feministische Kollektiv widersetzte sich der Eindimensionalität von Analysen, Collective .2 In ihrem die sich entweder nur auf die Kategorie Vortrag führt Meyer Frau oder auf die Kategorie Race bezogen, womit damals der Widerstand gegen aus, dass Freiheit für Sexismus oder Rassismus gemeint war. diskriminierte und Stattdessen wiesen sie auf die Vielschichinsbesondere mehrtigkeit ihrer Mehrfachdiskriminierungen hin: «The major source of difficulty in our fach diskriminierte political work is that we are not just trying Frauen nicht einfach to fight oppression on one front or even two, but instead to address a whole range of op- gegeben ist, sondern pressions.» (Combahee River Collective täglich erkämpft 1982: 13)


werden muss. Freiheitsrechte müssen zwingend von den am meisten Unterdrückten her analysiert und eingefordert werden. Meyer fordert eine Form der Freiheit, die es ermöglicht, sinnstiftende, selbstbestimmte Beziehungen zu sich, zur Natur und zu anderen Menschen einzugehen. «Freedom means finding the transformative potential in our own situations and relationships.» (Montgomery und bergman 2017: 283) Freiheit also als Frage der Beziehungsweise. Weisst du noch, wie wir das erste Mal über Bini Adamczaks Begriff der Beziehungsweise sprachen? Da habe ich verstanden, was die eigentliche Verwandtschaft unserer Praxen ist: beide mit einer Passion für kollektive Prozesse, emanzipatorische Bildung und stets fragend, wie sich gesellschaftliche Veränderungen wahrnehmen und darstellen lassen, respektive wie ein WIR oder ein ICH in den Alltag und seine Gewohnheiten gestaltenderweise intervenieren kann. Ich erinnere das als zwei Momente. Den, in dem wir über Bini Adamczak und Beziehungsweise Revolution gesprochen haben, und den anderen, in dem du bell hooks angebracht hast. Da fühlte ich mich sehr verbunden, weil bell hooks für meine Praxis eine kontinuierliche theoretische Präsenz hat. Wobei «theoretisch» eigentlich nicht stimmt, ihre Präsenz ist für mich eher emotional und ethisch. bell hooks, ihre Texte und meine Vorstellung von ihrer


Person verkörpern für mich Commitment im besten Sinne – in der Einfachheit der Sprache, in der sie schreibt; in der Nähe zu Lebensrealitäten ausserhalb akademischer Kontexte, auf die sie ihre Ausführungen baut; in der Wertschätzung und Liebe gegenüber Menschen und unerwarteten Zusammentreffen, die sie sich nicht scheut in ihren Texten zu teilen. Ich glaube, der gemeinsame Bezug zu bell hooks hat für mich ein Mitkommen oder Committen möglich und begehrenswert gemacht. Ich würde auch sagen, dass bell hooks für unsere gemeinsame Haltung in diesem Jahr sehr prägend war. Diese Mischung aus intersektionaler Kritik, popular education, ihrer Beschäftigung mit Körper, Liebe, Eros (auch in institutionellen Bildungsräumen), radikaler Offenheit, teaching community und … (diese Aufzählung ist unerschöpflich) – so etwas wie der unausgesprochene gemeinsame Kompass, der uns in der Gestaltung neuer Beziehungsweisen Orientierung gibt. Bini Adamczaks Einfluss dagegen lässt sich sehr präzise identifizieren, da wir den Begriff der Beziehungsweise immer wieder verwendet haben, um den gesellschaftlichen Wandel zu fassen, den wir mit kommit to conflict bewegen wollen. So formulierten wir im Brief an die Diplomierenden zu Beginn des Diplomjahres den Anspruch, gemeinsam das im Gestalten von Beziehungsweisen liegende Potenzial grundlegender gesellschaftlicher Transformation zu erforschen.


