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Auch einige der Gebäude im Weiler Jakobstal sind mit Blitzschutzanlagen versehen: Links das Bauernhaus, dann in der Strassenkurve das unterdessen abgebrochene Kosthaus sowie die Spinnerei. Auf dem Giebel des Spinnereigebäudes ist ein Glockentürmchen gut zu sehen, wie schon in Wängi. Zuletzt werfen wir noch einen Blick in ein Thurgauer Schulbuch der Oberstufe aus der Zeit um 1828 und stellen fest, dass die Angst vor Gewittern und Blitzeinschlägen sogar in offiziellen Schulbüchern den jungen Menschen regelrecht eingeimpft wurde, und dies bis ins frühe 20. Jahrhundert!

Auch die 1866 erstellten Telegrafenleitungen faszinierten Berkmüller. Die Masten und Drähte quer durch das gewohnte Ortsbild hätte er in den Zeichnungen seiner letzten Jahre einfach weglassen können. Er tat es nicht. Im Gegenteil, auf den beiden folgenden Zeichnungen «Schäfliplatz» und «Wirtschaft zur Brücke mit Blick in die Frauenfelderstrasse» rückt er die neue Übermittlungstechnik (sie funktionierte noch mit dem Morsesystem) unübersehbar in den Vordergrund.

Den Bau der Frauenfeld-Wil-Bahn und deren Eröffnung im Jahre 1887 erlebte Berkmüller nicht mehr. Es hätte ihn gefreut. Er hätte die Schienen gezeichnet. Vielleicht sogar die Dampflokomotive mit rauchendem Kamin. Auf alle Fälle bezeugt die Zeichnung der Eisenbahnbrücke bei Bruggen St. Gallen seine Bewunderung für die Eisenbahn.

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Man kann nicht annehmen, dass Berkmüller von seiner Kunst hätte leben können. Sein Brotberuf war der eines Buchhalters. Damit verdiente er seinen Lebensunterhalt. Allerdings muss sein zeichnerisches Talent mindestens einem regionalen Kreis kunstinteressierter Personen bekannt gewesen sein.

Überschaut man die Motive jener Zeichnungen, welche nicht das Dorf Wängi und seine nächste Umgebung betreffen, so findet man neben Kirchen, Klöstern und Schlössern auffallend oft Pfarrhäuser, Fabrikantenvillen und Arzthäuser; alles Gebäude von traditionsbewussten und auch zahlungskräftigen Familien aus dem Bürgertum.

Gedicht aus dem thurgauischen Lesebuch für die Oberklassen. Oben links findet sich eine handschriftliche Datierung 7. Juli 1828. Die Bedeutung des Eintrags ist unklar. Der Schriftsteller Gustav Schwab lebte von 1792 bis 1850. Inv.Nr. B1943. Ortsmuseum Wängi. Das Gedicht belegt nicht nur die Angst oder den Respekt vor Gewittern im 19. Jahrhundert. Es zeigt darüber hinaus, wie diese Angst in der Schule der kommenden Generation übermittelt wurde. Wir können sogar davon ausgehen, dass die Oberstufenschülerinnen und -schüler das Gedicht mit dem apokalyptischen Ausgang auswendig lernen mussten. 113

114 Alphons Berkmüller. (1802 – 1879). Dorfplatz Wängi Unterdorf («Schäfliplatz») mit Gasthaus Schäfli. Bleistift. 11.8 x 7.2 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. Anzusetzen auf 1866 (Eröffnung des Telegrafenbüros) oder später. BmKat. Nr. 20. Ortsmuseum Wängi. Gut erkennbar sind die Telegrafendrähte, welche von Frauenfeld und von Wil her ins Telegrafenbüro im Gasthof Schäfli führen.

Alphons Berkmüller. (1802 – 1879). Wirtschaft zur Brücke mit Blick in die Frauenfelderstrasse. Bleistift. 11.5 x 7.5 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. Anzusetzen auf 1866 (Eröffnung des Telegrafenbüros) oder später. BmKat. Nr. 23. Ortsmuseum Wängi. Auch hier gut sichtbar die Telegrafenleitung in Richtung Frauenfeld und Wil.

Alphons Berkmüller. (1802 – 1879). Kräzerenbrücke bei St. Gallen Bruggen. Bleistift. 9.5 x 6.0 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 68. Privatbesitz. Aktueller Standort unklar. Reproduktion nach Diapositiv 1980.

