Das Glücksversprechen: die drei Gewinnertexte

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Das Glücksversprechen kuratiert von Luigi Annibaldi, Massimiliano Ciarrocca und Lucia Pappalardo Übersetzung: Julika Brandestini © Copyright bei den jeweiligen Autoren Gestaltung und Grafik von Luigi Annibaldi www.omero.it www.goethe.de/rom


Das Glücksversprechen muss nicht eingehalten werden

Oft fragen wir uns, was den Protagonisten einer Geschichte unvergesslich macht. Wie muss der Autor die Fäden spinnen, um seinem Helden Gehalt und Pathos zu verleihen? Die Antwort ist einfach und ein bisschen geheimnisvoll. Er muss das Glücksversprechen ins Spiel bringen. Ob es um ein humpelndes Mädchen auf der Suche nach Liebe geht, um einen Soldaten, der sich behaupten muss oder einen Vater, der nicht mehr mit seiner Tochter spricht: Wer auch immer der Protagonist der Geschichte ist, der Leser möchte sein ersehntes, verlorenes, unmögliches oder überraschendes Glück erahnen können. Er möchte durch die Worte des Autors die epische Suche nach einem überhimmlischen Ort, der ihn glücklich macht, miterleben. Scuola Omero, die erste Schreibschule in Italien, und das Goethe-Institut Italien haben sich zusammengeschlossen, um den Schreibkurs “Das 3


Glücksversprechen” ins Leben zu rufen. Im Folgenden werden Sie in den Genuss der drei Gewinnertexte kommen, die aus dem Kurs hervorgegangen sind. Eine Wegstrecke, auf der die Teilnehmer keine Angst hatten, den Protagonisten leiden zu lassen, um den Leser glücklich zu machen. Alle Unterrichtsstunden finden sich auf dem Youtube-Kanal des Goethe-Instituts Italien. Viel Spaß beim Lesen, viel Spaß beim Anschauen. Lucia, Luigi e Massimiliano

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Ungezieferjagd Maria Ribera Aus dem Italienischen von Julika Brandestini

Es klingelte an der Tür. Und ich wusste, mein Stündlein hatte geschlagen. Es war immer dieselbe Stunde, jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr meiner fünfzehn Lebensjahre. Es klingelte an der Tür, und ich zögerte. Ich musste mich schnell entscheiden. Ich wusste, was immer ich tat, ich würde bestraft werden. Ich durfte nicht sprechen, denn meine Stimme war eine Beleidigung. Ich durfte nicht schweigen, denn Schweigen war eine Sünde. Ich durfte nicht atmen, denn die Tatsache, dass ich am Leben war, machte ihn fuchsteufelswild. Er änderte ständig die Regeln, damit ich Fehler machte. Ich konnte nie etwas richtig machen. Ich würde immer alles falsch machen, dazu war ich geboren. Ich näherte mich der Tür, um durch den Spion einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Es war eine Maske des Hasses. Ich fragte nicht, wer dort war, er schlug 5


mich immer, wenn ich fragte, wer dort war. Denn “die Stimme reicht nicht, um jemanden zu erkennen, man muss immer durch den Spion gucken”. Ich öffnete die Tür, ohne etwas zu sagen, dann drehte ich mich um und trat die Flucht an. Sein Fuß traf mich mit einem dumpfen Knall am Rücken und ließ mich hart auf das Parkett prallen. “Du darfst nicht durch den Spion gucken, du dumme Schlampe. Du musst fragen, wer da ist, das Aussehen kann täuschen.” Ich blieb reglos liegen, das Gesicht zum Boden, mit ausgebreiteten Armen und überkreuzten Beinen, wie bei einem Tanzschritt. Ich stellte mich tot. Wie die Küchenschaben, wenn sie spüren, dass ein mörderischer Fuß zu nahen droht. Manchmal funktioniert es. Und manchmal nicht. Das hängt vom Fuß ab. Um einem der Größe 45 zu entkommen, braucht es schon ein Wunder. Der zweite Tritt folgt beinahe sofort und entreißt meinem Körper einen krächzenden Klagelaut: das Knirschen des Exoskeletts. Ich war noch kein harter Knochen. “Dumme Schlampe.” Ich war noch nicht zur Frau geworden. “Warum gehorchst du mir nie?” Ich hatte mich noch nicht abgefunden. Damit 6