In Bini Adamczaks Worten: «Aus revolutionärer Perspektive, die nicht die Politik unter bestehenden Bedingungen meint, sondern die Politisierung dieser Bedingungen, passiert das Entscheidende in dem Moment, in dem sich nicht nur bestehende Beziehungen verändern, indem sie enger und egalitärer werden, freundlicher und weniger instrumentell, sondern auch neue Beziehungen geknüpft und andere aufgelöst werden, Verbindungen aufgegeben und Elemente neu miteiander verbunden werden. [...] Statt Einheit und Zwang und bindungsloser Differenz kann das Gemeinsame dann als das erscheinen, was die Vielen miteinander teilen. Als Gleiche und Freie in Solidarität.» (Adamczak 2017: 205) Wenn wir uns eine Beziehungsweise Revolution vornehmen, müssen wir sie natürlich als gesellschaftliche Frage behandeln. Das HyperWerk ist dafür ein prädestinierter Ort, da die experimentelle Schaffung von und Intervention in Öffentlichkeit hier Teil des Studiums ist. Innerhalb von kommit to conflict haben wir uns die Frage nach der Öffentlichkeit, die wir erreichen, immer wieder gestellt. Respektive die Frage, wie wir mit Gesellschaft in Berührung kommen. Das lässt mich an Henri Lefebvres Beschäftigung mit urbanem Raum denken, den er als Ort definiert, «an dem Konflikte Ausdruck finden» und an dem «die Trennung der Orte, an denen


Schweigen herrscht und die Zeichen der Trennung entstehen, ins Gegenteil verkehrt» wird. (Lefebvre 2003: 186) Nach obiger Definition kann das HyperWerk kein Raum des Urbanen sein. Vielmehr ist der ganze Kunsthochschul–Campus ein abgetrennter Raum, in dem «Zeichen der Trennung entstehen». Und angesichts der Selbstbezogenheit vieler am HyperWerk produzierter Zeichen und geführter Diskurse lässt sich dieser Verdacht auch nicht gänzlich abweisen. Natürlich! Die Studierenden haben das oft als «die Bubble» bezeichnet. Im Bewusstsein um diese «Bubble» erlebe ich viele Studierende als interessiert daran, eine Art von Öffentlichkeit zu gestalten, wie sie der Philosoph Oliver Marchart beschreibt: «Wo Konflikt, oder genauer: Antagonismus ist, dort ist Öffentlichkeit, und wo er verschwindet, verschwindet Öffentlichkeit mitihm. In diesem Sinne wären etwa Medien dann nicht einfach Öffentlichkeiten, sondern Öffentlichkeit wäre selbst ein Medium. Denn Öffentlichkeit wäre jenes ‹Band der Teilung›, das qua Konflikt verbindet.» (Marchart 2007) Also eher im Sinne einer entworfenen Situation, die mögliche konflikthafte Konsequenzen haben kann und in der Menschen gezwungen sind, ihre Position offenzulegen. Innerhalb von solchen Momenten, und in Rissen in der geschmeidigen Alltagsrealität, die durch Normen eine


Gleitfähigkeit und ein Funktionieren garantiert, eröffnet sich ein gesellschaftliches Potenzial der Neuordnung und Transformation. Und mit der Öffentlichkeit als Medium stellt sich natürlich auch die Frage der Rezeption. Dank deiner künstlerischen Praxis des hinwendungsvollen Zuhörens wurde Listening zu einer wichtigen Methode unserer Auseinandersetzungen. Du hast uns im scheinbar geräuschlosen Raum hören und unsere Körper wahrnehmen lassen. Wir haben uns gefragt, wie wir kritisches und aufmerksames Hinhören als ein politisches Instrument einsetzen können, um soziale Verhältnisse zu hinterfragen und zu verändern. Denn erst durch die Auseinandersetzung mit Konflikten, die wir internalisiert haben, wie strukturellen Diskriminierungsformen und ausbeuterischen Verhältnissen zwischen Mensch und Umwelt, wird deren bewusstes Verlernen möglich. Machtdifferenzen zu benennen heisst nicht zu spalten oder abzuwerten, sondern ist Einladung, zum Konflikt mitzukommen, sich zu committen. Die Auseinandersetzung mit eigenen Privilegien schafft Bewusstsein für die strukturellen Konsequenzen des eigenen Denkens und Handelns. Im Wegschauen oder Ablehnen werden diese nicht weniger wirkungsmächtig, sondern verfestigen sich weiter. Pauline Oliveros sagt dazu: «People’s experiences are all different, and you don’t know what the person experienced.


