WIR HALTEN HAUS - Die Reflexion

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RRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRR*JAHRESPUBLIKATION 2018 WIR HALTEN HAUS — JAHRESPUBLIKATION 2018

DIE REFLEXION

WIR

Das entsteht im Zuhören, Verbinden, Teilen, Unterscheiden, Erin nern, Umschreiben, Behaupten und Beziehungen schaffen.

HALTEN

Das bedeutet, Position zu beziehen, verletzbar zu werden, etwas bewir ken zu wollen, zu definieren, zu revidieren und erneut zu behaupten.

HAUS

Das ist die Metapher für das Gestaltbare. Das Haus schafft gemein same Voraussetzungen, die unserem Handeln Sichtbarkeit ermög lichen. Die Verortung im Haus gibt Orientierung. Das Beschreiben von Nachbarschaften – innerhalb und ausserhalb des Hauses – be fördert Kontextualisierungen. Das Haus bildet ein gemeinsames Fundament und bietet ein Dach. In seinen Räumen werden Begegnung, Austausch, Differenz und Konsens gelebt.

DIE ANLEITUNG

Eine Orientierungshilfe für Leser*innen – auch als Bindeglied zwischen den Publikationen A bis R zu lesen

Die vorliegende Publikation zum Jahresthema 2018/19 wir halten haus besteht aus vier Teilen: A, B, R und dem Plakat. Sie bilden gemeinsam die Möglichkeit, sich aus unterschiedlichen Richtungen und Perspektiven wir halten haus anzunähern.

A – Das Glossar: Unser Vokabular. Es entstand im Juni 2018 als Erstes und dient uns allen als Vokabular. Die Beiträge wurden von Diplomand*innen und Dozent*innen verfasst. Das kollektive Ge dankengebäude enthält Pfade und Fährten. Die Begriffe wurden un terschiedlichen Räumen zugeordnet und helfen der Leser*in, sich darin zu orientieren.

B – Der Bildband: Er berichtet vom Tun und Handeln im Diplomcamp und bietet visuelle Eindrücke von Beziehungsweisen.

R – Die Reflexion: Topografische Erzählungen. Teilnehmer*innen teilen ihre Gedanken zum Jahresthema. Verschiedenste Innen- und Aussenblicke versammeln sich hier. In der gedanklichen Gleichzei tigkeit lässt sich erkennen, wie vielschichtig und polyphon dieses Jahresthema ist.

Das Plakat: Ein visueller Überblick bietet Raum für Erinnerungen in Form von Illustration und Fotografie. Die Zeichnung erfasst, was während des Camps als normal wahrgenommen wurde, ausserhalb der Diplomausstellung aber nicht denkbar wäre.

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WIE WIR HAUSHALTEN WOLLEN

Warum wird der überwiegende Teil der Sorge- und Hausarbeit1 noch immer von Frauen* bestritten? Feministisch gesprochen ist Reproduktionsarbeit gezielt unsichtbar gemachte und damit von der Gesellschaft abgewertete Gratisarbeit. Eine gemeinsam geleistete Care-Arbeit bedeutet mehr Freiheit für alle.

Das Diplomcamp war eine Gemeinschaft, die die Karten immer wieder neu gemischt hat. Die Rollenverständnisse haben sich als fluid erwiesen. Diese Gruppe hat auf Vertrauen gesetzt. Ihr Be gehren ermöglichte es, ungewohnte Alltagsmuster zu lernen.

Ist das eine Form von Pre-Enactment für das Zusammenleben kommender Generationen? Es ist jedenfalls eine Spekulation, die bei den Wurzeln beginnt. Ein Vokabular, um eine Praxis zu verlernen und Beziehungsweisen zu erfinden. Wir gestal ten diese Welt! Sie ist commun und resistance zugleich. Und wir schmuggeln auch den Ungehorsam ( disobedience) auf den Vorplatz.

Die Ausstellung als Camp zu begreifen heisst, sich auch zu streiten. Wir zählen keine Erbsen ( petits-pois), sondern setzen auf vulner-abilty. Klebebänder manifestieren sich hier auf dem Boden als Grundriss und Zeichnung – im Dazwischen entsteht das Leben.

Sprache mit Haltung Haushalten heisst für uns auch queer-feministisches Sprachhandeln. So verwenden wir in dieser Publikation lustvoll das Sternchen in Formulierungen wie «di*er HyperWerker*in», um eine Vielfalt von Geschlechteridentitäten ausserhalb des binären Spektrums abzubilden. Denn wir wollen schliesslich ein haus für alle* sein.

WIE KÖNNEN WIR ZUSAMMEN LEBEN?

Das HyperWerk wird bald 20 Jahre alt und hat sich als Studiengang etabliert, in dem gelehrt und gelernt wird, Prozesse zu gestalten. Gestaltung fokussiert dabei immer mehr auf die räumliche und zeitliche Anordnung sozialer Beziehungen. Wie können wir zusammen leben? Das «wir» dieser Leitfrage be zieht sich dabei auf diverse menschliche und nichtmenschliche Akteure in der gelebten Umwelt. Wie können Menschen, Tiere und Pflanzen auf diesem Planeten zusammen leben, und wo sind die Grenzen? Wie leben Menschen mit Maschinen und technischen Entwicklungen zusammen? Wie kann dieses Zusammenleben organisiert werden, sichtbar gemacht werden, und wie wird es aufgezeichnet und notiert?

wir halten haus – im Zuge dieses Jahresthemas haben die Dici assette, der 17. Jahrgang am HyperWerk, verschiedene Prozesse für das Zusammenleben entwickelt: Sie haben haus gehalten und ausgehalten, Haltung entwickelt, Gemeinschaft gelebt, Standhaf tigkeit gezeigt, Gastfreundschaft gewährt, Genügsamkeit geübt. Ihre Diplomarbeiten haben sie in einem «Dorf» auf der Plattform des Ateliergebäudes am Dreispitz ausgestellt – im Diplomcamp. Manche der verschiedenen «Häuser» und «Zimmer» sind wie bei Theaterproben nur mit rotem Klebeband auf dem Boden markiert. Überall gibt es etwas zu sehen oder zu tun. An einem Schalter wer den Schweizer Franken gegen wunderschöne Geldscheine ohne auf gedruckten Wert gewechselt. Ihre Kaufkraft liegt im Ermessen der Handelnden. An der Bar lassen sich die Geldscheine in Drinks ver wandeln, eine Radiostation sendet schon frühmorgens sehr lokale Nachrichten, und mit einem selbst gebauten Fahrradtrainer geht es auf der Stelle nach Paris. In der Infozentrale gibt es freundliche Auskunft, einen Plan des Camps und aktuelle Tipps für Veranstal tungen. Auch die sehr interaktive Audiotour steht dort zur Ausleihe bereit und verleitet zum Handstand auf den Wegen durchs Dorf. Geschlafen wird in einem wunderbaren Zelt auf Stelzen, und für den ganzen Campus wird unter einem textilen Tonnengewölbe gekocht, meistens vegan, meist aus Resten, und mit riesigen, selbst gebau

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1 Die Wörter mit Pfeil sind Links zum Glossar, zur Publikation A.

ten Kochutensilien. Jede dieser Stationen ist eine Diplomarbeit. Aber nicht nur diese einzelnen Arbeiten sind das Werk der Studierenden, sondern auch die Anordnung, die Planung und der Prozess der Entscheidungsfindung. Catherine Walthard und Laura Pregger haben sehr viel Vertrauen in die Selbstorganisation dieses grossen Jahr gangs investiert, und es hat sich gelohnt. Entscheidend sind nicht die Volumina oder Containerräume, sondern die Beziehungen zwi schen den Bewohner*innen und ihren Handlungen. Das Dorf, die Stadt – und Architektur überhaupt – werden durch die dreidimensionale Anordnung der sozialen Beziehungen definiert. In einer der Diplomarbeiten sind diese Verknüpfungen gestickte Pfade. Zehn Tage lang bewohnen die Diciassette ihr Diplomcamp und zeigen, welches Leben auf dem Campus Dreispitz möglich ist. Die Struktu ren und Objekte sind zu grossen Teilen aus recycelten Materialien erstellt und werden nach dem Abbau weiter umgenutzt. Die Plattform ist wieder sehr leer, aber die Erinnerung bleibt, und der Mög lichkeitsraum ist eröffnet.

Wir pflegen eine «seismographische» Kultur, die sich noch schwachen Signalen des Wandels widmet. Durch diese frühzeitige Beob achtung, Beschreibung und Interpretation von neu auftauchenden räumlichen, sozialen und technischen Phänomenen und Möglichkeiten ergeben sich situative Lösungsansätze.

Die Tätigkeit der HyperWerker*innen ist also eine beobachtend, dokumentierend, spekulativ, künstlerisch, gestalterisch und sozial forschende Praxis, um differenzierte Antworten zu geben. Da bei bewegen sich die Forschungsfelder am HyperWerk entlang drei grosser Schlagwörter: Commoning; Konvivialität; Anthropozän. Welche Methoden ermöglichen gemeinsames Handeln und geteil te Ressourcen? Wie funktioniert Zusammenleben, und welche ethi schen Werte und Ziele werden dabei verfolgt? Und wie lässt sich der scheinbare Gegensatz von Natur und Kultur überwinden?

Auf diese Weise können exemplarische Antworten gefunden, ra dikale Vorschläge vorgestellt, digitaler Wandel und analoge Gegenwelten vereint und alternative Möglichkeiten erzählt werden. Dies wiederum ermöglicht, einen eigenen Weg in einer komplexen Welt zu finden und durch einen poetischen Blick auf aktuelle und mögliche Realitäten an der Qualität sozialer Prozesse als an einer ästheti schen Kategorie zu arbeiten.

Prof. Matthias Böttger, Institutsleiter HyperWerk

WIR HALTEN HAUS

«wir halten haus ist Metapher und konkrete Situation. Das Haus ist Halt, persönlicher Rückzugsort und auch Forum. Im haus bean spruchen wir individuellen Raum, pflegen Nachbarschaften, eröffnen Spannungsfelder und schmieden Allianzen.»

— In welchem Verhältnis stehen Individualität, Kollektivität und Freiheit zueinander?

Könnte Freiheit gewählte Abhängigkeit sein?

— Was bedeutet es, als Gestalter*in Haltung einzunehmen?

Die Diplomarbeiten, die Workshops, das Diplomcamp und die Pu blikation geben damit Antworten, was wir halten haus bedeuten könnte. Diese intensive Auseinandersetzung wurde Dank der Dici assette, der unteren Jahrgänge, der Austauschstudent*innen, der Workshopleiter*innen und aller Mitarbeiter*innen des HyperWerks möglich. Über ein Jahr hinweg haben wir, Catherine Walthard und Laura Pregger und die Diciassette, diesen offenen Prozess gemein sam getragen und mit ihm versucht hauszuhalten. Inhaltlich und gestalterisch wegweisend unterstützten uns die Illustratorin Anna Deér, die Performance-Künstlerin Jessica Huber und der Grafiker Jacques Borel; und auch Matthias Böttger, der neue Institutsleiter, stand unserem Vorhaben hilfreich zur Seite.

Eine Metapher als Absicht

Die Diplomand*innen als Räume verstehen – was bedeutet das?

Unter ihnen entstehen dann Nachbarschaften – gemeinsame Kon texte, Allianzen und soziale Felder. Das Beschreiben des «hauses» ermöglicht ein Stehen auf einem Fundament, und die Vorstellung davon ergibt wiederum ein schützendes Dach. Gleichzeitig bietet der Bezug auf die Metapher an, nicht alleine dazustehen und dabei gleichzeitig für sich einstehen zu können. Aus einer individuellen Perspektive geht es im Jahresthema deshalb auch um Haltung, also darum, Position zu beziehen und sich seiner Entscheidungen im Handeln bewusst zu werden. Doch was ist, wenn diese diversen An liegen innerhalb des gemeinsamen hauses einander widersprechen und damit Konflikte erzeugen? Erst im Zuhören, durch Empathie, wohlwollende Kritik und Aushandlungsprozesse auf Augenhöhe

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entsteht die Möglichkeit, diese Energie produktiv zu nutzen – für eine Kultur der Zusammenarbeit, die Differenzverträglichkeit zum Ziel hat.

Das Diplomcamp wurde vom diesjährigen Abschlussjahrgang Di ciassette gemeinsam entworfen, konzipiert, organisiert, konstruiert, gestaltet, getragen und durchgeführt. Insgesamt dauerte es einen Monat, inklusive Auf-, Um- und Abbau. An der Realisierung waren auch Student*innen aus dem ersten und zweiten Jahr sowie Do zent*innen und Mitarbeiter*innen beteiligt. Ziel des Camps war es, sowohl unterschiedlichen Diplom-Anliegen eine Bühne zu verschaf fen als auch gleichzeitig zu erproben, was unsere Kultur der Zusam menarbeit in der Praxis, also im realen Zusammenleben auf dem Campus, für Erkenntnisse, Methoden und Ideen für das zukünftige Zusammenleben und Zusammenarbeiten hervorbringen kann.

09:30

DONNERSTAG, 13.09.2018

Alle Diciassette wuseln auf dem Vorplatz des Atelierge bäudes herum und versuchen, vor der Jurybesichtigung die letzten Details ihrer Ausstellungsobjekte zu ordnen.

09:40 Die Costa Chica wird auf den Platz gerollt, das Radio wi der Beschluss spontan in Betrieb genommen.

10:10 Das «Strammstehen» hat begonnen: Die Jury schreitet durchs Camp, und wir lehnen uns bald schon gelangweilt an unsere Ausstellungsobjekte.

11:00 Ich führe mit einem externen Jurymitglied eine kurze Diskussion über Italo-Disco-Musik der achtziger Jah re – Prüfungsgespräch à la HyperWerk oder doch nur Pausenklatsch?

11:30 Der Hausdienst fährt auf einem eingefahrenen Putzkran ins Getümmel zwischen den Ausstellungsobjekten, ver heddert sich in losen Raumtrennbändern – abgesteckt nach Katasterplan – und reklamiert wegen ungünstig verlegten Stromkabeln.

12:00 Jetzt ist das ganze Prüfungsprozedere durch: die schriftliche Arbeit abgegeben, die Präsentation gehalten, die peinliche Befragung überstanden, und die Jury verlässt soeben das frisch aufgebaute Camp, das sie sich als letztes Bewertungskriterium angeschaut hat.

13:40 Mittagessen unter dem neuen Küchenzelt. Es gibt viel Prosecco, aber kaum Gläser. Wir stossen trotzdem an –mit Tassen, Pappbechern, Flaschen und Wassergläsern.

14:00 Kaum zu glauben, das Camp steht! Ich erinnere mich, wie Balz die Diplomausstellung einst mit einer Erster-August-Rakete symbolisch ins All schicken wollte.

16:30 Erschöpft gammeln einige Diciassette mit halbleeren Proseccoflaschen auf den Teppichen im Wohnzimmer, viele sind schon nachhause gegangen.

17:00 Wegen unserer nachmittäglichen Prüfungsendparty und einem plötzlichen Regenschauer sieht das Camp schon wieder aus wie Harry Otto. Einzig das rosarote Hyper-X strahlt unbeirrt auf der Infozentrale.

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GEMEINSCHAFT À DISCRÉTION

Ich erinnere mich noch gut an das vielleicht erste oder zweite Treffen des gesamten siebzehnten HyperWerk-Jahrgangs in unserem zwei ten Jahr. Wir hatten ein erstes Jahr in diesem Studium hinter uns; ein Jahr, in dem ich intuitiv und ohne grosse Orientierung jedem Projekt und Workshop nachgegangen war, das und der mir gerade vor die Nase kam. Und ein Jahr, in dem ich die Mitstudierenden meines Jahrgangs nur vereinzelt angetroffen hatte. Ich hatte also Gründe, mich auf dieses Traumlabor – die Treffen zum gemeinsa men Träumen und Arbeiten im zweiten Jahr heissen am HyperWerk DreamLab – zu freuen.