abgefunden, dass ich meinen Vater hasste. Ich robbte auf die Hände gestützt, während er weiter auf mich einschlug. Mit jedem Schlag kam ich eine Handbreit voran. Und der Druck seines Fußes ließ nach. Papa war gut darin, seine Schläge zu dosieren. Sie waren nie heftig genug, um zu töten, nie so stark, dass Hilfe von außerhalb nötig war. Ich wusste, dass alles vorbei wäre, sobald ich meine Zimmertür erreichte. So hatte er es gern, wenn ich wie ein Ungeziefer zu meiner Höhle kroch, um dort Schutz zu suchen, bis zum nächsten Mal. Papas Jagd war eine mit Rückspultaste. Es ging immer wieder von neuem los. Oder, um es mit Sofia zu sagen, es war ein zeitliches Paradoxon. Denn Sofia, meine Schwester, las SciencefictionRomane. Es gab da eine Geschichte, die ihr besonders gefiel, in der die Temponauten ständig den ewiggleichen Abschnitt ihres Lebens durchleben, so wie wir. Als die väterlichen Füße meinen Körper entließen und ich hörte, wie sie sich entfernten, lag ich ausgestreckt vor der verschlossenen Zimmertür. Ich zog mich an der Klinke hoch und trat ein. Sofia lag auf dem Bett, der Hund an ihrem Fußende zusammengerollt. Sie tat als lese sie, doch sie zitterte. Ich machte mir Platz 7


und legte mich neben sie, während Kilgore, der Hund, über meinen Körper nach oben kletterte, um mir die Tränen von den Augen zu lecken. Sofia klappte das Buch zu, legte es weg, schob eine verrotzte Haarsträhne aus meinem Gesicht und begann, einen Zopf daraus zu flechten. “Nicht weinen”, sagte sie, “sonst wird deine Nase dick.” So schliefen wir ein, mit dem Hund in den Armen, die Worte über uns schwebend. “Siehst du das?”, fragte sie am nächsten Morgen und zeige auf das Muttermal auf ihrem Schulterblatt. Nichts als ein banaler, kaffeebrauner Fleck, den ich gut kannte. “Das ist das Zeichen meiner Rasse. Sie werden bald kommen, um mich zu holen.” “Was für eine Rasse, Sofia, wovon sprichst du?” “Von den Außerirdischen. Ich bin nicht das Kind von Mama und Papa. Ich komme von weit her.” Sie wandte die Augen zum Fenster und betrachtete durch die Scheiben den Himmel. “Wann kommen sie denn, Sofia? Willst du mich hier alleine lassen?” “Noch nicht”, antwortete sie, “wenn ich groß bin. Wir haben noch Zeit.” 8


Doch in Wirklichkeit drängte die Zeit bereits. Alles begann mit Kilgores Verschwinden. Seine unerklärlichen Abwesenheiten waren nichts Neues. Er machte sich für ganze Tage davon, man konnte ihn endlos suchen. Abends tauchte er wieder auf, wer weiß woher, und kuschelte sich erschöpft in seinen Hundekorb. Bis zu dem Abend, an dem er nicht wieder auftauchte. Auch nicht am folgenden Abend oder dem darauf. Dabei hatte Kilgore keinen Grund zur Flucht. Er war das einzige Familienmitglied, das niemals Zusammenstöße mit den Füßen meines Vaters hatte. Mit seinem undulierenden Gang, wie er typisch für Köter mit kurzen Beinen und wurstförmigem Körper ist, umschiffte er jedes Hindernis, schlüpfte zwischen allen Dramen hindurch. Trotzdem kehrte er nicht zurück. Papa konnte es nicht leiden, wenn etwas verschwand. Das brachte ihn zum Explodieren. Wir zwei Schwestern erinnerten uns noch gut daran, wie er auf die Flucht meiner Mutter reagiert hatte. Und jetzt fürchteten wir das Schlimmste. “Ich glaube, Kilgore hat Superkräfte”, sagte Sofia eines Nachmittags und hob den Blick von einem Buch 9


