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Berkmüllers Beitrag zum Thurgauer Chorwesen

geschichte gehalten werden», sagte 1830 der massgebliche Thurgauer Reformer Pfarrer Thomas Bornhauser an der Landsgemeinde zu Weinfelden.85

Bornhauser stand mit dieser Überzeugung beileibe nicht alleine da. 1831 konnte man im «Wächter»86 einen Artikel zum bevorstehenden kantonalen Sängerfest lesen: «Ein solches Fest ist vor allem andern geeignet die Nationalität eines Volkes zu entwickeln und seine Freude zu veredeln. (…) Thurgaus politisches Leben hat sich umgestaltet. (…) Noch immer ist aber die Eintracht nicht zurückgekehrt, die Harmonie, die Bürgern eines freien Staates so wohl ansteht. Zwar wissen wir wohl, dass gerade die entgegen gesetztesten Meinungen wahre praktische Ansichten fördern, allein dazu gehört Ruhe, Besonnenheit und Ehre, Achtung jeder Meinung. (…) Ein Weg zur Aussöhnung, zur Befestigung neuer Eintracht bietet sich uns im künftigen Sängerfeste dar. Nirgends leichter als in erhebender Harmonie des begeisternden Liedes lösen sich die Bande der Zwietracht.»87 Zu diesem pathetischen Ton passt ganz gut, dass die Gesangfeste nicht selten mit Geschützdonner eröffnet wurden.

Den Chören der damaligen Zeit, in aller Regel Männerchöre, kam also eine eminent politische Bedeutung zu. So schlug auch Bornhausers Herz für seine Vorstellung von Vaterland, schreibt Hermann Lei und fährt fort: «Seine Gesangstunden mit dem von ihm gegründeten Gesangverein am Immenberg arteten oft in Geschichtsstunden aus. Seine Vorträge blieben vielen Mitgliedern unvergesslich.»88 Bornhauser hat seine Sänger und Bürger ganz offenbar zu begeistern gewusst. Mit seinem Chor «Gesangverein am Immenberg» mit Sängern aus Matzingen, Wängi und Stettfurt trat er am kantonalen Gesangfest mit 50 Mitgliedern an und war damit der grösste aller teilnehmenden Chöre.

Berkmüllers Beitrag zum Thurgauer Chorwesen

Nach Bornhausers Rücktritt als Chordirigent hat Berkmüller den Gesangverein am Immenberg übernommen und weitergeführt. Vermutlich fasste er seine Aufgabe etwas weniger politisch als vielmehr gesanglich auf. Wann dies geschah und wie lange er diese Aufgabe inne hatte, ist nicht ganz klar. Was indessen sicher ist: Berkmüller hat die Entwicklung des thurgauischen Chorwesens an vorderster Front mitbekommen und teilweise wohl auch mitgeprägt. Am Sängerfest 1844 in Kreuzlingen wurde «Herr Berkmüller von Wängi zum Vicedirektor (des Thurgauischen Kantonalgesangverbands) gewählt.»89 Er hatte dieses Amt bis 1848 inne und bewegte sich offensichtlich auch politisch in einflussreichen kantonalen Kreisen.

Da passt ganz gut, dass aus seinem Haushalt einige Schneiderrechnungen erhalten geblieben sind. Im Jahre 1846 liess er sich beim Schneider Gamper in Wängi einen Frack nach Mass schneidern und von der «Tuch- und Specerei Handlung Kappeler» einige Ellen «fein schwarz Tuch» liefern. Im Jahr darauf stellte ihm Schneidermeister Keller «eine Seiden weste» in Rechnung und zwei Monate später hat ihm Schneider Stadler für 44 Kreuzer «ein Schili gemacht».90

Überhaupt taucht der Name Berkmüller in Lei’s Verbandsgeschichte «150 Jahre

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Gedrucktes Festheft für die 22. Gesangaufführung des Thurgauischen Sängervereins in Weinfelden aus dem Jahre 1849. 14.0 x 22.0 cm. Inv.Nr. B510.MD03. Ortsmuseum Wängi.