Wir starteten also in das zweite Jahr, in dem es galt, ein gemein sames Jahresthema zu finden, das uns im Diplomjahr begleiten sollte. Ich erinnere mich daran, dass wir bei diesem ersten oder zwei ten Treffen in einer kleineren Gruppe darüber sprachen, wozu denn dieses Jahresthema überhaupt gut sein sollte. Nach dem, was ich bisher an Jahresthemen mitbekommen hatte, waren sie immer sehr allgemein gehalten. Ein Überthema, in das alles reinpasst. Durch aus interessant. Aber wir hatten keine Lust, einen Titel zu kreieren, der für die Diplomausstellung eine Einheit vorgaukelt, obwohl die Projekte doch so verschieden sein würden. Ich ging etwas ratlos und nicht sehr zuversichtlich aus diesem Treffen.

Der Rest unseres zweiten Jahres am HyperWerk war gesprenkelt von Diskussionen. Ich erinnere mich weniger an die genauen Inhal te als an das Aushalten von zu langen Monologen, von Kreisen, in denen wir uns drehten, und daran, dass ich mich selbst in den Ge danken zum Diskutierten verirrt hatte. Wir stellten das bestehende Konzept des Jahresthemas und überhaupt einer Diplomarbeit am HyperWerk immer wieder infrage. Wegen privaten Wichtigkeiten und meinem individuellen Schwimmen im Studium verpasste ich in diesem Jahr öfter mal so ein Treffen. Aber ich brachte doch immer wieder die Energie auf, mich in diesen Gruppenprozess hin einzugeben. Und ging am Abend immer wieder mit Kopfschmerzen nach hause.

Im Sommer 2017 war dann unser Jahresthema zusammenge bröselt: wir halten haus . Da ist dieses Aushalten drin, das nicht nur für mich eine Herausforderung war. Da ist das Haushalten drin, das für mich nur anstrengend klang und nicht nach lustvollem

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gemeinsamem Schaffen. Und da ist das haus als Symbol einer Hal tung drin. Eine Haltung beziehen zu wollen hatte sich als gemeinsa mes Anliegen herauskristallisiert – und damit konnte ich mich auch identifizieren. Aber in der vagen Ahnung, in der ich mich in mei nem eigenen Diplomthemafindungsprozess zu dieser Zeit befand, erschien mir diese Haltung oder das haus genau als das befürchtete, Einheit vorgaukelnde Überthema.

Aber da war diese in den anstrengenden Diskussionen spürbare Energie des Jahrgangs Diciassette, die es im Jahresthema zu bündeln galt. Die Diciassette-Treffen bedeuteten immer wieder eine Auszeit von meinem separaten Prozess, und den schob ich zur Seite, wenn ich mich wir halten haus hingab – denn ich schaffte es nicht, einen direkten Zusammenhang zwischen meinem individuel len Diplomthema und dem Jahresthema zu sehen.

Wir wollten ein haus bauen. Unklar war, was oder wie dieses haus sein sollte. Wir wussten nicht, ob wir damit etwas Physisches meinten oder etwas anderes – ich wusste nicht, wie das andere aus sah. In meinem Kopf zumindest gab es noch kein Bild. Als wir uns konkret fragten, wie die Ausstellung am Ende aussehen oder sein sollte, wurde das Ganze fassbarer. Aber wir versuchten, ein Endpro dukt zu skizzieren, das den Prozess, den wir noch nicht beendet hatten, möglichst authentisch erzählen sollte. Etwas absurd. Aber das Unkonkrete war bald nicht mehr auszuhalten, sodass wir einen Ort und eine ungefähre Form festlegten: Campus der Künste, dorfartig. Und mit dieser Handfestigkeit konnten wir das Thema dann wieder öffnen und dem Prozess freien Lauf lassen.

Die Diskussionen blieben auch im Diplomjahr anstrengend. Fünfunddreissig Diplomierende; fünfunddreissig Meinungen, Ge genargumente, Zusprüche, Reaktionen, Anliegen, fünfunddreissig Gelegenheiten, zu spät zu kommen. Langsam lernten wir, damit umzugehen, und entwickelten unbewusst eine Gesprächskultur und Gruppendynamik, die nach und nach das Jahresthema Realität wer den liessen. Irgendwann begriff ich, dass Haushalten nicht nur Putzen und Aufräumen ist, sondern vom Umgang in einer Gemeinschaft erzählt – von etwas, das ich in meinem ersten Jahr am HyperWerk «Miteinanderspiel» genannt hatte. Erst beim Schreiben meiner Dokumentation erkannte ich: Das gemeinsame Jahresthema war plötzlich eins geworden mit meinem individuellen Diplomthema. Und die Idee des Dorfartigen auf dem Campus war mittlerweile zum Diplomcamp auf der Plattform vor dem Ateliergebäude geworden.

Im Sommer vor dieser finalen Camp-Woche wurde der Prozess noch mals harzig. Das, was wir für unseren Bachelor liefern mussten, liess das Camp in den Hintergrund rücken oder eine Last werden. Aber für viele von uns war dieses Camp das Herzstück des ganzen Diploms. Wir kratzten also alle noch vorhandene Energie zusam men und steckten sie in die Vorbereitungen. Der Start in das lang ersehnte Diciassette-Diplomcamp Mitte September war dann tat sächlich sehr authentisch: Etwas unvorbereitet auf das, was kam, völlig erschöpft und erleichtert zogen wir auf dem Freilagerplatz ein. Auf dem Boden rote Linien, die Wände darstellten. Über der küche mit den zwei Holzöfen ein riesiges halbrundes Dach. Mitten auf dem Platz ein Empfangs-Würfel mit grossem Hyper-X darauf. Die Costa Chica, die Geldmacherei, ein weisses haus ohne Dach, ein Holzbal kon. Pralle Sonne, zum Trocknen aufgehängte Leintücher, einzelne müde Gestalten.

Am Wochenende nach der Camp-Eröffnung machte sich erstmal diese Erschöpfung und Erleichterung breit, zusammen mit einer leichten Ratlosigkeit. Es war ruhig, und wir paar Camp-Bewohnenden versuchten herauszufinden, wie denn dieses Camp-Leben genau funktionieren sollte. Wir suchten einen Rhythmus. Wir mühten uns mit dem Spagat zwischen Camp-Alltag und Ausstellungsbetreuung ab: Helfe ich Mittagessen kochen und lerne damit meine Mitstu dent*innen als Mitbewohner*innen kennen; oder setze ich mich zur Infozentrale und begrüsse Ausstellungsbesuchende?

Wir fanden einen Rhythmus. Aber noch nicht an den ersten zwei Tagen. Da waren wir einfach mal da – und stolperten noch herum. Die Ruhemomente taten gut, denn die Betreuung von Besucher*innen war noch unkoordiniert – ein Müssen. Am Montag dann wurde unser Zuhause überschwemmt von Menschen: Es war Semesterbe ginn. Durch die Luke im Schlafzelt konnten wir aus den Schlafsäcken die Studierenden sehen, die auf den Campus strömten. Gegen den Strom gingen wir in Trainerhosen, mit noch verschlafenen Au gen und einem Frottiertuch über der Schulter zu den Duschen im Untergeschoss des Hochhauses.

Der Platz war jetzt nicht mehr nur unser wohnzimmer, unser atelier und unsere küche. Er war auch Vorplatz einer Kunsthochschule. Plötzlich hatten wir andauernd sehr viel Besuch zuhau se. Und in diesem Trubel fanden wir den Rhythmus. Ich liess mich vom Camp-Leben treiben, war einfach dort, wo ich gerade war. Am Morgen von Radio Freilager geweckt werden, in den Kreis von fünf

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zehn anderen aufwachenden Gesichtern blicken; dann gemeinsames Frühstück in der Sonne. Bei Gipfeli und Tee plauderten wir und ge nossen die Ruhe, bevor wir den Tag besprachen. Dann verzettelte sich die Wohngemeinschaft in Richtung Duschen, Radiostudio, Ab wasch oder Camp-Wartung. Durch den Tag war ich mal hier, mal dort und begegnete dabei immer wieder Mitbewohner*innen, wenn wir am selben Ort Schatten für das Mittagessen suchten.

Spontanes Musizieren mit Gitarre, leeren Pfannen und Mund harmonika im Küchenzelt. Guten-Morgen-Geschichten aus dem Radio. Kiloweise Seitan kneten. Nasse Socken und T-Shirts an quer über den Platz gespannten Seilen. Besuchende begrüsste ich nun als Gäste in einem Zuhause, in dem sie willkommen waren. Das Diplomcamp war ein Camp, keine Ausstellung. Nachdem wir begriffen hatten, dass das, was wir hier hatten, keine Ausstellung war, konnten wir wir halten haus erst richtig zum Leben erwecken. Gemeinsames Jassen im wohnzimmer war mindestens so wichtig wie Neu ankommenden das Camp-Konzept zu erklären.

wir – das waren die, die da waren: Das waren die Diciassette, das waren alle anderen, die gerade da wohnten oder verweilten. Die ses wir behaupteten wir nicht nur. In dieser Woche war da diese Gemeinschaft auf diesem Platz. Und das Zusammenleben funktionierte dadurch, dass wir uns aufeinander, auf diese Gemeinschaft einliessen. haushalten – wie ich beim Schreiben begriffen hatte, was Haushalten auch sein konnte, so erlebte ich es jetzt. Haushalten war das Zusammenleben. aushalten ist Teil des Haushaltens. Und Teil des wir . Das Camp fand in einer Woche statt, in der meine Energie aufgebraucht war. Ich war zuerst davon ausgegangen, dass ich bestimmt auch mal eine Auszeit brauchen würde, vielleicht ein mal eine Nacht zuhause. Aber ich merkte, dass es genau dieses Aus halten brauchte, dieses Voll-Drinstecken. Das Aushalten nährte den Ort, machte das Gemeinschaftliche fassbar. Das geträumte haus hatten wir gebaut. Halb physisch, halb er funden. Wir hatten es konstruiert. Haltung bezogen wir dadurch, dass wir da waren. Eine Woche lang belebten wir den leeren Be tonplatz und stellten das Miteinander ins Zentrum, sodass es den Papierfötzel «Diplom» in den Hintergrund rücken liess. Unser Jahresthema ist nicht nur institutionelles Thema, sondern unser per sönliches Anliegen geworden.

FREITAG, 14.09.2018

19:00

Vernissage; also Eröffnung des Diplomcamps. 35 frisch gebackene Alumni und Alumnae treten vor die Bühne des Ateliergebäudes. Der Eingang ist versperrt – wo bereits die Fussmatte mit der Aufschrift «Home» lag, flattert ein rot-weisses Absperrband im Wind.

19:10 Wir betreten dennoch das Camp, um es für die Eröffnung in Betrieb zu nehmen. Ein langer weisser Tischtuchstrei fen zieht sich den Hauptgang entlang.

19:20 Niemand hat sich um die Sound-Anlage für die Eröffnungsrede gekümmert. Die kleine Monitorbox des Ra diostudios ist zu schwach.

19.30 Ein Megafon tut’s auch. Catherine und Laura halten eine Eröffnungsrede.

19:40 Das Absperrband wird bloss abgespannt, weil es ein Spanngurt des HyperWerks ist. Es wird die Stufen hochgestiegen, Gläser werden in Hände gedrückt. Brote, Öl, Salz und Gemüse locken ans Tischtuch.

21:00 Manche Gäste – vornehmlich ältere und ganz junge – gehen schon wieder heim. Der erste Alkoholengpass droht.

21:30 Willi kommt mit Biernachschub per Taxi.

22:00 Die Costa Chica Tropical Bar läuft auf Hochtouren; bald geht aber auch da die letzte Runde über den Tresen, weil die Barkeeper den halben Schnaps weggetrunken haben.

22:40 Die Geldmacherei schliesst nach dem dritten überraschenden Ansturm erneut.

23:20 Auf dem Freilagerplatz sind jetzt nur noch Diciassette; die Hälfte von ihnen wird hier nächtigen.

23:50 Richtig zur Ruhe kommt noch niemand. Wir räumen auf, was miserabel ausschaut, und machen regensicher, was nicht unter Dach und Fach ist.

00:30 Unter unserer Schlafkuppel liegen acht Personen in ihre Schlafsäcke eingerollt und suboptimal verteilt.

02:20 Es ereignet sich noch immer nichts Besorgniserregendes. Die verantwortliche Care&Awareness-Person beschliesst, ebenfalls zu schlafen. Die Scheinwerfer am rostigen Mast blenden penetrant durch den weissen Zeltstoff hindurch.

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WIE WIR VERBINDEN

Drei typische Techniken der Verbindung am HyperWerk

Klebeband – Duct Tape, Gaffer Tape, Kreppband, doppelseitiges Klebeband etc.

Eine der wichtigsten Verbindungstechniken am HyperWerk ist das Klebeband (in der lokalen Schreib- und Sprechweise auch «Chläb band»). Der Begriff des Klebebands hat sich im HyperWerk eine Weile lang geradezu verselbstständigt und Anlass zu allerlei Ver lautbarungen gegeben. In der Folge wurde ein HyperWerk-Klebe band produziert, das für die betroffenen Jahrgänge ein beliebtes Abschiedsgeschenk wurde. Mit Klebeband wird alles an allem fixiert, meist zwar nicht für sehr lange und oft auch recht unansehnlich; aber natürlich ist die improvisierte, unperfekte Oberfläche, die den Vorgang (oder auch das Tempo des Vorgangs) zeigt, mit dem eine Anordnung erstellt wird, oft ein Identifikation stiftendes Element der Gestaltung im HyperWerk. Wir sind kein produktorientiertes Institut. Wir wollen sein, nicht haben.

Mit dieser Haltung werden dann auch die unterschiedlichen Ei genschaften der unterschiedlichen Klebebänder häufig und genussvoll ignoriert; was mir wiederum reichlich Anlass verschafft, grund legende und lehrreiche Informationen weiterzugeben.

Die Differenzierung zwischen elastischen und festen Bändern, zwischen zum Beispiel Duct Tape und Gaffer Tape, sowie die Ein schätzung, welches Klebeband aufgrund seiner Stoffschlüssigkeit auf welchem Material wie lange wie gut haftet (und sich auch wieder lösen lässt) sind Themen, die bei vielen Gelegenheiten eher neben bei zur Sprache kommen und manche grundsätzlichen Probleme lösen helfen. Aber der freie, unbefangene Umgang mit den Bändern und die daraus folgenden Beobachtungen dazu, was sie können oder eben nicht können, führen neben der deutlichen Formensprache ge legentlich auch zu überraschenden und erfolgreichen Verbindungen.

Kabelbinder und Spanngurte

Ein ähnlich polyvalentes Element der im HyperWerk hergestellten Verbindungen ist der Kabelbinder. Mit dem Kabelbinder werden schnell und mehr oder weniger elegant nicht nur Kabel und ähnli ches verbunden. Auch Bretter, Stangen, Vorhänge, Planen, Werkzeuge, Lampen und vieles mehr, das nicht nur der Ordnung und

Übersichtlichkeit halber irgendwie zusammengezurrt werden soll, sondern auch wirklich und richtig für Stabilität, für Standfestigkeit und Zuverlässigkeit sorgen muss. Wir haben unter anderem ein Boot und einige mehrere Meter hohe Ausstellungselemente lediglich aus Bambus und Kabelbindern hergestellt. Die Kombination von nur zwei Elementen – der Linie (der Stange) und dem Kreuzungspunkt (dem Kabelbinder) – ermöglicht einen erstaunlichen Formenreich tum in der schnellen Konstruktion grosser Gebilde.