mit einer fliegenden Scheibe auf dem Cover. “Er reist durch die Zeit.” “Du liest zu viel Sciencefiction”, antwortete ich. Dann riss ich ihr lachend das Buch aus den Händen. Es war auf Seite 128 aufgeschlagen, wo eine Geschichte mit dem Titel ‘Verschwundenes Mädchen’ begann. “Geht es darin um Außerirdische, die Mädchen wegbringen?”, stichelte ich. “Nein”, antwortete sie. “Es geht darin um andere Dimensionen. Die man durch Türen betritt, die sich überall materialisieren. Aber immer nur für kurze Zeit.” Und sie nahm das Buch wieder an sich, ohne auf meine Provokation einzugehen. Ich schöpfte inzwischen Hoffnung. Ich wollte glauben, dass sich etwas änderte. Dass es zu einer alltäglichen Angelegenheit werden könnte, Papa die Tür zu öffnen. Seit Wochen hatte er uns nun schon nicht geschlagen. Und Mariä Empfängnis rückte näher, der Tag, an dem wir den Weihnachtsbaum schmückten. Wir schmückten ihn gerne zusammen. Wir entstaubten die Plastikkiefer, dann wickelten wir den Schmuck aus. Er reihte die einzelnen Teile liebevoll auf dem Tisch auf, nach Größe geordnet. Er war so schön, mein Vater. Er lächelte mit seinen perfekten weißen Zähnen, erzählte uns die Geschichten der Glaskugeln, wo er sie gekauft, 10


wie er sie ausgesucht hatte. Am Morgen des achten Dezember kam ich ins Wohnzimmer und sah sie. Papa hatte bereits alles vorbereitet. Ich rannte freudig auf ihn zu, um ihn zu fragen, wie ich helfen könne. “Sofia, beeil dich! Wir schmücken den Baum!”, rief ich. Es vergingen ein paar Minuten, bis sie auf der Türschwelle des Raumes erschien. Blass im Gesicht, mit weit aufgerissenen Augen. Ihre Unterlippe mit den Zähnen bearbeitend. “Wo sind meine Bücher? Hat jemand meine Bücher gesehen?”, fragte sie mit erstickter Stimme. Ich warf einen Blick auf die Bücherregale im Flur. Dort klafften zwei leere Reihen. “Deine Scheißbücher habe ich weggeschmissen”, sagte Papa. “Du bist ohnehin schon schwachsinnig, und diese unsinnige Lektüre raubt dir noch den letzten Rest Verstand.” Er stand mit dem Rücken zu uns, damit beschäftigt, die Zweige des Baums zu ordnen. Plötzlich fuhr er herum, das Lächeln zu einem höhnischen Grinsen verzerrt. Sofia war wie versteinert und starrte ins Leere. So war sie noch nie gewesen, sie sah immer irgendetwas an. 11


Sie kam näher und blieb vor dem Tisch stehen. In einem einzigen Handstreich wischte sie die Kugeln zu Boden. Alle. Es erklang ein Chor zerberstender Stimmchen. Und einen Augenblick später begann der Tanz. Meine Schwester lag bereits schreiend auf dem Parkett, unter Papas Füßen. Eine Szene, die ich bereits hunderte von Malen gesehen hatte, aber irgendetwas war anders. Die Schläge sausten mit Wucht herab, sie waren gemacht, um zu töten. Ich warf mich auf ihn, um ihn zu stoppen, aber ein Faustschlag landete auf meiner Nase und katapultierte mich durch die Luft. Das Blut floss mir aus den Nasenlöchern wie aus einem geöffneten Wasserhahn. Es hörte nicht mehr auf. Ebenso wenig mein Vater. Ich rannte in die Küche und zog die Schublade neben dem Waschbecken auf. Die Klingen der Fleischmesser glänzten so hell, dass ich einen Augenblick geblendet war. Ich griff nach dem größten und umklammerte fest seinen Griff. Sofia weinte nicht mehr, ich hörte nur noch das Geräusch der Schläge. Als ich Papas Rücken erreichte, ohne dass er etwas bemerkt hatte, zielte ich in die Mitte. Doch ich zögerte. In dem Augenblick fuhr ein haariger Umriss zwischen seine Beine und brachte ihn zu Fall. Durch den Aufprall wurde er bewusstlos. Meine Schwester lag 12