Dienst am Lied – Thurgauischer Kantonalgesangverband 1828–1978» in verschiedenen Zusammenhängen auf. So in einem Protokoll aus der Anfangszeit des Thurgauischen Gesangverbandes. Der Vorstand forderte damals gewisse thurgauische Musiker auf, Kompositionen einzureichen, die bei Eignung mit einem Preis bedacht und Aufnahme ins offizielle Festheft finden sollten. «Die Wahl des Textes ist frei; die Komposition soll leicht singbar, daher einfach sein, aber nicht trivial. Die versprochenen Preise: 1. Preis zwei Taler, 2. Preis ein Taler (zwei Gulden 42 Kreuzer). Die eingegangenen Kompositionen wurden von den Herren Prof. Meier in Frauenfeld, Laur in Egelshofen, Seminardirektor Wehrli, Berkmüller in Wängi und Wenk in Wigoltingen geprüft. Sie erachteten die eingereichten Werke nicht als preiswürdig. Es konnte also keines ins Festheft aufgenommen werden. Berkmüller forderte die Komponisten aber auf, für ein späteres Festheft etwas zu schaffen und liess ihnen eine kleine Aufmunterungsprämie zukommen.»91

In der Folge geht Lei etwas ausführlicher auf die Person Berkmüllers ein und erwähnt: «Er war auch der Verleger einiger Liedersammlungen, aus denen heraus an den Gesangfesten gesungen wurde.» Dafür ein Beleg aus Elias Haffters Tagebuch: «Sonntag, 12. Januar 1845. Auf den Nachmittag waren die Abgeordneten der einzelnen Sängervereine zu einer Besprechung in die Traube (zu Weinfelden) eingeladen worden. Die zahlreich versammelten Delegierten fassten den Beschluss, durch Herrn Abt in Zürich eine passende Dichtung als Wettgesang für das eidgenössische Sängerfest in Schaffhausen komponieren zu lassen und Herr Berkmüller ersucht, den diesjährigen Liedervorschlag für Gemischten Chor in das neu herauszuge-

bende Heft aufzunehmen.»92 1850 fanden dann drei preisgekrönte Originalkompositionen im Festheft Eingang.

Offenbar hat Berkmüller über seine offizielle Funktion im kantonalen Gesangverband hinaus den Chorgesang auch privat gefördert. So schreibt Lei: «In den ersten Jahrzehnten seines Bestehens veranstaltete der Kantonalgesangverein öfters Wettbewerbe unter den Thurgauer Komponisten zur Erlangung von Originalkompositionen. 1846 hatte Berkmüller eine diesbezügliche Anfrage des Eidgenössischen Sängerfestes in Schaffhausen abgelehnt. Die Gründe sind nicht überliefert. 1847 kam Johannes Wepf, der Komponist des Thurgauer Liedes, in den Besitz einer Aufmunterungsprämie, die der Buchhalter und Zeichner Alfons Berkmüller aus Wängi ausgesetzt hatte.»93

Ein kurzer Blick auf die Titel und Liedanfänge der 1849 vorgetragenen Gesänge vermittelt einen aufschlussreichen Einblick in das damalige Repertoire der Gesangvereine und wohl auch auf die in den Chören gepflegte Weltanschauung. Wir befinden uns noch bis gegen die Mitte des Jahrhunderts im Zeitalter der Romantik. Der Schweizer «Sängervater» Hans Georg Nägeli (1773–1836) schreibt denn auch um 1825: «Charakteristisch für diese Zeit ist die Flucht aus der Realität des alltäglichen Lebens in das Unwirkliche, Phantastische, Mystische. Die Nacht, der Traum, die Einsamkeit standen im Zentrum der Empfindung. Die Musik hatte eine moralische Aufgabe zu erfüllen. Schlichte Volkstümlichkeit in Gedicht und Musik wurden nachgeahmt. Man fand ein neues Verhältnis zur Natur in ihrer vielgestaltigen Auswirkung auf den Menschen. Das Hochgebirge, der Sturm und andere elementare Mächte traten dem Sänger gegenüber.»94

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Titel95 Melodie / Text Textauszug

Psalm 135

Des Schweizers Vaterland

Freie Kunst

Heimath und Jugend

Schweizerischer Nationalgesang M: Laur T: Buch der Psalmen

M: Silcher T: Dion

M: Silcher T: Ludwig Uhland

M: Storch T: ohne Angabe

M: Nägeli T: Nägeli Halleluja, lobet ihr Knechte den Herrn, die ihr stehet im Hause des Herrn!…

O nenne mir das theure Vaterland, wo hoch der Freiheit Fahne weht…

Singe wem Gesang gegeben in dem deutschen Dichterwald…

Heimath, friedenvolles Thal, wo meine Wiege stand, grüne wipfelstolze Bäume…

Nation, Nation, wie voll klingt der Ton! Hinab zu den Thälern, hinauf zu den Höhn…

124 Gruss an die Schweiz

Der Tag des Herrn

Friedenswunsch

Der freie Mann

Lenz und Schweizer

Im Mai

Sängers Wanderlied M: Immler T: Wälti

M: Zwyssig T: ohne Angabe

M: Nägeli T: Wessenberg

M: Nater T: Krüsi

M: Abt T: ohne Angabe

Volkslied M u. T: ohne Angabe

M: Wehrli T: Bornhauser Sei mir gegrüsst, o Land, wo Lieb’ und Treue und Biedersinn in freien Männern schlägt!…