Ebenso sind die grossen Brüder der Kabelbinder – die Spanngurte – nicht nur für die Sicherheit bei Transporten zuständig. Sie sind in einigen Konstruktionen des täglichen und auch des ausser gewöhnlichen Gebrauchs die Quelle der Kraft für eine kraft- und/ oder formschlüssige Verbindung.

Wegen der Sorge der Architekten um Wände, Böden und Decken im denkmalgeschützten Ateliergebäude darf an vielen Stellen nicht gebohrt, gedübelt und geschraubt werden. Hier hilft uns oft nur der überlegte Einsatz der umspannenden Kräfte unserer Spanngurte. Die ausgeklügelt primitive Technik der Rätsche zu erlernen ist ein nicht zu unterschätzendes Element im Training sowohl des räum lichen Vorstellungsvermögens wie auch der Fähigkeiten zum nid (Non-Intentional Design), die – soweit mir bekannt – in keinem Institut auf dem Lehrplan stehen.

Mit dem hohen Wiedererkennungswert der Spanngurte ist auch eine weitere, visuelle Dynamik für das HyperWerk entstanden: Immer wieder werden wir aufgefordert, Dinge im öffentlichen Raum der Hochschule aufzuräumen, die dank der typischen Verwendung der Spanngurte aussehen, als wären sie von uns. Dabei handelt es sich tatsächlich meist um bewusste oder unbewusste Plagiate – wir sind uns auch des Wertes einfacher Materialien bewusst und versu chen, stets danach zu handeln. Das heisst, wir räumen unsere Sachen immer auf. Auf jeden Fall kann nichts nur eine Funktion haben, nur einem Zweck dienen – die Dinge müssen so wie wir vieles können und sein.

Einklemmen, Stapeln und Anlehnen

Diese dritte typische Verbindungstechnik ist eigentlich und streng genommen keine im herkömmlichen Sinn. Das Anlehnen, Stapeln und Einklemmen führt aber ebenso unterschiedliche Dinge wie auch unterschiedliche Bedeutungen und Funktionen zusammen. Die schon erwähnten Bambusstangen, in der Horizontalen zwischen

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einem unterhalb der Decke verlaufenden Kabelkanal und eben der Decke selber eingeklemmt beziehungsweise verkeilt, dienen als ausgreifende Erweiterung der Arbeitsorte in den Luftraum. Sie ermöglichen feste Punkte da, wo sonst keine sind. Aufeinander gesta pelte Möbel ahmen in ihrer oft unverhofft sich einstellenden Logik das verdichtete Bauen in unserer etwas kleinräumigen Stadt nach – oder nehmen es vorweg, wer weiss. Das Anlehnen schliesslich ist die asiatischste unter den Verbindungsweisen – asiatisch insofern es so vollkommen, so selbstverständlich und unbeabsichtigt aussieht, dass mensch es nur allzu leicht übersieht und erst auf den zweiten oder dritten Blick merkt, wie physikalisch unglaubwürdig es eigent lich ist. In den letzten Jahren ist es nur noch ganz selten aufgetaucht, sodass mir jetzt auch kein Beispiel einfallen will. Oder es ist inzwi schen so perfektioniert worden beziehungsweise eben quasi auto nom so ausgereift, dass es völlig unkenntlich ist. Es ist sehr nahe am Nicht-Tun, weshalb es sich oft kaum vom Chaos abhebt, sondern sich vielmehr in dieses hineinschmiegt. Anlehnt eben. Insofern sind wir zuversichtlich, dass es auch mal wieder Konjunktur hat.

SAMSTAG, 15.09.2018

09:30 Es ist schön, in die aufwachenden Gesichter zu blicken.

10:10 Aufräumen oder frühstücken? Der Kater miaut vor der Tür.

10:30 Catherine bringt Gipfeli und rümpft die Nase über die herrschende Unordnung.

11:00 Frühstück in der Sonne auf dem Freilagerplatz.

12:20 Soll heute schon die morgendliche Rassemblage stattfin den – also gemeinsames Einturnen, Eindehnen und Auf wachen –, oder soll sie doch lieber vertagt werden? Der Morgen ist eh vorbei.

13:00 Drei Besucher*innen streunen schon durch die Ausstel lung, während die Infozentrale sich noch organisiert.

14:00 Ich gehe nachhause, um Kleider zu holen, denn ausser Schlafsack und Mätteli habe ich kurzsichtigerweise nichts mitgebracht. Das Bett zuhause ist weich.

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IN UND UM DIE KÜCHE

Würzig dampft der Linseneintopf; über das Seitangeschnetzelte fliesst Bratensauce; daneben kräuselt sich eine Handvoll knackiger Salat. Die Spitzen der karamellisierten Karotten lugen über den Rand der gelben und türkisen Emailleteller hinaus in alle Richtungen. Hier hat Hasoso geschöpft.

Das Kochkollektiv kocht für fünfzig oder hundertdreissig oder fünfhundert Hungrige. Hier sind es Mitstudent*innen, anderswo Ak tivist*innen, Festivalbesucher*innen und Passant*innen, die vegane Gerichte aus nicht marktkonformem, direkt vom Bauernhof bezogenem Bio-Gemüse essen dürfen.

Die Menschen in Leggins wir halten haus wurde vor wenigen Stunden eröffnet, und kaum stehen die Öfen und Arbeitstische von Hasoso auf dem Freilager platz, schneiden Menschen in hypnotisierend gemusterten Leggins und küchentauglichen Oberteilen Mangoldstiele und Tomaten oder sind über grüne Klappkisten und Töpfe gebeugt, aus denen sie über lange Holzkellen, Siebe und Schüsseln hervorziehen. Es riecht nach Holzfeuer, und im Radio Freilager läuft ein tschechischer Schlager. Eine*r singt Kräuter hackend mit, ohne das Lied zu kennen.

Die Schnippler*innen «Chani öppis helfe?», fragt ein*e Kunststudent*in, angezogen vom Geplapper und Geklapper unter dem offenen Zelt. Beim Schnippeln könnten sie schon noch Unterstützung brauchen, sagen jene, die be reits vor Schneidbrettern stehen. «Wie gross und für was genau mr das schnidä, wüssä mr o nid wück», beantworten sie lachend die weiteren Fragen der*s Hinzukommenden.

«Wie’s öich grad dünkt!», ruft eine*r vom Kollektiv, di*er Holz nachlegt. Der Abend bricht an, im Freiluft-wohnzimmer gehen Lichterketten an, die Kochenden juchzen freudig. Heimlich kriecht ein knallgrünes Räupchen aus dem Mangold eine Messerklinge hoch.

Die Abwascher*innen Während der Woche streunen immer wieder Hungrige um die kü che herum. Sie beobachten, zögern, fragen aber dann doch scheu, für wen gekocht werde. Es rieche nämlich so gut. Oft gibt’s Essen für

alle «so lang’s hätt und gägä Kollekte». Kaum jemensch stellt sich aber unbeteiligt in die Warteschlange und wirft bloss Münz in den mit Plastikrosen geschmückten Topf.

Denn: Wer mithilft, isst zufriedener. Und auch jene*r, di*er zu den Abwaschzubern gewiesen wird, lächelt beim Teller einschäumen vor sich hin. Jemensch, di*er dazukommt, zeigt Anerkennung durch ein Schulterklopfen. Di*er Abwascher*in schaut auf – die Hände im fettigen Seifenwasser – und stellt fest: «Jetzt fühl ich mich grad so Teil vo dem allem. Das isch schön.»

Die Gemeinschaft

Die küche ist an so manchem Anlass Rückzugsort und Mittelpunkt des Geschehens zugleich. Aus Platzmangel sind es jedoch meist die Eingeschworenen, die dort haushalten. Wenn aber Hasoso kocht – ob hier, zwischen Ateliergebäude und verglastem Hochhaus, in Hinterhöfen, auf Wiesen oder Brücken –, dann entsteht ein grösserer Raum. Die Zeit mag sich sogar etwas dehnen für jene, die einen dieser vollen Hasoso-Teller vor sich haben. Und in den würzigen Dämpfen, deftigen Saucen und Karamellkrusten multipliziert sich unbemerkt ein Gefühl der Gemeinschaft.

Valentin*a Kobi, Diciannove

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SONNTAG, 16.09.2018

10:10 Ich komme wieder im Camp an, als alle beim Frühstück sitzen. Es hat noch ein Gipfeli.

10:30 Die Geldmacherei geht auf; Mitstreiter*innen von Hasoso treffen ein.

11:00 Die Duschkarawane zieht los: erst hoch ins HyperWerk und dann, gerüstet mit bunten Frottéetüchern und frischer Wäsche, quer über den Freilagerplatz. Ein bisschen unheimlich ist es ja schon, dass im Hochhauskeller – zu unterst, zuhinterst – Duschkabinen eingebaut sind.

11:40 Hotel Regina baut eine Radiostation auf, um sie sogleich wieder abzubauen. Erst muss ein Studiozelt her. Der pas sende Radioturm wird nicht fertig und liegt somit die nächsten fünf Tage unfertig im Weg rum.

14:30 Hasoso schält seit zwei Stunden Karotten und Kartoffeln.

16:30 Das Feuerwehrfest gleich nebenan ist noch unspektakulärer als erhofft. Nicht einmal Harassenklettern wird angeboten.

17:10 Unsere intern geplante Feuerschulung fällt leider ins Wasser.

18:00 Die Gäste für den Langen Tisch treffen ein; doch der muss erst noch von allen gebaut werden.

18:30 Engpass an Handsägen.

18:50 Engpass an Akkuschraubern.

19:00 Die langen Schrauben sind aus; wie ein überlanger Tatzelwurm zieht sich der Tisch die Stufen hinab und schlän gelt sich an Blumenkisten vorbei. Pünktlich können sich über 80 Menschen zum Essen setzen. Viele grosse Töpfe, Schüsseln und Schalen werden herumgereicht.

23:00 Heute zwängen sich 16 Leute ins Schlafzelt; es ist eng, trotz optimierter Liegeplatzverteilung. Wenn sich jemand dreht, wackelt der ganze Turm in eigenartigen, kreiselnden Bewegungen. Links von mir schnarcht Jannis, rechts Liam; wenn ich mich auf den Bauch drehe, ist es umgekehrt.

VON DER GUTEN HAUSWIRTSCHAFT

ZUR GESELLIGKEIT

Ökonomie und Konvivialismus

Sokrates:

«Und wenn nun jemand ein Pferd kauft, es aber nicht zu reiten versteht und herunterfällt, so daß er einen Schaden davonträgt, ist ihm das Pferd dann kein Besitz?» Kritobulos: «Nein, da wir ja unter Besitz etwas Gutes verstehen!»

Xenophon, Oikonomikos – Die Hauswirtschaftslehre (geschrieben zwischen 390 und 355 v. Chr.)1

Xenophon lässt seinen Lehrer Sokrates mit einem gewissen Krito bulos über die Haushaltung diskutieren, über oikonomia, die Lehre der guten, sittlichen Hauswirtschaft. Der Dialog aus der Frühzeit des Nachdenkens über Wirtschaft bleibt uns letztlich fremd; wir bewe gen uns zeitlich und kulturell in einem fernen Land. Doch wir können mit Elementen des Textes Gedankenspiele unternehmen und uns so dem Text nähern. Im einführenden Zitat wird jemandem der Besitz eines Pferdes abgesprochen, nur weil er es nicht selbst reiten kann. Für uns eine fast schon absurde Vorstellung – Besitz wird heutzutage wohl nur in Ausnahmefällen mit dieser Art von Sinnhaftigkeit und Moral in Verbindung gebracht.

«Damit willst du wohl sagen, mein lieber Sokrates, daß auch das Geld nur dann ein Besitz ist, wenn man versteht, es zu gebrauchen.» […]

«Wenn man also das Geld nicht anzuwenden versteht, mein lie ber Kritobulos, dann soll man es so weit von sich fern halten, daß es überhaupt nicht als Wertbesitz in Frage kommen kann.»2

Nur wer den rechten Gebrauch kennt und die moralischen Normen versteht, kann Geld besitzen.

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Was ist jedoch mit dem*r Banker*in, di*er eine Stradivari-Geige er steigert, um sie einem*r begnadeten Violinisten*in als Leihgabe zur Verfügung zu stellen? Welche Werte werden hier befolgt, welche Ziele verfolgt?

wir halten haus! Haushalten oder das haus halten? Geht es um Bewirtschaftung oder um Besitz? Für Xenophon ist die Antwort klar:

«Was sagst du also dazu, mein lieber Kritobulos», entgegnete Sokrates, «wenn ich dir zuerst nachweise, daß die einen mit viel Geld unpraktische Häuser bauen, die anderen aber mit viel weniger Aufwand solche, die alles Notwendige haben. Meinst du, daß ich damit eine von den Aufgaben des Hausverwalters getroffen habe?»3

Auch John Locke, der frühe englische Aufklärer und Philosoph, ver tritt im ersten Abschnitt Das Eigentum seiner Abhandlung Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung aus dem Jahr 1690 diese Haltung:

So viel Land ein Mensch bepflügt, bepflanzt, bebaut, kultiviert und so viel er von dem Ertrag verwerten kann, so viel ist sein Eigentum. Durch seine Arbeit hebt er es gleichsam vom Gemein gut ab.4

Das Eigentum wird durch das eigene Tun erschaffen, und als ein Na turrecht werden die Produkte dieses Tuns zum Eigenen. Durch die eigene Bewirtschaftung geht etwas aus dem Gemeingut rechtmäs sig auf eine Person über – aber auch nur so viel wie er gebrauchen kann. wir halten haus lässt sich als eine solche Bewirtschaftung verstehen – es wird damit Eigentum erschaffen. Das Gegenteil wäre der Besitz, der Besitz eines Pferdes, das nicht selbst beritten, eines hauses, das nicht selbst bewohnt wird. Besitz ist nur die Macht über etwas – bei Xenophon ist dies kein verantwortungsvolles Verhalten –, keine Ökonomie als ein sittlich-gesellschaftliches Haushalten. Nach Locke wird sich das Verhältnis rasch kehren, und bei Adam Smith beginnt das individuelle Gewinnstreben in einer «göttlichen» Verdrehung, allen Menschen zu dienen. Die unsichtbare Hand, die durch das Marktgeschehen den gesellschaftlichen Reichtum erhöht, fördert Dinge, die in keiner Weise individuell beabsichtigt waren.

Das Gemeinwohl wird durch die «Vorsehung» des Marktgeschehens gesichert, und das individuelle Glück wird dadurch begründet. Damit beginnt etwas sich zu verdrehen, an dessen Folgen wir heute alle leiden. Hannah Arendt stellt 1958 in Vita activa im Ver gleich zur klassischen Antike eine Umkehrung der gesellschaftlichen Verhältnisse fest:

Insofern die moderne Gesellschaft das menschlich Persona le zur Privatsache und den Warenhandel zu einer öffentlichen Aktivität gemacht hat, beruht sie in der Tat auf einer genauen Umkehr der gesellschaftlichen Verhältnisse in der klassischen Antike.5

Mit der Begründung der Politischen Ökonomie wird die Lehre der Hauswirtschaft auf den Staat und die Gesellschaft erweitert. Doch zuvor bezeichnet der theologische Begriff der Ökonomie im Werk von Paulus die Leitung und Verwaltung der Welt durch Gott. Wie Giorgio Agamben gezeigt hat, wurde diese anfangs religiöse Anwendung des Konzepts in den Zeiten des Absolutismus im Abendland erweitert und nahm die Form des souveränen und allgemeinen Ge setzes an, das Menschen regiert.6 Die zunehmende und heute von globalen Unternehmen angeführte biopolitische Ökonomisierung des modernen Menschen gründet auf dieser unsichtbaren Verbin dung zwischen der distributiven Hand des Marktes und der verwaltenden Hand des vergöttlichten Staatsmannes. Heilsgeschichte wird zu Ökonomisierungsgeschichte, und die Wirtschaft avanciert zur modernen Vorsehungsmaschine. Mit der Geburt des wirtschaftlichen Menschen (homo oeconomicus) bestimmen nun das gren zenlose Profitmachen, der Drang nach immer mehr Wachstum und der exzessive Verbrauch von Ressourcen alle Bereiche menschlicher Beziehungen.