einen Meter von ihm entfernt, die Augen geöffnet, mit zitternden Lippen. Jetzt schaute sie wieder. Sie schaute jemanden an. “Kilgore”, röchelte sie. Der Hund war zurück. Er stand dort, mitten im Zimmer, mit hoch aufgerichtetem Schwanz und gespitzten Ohren. Gleich darauf wandte er sich zum Gehen, drehte uns das Hinterteil zu, sah sich nach uns um. Wartete. Sofia versuchte aufzustehen, doch sie schwankte. Ich warf das Messer weg und beeilte mich, ihr zu helfen. “Er will, dass wir ihm folgen”, flüsterte sie mir zu, als sie sich auf meinen Arm stützte. Ich sah auf das Messer am Boden, dann auf den Hund. Die folgenden Minuten kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Wir durchquerten im Zeitlupentempo den Flur, hinter Kilgore her. Wir erreichten den Abstellraum hinter dem Besenschrank. Er blieb vor einer Wand stehen. Strich uns mit der Zunge über die Hände. Dann steckte er die Schnauze in die Mauer, als wäre sie aus Wasser. Und verschwand. Der Putz an dieser Stelle flimmerte, war aufgewühlt, wie eine Sauce auf dem Herd kurz vor dem Kochen.

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Sofia folgte ihm als erstes, ohne den leisesten Zweifel. Denn die Türen, die sich in der vierten Dimension auftun, das wusste sie, sind nur von kurzer Dauer. Und wenn man sie öffnet, machen sie keine Angst.

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Der große Luftballon Paolo Marchione Aus dem Italienischen von Julika Brandestini

Der Hund bellt, er ist an einen Pfahl gebunden, für einen Moment dort abgestellt von irgendeinem abwesenden Herrchen. Der kleine Junge schaut ihn an, von weitem, neugierig und zappelnd. Er windet sich aus der Hand der zerstreuten Mutter, die mit ihrem Smartphone chattet, und steuert arglos auf den jungen Pitbull zu. Der Hund ist braun, mittelgroß, noch nicht ganz ausgewachsen. Verängstigt und drohend. Groß genug, um das ganze Kind zu verschlingen. Doch das weiß es nicht, und es kommt immer näher, irgendwelche Laute brummend, mit ausgestrecktem Arm auf ihn deutend. In den Augen des Hundes jedoch ist dieses Ärmchen ein Stock, zugleich Gefahr und Spiel, ein Stock, den es an sich zu nehmen, dem rechtmäßigen Besitzer zu entreißen gilt. Der Lauf des Kindes wird zu einem Rennen, beinahe 15


als wolle es sich auf den Hund stürzen. Ein Meter trennt noch sein Händchen von den geifernden Zähnen. Plötzlich greift eine Hand nach dem Arm des Kindes. Es ist die Mutter. Gerade noch rechtzeitig. Sie führt es weg vom Hund, der zugleich enttäuscht und erleichtert ist. “Nein”, ruft die Mutter, ein kurzer, trockener Laut. “Versuch das nie wieder! Er hätte dich zerfleischen können! Verstehst du das?” Das Kind brummt traurig. Es hatte Lust zu spielen, zu erforschen. Die Sonne geht schon bald unter, aber das Kind ist nicht müde, nicht überdrüssig, im Gegenteil. Die Mutter dagegen schon, und wie. Nachdem sie einen ganzen Nachmittag auf es aufgepasst und mit ihm gespielt hat. Sich um es gesorgt hat. Immer wieder entschieden hat, was richtig war, was besser war, was angemessen war, dies, das und jenes. Nachhause, war inzwischen ihr einziger Gedanke. Sie wollte Abendessen machen, vielleicht einen Film schauen und dann einfach umfallen. Mehr verlangte sie 16