They know, but you don’t, so I think it’s important to listen carefully to what a person has to say. And not to force them into any direction at all but simply to model what you’ve experienced, model it and also be what I call a Listening Presence. If you’re really listening, then some of the barriers can dissolve or change.» (Oliveros u.a. 2015) Wenn es uns darum ging, vertrauliche Gemeinsamkeit in Differenz zu schaffen, dann habe ich einen Hauch davon gespürt, nachdem wir uns gegenseitig mit verschlossenen Augen durchs Dreispitz–Areal geführt und dabei erzählt beziehungsweise zugehört hatten. In dem Moment, als wir uns wieder alle stehend in einem Kreis auf dem Freilager–Platz trafen. Aber nicht beim ersten Mal, sondern einen Monat später, als wir diese schon beim zweiten Mal zum selbstverständlichen Ritual gewordene Listening–Übung wiederholten. Ich denke, in diesen kollektiven Erfahrungen erlernen wir neue Beziehungsweisen. Das empfinde ich auch so. Was ich rückblickend verblüffend finde, ist, wie sich sowohl der Freilager–Platz als auch unsere Körper und das, was sich dazwischen abspielen kann, verändert haben. Wir haben unsere Situiertheit geteilt und Orte zu Erfahrungserinnerungen gemacht. Mir kommt es so vor, als hätten wir durch die performativen, gemeinsamen Körperübungen den Bildungsraum erweitert, angeeignet und auch


umgeformt. Durch deine künstlerische Praxis und durch deine kartografischen Methoden spielten plötzlich Raum– und Körperwahrnehmung, und in welchen Beziehungen sie zueinander stehen, eine zentrale Rolle. Wir hatten plötzlich Körper im Raum, nicht nur einen Kopf ! «As I feel my ground, it is in the midst of concrete, complex, non-reducible, cantankerous, fleshy, interrelated, positioned subjects, non-containable within any easy, abstract, hard-edged, simple classification. It is from within this multitude that I want to consider the question of community. [...] This positioning places me—as it places anyone else—inside and at the intersection of multiple realities, multiple and inseparable historical lines, lived spaces where the construction of space shifts constantly under the tensions of domination and resistances to domination.» (Lugones 2003: 196) Das beschreibt auch gut, was wir uns für dieses Jahr, diesen kollektiven Bildungsprozess vorgenommen hatten. Nämlich zu untersuchen, wie wir Körper und Positionalitäten in ihrer Unterschiedlichkeit respektieren, Räume und Zeitlichkeiten relational verstehen und wie wir Formen der Fürsorge, der gegenseitigen Empathie, kollektiven Verantwortung und der Solidarität als eine gemeinsame Praxis innerhalb des Instituts (er–)finden können.