Aber zurück zum Ursprung des Begriffs. Das Wort Ökonomie wird abgeleitet von oikos, der Hausgemeinschaft. Oikos umfasst damit nicht nur das haus als Gebäude, es schliesst auch dessen Bewohner*innen, das Umland mit den bewirtschafteten Feldern und den Tieren, sowie die beweglichen Gegenstände im und um das haus mit ein. Es meint eine Gemeinschaft menschlicher und nicht-menschlicher Akteure. Ein Mikrokosmos, der exemplarisch für die ganze Gesellschaft steht, aber auch die Gesellschaft als Ansammlung von verbundenen Hausgemeinschaften begreift.

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Auch der Begriff der Ökologie ist von oikos abgeleitet, als Wortzu sammensetzung in etwa die Logik oder den Sinn der Hausgemein schaft benennend. Seit dem 19. Jahrhundert ist damit die Erforschung der Beziehungen zwischen Organismen untereinander und zur un belebten Natur gemeint. Heute wird Ökologie mehr oder weniger als Synonym für Umweltschutz verwendet, und der Begriff hat eine grundlegende Verschiebung erfahren. Ökologie handelt nicht mehr von den komplexen Verkettungen der Beziehungen zwischen den Dingen. Ökologie steht heute für Messgrössen wie den co ₂-Abdruck, die Klimaveränderungen und die Ressourcenverknappungen. In den Nachhaltigkeitsdiskursen sprechen wir seit der Rio-Konferenz7 1992 von sozialen, ökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeiten und lösen in der Umsetzung zuerst die Bereiche und ihre Ziele vonein ander ab, um sie dann in Beziehung zueinander setzen zu können. Félix Guattari hat diesem Verständnis von Ökologie die Ökosophie8 gegenübergestellt, übersetzt: die Weisheit der Hausgemeinschaft. Er unterscheidet die mentale, soziale und die Umwelt-Ökologie, wel che «unter der ethisch-ästhetischen Ägide einer Ökosophie» steht. Die einzelnen Bereiche sind geprägt von diskursiven Verkettungen. Letztlich fordert er die Praxis einer miteinander eng verbundenen sozialen, mentalen und im Sinne der Nachhaltigkeit verstandenen ökologischen Sorge und Veränderung.

Die Umwelt-Ökologie, wie sie heute existiert, hat meines Erachtens die verallgemeinerte Ökologie, die ich befürworte, nur an gedeutet und lässt sie erahnen. Diese wird zum Ziel haben, die sozialen Kämpfe und die Art, die eigene Psyche anzunehmen, radikal zu verschieben.9

Können wir als Gestalter*innen «das haus halten»? Und was wäre dessen Praxis und Bedeutung? Die Praxis wäre, eine scheinbar all tägliche Arbeit des Miteinanders zu üben, die diskursiven Ketten des Selbst, des Sozialen, des Ökologischen zu verfolgen, Lebensqualität unmittelbar im eigenen Umfeld zu verbessern und die eige ne Lebenswelt zu gestalten. Kochen und Essen als integrale Arbeit zu verstehen, sich den Nahrungsmitteln, den Arbeitsgeräten, dem Abwasser oder dem Müll anzunähern und die Zusammenarbeit, die Gespräche, die Einzigartigkeit der Subjekte zu zelebrieren, um das Ineinandergreifen der Sphären des Mentalen, des Sozialen und der Umwelt zu gestalten. Die soziale Praxis wäre, Sorge auszuüben.

Was ist Sorge, was Musse, was Konsum? Wann arbeite ich und wann lebe ich, oder sind beide untrennbare Facetten? Um sich selbst sorgen, ist das Arbeit? Wenn du einen Nachmittag mit einem Freund verbringst, diesem zuhörst, sorgst du für ihn? Sorgst du für dich? Sorgt ihr füreinander oder habt ihr ein fach eine gute Zeit? Und wenn es eine gute Zeit ist, arbeitest du dann nicht? Die Sorge durchquert eher routinierte Aktivitäten, manchmal langweilige, manchmal unangenehme und manch mal sehr genussvolle. Sorge ist Transversalität.10

Auch der Begriff der Konvivialität beschreibt die Hausgemeinschaft als eine Kunst des transformatorischen Zusammenlebens.

Von der Produktivität zur Konvivialität übergehen heisst, ei nen ethischen Wert an die Stelle eines technischen Wertes, einen realisierten Wert an die Stelle eines materialisierten Wertes setzen.11

Nicht die Produktivität und ihre Produkte, sondern die realisierte nachhaltige Gemeinschaft wäre das Ziel. Wissend, dass Gemein schaft heute eine fluide, diverse und offene Grösse darstellt, stehen wir in Abgrenzung zu geschlossenen und nostalgisch überhöhten Gemeinschaften der Vergangenheit. Da ist unser Leitmotiv auch nicht mehr der griechische Hausherr, der tagsüber zur politischen Arbeit für die Polis verpflichtet ist und als Patriarch die Familie, die Sklaven, die Tiere und das Land gut bewirtschaftet. Hier würden wir über den Text des Xenophon und die antike griechische Realität hinausgehen und versuchen, etwas zu verstehen, was uns fremd bleibt. Denn für die heutige Realität bleibt das Bild einer zwingenden Ver bindung von Wertvorstellungen und Verantwortung mit dem Begriff des guten Wirtschaftens verbunden.

Kritisches Design umfasst Praktiken des Zusammenlebens. Das Diplomcamp der Diciassette – das «Haushalten» – ist als eine solche Designaktivität zu verstehen. Die Qualität liegt in der sinnlichen Pro duktion und im ständigen Üben dieses temporären und konvivialen Lebens. Dessen sinnliche Wahrnehmung und das daraus resultierende ethische Verhalten ist aus sich heraus als Ästhetik zu verstehen.

Sotirios Bahtsetzis, Kunstwissenschaftler und freischaffender Kurator Prof. Max Spielmann, Dozent HyperWerk

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1 Xenophon, Oikonomikos – Die Hauswirtschaftslehre.

In: Michael S. Aßländer, Bernd Wagner (Hg.): Philosophie der Arbeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Berlin 2017, S. 44

2 ebenda S. 45

3 ebenda S. 50

4 ebenda S. 157f.

5 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 1981, S. 267

6 Giorgio Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologi schen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo sacer II.2). Berlin 2010.

7 Konferenz der un für Umwelt und Entwicklung, Rio de Janeiro, 3.-14. Juni 1992. Die Auftrennung in die unterschiedlichen Nachhaltigkeiten und damit das Verständnis für die Zusammenhänge von Umwelt und Entwicklung gehen zurück auf den sogenannten Brundtland-Report aus dem Jahr 1987.

Félix Guattari, Die drei Ökologien. Wien 1994, S. 32

ebenda S. 48

Precarias a la deriva, Globalisierte Sorgen. In: Ökologien der Sorge. Wien 2017, S. 43

11 Walter Oswalt, No mono. Münster 2017, S. 41

MONTAG, 17.09.2018

07:00 Ich wecke Moritz. Mit aller Vorsicht staksen wir über die dösenden Schlafsackraupen und klettern unter Gewackel die Leiter hinunter.

07:10 Kabel entwirren und hoffentlich auf Anhieb am richtigen Ort einstecken. Ein xlr -Kabel fehlt.

07:20

Das Stromkabel fürs Weckradio reicht nicht bis unters Schlafzelt. Bei welchen Installationen können wir schnell eins klauen? Die Camp-eigene Kabelkiste ist seit drei Ta gen verschollen.

07:30 «Guete Morge, da uf Radio Freilager. S’Wätter isch schön, d’Sunne spieglet sich i de Glasfront vum Food-Cul ture-Lab.» Die erste Morgenshow geht auf Sendung.

10:00 Das Frühstück geht über in die Tagesbesprechung. Die Aufgabenpins werden verteilt: Adlerhorst, Küche, Care &Awareness, Abwaschkönigin, Datenbank, und weitere.

12:00 Die Sitzung ist endlich zu Ende. In der Küche brät Hasoso Seitan an.

12:30 Das Mittagessen für die ganze Schule steht bereit.

15:00 Auf der Bühne im Wohnzimmer werden die Teppiche neu drapiert und Audiokabel verlegt.

16:30 Füllen der Planschbecken. Parallel zum heutigen Konzert der Blue Bones findet ein Synchronschwimmen statt.

17:00 Es ist unklar, ob das Konzert stattfinden kann, da wir keine polizeiliche Bewilligung haben. Die Care&Awareness-Leitung zeigt sich zuversichtlich.

19:00 Stromausfall im Ostflügel! Die Radiostation und zrsins Velosimulation verstummen.

19:30 Mit einer halben Stunde Verspätung beginnen The Blue Bones, während die meisten Gäst*innen schon beim Es sen sitzen.

20:20 Das Synchronschwimmen startet in die erste Runde. Es treten an: Gruppe Lustvoll im Wasser gegen Gruppe Ananassalat.

21:30 Das Konzert ist zu Ende, und die Pokale für die Synchron schwimmer*innen werden verliehen. Kein*e Nachbar*in hat verärgert angerufen.

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TRÄUMEN MIT DEN DRACHEN

Als ich am ersten Tag meines zweiten HyperWerk-Jahres den Vor platz der Hochschule für Gestaltung und Kunst erreiche, ist er dicht besiedelt. Vom Empfangsbereich und der Infozentrale über die Aussenküche und den Nächtigungsturm bis hin zum Baubüro und den unterschiedlichsten Installationen findet sich alles wieder, was ich nur wenige Wochen zuvor in Modellform gesehen hatte.

Damals durfte ich am Institut HyperWerk den gerade diplomie renden siebzehnten Jahrgang mit einer Arbeitsmethode namens Dragon Dreaming begleiten. Diese Projektmethode setzt auf die Kraft unserer Träume und Visionen, um den Sog der Zukunft zu nut zen. Der Name deutet auf die Auseinandersetzung mit den «Dra chen» hin, die uns daran hindern, unsere Träume zu verwirklichen. Diese Methode wurde in Australien entwickelt und ist inspiriert von Einsichten der Chaos- und Komplexitätstheorie sowie der System theorie und der indigenen Aborigines.

John Croft, der Begründer der Arbeitsmethode, ist ein interna tional anerkannter Trainer und Berater, der 40 Jahre lang auf dem Gebiet der ökologisch nachhaltigen Bildung und wirtschaftlichen Entwicklung von Gemeinschaften gearbeitet hat.

Der Dragon-Dreaming-Prozess führt durch vier Phasen: Träu men, Planen, Umsetzen und Feiern. Er beschreibt einen kollektiven Entwicklungsprozess von Projektbeginn bis Projektende. Dabei liegt ein Fokus darauf, dass die Projektteilnehmer*innen während des Ar beitsprozesses mit dem Ursprungstraum verbunden bleiben. Durch die Kraft der Anerkennung bleibt die Gruppe in einem energetisch hohen Zustand. Diese gemeinschaftlich erzeugte Energie kommt wiederum dem Projekt zugute.

Die Diciassette hatten zu diesem Zeitpunkt bereits einen län geren Prozess durchlaufen, aus dem die Vision für eine gemeinsa me Diplomausstellung in Form eines Camps hervorgegangen war. Nun sollte diese Vision über einen erneuerten Strategie- und Um setzungsplan in eine gelebte Realität finden. Die Diplomierenden erarbeiteten einen Karabirrdt, einen bildnerischen Vorgehensplan. Dieser Karabirrdt wird im Rahmen des Dragon Dreaming in einem spielerischen Prozess entwickelt und liefert Angaben zu Arbeitsgrup pen, Verantwortlichkeitsbereichen, Aufgabenbeschrieben, Ressourcen- und Zeitmanagement.

Wenn beim Dragon Dreaming von «Feiern» gesprochen wird, dann meint das in erster Linie eine Form der verbalen oder nonverbalen Anerkennung für das, was im Entwicklungsprozess bereits verwirklicht wurde. Dies geschieht durch ein wiederkehrendes, gemein schaftliches Innehalten während des Arbeitsprozesses. Die Freude aus diesen gemeinsamen Momenten beflügelt den Arbeitsfortschritt und hilft den Projektteilnehmer*innen bei der Rückverbindung zum Ursprungstraum.

Was der Gruppe meiner Ansicht nach fehlte, als ich sie im Mai 2018 zu einer ersten Arbeitsrunde traf, waren eine emotional nicht in den Prozess involvierte Begleitung und eine gemeinschaftsdienli che Arbeitsmethode. Als Aussenstehender konnte ich in diese Rolle schlüpfen. Irgendwie harzte es im Entwicklungsprozess. In der Rolle des Moderators konnte ich die Gruppe dabei unterstützen, zur Ruhe zu kommen und sich auf ihren Herzenswunsch zu konzentrieren: auf die Verwirklichung ihres Diplomcamps. Ich habe immer wieder erlebt, wie Gruppen sich ohne konkrete Vorgehensweise und Mode ration in Diskussionen, Debatten und mehr oder weniger bewussten Ego- und Machtkämpfen verirren.

In meinen bisherigen Erfahrungen mit dem Dragon Dreaming konnte ich feststellen, dass es grosse Klarheit in Gruppenprozesse hineinbringen kann. Mühsame Sitzungen und Diskussionen zur Projektentwicklung werden durch klar definierte Vorgänge abgelöst, die allen Projektteilnehmer*innen die Möglichkeit bieten, gehört zu werden. Dies stärkt das Gemeinschaftsgefüge und sorgt dafür, dass alle Visionen in die Projektentwicklung mit aufgenommen werden. Darüber hinaus werden die einzelnen Akteur*innen des Projekts im Arbeitsprozess stets in Eigenverantwortung genommen, indem sie nicht nur Ideen mit der Gemeinschaft teilen, sondern sich auch zu deren Umsetzung bekennen.

Der Prozess ist so aufgebaut, dass alle Projektteilnehmenden mög lichst direkt in ihren Arbeitsbereich hineinfinden, um wirksam zu werden. Hierarchische Strukturen gibt es keine; stattdessen treffen die verschiedenen Arbeitsgruppen ihre Entscheidungen autonom und pflegen in gemeinschaftlichen Zusammenkünften den Aus tausch mit den anderen Arbeitsgruppen. Dort können auch Themen beraten und Entscheidungen getroffen werden, die der Zustimmung der gesamten Gemeinschaft bedürfen.

Eine gesunde anfängliche Skepsis der Diplomierenden gegenüber mir und dem erst einmal esoterisch anmutenden Werkzeug

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Dragon Dreaming löste sich nach meinem Eindruck mit dem kol lektiv erlebten Arbeitsfortschritt allmählich auf.