Vielleicht hatte er mit der Zeit in der näheren und weiteren Umgebung von Wängi durchaus sein Publikum. Der Schluss liegt nahe, dass es sich bei einigen Werken um Auftragsarbeiten gegen Bezahlung handeln könnte. Dass diese zum Teil in Farbe und in grösseren breitovalen Formaten gemalt sind und darunter teilweise mit eigenhändigen Anmerkungen oder Familienwappen versehen wurden, verleiht ihnen eine gewisse Vornehmheit. Einige dieser Werke hat er auch mit vollem Namen unterzeichnet, wo er sich sonst mit den Initialen AB begnügte. So könnte es gewesen sein. Berkmüller könnte sich zu seinem Buchhaltergehalt ein Zubrot verschafft haben, bei einem Buchhalter ja keine allzu grosse Überraschung! Sicher ist es nicht. Einschlägige Belege fehlen. Immerhin ist Angelus Hux bei seinen Recherchen zur Geschichte der katholischen Kirche Lommis auf eine interessante Spur gestossen.82 In den Protokollen des Sittengerichts und der Pflegekommission der katholischen Kirchgemeinde Lommis findet sich nämlich am 10. Februar 1867 folgender Eintrag: «5) Es wird der Pflegekommission Kenntnis gegeben von einem Geschenk durch Herrn Berkmüller in Wängi, bestehend in einer Zeichnung des ehemaligen Schlosses Spiegelberg, dessen alte Besitzer die beiden Kaplaneien Lommis gestiftet haben. Es soll dem Herrn Berkmüller in einer Zuschrift geziemend gedankt werden. Moser Pfarrer.»83 Trotz eingehender Recherchen im «Cassabuch für den kath. Pfründ & Kirchenfond Lommis von 1861» konnte nirgends eine Zahlung an Berkmüller gefunden werden. Er hat sich wohl in diesem Fall mit

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Alphons Berkmüller. (1802 – 1879). Schloss Spiegelberg. Aquarell über Bleistift. Breitoval 21.0 x 15.2 cm. Mit Signatur: «A. Berkmüller». Mit Datierung: «1856». Mit Anmerkung: «Bei Morgenbeleuchtung einer alten Chronik entnommen». BmKat. Nr. 150. Katholische Kirchgemeinde Lommis. Reproduktion mit Genehmigung.

116 dem geziemenden Dankesschreiben begnügen müssen. Von der Schmiede an der Dorfstrasse (heute Hausnummer 17) sind drei Zeichnungen erhalten, eine davon aquarelliert. Zwar ist das Gebäude mit Vorgarten und Brunnen dreimal dasselbe. Auch die Pappeln stehen standhaft an ihrem Platz. Nur die Szenen vor dem Wohnhaus links, vor der Schmitte rechts und auf der Strasse unterscheiden sich in zahlreichen Einzelheiten. Man ist versucht, das Spiel mit den zehn Unterschieden zu spielen.

Die eine dieser drei Arbeiten ist alt gerahmt und darunter steht mit Bleistift «Das Vaterhaus». Auch dies ein möglicher Hinweis, dass die Besitzer der Schmiede, die Gebrüder Thalmann, das Bild bei ihrem Nachbarn Berkmüller bestellt haben.

Im Zusammenhang mit der mehrfachen Darstellung desselben Motivs – zum Beispiel auf Grund eines Folgeauftrags – fällt die Zeichnung BmKat. Nr. 49 des Klosters Tänikon auf. An einigen Stellen sind Nadelstiche zu entdecken. Diese könnten darauf hindeuten, dass das Werk einmal massstabgetreu kopiert worden ist. Und tatsächlich existiert vom selben Motiv eine zweite Zeichnung. Die Gebäudegruppe ist genau gleich gross und gegenüber der ersten Fassung nur in Details verändert. Lediglich der Vordergrund mit seinem Baumbestand ist neu gestaltet und leicht vergrössert. Berkmüller hat allerdings auch Werke verschenkt. Vom Album für Georg August Stierlin ist bereits berichtet worden. Auch der Arzt Dr. Ammann schreibt 1933, Berkmüller habe Dr. Walder im Jahre 1850 eine Zeichnung des Weierhauses geschenkt.84 In jenem Jahr übernahm der Vater von Hermann Walder die Praxis von Dr. Ammann, dem damaligen Arzt und Bewohner des Weierhauses. Auf der Zeichnung seien die Maulbeerbäume zu sehen, mit denen Ammann seine Seidenraupen im grossen Saal im ersten Stock züchtete. Es muss sich hierbei um die Zeichnung «Weierhaus vor dem Umbau von 1853» BmKat. Nr. 9 handeln,

Eintrag im Protokoll des Sittengerichts und der Pflegekommission der katholischen Kirchgemeinde Lommis vom 10. Februar 1867. Darin hält Pfarrer Moser das Geschenk von Berkmüller an die Pflegekommission Lommis fest.