Diese Frage nach dem Mitkommen, also die Frage danach, wie wir heute kollektives Eintreten für gesellschaftliche Veränderung organisieren können, und zwar mit einer gewissen Persistenz und Verbindlichkeit, zeigt sich auch in Diskussionen um den Begriff der Militanz. Montgomery und bergman (2017) sprechen von «joyful militancy». Gefordert wird hier ein Militanz–Begriff, der, im Gegensatz zum im Deutschen vorherrschenden, hierarchischen, kompetitiven und gewaltvollen Verständnis von Militanz, auf die Schaffung eines friedlichen, fürsorglichen, solidarischen Umgangs miteinander setzt. Dieser bildet dann die Grundlage für langfristigen, durchaus auch hartnäckigen Einsatz für emanzipatorische Ziele. Das impliziert Konfliktbereitschaft. Für mich ideal verbildlicht durch die oben erwähnte selbst geschliffene 120mm–Nadel. Aber vorherrschende Konzepte von Konfliktbereitschaft haben doch immer etwas Aggressives. Das ist, glaube ich, auch der Grund gewesen, weswegen einige das Jahresthema nicht gut fanden, da sie mit kommit to conflict gewaltsam ausgetragene Konflikte verbanden. Im Titel waren die für uns im «Mitkommen» implizierte Fürsorge und Empathie nicht direkt erkennbar. Danke für diese Ausführung! Nun wird mir klar, wie wichtig es ist, dass wir reflektieren, welche Begriffe als gewaltvoll markiert werden und welche eben nicht. In diesem Sinne ist vieles von dem, was wir dieses Jahr diskutiert haben,


die Anstrengung hin zu einer neuen Setzung. Nämlich einer Setzung, die strukturelle Diskriminierung als alltäglich ausgeübte und erlebte Gewalt anklagt und gleichzeitig die Legitimität von hartnäckigem, organisiertem und fürsorglichem Einsatz für gesellschaftlichen Wandel betont. Aber das «Mitkommen» hat im Laufe des Jahres auch eine weitere Bedeutung gewonnen, nämlich die des Mit–werdens. So gefasst bleibt ein ganz anderes Gefühl, wenn ich auf das gemeinsame Jahr zurückschaue. Ein Gefühl der Dankbarkeit für die geteilten Momente des Werdens. Die Demut, die der Einsicht folgt, dass wir in vielen kleinen Schritten werden. Und zuletzt die ruhige Aufregung, die in der Erwartung ansteigt, dass wir weiter mit-werden, dass in kommenden Zusammentreffen frühere geteilte Momente widerhallen und neu tönen. Um aus Donna Haraways im HyperWerk ausführlich rezipiertem Buch Unruhig Bleiben zu zitieren: «Wir werden miteinander oder wir werden gar nicht.»(Haraway 2018: 13) Mitgestalten, Mitlernen, Mitlehren, unruhig bleiben, immer wieder aufs Neue abwägen sind also Handlungsanregungen, um das Wie–können–wir–zusammen–leben zu gestalten. In–Beziehung–Werden heisst für mich auch, porös zu sein. Ja durchlässig. Ist es nicht das, was unter radikaler Pädagogik


verstanden wird? Sich selbst und das eigene Wissen zur Disposition zu stellen, anzuerkennen, dass wir gemeinsam Andere werden, ohne zu wissen, wohin die Reise geht? Im Nichtwissen und in der Unsicherheit ein Zuhause zu finden? «This capacity to begin always anew, to make, to reconstruct, and to not spoil, to refuse to bureaucratize the mind, to understand and to live life as a process—live to become—is something that always accompanied me throughout life. This is an indispensable quality of a good teacher: to always begin—it does not matter if it is to begin again—with the same force, or with the same energy.»(Freire 1993: 98) Dieses Gespräch haben wir in der Begleitung des Jahresthemas kommit to conflict im Frühjahr 2019 begonnen und bis jetzt fortgesetzt. Der hier wiedergegebene Ausschnitt resümiert unsere Auseinandersetzung mit dem Jahresthema. Die Autor*innenschaft einzelner Aussagen verschwimmt aus heutiger Perspektive und ist deshalb nicht namentlich gekennzeichnet.