An diesem 17. September 2018 schlenderte ich also durch das Diplomcamp der Diciassette und freute mich zu sehen, wie gut or ganisiert und strukturiert sie dieses Camp umgesetzt hatten. In mir entstand das Bild einer funktionierenden Gemeinschaft, die es nicht versäumt, ihren individuellen Aufgaben rund um die auf dem gesam ten Platz installierten Ausstellungsobjekte nachzukommen. Dieser Eindruck begleitete mich durch die ganze Woche des Diplomcamps. Ich begegnete vielen lächelnden, wenn auch müden Gesichtern und konnte mir vorstellen, wie wenig die Crew zwischen ihren Abschluss prüfungen und dem Aufbau des Diplomcamps geschlafen hatte. Wie gut die Gemeinschaft tatsächlich funktionierte und was den Aus schlag für dieses aus meiner Sicht auf vielen Ebenen gelungene Pro jekt gab, bleibt wohl ein Geheimnis. Gewiss war es ein Zusammenspiel von vielen verschiedenen Faktoren.

Nicht die Träume aufgeben, sondern verstehen, woran sie bisher gescheitert sind.

DIENSTAG, 18.09.2018

07:30 Die Morgenradioshow startet pünktlich mit Ennio Morri cones Once Upon a Time in the West.

08:20 Die morgendliche Rassemblage startet verspätet in den Tag.

10:00 Ort4Art öffnet ab heute eine halbe Stunde später.

10:30 Einige Gipfeli von Catherine bleiben übrig.

11:50 Welchen Tag haben wir heute? Es kann ja kaum sein, dass wir schon vier Nächte im Camp schlafen!?

14:00 Die Sonne brennt heiss.

16:00 Heute soll der Venti -Apéro stattfinden, also Bier und Wein für die neuen HyperWerk-Studierenden. Natürlich im Camp, denn dieses gilt seit Neustem als Blaupause des postindustriellen Studierens.

16:20 Ein Fussballspiel auf dem Freilagerplatz bringt die Pla nung und Vorbereitung des Venti-Apéros durcheinander. Sportreporter Balz hängt am xlr -Kabel und kommentiert das Spiel live.

16:47 Eine Bluttfuss-Asphalt-Kollision unterbricht das Spiel unmittelbar bevor der Apéro offiziell startet.

17:10 26 frische HyperWerk-Studierende stolpern mit Kopf hörern durch das Camp, verstecken sich hinter Ausstellungsobjekten, geben seltsame Geräusche von sich.

17:20 Kollektiv schreien alle Venti nach Regina. Sie ist nicht da.

17:30 Bierfässer werden angezapft – zumindest sprichwörtlich. Es gibt Getränke und vielerlei Hummus.

19:30 Das Abendessen wird allgemein als überflüssig dekla riert und für heute gestrichen. Wer trotzdem Hunger hat, streicht sich ein Butterbrot.

20:20 Der einzige Anruf der ganzen Woche auf das Notfalltele fon bleibt unbeantwortet.

00:20 Aus der Zeltluke beobachten wir eine verzweifelte Frau, die auf einem E-Bike über den Platz düst und nach ihrem iPhone schreit. Siri antwortet nicht.

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KALEIDOSKOP

Einmal schütteln – im Kreis. Wohin gehen wir, wenn wir schlafen?

Ich schlage die Augen auf und erblicke ein rund gerahmtes Stück Himmel. Ein Blau zum Einsaugen schön. Mitte September. Wir haben Glück mit dem Wetter. Haben ein bisschen gepokert und verdrängt, wie es auch hätte werden können. Doch der Sommer ist uns gutgesinnt, und nachdem er uns bereits viele heisse Wochen geschenkt hat, verlängert er sich für uns noch um ein paar Tage mehr. Ein Schlafsack raschelt. Ich ziehe meine Arme aus der Wärme und drehe mich auf den Bauch. Eine farbenfrohe Landschaft aus schlafenden Menschen umgibt die Öffnung, die sich vor mir auftut. Neben steilen Kniebergen und ruhig atmenden Hügeln ragen hie und da zerzauste Haare hervor. Schräg gegenüber blinzelt mir ein verschlafenes Augenpaar entgegen. Unter uns knistert und rauscht es leise. Flach, mit den beiden runden Lautsprechern nach oben gerichtet, liegt ein alter Stereoradiorekorder auf dem türkisblauen Teppich, die Antenne verbogen und wie ein einzelner Fühler in die Höhe gestreckt. Zwei Schlafsäcke liegen bereits zusammengesunken und verlassen auf ihren Mätteli. Die beiden Ausgeflogenen sitzen unweit auf silbrigen Stühlen, schlürfen Kaffee und wählen ein erstes Lied – Radio Freilager. Die ersten Töne erklingen. Die Melodie ringelt sich aus den Lautsprechern, steigt zu uns hoch, um langsam den Schlaf und die zähflüssige Müdigkeit zu vertreiben. Der Tag beginnt, beschleunigt langsam seinen Lauf. Wie ein vertonter Sonnenaufgang, dessen sanfter Widerhall sich in der asphaltierten Weite um uns herum verliert. Nach und nach entfaltet das Stück seine Fülle, und die Schlafsacklandschaft beginnt sich zu regen. Die Schlafenden tauchen auf und kehren zurück unter die weisse Kuppel. Münder gähnen und Arme strecken sich, ein Reissverschluss surrt. «Guete Morge, hesch guet gschlafe?» Erste leise Gespräche. Bruchstückhaft wird ein lustiger Traum nacherzählt. Im Kreis liegend lachen wir. «Wär isch eigentläch Care und Awareness gsi, wär het z Hän dy gha ledscht Nacht?» Die Frage führt zu einer Schilderung kurioser Erinnerungen. Mittlerweile stehend und wild mit den Armen gestikulierend, erzählt jemand von einer nächtlichen Besucherin, die mit ihrem E-Bike auf dem Platz hin und her gebraust sei und hysterisch nach ihrem verlorenen Handy geschrien habe. Ich setze

mich auf. Der Erzählende ahmt das zischende Geräusch des immer wieder vorbeiflitzenden Velos nach und untermalt das Ganze, in dem er mit den Händen die zurückgelegten Strecken nachzeichnet: Aufgeschreckt und beunruhigt von dem Gezeter ist er dem Abgrund entlang balancierend über schlafende Hügel geklettert. Sorgfäl tig hat er sich, zwischen noch dunklen Kniebergen und zerzausten Haaren einen Schritt vor den anderen setzend, einen Weg gebahnt. Das Holz knarrte, und die gesamte Plattform schaukelte leicht – wie ein Schiff auf offener See. Zwischen Lino und Leon angelangt, hat er leise das Verdeck der Luke zur Seite geschoben, um vorsichtig die Leiter hinabzuklettern. Ebenfalls angezogen von dem ungewöhnli chen Lärm stand auf den Stufen des Vorplatzes bereits ein Security und beobachtete verwundert das Schauspiel. Unser Erzähler grüsste und stellte sich neben ihn. Ihre Köpfe folgten still dem wirr hin und her brausenden Velo, bis es schliesslich abbog und die Wortfetzen der Fahrerin sich in der Ferne verloren. Die beiden unterhielten sich noch eine Weile; vielleicht, um die entstandene Stille zu füllen. Ein Gespräch mitten in der Nacht auf dem Platz, auf dem es nie ganz richtig dunkel wird.

Im Radio verklingt gerade das zweite Stück, und es folgt, – wie es sich für eine richtige Morgensendung gehört – eine geballte Ladung Gute Laune, bei der sich zuhörender Mensch schon mal wun dert, wie Andere bereits so wach sein können. Munter werden der Tag und die Zuhörer*innen begrüsst, das Wetter angekündigt, der Verkehr vermeldet. Durch die weissen Stoffwände hinter mir sind entfernte Schritte und Stimmen zu vernehmen: Wahrscheinlich hat das Tram gerade eine Ladung Studierender ausgespuckt. Ich spähe durch den Spalt unter dem Zelt und sehe, wie die Menschen um die Ecke des Hochhauses strömen, über den Platz marschieren und die wenigen Stufen auf die Plattform nehmen, um dann unser Camp zu durchqueren. Auf dem Grundriss hat das Baubüro weise vor ausschauend ebendiese morgendliche Anflugschneise mitbedacht, sodass der Haupteingang des Ateliergebäudes trotz unüblicher Objekte mühelos erreicht werden kann. Ich versuche, die Uhrzeit zu schätzen. Ein junger Mann zückt sein Handy und knipst unsere Wäsche, die auf einer quer über den Weg gespannten Leine sanft im Morgenwind baumelt und auf die wärmende Sonne wartet. Im Ra dio ist Raten gefragt. Es werden Abschnitte aus verschiedenen Di plomarbeiten vorgelesen, und eine morgendliche Gästin bei Radio Freilager soll raten, von wem diese Zitate jeweils stammen könnten.

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Als die Gästin nach vier zielstrebigen Antworten ins Stocken gerät, suchen wir unter Kissen und in den Säcken noch leerer Hosen nach einem Telefon und rufen an unter die blaue Plane, ins Studio. Plötzlich hören wir alles doppelt und dreifach, es knistert und rauscht; wir verstehen gerade noch, dass wir unser Radio leiser stellen sollen. Doch niemand ist schon parat hinunterzuklettern, und so beenden wir den Anruf möglichst schnell wieder. Um dann doch kurze Zeit später aufzustehen.

Solche Erlebnisse erfüllen meine Erinnerung an diese aussergewöhnliche Woche. Ein grosser Strauss von Momenten mit ganz unterschiedlichen Qualitäten. Wie in einem Kaleidoskop fügen sich verschiedene Dinge zu immer neuen Kompositionen zusammen.

Zu jeder dieser Kompositionen und zu jedem der darin befindli chen Dinge lassen sich unzählige weitere Geschichten erzählen. Zum Beispiel die des türkisblauen Teppichs, sowie die all der kleinen und grossen Menschen, die ihn entstehen liessen. Wie er langsam grö sser und einladender wurde. All die Gespräche, die in ihn verwoben sind, und wie wir am Morgen aus den Schlafsäcken den Fortschritt und die teilweise entstandenen Unregelmässigkeiten begutachteten. Oder die Geschichten über den Zufall als Mitgestalter. Wie die Dis kokugel an der Vernissage ihren Weg in das Schlafzelt fand und später, an einem anderen Abend, das kollektive Fussbad verzauberte. Die Geschichte von dem köstlichen Essen und dem Langen Tisch, der ebenfalls durch viele helfende Hände entstanden ist. Von der Stimmung, die dabei entstand: wie bei den Vorbereitungen zu einem grossen Fest, kurz bevor die Gäste eintreffen. Wie der Tisch schliess lich über die grossen Stufen der Plattform hinabführte und weit auf den Platz hinausreichte, und wie wir dann alle selber zu Gäst*innen wurden. Davon, wie die Bereitschaft von Jung und Alt, sich einzulas sen und mit anzupacken, mich überwältigte und glücklich machte. Es sind die Momente, in denen Improvisation auf sorgfältige Vorbe reitung traf. Und es sind vor allem die beteiligten Menschen, durch die diese Momente erst ihre Fülle entfalteten, die mir am meisten geblieben sind.

Gemeinsam haben wir das Kaleidoskop geplant und gebaut, ein herausfordernder und vielschichtiger Prozess, der uns auf verschlungenen Wegen zu ebendiesem Camp geführt hat. Innen drei Spiegelstreifen angebracht, die einander jeweils an ihrer Längskan te berühren. Das Camp bot uns das Gefäss, in das wir kleine farbige Dinge hineinlegten: Fragmente verschiedenster Formen und

Materialitäten, gesammelt und gefunden während unserer Zeit am HyperWerk. Diese spiegelten sich mehrfach, liessen Muster sichtbar werden, die sich durch Drehen oder Schütteln immer wieder veränderten. Reichhaltig, vielfältig, farbenprächtig, vergänglich, flüchtig, experimentell, sich ständig wandelnd und lebendig.

Diese Tage waren vieles, vieles auf verschiedenen Ebenen. Gleichzeitig waren sie sehr einfach. Wir haben eine Woche zusammenge lebt, ausgehalten – sichtbar, ausgesetzt. Wir haben einen Raum im Raum geöffnet, dem Vorplatz eine andere Ausstrahlung geben, ihn bewohnt und mit Leben erfüllt. – Ein Abschluss und ein Aufbruch.

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07:10

Seit zehn Minuten suche ich meine Socken. Ich finde sie schliesslich im Getriebe der Velosimulation.

07:40 Das Radio unterm Zelt rauscht heute besonders stark. Die philosophischen Betrachtungen eines Birnenkerngehäu ses bleiben unverstanden.

11:00 Janick, die treue Diciannove-Seele, sitzt seit zwei Stunden hinter dem Pult in der Infozentrale und program miert die Stempel für die heutigen Programmpunkte –ganz analog; ähnlich wie das Setzen einer Zeitung, bloss im Mikrobereich.

11:20 Moritz sammelt dreckige Unterhosen und verschwitzte T-Shirts ein: Heute macht er allgemeinen Waschtag.

13:30 Zum ersten Mal haben wir eine Stunde Zeit, um einfach nur so dazusitzen. Es ist ganz schön anstrengend, ein Camp nur schon am Funktionieren zu halten: Aufstehen, Aufräumen, Essen, Sonnencrème einschmieren, Kochen, Abwaschen, Koordinieren, Aufräumen, Planen, Putzen, Verhandeln, Sonnendächer spannen, Aufräumen, Papierenes vor Regen retten.

15:00 Die frische Wäsche flattert im Wind und verbreitet italie nisches Hinterhofflair.

17:00 Die Rekrutierung der sagf ( Schweizer Armee für Ge meinschaft und Frieden) beginnt mit einer langwieri gen Begrüssungsrede (soll so sein) und demotivierten Rekrut*innen (soll auch so sein). Der Sporttest sowie die Tauglichkeitsprüfung zu sozialer Interaktion folgen. Im anschliessenden Rekrutierungsgespräch werden alle aufgenommen. Doppelt tauglich!

18:40 Wir laben uns an der Sirupbar.

20:10 Die Vorhut von Sturmtief Fabienne überflutet das Camp. Das Abendessen findet im überdachten Wohnzimmer statt; der Weg von der Küche dorthin wird zum Stafettenlauf im Zweiergespann mit Teller und Schirm.

22:00 Spontaner Jam-Abend unter dem Küchenzelt. Zwischen fermentierten Gurken und überdimensionalen Suppen kellen krächzen wir den Rösti-Blues.

VISITING HYPERWERK

Ein Reisebericht in drei Stationen

Anfänge

Als ich im frühen Sommer 2018 angefragt wurde, ob ich Mitglied der externen Jury für die Diplomprüfungen sein mochte, musste ich erst nachschauen, was genau eigentlich am HyperWerk studiert und ge macht wird. Als freischaffender Performance- und Theaterregisseurin war mir zwar bewusst, dass es dieses Institut gibt, doch da ich schon länger in Berlin lebe, hatte es bisher noch keine persönlichen Kontaktpunkte gegeben. Erfreut sagte ich zu. Meine erste Begegnung nach dem Blick auf die Webseite und kurzen Gesprächen mit Laura Pregger waren die 35 Diplomdoku mentationen. Im heissen August las ich über zwei Wochen verteilt diese Arbeiten im Zug, in Cafés, am Schreibtisch im büro und an anderen Orten. Ich erwähne das, weil sich mit fast jedem neuen Ort und jeder neuen Arbeit eine völlig neue Gedanken- und Erfahrungswelt der Diplomierenden auftat und mit meiner Umgebung ver schmolz. Ich weiss noch, dass ich beispielsweise am Landwehrkanal gesessen bin, als ich über den Prozess einer Veloreise von Basel nach Paris las. Das war eine der ersten Arbeiten, die ich las, und ich war erstaunt und auch etwas belustigt über meine eigenen Reaktionen: «Wie? Was? – Das ist das Thema? Aber…?»