nicht, sie verlangte nicht viel. Auch wenn man jung ist, sind die Energien irgendwann erschöpft. Ein letzter Gang über die Brücke, um das Meer von Nahem zu sehen. Dann aber nachhause. Ihre Freundin drängt über Whatsapp. “Was denkst du? Weißt du, wen ich meine?” Ja, sie weiß, wen sie meint. Er sieht ganz gut aus, aber mehr nicht. Vielleicht ein wenig glatt. Diesmal entgleiten ihr die Hände des Sohnes nicht im Tausch gegen die Fotos des Glatten. Es stimmt schon, sie ist lange mit keinem Mann mehr ausgegangen. Und manchmal überkommt sie die Einsamkeit und hält sie fest umklammert, so wie sie jetzt die Hand ihres Sohnes. Der wieder angefangen hat zu ziehen. Zu wollen. Zu verlangen. Er deutet auf eine Gruppe Jugendlicher. Sie skaten auf einer Seite der Brücke. Sie sausen auf ihren vierrädrigen Brettern hin und her, sie sind gut. Gut genug, um den Passanten auszuweichen, den Leuten das Gefühl zu geben, als wären sie gar nicht da, als existierten sie überhaupt nicht. Doch für den Jungen existieren sie, und wie. Und er ist entschlossen, ihnen entgegenzugehen, zu verstehen, 17


welche Magie in diesem Hin und Her steckt. Vielleicht könnte er auf dieses Räderbrett aufspringen, in dem Moment, da einer der Jungen wenige Meter von ihm entfernt vorbeirast. Das Kind zieht der Mutter am Arm, es will dem Skateboard hinterherrennen, das sich schnell entfernt. Die Mutter wirft ihm einen Blick zu. Es ist Zeit für ein schnelles, entschiedenes “Nein!”. Ihre Freundin lässt nicht locker, weiterhin über Whatsapp. Sie will ein Abendessen organisieren, sagt, dass der Glatte ihrer Meinung nach perfekt sei. Dass er ihr gut tun werde, dass sie im Augenblick einfach zu gestresst sei. Sie antwortet, die Freundin solle erstmal ein Kind bekommen, dann könne man weiter darüber reden, wer von ihnen gestresst sei. Die Freundin besteht darauf, sagt, das Kind sei nur eine Entschuldigung, er sei ein bezaubernder Junge, und sie nur deshalb gestresst, weil sie schon zu lange nicht vögelt. Sie wird wütend. Ihr Sohn zieht weiter an ihr, wer weiß, was er jetzt 18


will, sie hebt nicht einmal mehr den Blick. Sie hat die Augen fest auf das Telefon gerichtet. “Was weißt du schon, seit wann ich nicht mehr vögele”, antwortet sie. Der Junge zeigt auf ein Mädchen mit einem Luftballon. “Das weiß ich sehr gut. Du selbst hast es mir vor weniger als einer Woche gesagt”, antwortet die Freundin. Sie erreichen das andere Ende der Brücke, der Junge zieht jetzt mit aller Kraft, als wolle er ihr den Arm ausreißen. Dabei deutet er auf den Wagen mit den bunten Luftballons und den kleinen Mann, der sie aufbläst. “Weißt du was, dann gehe ich eben mit deinem Glatten aus und vögele ihn, dann sehen wir ja, wer von uns gestresst ist!”, schreibt sie ihr. Sie holt eine Wasserflasche heraus, nimmt einen schnellen Schluck und wendet sich dem Kind zu. “Ich habe Nein gesagt!”, ruft sie laut. Doch das Ende des Satzes bleibt ihr im Hals stecken, sie verschluckt sich am Wasser. Sie fällt zu Boden. Wird ohnmächtig.