Literaturverzeichnis: — Adamczak, Bini. 2017. Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende. Berlin: Suhrkamp — Combahee River Collective. 1982 (zuerst 1977). The Combahee River Collective Statement. In: Hull, Gloria T.; Scott, Patricia Bell; Smith, Barbara (Hg.): All the Women Are White, All the Blacks Are Men, But Some of Us Are Brave. Black Women's Studies. Old Westbury NY: Feminist Press — Combahee River Collective. 1982. A Black Feminist Statement. In: Hull, Gloria T.; Scott, Patricia Bell; Smith, Barbara (Hg.): All the Women Are White, All the Blacks Are Men, But Some of Us Are Brave. Black Women's Studies. Old Westbury NY: Feminist Press — Freire, Paulo. 1993. Pedagogy of the city. New York: Continuum — Haraway, Donna J. 2018. Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Übersetzt von Karin Harrasser. Frankfurt am Main: Campus Verlag — hooks, bell. 1994. Teaching to transgress: education as the practice of freedom. New York NY: Routledge — Lefebvre, Henri. 2003. Die Revolution der Städte. Dresden: Postplatz Lugones, María. 2003. Pilgrimages/Peregrinajes: Theorizing Coalition Against Multiple Oppressions. Lanham MD: Rowman & Littlefield — Luxemburg, Rosa. 1922. Die Russische Revolution. Levi, Paul (Hg.) Verlag Gesellschaft und Erziehung — Marchart, Oliver. 2007. «There is a crack in everything …». Public Art als politische Praxis. what’s next? http://whtsnxt.net/091 (Zugriff am 2. August 2020) — Meyer, Katrin. 2019. «Die Idee der Freiheit aus feministischer Perspektive». Denknetz. 23. November. http://www.denknetz.ch/ sendungen/die-idee-der-freiheit-aus-feministischer-perspektive/ (Zugriff am 2. August 2020) — Montgomery, Nick und carla bergman. 2017. Joyful militancy: Building resistance in toxic times. Chico CA: AK Press — Oliveros, Pauline, Bad At Sports, Brian Andrews und Patricia Maloney. 2015. Interview mit Pauline Oliveros. Text. Art Practical. 26. Januar. https://www.artpractical.com/column/bad-at-sports-interview-with pauline-oliveros/ (Zugriff am 5. August 2019)


Rückblick, Dankeschön und so ... Es war ein bewegtes Studienjahr, das wir hier zusammenfassen durften. Begonnen hatten wir es mit der Begrüssung der Ventidue und einer Co-Create-Woche zum Thema Nachhaltigkeit inklusive Klimastreik. Kurz darauf kam auch schon das grosse Fest zu 20 Jahren HyperWerk. Nach dem Open House im Januar war uns Diciannove noch die Zeit geblieben, nach Leipzig (und zurück) zu fahren, bevor die Grenzen und Schulen wegen Covid 19 geschlossen wurden. Trotz des darauf folgenden distancing konnten wir an unserer Idee festhalten und eine Jahrespublikation zusammenstellen, die hauptsächlich von Studierenden kommt, die Diversität unserer Anliegen und Denkweisen erahnen lässt und deren Handlichkeit dazu einladen soll, sie auch unterwegs zu lesen. An dieser Stelle wollen wir uns herzlich bedanken. Vielen Dank an alle Autor*innen, die auf Anfrage oder von sich aus Texte beigesteuert haben. Herzlichen Dank an Brianna, Luc, Sabrina und Rebecca, die uns halfen, die Texte zu lektorieren, und dabei darauf achteten, dass die Stimmen der Autor*innen nicht verfremdet wurden, und auch an Ralf, der sorgsam Grammatik und Interpunktion korrigierte und uns bei Fragen während des Lektorierens unterstützte. Auch Anna, Roland und Daria haben wir zu danken. Sie kümmerten sich zusammen mit Janick um die Gestaltung und verhalfen dem Buch so zu seinem Charakter. Danke an Laura und Matthias, die uns das Vertrauen schenkten und die Verantwortung für dieses Projekt an uns abtraten. Nun - das alles lief nicht ganz ohne Konflikte, nicht so harmonisch, wie es die Danksagung vermuten liesse. In den Videocall-Sitzungen fiel es mir schwer, lange Zeit konzentriert zu bleiben. Vor allem dann, wenn zu sehr von der Traktandenliste abgeschweift wurde und eigentlich schon beantwortete Fragen nochmals durchgekaut wurden. Planen war schwierig, wenn auf das Abfragen von Zwischenständen keine Antwort kam und Fristen unkommentiert überzogen wurden. Es war nicht leicht herauszufühlen, wie weit das in uns gesteckte Vertrauen ging und wo die Dozierenden und Jahrgangsverantwortlichen die Finger doch nicht stillhalten konnten. Doch wir hatten uns der Sache verschrieben - uns committet - und stellten uns den Konflikten. Dazu nahmen wir auch möglichst viele Mitstudierende mit auf die Reise und sagten «Kommt mit». Und jetzt freue ich mich, Euch einzuladen. Kommt mit auf die Reise durch die Themen unseres Diplomjahres.