Ziemlich schnell, nach einigen weiteren Arbeiten, begriff ich, dass am HyperWerk sehr vieles möglich zu sein scheint, was die Themen wahl und die gangbaren Wege einer Diplomarbeit betrifft. Ich war zu Beginn fast schon überwältigt von dieser Bandbreite – bis sich dann mit der Zeit Knotenpunkte, Schnittstellen und grössere The menpakete herauskristallisierten. Es gab thematische Überschneidungen in den Gruppen, die sich zusammengetan hatten, und ich fand es sehr interessant, diesen Diplomjahrgang mit seinem Jah resthema wir halten haus nach und nach und quasi über Bande kennenzulernen.

Ich versuchte, mir meiner Aufgabe als Jurymitglied bewusst, Be wertungskriterien für diese Seiten zu finden und anzuwenden; auch, um trotz deren Heterogenität eine Vergleichbarkeit zu finden. Und ich erkannte, dass der schriftliche Teil nicht für sich allein steht, son dern in Zusammenhang mit der jeweiligen Präsentation und dem Diplomcamp gesehen werden muss.

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MITTWOCH, 19.09.2018

Am Hang

Zu Beginn der Präsentationswoche seilte sich die interne und exter ne Jury an und begann, aufeinander bezogen und angewiesen, den Steilhang zu erklimmen. Zwölf Präsentationen pro Tag waren ein dichtes Programm. Hier machte ich die Erfahrung aus der Lektüre noch einmal kondensiert: Schnell wechselten Themen, Atmosphären, Auseinandersetzungen. Ging es eben noch um eine gestalteri sche Frage, kam als nächstes schon die Zukunft unseres Planeten um die Ecke. Hatten wir gerade etwas über die Erforschung eines Quartiers in Basel erfahren, ging es nun um Geld, um Schmuck oder um unbewusste Bilder, die im Videoformat sichtbar werden. Ich könnte die Reihe der Beispiele noch lange fortsetzen – aber wirklich interessant waren in jener Woche nicht mehr nur die Themen an sich, sondern die Arten und Weisen, wie sich die Studierenden je weils damit auseinandergesetzt hatten. Meine Einschätzungen der schriftlichen Arbeiten drehten sich mehrmals kolossal, weil mir nun der Diplomprozess als Ganzes greifbarer wurde und nicht nur die Eigendarstellung desselben.

Es war eine für mich neue und tolle Erfahrung, in der Seilschaft dieser Jury zu hängen und zu merken, wann andere die Expert*in nen waren, und dann manchmal selber kurz voranzugehen, wenn ich den Eindruck hatte, dass hier meine Erfahrungen und mein Hintergrund nützlich waren. Einige Arbeiten näherten sich explizit dem Bereich der theatralen Performance oder der Performance Art; sogar ein Theaterstück war inszeniert worden. Und implizitere per formative Strategien fanden sich noch häufiger. Deshalb fühlte ich mich dann doch zuhause im neuen Universum HyperWerk.

Abschluss

Am vierten und letzten Tag ging es für mehrere Stunden zur Besichtigung ins Diplomcamp, das gerade im Aufbau begriffen war. Die Exponate waren der dritte Teil der Arbeiten, der in die Beurteilung mit einfloss. In der Notenkonferenz wurden nun diese jeweils sechs Beurteilungen der verschiedenen Jurymitglieder in eine Zahl – eine Note – gegossen: ein komplexer Prozess, der an sich auch performa tive Züge aufwies; denn hier wurde soziale Realität konstruiert. Die gemeinsam beschlossenen Noten haben danach Gültigkeit, obwohl sie eben noch diskutiert worden waren und vielleicht auch hätten anders ausfallen können, wenn jemand anderes dagesessen wäre. Deshalb machen auch die beiden Jurygruppen (intern und extern)

Sinn: Insgesamt tariert sich so das Gespann mit seinen unterschied lichen Zugängen einigermassen aus. Danach war ich geschlaucht –Bewerten macht müde.

Rückblick – wir halten haus

Wenn ich jetzt aus zeitlicher Distanz – inzwischen ist es November –zurückblicke und versuche, aus dem Erlebten heraus den Bogen zum Jahresthema zu schlagen, dann fallen mir zwei Dinge auf: Erstens drehten sich viele Diplome um gesellschaftspolitische Fragen, um Fragen der Gerechtigkeit, zum Beispiel in Bezug auf Nahrungsmittel. In einer ganzen Reihe von Diplomen waren Ko chen und gemeinsam Essen wichtige Elemente. Es ist gut zu sehen, dass eine Gruppe von jungen Menschen sich solche Fragen stellt. Viele Arbeiten zeugen von feinen Antennen für das eigene Umfeld, für andere Menschen; für ein Bewusstsein davon, dass wir die Ressourcen, die noch vorhanden sind, schonen und schützen müssen. Letztlich für einen – im positivsten Sinn – haushälterischen Um gang mit dem, was uns umgibt. Wenn die Abgänger*innen des HyperWerks dieses Bewusstsein weiter entwickeln, in grössere Kontex te einbringen und damit gesellschaftliche Prozesse gestalten, dann stimmt mich das froh: ihr haltet haus!

Und zweitens habe ich letzthin diesen Satz oder vielmehr diese Sorge gehört: «Ich weiss nicht, ob ich nach der Trennung das haus halten kann.» Ein haus muss man unterhalten können, es sich leisten können. Und das passiert für mich am HyperWerk – es wird un terhalten, es sind genügend Ressourcen vorhanden. Die Bandbreite, Tiefe und Originalität vieler Arbeiten zeigen, dass dieses HyperWerk-haus Sinn ergibt und unbedingt weiter gehalten werden soll. Ich kenne keinen vergleichbaren Studiengang, der es so ernst meint mit seinem Verständnis von Bildung, das Wert auf die Persönlichkeit und die Wege einer*s jeden Einzelnen legt: haltet das haus!

Corinne Meier, freischaffende Performance- und Theaterregisseurin

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07:20 Das Aufstehen fürs Morgenradio fällt schwer. Dafür sind jetzt wegen meinem Wecker alle wach.

07:40 In der Morgenshow liest Ralf eine Geschichte von Leuten mit grossen Schuhen und macht Werbung für die Eulen spiegeleien am Mittag.

08:50 Uneinigkeit im Morgenkreis: Reichen dreissig Minuten vorig, um sich zu strecken? Ist dann eine störungsfreie Verbindung zwischen Hirn und morgenmüden Gliedern aufgebaut?

09:10 Es ist ja nicht so, dass nur Catherine Gipfeli vorbeibringt. Wir sind selber auch ganz gut organisiert. Danke.

10:30 Christian ist streng darauf bedacht, der einzige zu sein, der mit dem Putzwagen in Rasenmähermanier über den Platz fegt.

12:30 Ralf brutzelt Eulenspiegeleier, während zahlreiche Helfer*innen um ihn herumwuseln. «Etwas Paprika oder Pfeffer auf das Ei? Eine Sardelle gefällig? Ja, das ist tradi tionell. Oder etwas scharfe Sauce?» Obacht, die ist wirklich scharf – hätte ruhig wer sagen können!

13:30 Wer sich selber ein Ei brät, ist auch selber schuld – denn sofort werden einem*r fünf Teller entgegengestreckt, die Nachschlag fordern. Es ist wie in der Geschichte vom Wil den Mann, der die Leute über den Rhein tragen musste, bis er eines Tages jemanden mitten im Fluss absetzte.

17:00 Offene Finanzsitzung oder «Rechnung über unsere Dici assette». Ein fetter Knopf ins Nastuch: Finanzielles nie, nie, nie im Nachhinein regeln!

20:00 Der Teppich im Erdgeschoss des Kuppelzeltes wird fer tiggewoben. Als Belohnung erhalten wir alle ein duften des Fussbad, eine Kopfmassage und ein Lavendelkissen auf die Augen. Im Kreis sitzend, lassen wir alles wohlig über uns ergehen. – Welch ein Hippiehaufen!

01:17 Wir werden geweckt, weil ein fremdes Pärchen es sich unter dem Schlafzelt in der aufgespannten Hängematte ge mütlich macht. Als immer mehr von unseren Gesichtern im Mittelloch in der Decke erscheinen und auf die beiden herunterblicken, schleichen sie sich verschämt davon.

DER TEPPICH

Das Knistern der Freiheit liegt in der Luft. Wie vor drei Jahren, am Anfang meiner Studienzeit am HyperWerk, als ich noch grüner hinter den Ohren war. Jetzt ist es schon ein wenig anders. Ich habe manches nicht verstanden, was ich mir herauszufinden versprochen hatte, doch bin ich jetzt mit Menschen vertraut, die – so hoffe ich –auch nicht alles verstanden haben wollen. Ich bin zufrieden, dass wir als Jahrgang am HyperWerk miteinander so vertraut sind, dass ich in die Runde blickend mich selbst erkennen kann.

Ich verspüre nicht die Art von Freiheit, die mir das Herz öffnet, die mich einzusaugen vermag, die durch ein Kribbeln auf den Hand flächen fühlbar wird. Es ist die Freiheit, die im Hals stecken bleibt, die mir dumpf vorkommt und die schwierig zu fassen ist; dafür lastet sie schwer und drückt mich zu Boden. Es ist nicht Unglück, doch aufschreien vor Vergnügen mag ich auch nicht. Ich lese den Slogan «Freiheit gestalten» und spüre kein inneres Aufblühen, keinen Jubel, sondern Ruhe und Gelassenheit. Exponiert bin ich jetzt. Das zeigt auch dieses Camp. Ausgestellt – seht her, die genialen Diplomierten des coolsten Instituts in ganz Mitteleuropa. Vom HyperWerk wurden wir noch nicht wirklich hi nausgeschmissen, erst mal auf den Vorplatz verschoben. Geht doch mal ein bisschen frische Luft schnuppern, ein bisschen Freiheit spüren! An- und Abgewöhnungszeit: eine gute Woche. Eine kurze Zeit spanne für das Projekt Den Himmel sichern, damit er uns nicht auf den Kopf fällt.

Von den vorher ausgedachten genialen Würfen, mit denen ich die Welt konfrontieren und mich behaupten wollte, sind nicht vie le übrig geblieben. Erstmal habe ich mich installiert. Noch nie habe ich mich hier so wohlgefühlt, auf dem Vorplatz, Ort der jahrelangen Konfrontation, ewiges Übungsstück, Fläche des Grauens, lehrrei ches Fleckchen Erde.

Ich liege auf dem Teppich, der das Zimmer erst richtig gemütlich macht. Echt gemütlich hier, obwohl das Zimmer eigentlich gar kein Zimmer ist: Es fehlen die Wände. Im Grunde genommen sind es ein paar Teppiche auf der Bühne des Vorplatzes, überdacht mit lausigen Zeltplanen, zwischen dem alten massiven Stahlgerippe aufgespannt. «wohnzimmer» steht auf dem Grundriss des Camps, den ich despektierlich Katasterplan nenne. Die Teppiche unter diesem an ein

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DONNERSTAG, 20.09.2018

Festzelt (die Sorte mit einem Ventilator in Lastwagengrösse, um die Bier- und Bratwurstluft abzusaugen) erinnernden Vordach werden als wohnzimmer ausgewiesen. Und ich kann bestätigen: Hier ist es sehr wohnlich; es müsste nicht zusätzlich angeschrieben werden.

Die Teppiche – das Zentrum dieser Inszenierung – liegen nor malerweise in unserem work genannten atelier . Das work ist dermassen mit Kladderadatsch zugestellt, dass das Putzpersonal die Räumlichkeiten zu Recht längst meidet. So konnte sich der Staub ungefährdet in diese Teppiche einnisten und tat es nicht zu knapp. Mich grauste es immer vor den Teppichen, und ich blieb ihnen möglichst fern. Erst hier unten auf dem Vorplatz können sie ihren Charme entfalten, und wir verfallen ihm.

Im Camp gibt es noch ein zweites wohnzimmer ; ein inoffizielles, das nicht als solches auf dem Katasterplan eingezeichnet ist. Es lässt das erste in Sachen Gemütlichkeit weit hinter sich. In dem unübertrefflichen Wohligkeitsgefühl, das dieser Raum zu erzeugen vermag, verschwindet die allgegenwärtige Betonwüste des Vorplatzes. Ein mediterranes Meer erscheint, trockener harziger Wind, Schatten unter dem Kieferndach, weisses Brot und salzige Butter, dazu Oliven und Tomaten, die zu verkochen schade wäre, vielleicht sogar hauch dünn tranchierter Trockenschinken.

Auch diesem wohnzimmer liegt ein Teppich zugrunde, und zwar ein kreisrunder. Darüber steht eine ebenfalls runde, eigenartige Holz konstruktion auf Säulen. Diese Holzkonstruktion ist dank ihres Bodens begehbar, der in der Mitte wiederum eine runde Aussparung hat. Auf diesem Boden, zwei Meter fünfzig über Grund, befinden sich unsere Schlafplätze. Gegen das Wetter wird das ganze Gebilde mit einer Zeltkuppel geschützt, die ebenfalls auf der Holzkonstruk tion steht und im Dach auch eine runde Öffnung hat. Die gesam te Konstruktion wirkt einladend: Mensch möchte dasitzen, rund um das Zentrum, das dank der Öffnungen den Blick gen Himmel freigibt.

Der Teppich verleiht diesem Raum seine Aura. Es ist aber nicht ein gewöhnlicher Teppich, wie er üblicherweise im Teppichladen oder Brockenhaus gekauft wird und dann ausgerollt am Boden der Wohnung seine Wirkung entfalten darf; es ist ein Teppich, der in diesem Raum entsteht.

Mensch muss sich dieses inoffizielle wohnzimmer als runden Tempel vorstellen: Wände sind nicht vorhanden, nur zu Säulen aufgerichtete und im Kreis stehende Holzbalken. Auf Grundniveau sind

zwischen den Säulen Schnüre gespannt, die sich in der Mitte des Raumes kreuzen. Dort beginnt eine Art dickes Seil sich spiralförmig um das Zentrum zu drehen, mal unter einer Schnur durch, mal oben drüber. Ein Rundteppich wird gewoben.

Der Teppich steht in besonderer Relation zum Raum, und das ist das Geheimnis der Gemütlichkeit. Der Raum ohne Teppich wirkt öde und ausgestellt, mensch fühlt sich ausgesetzt auf dem grossen Teerplatz. Der Teppich wiederum benötigt in seiner Produktion den Raum mit seinen Säulen als Webrahmen. Ohne diesen Raum könnte der Teppich in seiner Form nicht entstehen – er gehört in diesen Raum, er ist die Konsequenz dieses Raumes. Er ist die Antithese zum Interior Design, zu Schnickschnack, Lifestyle und Dekoration. Die Aura dieses Raumes war nicht von Beginn an gegeben. Etwas entgeistert stand ich das erste Mal vor der kahlen, leblosen Kon struktion und dachte: Ookeeeee, die eigenartig runde Form ist wegen der Länge der vorhandenen Balken und der Form des Kuppel zeltes schon zu verstehen – doch ist das generativ geplant wirkende Gestell nicht auch ein Effekt, eine Alleinstellung, eine kleine Monumentalarchitektur? Später, mit den vielen Schnüren, entwickel te sich der Ort zu einer Produktionsstätte, einer werkstatt, die zu durchschreiten den Storchenschritt erforderte. Sinnvoll, aber nicht gemütlich.