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Die Umstehenden eilen herbei. Das Kind ist verstört, durcheinander. Die Mama liegt auf dem Boden, mit geschlossenen Augen. Das Telefon wenige Meter von ihr entfernt. Der Luftballonmann ist der erste, der etwas tut. Er bahnt sich einen Weg durch die Menge und beugt sich über die Frau. Er versucht eine Mund-zu-Mund-Beatmung. Es herrscht gespannte Stille. Kurz darauf kommt die Mutter wieder zu sich. Da bemerkt sie, dass der Mann sie buchstäblich aufpustet. Ihr Bauch wird immer dicker, wie auch ihre Beine und Arme. Sie versucht, etwas zu stammeln, aber es kommt kein Ton heraus. Ihre Lippen sind verschlossen durch die des Mannes, der sie immer weiter aufpustet, zu einem riesigen Ballon. Jetzt schwebt die Frau in der Luft, genau wie ein Luftballon. Der Mann bindet ihr eine Schnur an den Knöchel und reicht sie dem Kind, unter den verwunderten Blicken der Zuschauer und einigem Applaus. 20


Die Augen des Kindes leuchten verzaubert. Es ist endlich ruhig. Es nimmt die Schnur und dankt dem Mann mit einem L辰cheln. Dann geht es 端ber die Br端cke davon, im Licht des Sonnenuntergangs, die Mama an einer Schnur 端ber ihm schwebend, wie ein riesiger Luftballon.

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Die Olive Giangiacomo Tedeschi Aus dem Italienischen von Julika Brandestini

Oliven nach Ascolaner Art habe ich schon immer geliebt. Ich erstand sie bei diesem schmutzigen, karamellfarbenen Kebabverkäufer. Ja, dem am Ende der Straße. Wenn ich eintrat, putzte er sich mit dem Hemdsärmel die Nase, bevor er mich bediente, und sagte dann, in einem Italienisch, das man nur mit viel Phantasie als solches bezeichnen konnte: “Was Sie wollen?” Seit drei Jahren ging ich zu ihm, beinahe jeden Samstag, und er wusste noch immer nicht, was ich wollte? Er war nicht nur dunkelhäutig, sondern auch schwer von Begriff. So war es auch an diesem Abend. Ich bestellte meine sechs Oliven nach Ascolaner Art, er reichte sie mir in einer braunen Papiertüre, die so schmierig war, dass 22


man meinte, sie müsse jeden Moment reißen. Aber wenigstens waren sie billig. Ich öffne die Tüte, nehme eine der Oliven zwischen Daumen und Zeigefinger: Ich lasse sie rotieren, drehe sie, wie ein Sommelier den Weinkelch. Ein perfektes Oval, ein Gefühl, als habe man die ganze Welt zwischen den Fingern. Unvergleichliches Goldbraun: ein richtiger Goldklumpen. Ich führe sie langsam zum Mund, dann ein einziger Haps. Beim ersten Zubeißen eine Geschmacksexplosion. Feuer und Flammen, ein Vulkanausbruch in meinem Mund. Die Fleischfüllung bahnt sich ihren Weg wie ein Lavastrom über Gaumen und Zunge. Ich kann nicht anders. Instinktiv schlucke ich. Die Olive, die dieser Idiot zu entsteinen vergessen hat, bleibt mir in der Kehle stecken. Ich reiße die Augen auf. Kann nicht aufhören zu husten, als wollte ich einen Lungenflügel ausspucken. Ich laufe purpurrot an. Ich versuche zu sprechen, doch es gelingt mir nicht, aus meinem Mund dringen erstickte Laute. Mit den Händen gestikulierend bitte ich um Wasser. 23