Das ist der Tag des Herrn! Ich allein auf weiter Flur, noch eine Morgenglocke nur, nun Stille nah und fern

Wo bleibst du, Sehnsucht aller Welt, zu lang entbehrter Friede

Sag an, mein Lied, was fühlt der freie Mann? Zu Gott erhebend seinen Blick…

Ha, wie die Knospen spriessen aus jedem Zweig heraus, wie murmelnd Quellen fliessen…

Drauss ist Alles so prächtig, und ist es mer so wohl, wenn mein’m Schätzle bedächtig a Sträussele i hol…

Lustig am wandernden Stab, Strassen hinauf und hinab schreit ich im Takte die Bahn…

Thurgauer Leserinnen und Lesen erinnern sich an die offizielle Hymne ihres Kantons. Sie ist mit ihrer romantischen Übersteigerung sowohl der Melodie als auch des Textes ins Fantastische und Mystische ein eindrückliches Beispiel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Thurgauer Lied endet mit der Strophe:

«Drum, Thurgau, nimm hin noch den schwellenden Gruss, nimm hin von den Lippen den glühenden Kuss, und bleibe in Eintracht und Liebe vereint, dann ewig die Sonne des Friedens dir scheint.»

Auch wenn für heutige Ohren das Lied etwas gar pathetisch tönt und stellenweise in den Vaterlandskitsch kippt, hat es sich erstaunlicherweise bis heute gehalten. Es spiegelt den Zeitgeist der Gründungszeit, und Berkmüller hat sich dem nicht entzogen. Heute würde man von einer gelungenen Integration eines Deutschen Einwanderers in den Thurgau sprechen.

Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich sowohl die politische Rolle der Chöre als auch die Einstellung zum gemeinsamen Gesang verändert.

«Die Hauptaufführung bildet den Glanzpunkt des Festes. Am Schlusse der Einzelvorträge sammeln sich die Sänger, um in gemeinsam gesungenem Liede der Verbrüderung und dem Zusammengehen Ausdruck zu geben! (…) «Man sang für Freiheit und Vaterland,» schrieb Emil Brenner 1928 im Jubiläumsheft 100 Jahre Kantonalgesangverein.96 Ganze vier Jahrzehnte hielt dieses vaterländische Denken die Sänger zusammen. Mit der Zeit gerieten aber die Vorträge der einzelnen Chöre immer mehr zum Wettbewerb. Juroren übernahmen die Bewertung. Ab 1848 nannte man sie «Kampfrichter». Diese bewerteten die Liedvorträge und erteilten Punkte, welche zu einer Rangierung führten. Das Misstrauen der Sänger in die «Kampfgerichte» wuchs und führte zu «Hader und Zwietracht». Statt wie früher 600 Sänger beteiligten sich nur noch 200 an der Hauptaufführung, immerhin dem Höhepunkt jedes Sängerfestes. Der Aktuar des Verbandes hielt mit unverhohlener Enttäuschung fest: «Viele Sänger betraten die Bühne, gaben dort ihre Kontrollkarten ab und verliessen das Podium gleich wieder, bevor der Gesang begann.» Verschiedene Vereine kehrten zudem dem Verband den Rücken und traten aus.97 Kantonale Gesangsfeste wurden nur noch alle zwei Jahre durchgeführt. Man schaffte auch die «patriotische Vielrederei» an den Gesangsfesten ab. Der inbrünstige Liedvortrag wurde allmählich abgelöst vom Bemühen um musikalische Qualitäten. Beurteilt wurden nun die stimmliche Reinheit, die korrekte Tonbildung, die Aussprache, der Rhythmus und die Dynamik. Allerdings hat dies die Kritik gegenüber der intransparenten Bewertung nicht beruhigt.

Auch der Sängerbund am Immenberg passte sich der Zeit an und zerfiel in einzelne Dorfchöre. 1872 wurde der «Sängerbund Wängi» gegründet und gehörte von Beginn weg zu den zehn grössten des Kantons. Zwei Jahre später errang er mit seinem Liedvortrag am 43. kantonalen Gesangsfest den Ehrenkranz aus Eichenlaub. Alfons Berkmüller war da schon 72 Jahre alt und wohl nicht mehr Chordirigent. Wie sehr ihn dieser politische Bedeutungsverlust der Thurgauer Männerchöre und später der Gemischten Chöre beschäftigt oder gar geschmerzt hat, wissen wir nicht. Auf alle Fälle stopfte er seine Sammlung an Chornoten als Isolationsmaterial in den Estrichboden seines 1870 erworbenen Hauses an der Dorfstrasse und überlieferte sie so – wohl unbeabsichtigt – der Nachwelt.

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