Das Knüpfen des Teppichzentrums dauerte eine Ewigkeit. Dann die ersten Runden mit dem dicken Seil, immer auf der Hut vor Fehlern. Mühsam stolperte mensch in gebückter Haltung rund um die Mitte, Runde um Runde, das aktuelle Stück immer möglichst an die vorige Lage Seil pressend – während die Fläche des Teppichs sich kaum vergrösserte. Ich errechnete, dass für die gesamte Abdeckung der Bodenfläche über einen Kilometer Seil in den Teppich gewebt werden musste! An diesem Punkt verliess mich der Webermut. Doch andere Studierende gaben nicht auf, drehten Runde um Runde, entfernten sich immer mehr vom Zentrum, verbesserten die Technik, rollten das Seil zu einem Wulst, um ihn dann zwischen den hochgehobenen Schnüren zu entrollen. Es wurde zur Freude, dem Teppich beim Wachsen zuzusehen. Seine Fläche entsprach dem Teil einer Grafik, der die Zufriedenheit im Camp darstellte, während der nackte Boden – die Unzufriedenheit – immer mehr an den Rand ge drängt wurde. Als schliesslich das Seil aufgebraucht war, hatte sich die Zufriedenheit so weit ausgebreitet, dass sich niemand am restlichen Streifen Unzufriedenheit störte.

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Das wohnzimmer hat seine volle Pracht entfaltet, und wir sitzen erfüllt auf dem Teppich um ein kreisrundes Tischchen. Das Camp wird in zwei Tagen abgebrochen; es ist der letzte trockene Abend. Zum wiederholten Male propagiere ich den letzten Sommerabend. Und hat sich der ganze Aufwand gelohnt? Eine Woche mühsames Weben, um am Ende ein zentnerschweres Stück Textil auf dem Asphalt liegen zu haben? Haben sich die drei Jahre Gedanken über Gott und die Welt und vor allem über mich selbst wirklich gelohnt? Es hat sich alles gelohnt – weil sich die Frage gar nicht stellt. Der Teppich bringt uns am Ende zusammen; zusammen diskutieren wir, zusam men träumen wir, zusammen schweigen wir. Dass ich ausgestellt bin, stört mich nicht mehr. Dass Besuchende, die mich sehen, das Camp nie so verstehen, wie ich es sehe, wird mir immer stärker be wusst. Eine Konstruktion aus gebrauchten Balken, ein Teppich aus Recycling-Seil – und das soll die Welt retten? Und weil der Zustand der Welt eine Frage der Perspektive ist, eine Frage von Raum und Zeit, ist für mich die Frage obsolet. Ich geniesse es hier.

Einen besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle Flurina Brügger und Lino Bally aussprechen, die den Schlaftempel und den Tep pich geplant, gebaut und uns animiert haben, ebenfalls Teil davon zu werden.

08:30

FREITAG, 21.09.2018

Sonnengruss während der Rassemblage. Heute ist der Himmel zur Abwechslung bedeckt.

10:20 Keine Gipfeli von Catherine. Was ist passiert?

12:30 Dunkle Augenringe. Auch als ein kühler Wind über den Betonplatz bläst, vergehen die Kopfschmerzen nicht. Es fühlt sich an, als hätten wir sieben Tage durchgefeiert.

13:00 Workshop zu Astrophysik, um dem Hippietreiben einen wissenschaftlichen Gegenpol zu setzen.

14:00 Liams Hochsitz wird auch heute nicht gebaut. Vielleicht ist das gut so, denn in unserer Vorstellung ist er immer höher in den Himmel gewachsen.

14:10 Ausbruch aus dem gemütlichen Camptrott: Ich werde für fünf Stunden als Musikkapelle in Zürich gebraucht.

17:00 Der Krimi-Apéro wird auch mit nur zwei Teilnehmenden zum Erfolg.

23:30 Das Jassturnier dauert trotz kühlen Temperaturen an. Derweil sind die Hang-Zu-Leute immer noch mit dem Aufbau beschäftigt.

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WIR HALTEN CAMP

Es ist das Jahr, in dem der Intergovernmental Panel on Climate Change, kurz ipcc, seinen Sonderbericht veröffentlicht, dem zufolge nur ein sofortiges Gegensteuern beim weltweiten co ₂-Ausstoss noch das Überschreiten der 1,5-Grad-Erderwärmungsschwelle verhin dern könne. Das Jahr, in dem überall Populist*innen weiter an Ein fluss gewinnen, deren kaum versteckte Agenda das skrupellos neoliberale «Bereichert Euch!» ist und die die Angst vor jenen Anderen schüren, die angesichts von Stellvertreterkriegen und Klimawandel ihre Heimaten verlassen und hoffen, anderswo ein besseres Leben zu finden. Und es ist das Jahr, in dem 35 Diciassette am HyperWerk mit dem Jahresthema wir halten haus abschliessen. Statt auf eine klassische Diplomausstellung haben sie sich auf ein echtes Abenteuer eingelassen, das auch scheitern kann: auf den Versuch, zehn Tage lang auf dem Vorplatz des Ateliergebäudes als Gemeinschaft zu campieren, eine andere Form des Zusammenlebens zu gestalten und das Publikum daran teilhaben zu lassen.

Das HyperWerk schwebt zwischen den akademischen Jahren: Die Publikation A liegt druckfrisch bereit, vom Freitag der Camp-Vernissage an verteilt zu werden; die Diplomprüfungen sind absolviert, und alle Diciassette wissen, dass sie bestanden haben; jetzt hoffen wir, dass möglichst viele das Camp tragen, indem sie präsent sind und das, was ihren Diplomprozess repräsentiert, persönlich pflegen und präsentieren.

Am Sonntag dem 16. September, einem Spätsommertag mit Federwolken in lieblicher Bläue und einer lauen Luft, wie es sie nur im Spätsommer gibt, waltet unter dem Bogendach der küche schon seit dem Mittag das Kochkollektiv Hasoso. Wannen voll gerüsteten Gemüses stehen bereit. Auf Holzbrennern stehen fast einen Me ter hohe, selbst geschweisste Kochtöpfe, in denen mit paddelar tigen Holzkochlöffeln gerührt wird. Die performativen Qualitäten einer Grossküche in Aktion sind eindrücklich und appetitanregend. Es wird dann hoffentlich bald Roggenschrot in einer Risotto-Zu bereitung geben. Zum Apéritif gibt es Gurkensaft, der mit Limette abgeschmeckt ist, mit einem Minzestängel im Schraubglas – zu Trinkgläsern umgenutzte Schraubgläser von Marmeladen, Mixed Pickles etc. sind dieses Jahr der letzte Schrei im ressourcenbewussten Universum.

Mit Sperrholz- und mdf -Platten, mit Rund- und Vierkanthölzern –alles aus der Mulde – und mit Akkuschraubern improvisieren die Gäst*innen in Nullkommanichts eine überlange Tafel auf der Plattform des Ateliergebäudes und über die Stufen hinunter auf den Frei lagerplatz. An die hundert Menschen nehmen Platz und bekommen kleine emaillierte Blechteller vorgesetzt.

Lino Bally, Flurina Brügger und ihre externen Mitstreiter*in nen stehen vor dem grossen Bogendach der küche . Lino und Flu rina halten eine kurze Tischrede und sagen, was sie bei Hasoso so machen: Das Kochkollektiv hat ein Netzwerk von Gemüsebauern in der Umgebung aufgebaut und bekommt von ihnen Gemüse, das sie nicht verkaufen können, weil es nicht schön genug ist oder so. Wenn gerade kein Koch-Event ansteht – sie können für etwa vier hundert Leute kochen –, geht das Gemüse an einen Laden, den sie in der Stadt eingerichtet haben, der eine Pufferfunktion im Konzept hat und Schrumpel heisst. Wer will, kann dort angestossenes, an geschrumpeltes oder einfach ungewöhnlich geformtes Gemüse auf Kollekte abholen.

Nacheinander werden grosse weisse Emailleschüsseln durchge reicht: mit kleinen ungeschälten Kartoffeln; mit Rüebli, die vielfach aussehen wie Alraunenwurzeln; mit Tahini; Seitan; Tofu; Roggenrisotto; Zucchetti; Auberginen; Broccoli; und noch anderem mehr. Und alles schmeckt zum ersten Mal richtig, unglaublich, geradezu ideal – warum schmeckt das alles hier so phantastisch und im sonstigen Leben so na ja?! Dieses ist der Massstab für jegliche zukünfti ge Gemüsezubereitung! Nicht nur ich bin komplett begeistert. Wir essen und essen, trinken Wasser, und es kommen immer noch mehr Schüsseln. Schliesslich sind wir pappsatt und dabei putzmunter, weil ja alles vegan ist. Ich lehne mich zurück, atme tief durch und er kenne, dass dies eine der Sternstunden in der bald zwanzigjährigen Geschichte des HyperWerks ist.

Inzwischen ist die Nacht hereingebrochen, und überall brennen Teelichter in Schraubgläsern. Eine ganze Reihe von Alumnae und Alumni sind gekommen; Manuela Meier sagt hallo, und Tendai Ma tare setzt sich zu uns an den Tisch. Er wird in der kommenden Wo che die Diciassette in ihrem selbst gestalteten Habitat fotografieren. In Indien sah ich Betonbauten einer mir weiter nicht bestimm baren Brutalismusrichtung: schmutzig-crèmeweiss, kubisch und auch irgendwie wannenartig, und sie waren düster-magisch bedeckt von Schleiern irgendeiner schwarzen Flechte, und das Ganze sah aus

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als wär’s tausend Jahre alt. Wirklich wahr! – Am hochverdichteten Brutalismus Basler Prägung ist so etwas undenkbar. Hier auf dem Dreispitz haben wir Betonneubauten sowie denkmalgeschützte Betonaltbauten aus dem letzten Jahrhundert, und diese geben ja ihrer seits die reichhaltig differenzierten Rahmenbedingungen früherer Parzellierungen und Bebauungen blitzblank renoviert weiter. Der Campus ist inmitten all der umgebenden Logistik effizienzgrau ver siegelt; schräg rechts hinten (von der Plattform aus gesehen) ragt die mächtige kubistische Morchel auf; davor hockt der sanierte Büroriegel aus den neunzehnhundertsiebziger Jahren, mit seinen neu draufgesetzten fünf quadratisch-dreistöckigen Etagèren zu je zwölf Eigentumswohnungen; und linkerhand steht ein durchaus ansprechendes Hochhaus, dessen Blech- und Glasfassade Lichtstimmun gen spiegelt.

Und hier, inmitten all dessen, auf der Plattform vor dem Ateliergebäude, gibt es jetzt aber zehn Sommertage lang eine ganz an dere Szenerie: Rote Klebebandlinien markieren den Grundriss des hau ses von wir halten haus . Wohin mensch schaut, fällt der Blick auf Artefakte einer handgemachten Temporärarchitektur, und der Dreispitzbrutalismus ist zum Hintergrund abgetönt: Im Vorfeld sind kleine Buden und luftige Holzkonstruktionen mit Sonnensegeln errichtet worden, in denen die Diplomarbeiten präsentiert werden. Ha soso bereitet allmorgendlich ein enormes Frühstück vor, mit Porrid ge als Grundlage, das mensch mit Obst und Zucker süssen oder mit Butter und Salz salzen kann.

Ungefähr um acht Uhr strahlt Radio Freilager – das sind Quirin Streuli und Moritz Praxmarer – seine Morgenshow aus. Eines Morgens – ich bin schon ganz früh hier – eröffnen sie mit Ennio Morri cones C’era una volta il West-Soundtrack, mit dem Orchesterstück und der melismatischen Frauenstimme: In diesen drei Minuten steigt die Sonne hinterm Wald hoch und knallt voll aufs Camp – die djs q&m haben einfach ein unglaubliches Händchen.

Liam erläutert mir in der prallen Mittagssonne den Lageplan und wo alles ist. Er beantwortet meine Fragen so ausführlich, dass ich vergesse, was die Frage war, und während er spricht, zeichnet er im mer neue Symbole und Verbindungslinien in den Plan ein, sodass das Ganze vollends unübersichtlich wird. Mein Kopf ist schon ganz heiss, und ich frage mich, ob das nicht seine schlitzohrige Strategie ist, unter der Hand noch mehr Komplexität zu erzeugen. Jedenfalls ist es kolossal, was die Diciassette sich alles gedacht haben.

Nach Einbruch der Dunkelheit sitzen Silhouetten in dichten Kreisen um die flackernden Feuerschalen; irgendjemand spielt Gitarre; der Costa Chica-Kiosk von Hotel Regina ist hell erleuchtet; die Türen ins Ateliergebäude sind offen, die Membranen werden durchlässig, Innen und Aussen gehen ineinander über. Der Campus Dreispitz ist zum ersten Mal wirklich belebt; es gibt ein Flair von Piazza und stellenweise sogar von – ja doch, von Strand. Überall sind Grüppchen am Palavern. Soweit ich das mitbekomme, sorgt Hasoso nach dem Frühstück täglich für ein Mittagessen, und auch abends scheint es eine Versorgung zu geben. Ich unterhalte mich mit Kris McGovern und Markus Schmet; auch unsere Emerita Prof. Dr. Regine Halter stattet dem Camp einen Besuch ab. In diesen Tagen setze ich mich immer wieder mit meinem Note book auf irgendeinen gerade freien Stuhl und arbeite unten draussen an den Dingen, mit denen ich normalerweise oben drinnen im büro befasst bin. (Was das im Einzelnen war, weiss ich heute nicht mehr; aber es gibt ja immer was zu tun.) Es ist so schön, den endlosen Som mer in dieser Camp-Atmosphäre zu verbringen – es fühlt sich fast an wie Ferien. Oder zumindest wie auf dem novartis -Campus.

Am Donnerstag bestreite auch ich eine Veranstaltung, nachdem Noemi Scheurer mich im Vorfeld dazu eingeladen hatte: Ich habe 150 Eier gekauft und Hasoso gebeten, mit mir zusammen ein gros ses Spiegeleierbraten zu veranstalten – was sie bereitwillig tun, in dem sie Bratkartoffeln machen. Spiegeleier mit Bratkartoffeln! Ich helfe natürlich mit so gut ich kann; Mule und Liam sind hauptamt lich beim Braten dabei, ich halte ihnen die Emailleteller vor die ge waltige Bratpfanne über dem lodernden Feuer, sie lassen die Spiegeleier in die Teller gleiten, ich gebe vorne am Tisch die Bratkartoffeln dazu; und gewiss hundert Menschen stehen Schlange und bekom men ein oder auch zwei Spiegeleier, auf Wunsch mit einer Sardelle als Extra-Highlight; ich spreche mit allen und freue mich und alle freuen sich und ich wünsche Guten Appetit. Alles gelingt: Es gibt ge nug für alle die wollen, niemand geht leer aus. Nur ganz wenige Eier bleiben übrig – für das Frühstück am nächsten Morgen.

Irgendwann in der zweiten Wochenhälfte kommt italianità zum Vorschein, als eine bunt bestückte Wäscheleine zwischen zwei Ständen hängt. Offensichtlich kann mensch irgendwo waschen. Duschen gibt es jedenfalls im keller des Hochhauses. Einige HyperWerk-El tern bringen ihre kleinen Kinder mit, die neugierig und unbeschwert zwischen den Ständen umherkrabbeln. Mensch hat sich eingelebt. –

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Und als es am schönsten ist und seine Selbstverständlichkeit gerade mal etabliert ist, wird das Camp wieder abgebaut.

Die «Home»-Fussmatte liegt nicht mehr vor den Stufen zur Plattform; wahrscheinlich ist sie mittlerweile ordnungsgemäss entsorgt worden. Aber die Kleberückstände der Grundrisslinien sind noch gut zu erkennen. Und da, wo Hasoso vor nunmehr sieben Wochen gekocht hat, sind die Standflächen der Holzbrenner deutlich verfärbt; mit einer wunderbaren Korona schwarzer Flecken aus Fett und Russ drum herum.

Ralf Neubauer, Dozent HyperWerk

SAMSTAG,

06:00 Hang-Zu beginnt mit sphärischen Ambient-Klängen.