Hoffen wir, dass der Idiot mich versteht. Er rennt zum Waschbecken, füllt einen Becher bis zum Rand und reicht ihn mir. Ich reiße ihn aus seinen Händen und trinke, weiterhin hustend, so gierig wie jemand, der die Wüste durchquert hat. Ich spüre, wie das Wasser durch meine Kehle und an den Seiten des Mundes herabrinnt. Doch die Olive rührt sich nicht. Ich stelle den Becher auf der eke ab und schlage mir auf die Brust. Wie ein Gorilla. Ohne Erfolg. Da sehe ich, wie der Schwarze über die eke springt und hinter meinem Rücken verschwindet. Jetzt ist er hinter mir. Was willst du? Er umarmt mich auf Höhe des Brustbeins und beginnt zu pumpen: Eins, zwei, drei Mal. Mein Rücken schlägt gegen seinen Bauch, und ich spüre den Druck seines Beckens. Schon klar, was er von mir will: Er nutzt meine Lage schamlos. Man weiß ja, dass die alle so sind. Ich muss mich befreien. Mit dem wenigen Atem, der mir noch bleibt, reiße ich die Ellenbogen hoch und winde ich mich aus seinem Griff. Dann klammere ich mich schwankend an den Tresen, wie ein Betrunkener, und versuche, mich so weit wie möglich von diesem Perversen zu entfernen. 24


Mit erstickter Stimme stoße ich immer wieder hervor: “Hilfe … Hilfe …” Der Schwarze eilt hinter mir her, mit den Worten: “Ich helfen … ich helfen …” Ja, schon verstanden, wie du mir helfen willst. Ich taumele so gut es geht voran, weiterhin die eke umklammernd. Zuerst den Oberkörper, dann die Beine nachziehend. Mein Blick verschwimmt, beginnt sich zu verdunkeln, die Ränder verschwimmen, Bilder zerbröseln. Ich bleibe einen Moment stehen. Mit einer Hand reibe ich mir die Augen. Da holt er mich ein. Ich höre ihn, höre seinen Knoblauchatem und seine Stimme, die wiederholt: “Ich helfen … ich helfen …” Ich nehme den Becher, der noch immer auf der eke steht, und schleudere ihn auf ihn. Doch ich sehe nichts und habe keine Kraft. Anstatt eine perfekte Parabel zu beschreiben und direkt an seines Stirn zu landen, fällt das Glas vor meinen Füßen zu Boden und zerspringt in tausend Teile. Die Splitter fliegen umher wie Projektile. Ich schütze mein Gesicht mit einem Arm. Ich sehe beinahe nichts 25


mehr, nur noch Schatten, nur noch den Schatten des schwarzen Mannes. Aber ich kann noch hören. Ich höre, wie das Blut über meine Arme fließt, höre noch immer diese nervtötende Stimme, wenngleich von weiter her, wie das Gesumm einer Mücke. “Ich mich kümmern … keinen Sorge … ich mich kümmern …” Ich bin erschöpft, ich muss mich ausruhen. Ich setze mich auf den Boden und starre in die Dunkelheit. Mein Kopf ist schwer, ich muss mich einige Minuten hinlegen. Ich strecke mich auf dem kalten Boden des Ladens aus. Ein kalter Wind durchfährt mich. Ich habe Schüttelfrost. Er ist noch immer bei mir, ich sehe seinen Schatten an meiner Seite. Mit den Händen drückt er rhythmisch auf meinen Brustkorb: “Eins, zwei, drei … kommen Sie, mein Herr … eins, zwei, drei … nicht sterben, mein Herr …” Ich sterbe nicht, keine Sorge, ich schließe nur mal kurz die Augen. Ich spüre, wie sich der Schatten nähert, mir mit den Händen den Mund aufreißt, seine Lippen auf meine presst und beginnt zu pusten als wäre ich ein Schlauchboot.

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Ich bin müde, ich will schlafen und habe keine Kraft, mich zu wehren. Siehst du, ich hatte Recht, er ist eine kleine Schwuchtel … und er kann überhaupt nicht küssen.

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Ungezieferjagd, Maria Ribera Der groĂ&#x;e Luftballon, Paolo Marchione Die Olive, Giangiacomo Tedeschi

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