Alphons Berkmüller. (1802 – 1879). Dorfstrasse Wängi mit Schmiede Thalmann Bleistift. 12.0 x 7.8 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 17. Ortsmuseum Wängi.

Alphons Berkmüller. (1802 – 1879). Dorfstrasse Wängi mit Schmiede Thalmann. Bleistift. 12.0 x 8.0 cm. Mit Signatur: «Nach d. Natur gezeichnet v. AB». Mit Datierung: «1877». BmKat. Nr. 84. Privatbesitz. Aktueller Standort unklar. Reproduktion nach Diapositiv 1980. Die Zeichnung ist gerahmt und mit «Das Vaterhaus» untertitelt. Daraus schliessen wir, dass wohl jemand aus der Familie Thalmann die Zeichnung bei Berkmüller bestellt hat. Er war ja ihr Nachbar. Das Berkmüller Haus ist auf beiden Zeichnungen gleich hinter den Pferden vor der Schmitte gut zu erkennen. 117

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Alphons Berkmüller. (1802 – 1879). Dorfstrasse Wängi mit Schmiede Thalmann. Aquarell über Bleistift. 18.5 x 13.0 cm. Mit Signatur und Datierung: «AB 71 nach der Natur». BmKat. Nr. 83. Privatbesitz. Aktueller Standort unklar. Reproduktion nach Diapositiv 1980.

welcher wir in einem vorherigen Kapitel bereits begegnet sind.

Auf verschiedenen Wegen sind wir nun dem Werk von Alphons Berkmüller begegnet und haben vieles entdeckt, was uns bislang verborgen geblieben ist. Seine Art, uns seine Welt zu schildern, hat uns auf mancherlei Weise berührt. Wir haben zu einem tieferen Verständnis für ihn als Menschen und Zeichner in seiner Zeit gefunden.

Dabei war Berkmüller nicht der überragende Künstler seines Jahrhunderts. Er drängte sich in der Kunstwelt nicht nach vorn. Er profilierte sich nicht mit grossen Gesten und blieb Zeit seines Lebens auch in seiner Kunst der solide und arbeitssame Buchhalter. So wie er pflichtgetreu seine Zahlen zu Kolonnen ordnete, fehlerfrei die immer gleichen Rechenoperationen nach den immer gleichen mathematischen Regeln ausführte, so ging er wohl auch als Zeichner vor: Mit grosser Sorgfalt und Konzentration, mit grosser Genauigkeit und Detailversessenheit setzte er Strich für Strich. Seinen Sujets, seinen Techniken, seinem Stil und seinen Formaten blieb er treu. Und doch wirkt sein Werk nie langweilig.

Er hat die verschiedenen Epochen seines Jahrhunderts von der Romantik bis zum Impressionismus mehr oder weniger intensiv zur Kenntnis genommen. Er hat dabei unterschiedliche Elemente in sein Werk ein-

Alphons Berkmüller. (1802 – 1879). Kloster Tänikon. Bleistift. 2.0 x 8.0 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 85. Privatbesitz. Aktueller Standort unklar. Reproduktion nach Diapositiv 1980. Diese Zeichnung ist nun den Nadeleinstichen nachgezeichnet. Vordergrund und Umgebung sind anders gestaltet und leicht vergrössert. Alphons Berkmüller. (1802 – 1879). Kloster Tänikon. Bleistift. 11.7 x 7.3 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 49. Ortsmuseum Wängi. Auf dem Bild sind an einigen Gebäudeecken Nadelstiche als dunkle Punkte zu erkennen. Auf einem unterlegten Zeichenpapier konnte Berkmüller dann das Kloster nachzeichnen.

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fliessen lassen und in seiner unverwechselbaren und eigenständigen Handschrift zur Synthese gebracht. Er hat ein beachtliches künstlerisches Werk hinterlassen, welches uns bis heute zu begeistern vermag.

Allerdings: Das ist noch nicht alles! Berkmüller pflegte noch ein zweites Hobby, nämlich den Chorgesang. Und zwar nicht nur nebenher! Im nächsten Kapitel setzen wir daher unsere Spurensuche fort, wenn auch in eine ganz andere Richtung. Da kommt noch viel bislang Unbekanntes zum Vorschein. Soviel sei schon einmal verraten.