07:30 Die Morgenshow findet zum letzten Mal statt – die akus tische Konkurrenz ist zu gross.

09:30 Mageres Frühstück. Es gibt vor allem von der selbstge mischten Schoko-Birnel-Streichcrème.

13:00 Die Badewanne des Freudenhauses wird mit Eis und Bier gefüllt.

13:30 Zu essen gibt es Resten; dann wird die Küche abgebaut: Pfannen, Schüsseln, Kellen, Teller, Gläser, Vorräte, Einmachgläser, Messer werden weggeräumt.

14:00 Alles was nicht niet- und nagelfest ist, kommt weg. Die heutige Oslo Night wird viel Volk anschwemmen.

14:20 Die Badewanne mit Eis zu füllen war eine dumme Idee; die Kühlschränke der Bar von Hang-Zu sind viel besser.

17:30 Wir sagen alle Programmpunkte ab und machen einfach mal nichts – es gibt ja genug Programm ringsum.

18:00 Während dem pms-Apéro wird Rotwein ausgeschenkt und Randensuppe geschlürft.

21:30 Seit sieben Stunden habe ich nichts gegessen. Das war unbeabsichtigt. Unsere Küche ist leer, und der einzige Essstand der Oslo Night bietet bloss völlig überteuertes Raclette an.

22:00 Was genau ist das jetzt? Ein Festival in einem Camp an einer Nacht der offenen Türen?

23:17 Nein – unsere Schlafsäcke sind nicht Teil einer kuscheli gen Bar! Wir verstecken die Leiter.

23:40 Rückeroberung unseres Teppichs.

24:17 Wir sind nicht zu eurer Bespassung da, und die Diskoku gel, die ihr da zu klauen versucht, gehört auch uns!

01:27 Ein betrunkenes Pärchen gondelt auf einem Damenvelo über den Platz.

03:40 Bei der Kunst gab es natürlich auch noch eine Party – wie wir feststellen, als unsere Nachtvögel versuchen, lautlos in ihre Schlafsäcke zu poltern.

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22.09.2018

GEDANKEN ZUM CAMP UND FRAGEN, DIE BLEIBEN

Eine Reflexion der Leiterinnen des Jahresthemas im November 2018

Als Dozent*innen und als Begleiter*innen dieses Jahresthemas fra gen wir uns: Was bedeutet es, anstelle einer Diplomausstellung ein Camp ins Leben zu rufen? Zentral wurde für uns die neue Leitfrage des HyperWerks: Wie wollen wir in Zukunft zusammen leben? Im Versuch zu formulieren, was noch nicht gelebt werden kann, zeigt sich ein Horizont aus unterschiedlichsten Begehren. Erst eine kol lektive Spekulation, ein Diplomcamp machte es möglich, die Energie freizusetzen, um einen gemeinsamen Gestaltungsspielraum dafür zu öffnen. Mit vereinter Vorstellungskraft, dem Ringen um Worte, Formen, Strukturen und Interaktionen sowie mit dem Willen zur Aktion wurde dieses Begehren in eine reale Situation übersetzt – in das wir-halten-haus -Camp.

Wie werden individuelle Wünsche zu einer gemeinsamen Vor stellung von wir – zu einem Horizont? Wofür stehen die Studierenden gemeinsam ein? Wessen Geschichten erzählen sie, und welche Referenzen verwenden sie als Argumentationsgrundlage? Antwor ten auf diese Fragen geben Auskunft, mit welcher Haltung sie jeweils einzeln und als temporäres Kollektiv sprechen, handeln und Räume gestalten.

Es folgen einige Gedanken zu dieser Verschiebung von einer Diplomausstellung hin zu einem Camp, die uns geleitet haben:

1. Der Unterschied zwischen einer Ausstellung und einem Ex perimentierfeld zum Zusammenleben äussert sich für uns besonders deutlich in der Beziehung zu Besucher*innen – sie werden zu Gäst*innen. Der Raum, in dem empfangen wird, dient nun nicht mehr der Repräsentation von Ideen oder Projekten, sondern das Dazwischen, die Situation und die jeweilige Beziehung erhält die Aufmerksamkeit der Beteiligten.

2. Gegenstände spielen in einem Camp eine andere Rolle als in einer Ausstellung. Bewohner*innen des Camps schlüpfen in die Rol le der Exponate und erzählen selbst die Geschichten ihrer Diplom arbeiten. Im Sich-Exponieren, im Haltung beziehen, im Diskutieren und im Sich-Zeigen entsteht Kontakt und damit ein Potenzial.

3. Welche Dramaturgie und was für ein Alltag ergeben sich im Durchgang durch die Räume? Sind alle Räume öffentlich zugäng lich, oder brauchen die Campbewohner*innen auch Rückzugsräume – oder sogar geschützte Räume? Wie viel soll geteilt werden? Was soll sichtbar gemacht werden? Und was bleibt im Verborgenen oder wird nur für Einzelne zugänglich? Welches Anliegen braucht welche Raumqualitäten, und wie wird vermieden, dass die Campbe wohner*innen sich ausgestellt vorkommen?

4. So wie bereits im Prozess der Findung des Jahresthemas Vertrauen und Respekt eine wichtige Rolle gespielt haben, scheinen uns diese beiden Haltungen auch für das Camp zentral. Durch sie können reflektierte und selbst bestimmte Räume gestaltet werden. Dafür braucht es eine Offenheit aller Beteiligten gegenüber Unge wohntem und gleichzeitig eine persönliche Orientierung durch ei gens formulierte Regeln.

5. Im Zugang zu institutionellen Räumen für Bildung, Kultur und Politik – wie Schulen, Museen, Theater und Parlamente – er öffnen sich Menschen die Möglichkeiten, sich eine selbst gestaltete Zukunft vorzustellen. Ob jemandem Zugang zu solchen Räumen ge währt wird, hängt von Ein- und Ausschlussmechanismen innerhalb der Gesellschaft ab.

6. Das Camp ist ein poetischer Raum, weil alles, was hier ge schieht, über die alltägliche Bedeutsamkeit hinausgeht. Im Wissen um strukturelle Diskriminierungen stellt sich umso dringender die Frage, wer zu diesem Experiment aktiv eingeladen werden soll. Kann es gelingen, strukturell bedingte Ausgrenzung zu überwinden? Auf welche Weise könnten bewusste Brücken zu Menschen gebaut werden, die kulturellen Veranstaltungen normalerweise fernbleiben? Welche Menschen interessieren sich für unkonventionelle Formen des Zusammenlebens, Praktiken des Teilens und sinnliche Momente der Gemeinschaft? Wäre es sinnvoll, Interessengemeinschaften einzuladen und so inhaltliche Verbindungen zum Programm her zustellen? Wie werden «Aussenstehende» eingeladen, empfangen und in den HyperWerk-Kosmos eingeführt, damit sie an wir halten haus teilhaben können?

Dozent*innen sein?

Über das Jahr hinweg sind wir, Catherine Walthard und Laura Preg ger, unter dem Namen CarLa eine von 15 Arbeitsgruppen und damit zu einem Teil des wir in wir halten haus geworden.

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Rückblickend ging es uns beiden darum, diesen offenen Prozess zu halten und ins werden zu vertrauen. Wenn sich nicht nur zwei Per sonen verantwortlich fühlen, sind es umso mehr Schultern, Hände, Füsse und Köpfe, die ein Anliegen tragen können. Um diesen ge meinsamen Handlungshorizont zu erreichen – und dieser Umstand ist uns heute bewusster denn je, braucht es Vertrauen und gleichzeitiges Loslassen von unserer Seite. Wir beide haben den Prozess begleitet und gespiegelt, aber wir wollten ihn nicht bestimmen.

Dieses Nicht-Bestimmen fühlt sich immer wieder sehr ungewohnt an; wir erinnern uns gut daran. Die Kontrolle loszulassen und sie bewusst zu verlieren macht unsicher. Für uns beide hat das bedeutet, den Studierenden die Verantwortung zuzutrauen. Es bedeutet, unsere eigenen Muster als Dozent*innen zu verlernen; un sere Vorstellung davon zu erweitern, was es bedeutet, einen Pro zess zu begleiten; die eigenen Reflexe und Gefühle zu hinterfragen. In diesem kontinuierlichen Öffnen und Zulassen treten wir in den Hintergrund. Wir werden weniger wichtig. Auch das muss mensch aushalten lernen. Es bedeutet, das Verlangen nach der eigenen Bedeutsamkeit als Dozent*innen zu überdenken. Dafür entstehen Raum für Neugier, Respekt, Wohlwollen und die Möglichkeit, durch das Fremde, Irritierende und Ungewohnte den eigenen Denk- und Erfahrungshorizont zu erweitern.

Im Endeffekt haben wir sowohl die Entscheidungshoheit geteilt als auch Organisation und Umsetzung weitestgehend an die verschiedensten Arbeitsgruppen abgegeben. Erst im Freigeben dieser essenziellen Knotenpunkte können andere tatsächlich Verantwor tung übernehmen. Wir waren sehr froh, diesen Weg des radikalen Zulassens zu zweit zu gehen. Im gemeinsamen Dialog haben wir erst nach und nach verstanden, was dieser Weg auch mit uns macht. Diese Erkenntnisse und Erfahrungen sind uns kostbar und werden kommende Prozesse mit neuen Studierenden beeinflussen.

Laura Pregger, Dozentin HyperWerk

Prof. Catherine Walthard, Dozentin HyperWerk

SONNTAG, 23.09.2018

07:30 Kein Morgenradio.

08:30 Immer noch kein Morgenradio.

10:00 Das Frühstück ist schnell vorbei – jetzt heisst es aufräumen.

16:20 Verspätetes Mittagessen: Momos. Für den heutigen Tag gibt es nicht mehr viel zu tun. Die meisten bleiben sitzen.

Wer jetzt aufsteht, macht sich bereit zum Abmarsch.

18:20 Seit vierzig Minuten stehe ich mit gepacktem Rucksack herum. Die Hang-Zu-Leute rauchen auch nur noch.

19:15 Tschüss für immer. Wir sehen uns morgen wieder.

Camp-Logbuch von Quirin Streuli, Diciassette

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ZWANZIG FÜR SIEBZEHN

Ich versuche mich gerade ins Camp zurückzufühlen und höre das Album For Ever von Jungle, das ich dort täglich gehört habe – Dau erschlaufe. Irgendwie ist es weg, das Gefühl der ersten Tage, Momente, Augenblicke. Würde gerne wieder so aus den Augen blicken wie dort in der Wärme. Alles hängt in Fetzen. Aber gut – mit der Nostal gie muss dann irgendwann auch Schluss sein. Das Grau da draussen nimmt mir meine gute Grille.

Noch ist es Sommer. Blau trifft auf Grau und Neu auf Alt. Das Sonnenlicht reflektiert auf dem hellsten und glattesten Betonboden, den ich je gesehen habe, und blendet mich. Aufregung liegt in der Luft – wir sind neu hier. Sie nennen uns Venti, alles hat hier beson dere Namen, auch unser Jahrgang.

Ich bin froh kenne ich die anderen aus der Klasse schon. Erste Schultage sind sonst nicht mein Ding.

Apéro, Bier, kein Bier, Hummusberg, Gurkenschnitze.

So, hier wird also haus gehalten. «Ausgehalten» – ah das war eine Anspielung, vielleicht, merke ich jetzt erst gerade. So willkom men wie hier habe ich mich selten gefühlt. Im Diplomcamp, dem riesig grossen Spielplatz für Verrückte. Sie kochen draussen, es sen, liegen, singen, leben zusammen, die Diciassette. Als würden sie mit einem wöchig geteilten Lebensalltag Abschied nehmen, vom Stress der Monate vor dem Diplom, voneinander, vom Abenteuer HyperWerk.

Herzlich würde ich diese Tage nennen. Gemeinschaft wird uns vorgelebt, die Diciassette kochen für alle, machen Musik für alle, servieren uns Neuen ihre Tipps mit Bier. Abends verschmelzen die abklingenden dreissig Grad mit Klängen von etwas weiter weg. 17 für 20, Lindas siebzehnminütige Audioinstallation für uns Venti. Linda führt uns mit Kopfhörern durch ihr momentanes Zu hause. Die Stimme in meinem Ohr weist mich an, weist mich hin, darauf, dass Wände zu sehen sind, wenn ich darauf achte – das sind alles Räume: wohnzimmer, küche, Gang. Ich soll schreien aus meinem Versteck, als wäre ich gebärend. Out of the box denken, Komfortzonen ausweiten, radikal, am dritten Tag von Allem. Dann ein Handstand und der Fremden die Hand küssen. So was machen wir hier – ich freue mich drauf, freue mich über diese Vertrautheit und übers Hiersein.

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Was die hier gebaut haben, beeindruckt mich. Der hohe Zeltdom oben auf den Stelzen; darunter flechten sie zusammen einen runden Teppich. Die küche kann viel: kochen für viele und sie vereinen am ewig langen Esstisch aus vielen Teilen und Stücken, die dann doch ein Ganzes ergeben. Im wohnzimmer liegen wir auf den Persern rum, wenn wir kurz erschlagen sind von den Infos und Eindrücken. Die oder der eine oder andere Diciassette mit Sternchen setzt sich dann kurz oder lange zu uns hin und fragt uns aus, wo kommen wir her, wo wollen wir hin. Und dass sie alle nicht verschlossen sind, nur erledigt vom Diplomjahr, und wenn wir was brauchen oder wissen wollen, sollen wir einfach fragen.

Als familiär könnte ich das auch bezeichnen, dieses Teilen eines Alltags, das Zusammenleben zusammen erleben.

Abends sitzen Menschen ums Feuer, hören sich ein Konzert an, tauschen sich aus. Drei schwimmen in der Bierwanne synchron, wie schön, wie lustig.

Wann immer Lust oder Stimmung da ist, überträgt Radio Frei lager von links auf dem Platz live auf die andere Seite vom Platz. Dann schnapp ich mir einen Sirup, kann mich nicht für einen von den zehn entscheiden und trinke dann den, den ich schon dreimal hatte.

Ich kann mich nur vage an die tatsächlichen Diplomarbeiten er innern. Irgendwie war ich mit dem ganzen Drumherum beschäftigt – was auch nicht weiter schlimm ist. Wichtig war eher zu merken, dass die Menschen, die sich Diciassette nennen, müde und zufrieden auf ihre Zeit am HyperWerk zurückschauen und mit dieser Ausstel lung oder Performance oder Besetzung einen gebührenden Schlusspunkt hinter ihre vollendeten Werke setzen.

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HAUSHALTEN WIR ? HALTEN WIR ( H ) AUS ? DAS HAUS HÄLT UNS . HALTEN WIR DAS HAUS ? WIR HALTEN HAUS .

Herausgeber*innen: Catherine Walthard, Laura Pregger, Ralf Neubauer

Konzeption: Catherine Walthard, Jacques Borel, Laura Pregger, Quirin Streuli, Ralf Neubauer, Silvan Rechsteiner Gestaltung: Jacques Borel, Silvan Rechsteiner Redaktion und Lektorat: Ralf Neubauer, Quirin Streuli

Dank: Alumni*ae Diciassette, Student*innen und Mitarbeiter*innen des Instituts HyperWerk

Auflage: 800

Druck: Druckerei Bloch ag , Arlesheim Papier: Munken Lynx Schriften: Georgia Pro, Franklin Gothic © HyperWerk 2018 isbn 978-3-9525055-1-9

Institut HyperWerk, Hochschule für Gestaltung und Kunst fhnw Freilager-Platz 1 Postfach ch -4002 Basel mail@hyperwerk.ch www.hyperwerk.ch www.fhnw.ch/hgk/hyperwerk

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