N 11 o


— Anna Lucia Schafter, Besucherin

Die Kamera nehme ich mit auf meine Reise durch den HyperBirthday. Sie begleitet mich in den bewegten Workshop mit der Choreografin Jessica Huber, bangt mit mir während der Präsentation von Hotel Regina, ist dabei beim Zubereiten und Schnausen der leckeren venezolanischen Arepas, und die letzten Bilder halten auch das Aufräumen am Tag danach fest.

Ich bin noch nicht lange auf der Feier am HGK–Campus, als mir auffällt, dass da mehrere Einwegkameras unterwegs sind. In ein paar Bilder schleiche ich mich ein, und als ich frage, ob ich auch mal abdrücken darf, werde ich gleich doppelt belohnt: «Geh zu Leo, dann kannst du auch eine Kamera haben und heute Fotografin sein». Und tatsächlich, Leo erklärt mir, wie es läuft: 20 Kameras sind im Umlauf und fangen die je eigenen Perspektiven von 20 Fotograf*innen ein. So ergibt sich eine vielfältige Dokumentation von diesem Fest.

Einwegkameras am HyperBirthday









kommit to conflict – Jahrespublikation. Beiträge : Anna Schafter, Brianna Deeprose– O’Connor, Cédric Kleinemeier, Christoph Schneider, Daria Zogg, Debi Kleeb, Delia Fierz, Janick Schmid, Jonas Shontshang, Ivana Jović, @Ivikuul, Laura Pregger, Luc Spühler, Lucca Jäger, Manuel Washaus, Matthias Böttger, Max Spielmann, Michael Altmann, Mirabel Moritz, Paul Schweizer, Ralf Neubauer, Rasso Auberger, Rebecca Geyer, Roland Knubel, Sabrina Doser, Sebastian Gebhart, Silia Aletti, Silván Waidmann, Sophie Garnier, Tabea Wappler, Tina Reden, Thies Warnke, Tom Nieke. Diplom–Beiträge : Benedikt Elmaleh, David Hanek, Fabian Baum, Giovanna León Briceño, Isabell Olsson, Ivana Kvesić, Janick Schmid, Johanna von Felten, Kim Wüst, Leo Witzig, Luc Spühler, Marc Lohri, Niklaus Scheidegger, Raphael Hirschi, Ruben Khan, Sebastian Gebhart, Sebastian Ramming, Silván Waidmann, Simon Fürstenberger, Sophie Plattner. Redaktion : Janick Schmid, Johanna von Felten, Leo Witzig, Silván Waidmann. Lektorat : Brianna Deeprose– O’Connor, Janick Schmid, Johanna von Felten, Luc Spühler, Leo Witzig, Ralf Neubauer, Rebecca Geyer, Sabrina Doser, Silván Waidmann. Korrektorat : Ralf Neubauer. Gestaltung : Anna Laederach, Daria Zogg, Janick Schmid, Roland Knubel. Jahrgangsleitung : Laura Pregger, Matthias Böttger, Paul Schweizer, Tina Reden. Institut HyperWerk HGK FHNW, 2020. Freilager–Platz 1, Postfach, 4002 Basel. www.fhnw.ch/hgk/ihw ISBN : 978-3-9525055-3-3


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