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Berkmüller im Rahmen der Schweizer Kleinmeister

Alphons Berkmüller. (1802 – 1879). Weierhaus Wängi. Aquarell über Bleistift. 15.5 x 10.0 cm. Mit Signatur: «Doktor Ammans Haus, bewohnt von Dr. Walder in Wengi. Zeichnung von A. Berkmüller». Ohne Datierung; auf 1850 anzusetzen. BmKat. Nr. 09. Privatbesitz. Aktueller Standort unklar. Reproduktion nach Diapositiv 1980.

der. Die Umgebung des Gebäudes indessen ist lediglich mit dem Aquarellpinsel locker hingetupft. Es gibt sonst in Berkmüllers Oeuvre kein vergleichbar luftig gemaltes Werk. Besonders eindrücklich ist in diesem Zusammenhang der Wagen links im Vordergrund. Mit einigen wenigen Pinselstrichen ist er mehr angedeutet als dargestellt. Die Frage, ob nun diese Art des «Non finito» dem Gestaltungswillen des Künstlers oder dem Geschmack des Auftraggebers entsprang, bleibt wohl für immer offen.

Bei diesem Aquarell muss es sich um eine Auftragsarbeit für Dr. Hermann Walder handeln, welcher 1850 die Praxis seines Vorgängers Dr. Ammann im Weierhaus übernahm.

Berkmüller im Rahmen der Schweizer Kleinmeister

Nach allem, was wir bisher festgestellt haben, ist Berkmüller keiner der erwähnten Epochen und damit keiner Kunstrichtung eindeutig zuzuordnen. Zu eigenwillig, zu beständig oder auch zu unbekümmert steht sein bildnerisches Schaffen zwischen all den grossen Kunsttrends. Unverrückt hält er sein ganzes Leben lang an seinen Sujets, an seinen Techniken und an seinem Stil fest.

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Dabei wäre die Versuchung gross gewesen. Der aufkommende Tourismus des 18. und 19. Jahrhunderts schuf in kurzer Zeit eine grosse Nachfrage nach Städte- und Landschaftsansichten.

Die Schweiz geriet in den Fokus der internationalen Reisetätigkeit. Die sogenannten Schweizer Kleinmeister befriedigten den Wunsch nach Erinnerungsbildern an die erlebten Sehenswürdigkeiten. Jahrzehnte später verdrängten dann die billigeren fotografischen Ansichtskarten diesen Markt. Die Kleinmeister zeichneten Gebäude, Städte und Landschaften und nahmen dabei immer den Blickwinkel des bewundernden Betrachters ein. In einem zweiten Schritt bereicherten sie ihre wirklichkeitsgetreuen Darstellungen mit allerhand Staffagen, wie etwa reisenden Personen oder arbeitendem Landvolk.

Ihre Darstellungen, in der Kunstwissenschaft auch Veduten genannt, haben oft etwas Prospekt- oder Kulissenhaftes. Sie dokumentieren einerseits eine besonders reizvolle Landschaft oder ein bemerkenswertes Gebäude, wie etwa ein Schloss oder eine Stadtansicht. Ganz im Sinne einer zuverlässig abgebildeten, wirklichkeitsgetreuen Ansicht. Der Reisende soll mit der erworbenen Vedute eine gesicherte Erinnerung mit dokumentarischer Wiedererkennbarkeit mit nach Hause nehmen und dort davon berichten können. Gleichzeitig will die Vedute aber auch als Bild wahrgenommen und verstanden werden und dem Betrachter ein Stück Reisegeschichte erzählen.

Wir haben auf unserer Spurensuche bereits verschiedentlich weit über den Wängemer Horizont hinaus geblickt. Die Zuordnung Berkmüllers zu den Schweizer Kleinmeistern erweist sich gerade auch in diesem Zusammenhang als hilfreich.

Mit deren Kunst und mit deren Ausrichtung auf den europäischen Raum hat sich Berkmüller auseinandergesetzt; und sei es nur, um ihre Bilder als Vorlagen für eigene Zeichnungen zu benutzen.

Wir vergleichen in der Folge eine Reihe von Zeichnungen Berkmüllers aus jenem Album, welches er seinem Arbeitgeber Johann August Stierlin gewidmet hat, mit entsprechenden Werken einiger ausgewählter Kleinmeister.70 Deren kolorierte Stiche müssen Berkmüller beeindruckt haben. Allerdings kopierte er nicht einfach den Zeitgeschmack. Vielmehr übertrug er die Vorlagen in seine eigene Bildsprache. Dazu wählte er sehr oft kleinere Formate und verwendete in aller Regel, trotz der mit Sicherheit farbigen Vorlagen, lediglich Bleistift. Höchstens, dass er ein leicht getöntes Papier oder eine entsprechende Grundierung verwendete.

Vor allem dem bis dahin noch weitgehend unbekannten Hochgebirge galt nun ein breites Interesse. Zwar ängstigten sich die europäischen Flachländer durchaus vor den harschen Bergmassiven, den schroffen Felswänden, den eisigen Gletschern, den wilden Schluchten mit ihren ungebändigten Wasserfällen. Gleichzeitig aber erlagen sie einer bis anhin unbekannten Faszination. Die ungezähmte Gebirgswelt mit ihren – vorerst wenigstens – unerreichbaren Gipfeln, ihren menschenfeindlichen Firnen und ihren tosenden Wasserfällen gerieten zur Metapher

für Freiheit schlechthin. Die folgenden Bilder zeigen auf eindrückliche Weise solche Übersteigerungen der Gebirge zur «grandiosen und heroischen Alpenwelt».

Wir wissen nicht, inwieweit Berkmüller die damalige Bewunderung der majestätischen Bergwelt und diese Faszination mitgetragen und selbst Wanderungen in die Berge unternommen hat.

Die folgenden Gegenüberstellungen sollen aber illustrieren, dass er mit den damals aktuellen Themen der Schweizer Kleinmeister vertraut war. Mit seinen Zeichnungen gehört er gewissermassen in ihren Kreis. Bei den ausgewählten Beispielen handelt es sich jeweils nicht um Vorlage und Kopie. Vergleichbar sind lediglich die Motive: Schroffe Gebirge, Gletscher und Wasserfälle, Seen und Schifffahrt, Gotthardmythos und Urschweiz, Hirten und einfaches Landleben.

Alphons Berkmüller (1802 – 1879): Das Wetterhorn (Bern). Bleistift. 12.5 x 18.5 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 134. Ortsmuseum Wängi. Johann Jakob Meyer (1787 – 1858): Well- und Wetterhorn von Nordosten gesehen. Tusche und Aquarell über Bleistift. 41.9 x 56.5 cm. Inv. B11065. Museum zu Allerheiligen Schaffhausen. Reproduktion mit Genehmigung. 81

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Alphons Berkmüller (1802 – 1879): Feex-Gletscher (Graubünden) Bleistift. 12.5 x 18.0 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 126. Ortsmuseum Wängi.

Johann Jakob Meyer (1787 – 1858): Der Rhonegletscher von Gletsch aus. 1830. Tusche und Aquarell über Bleistift. 57.5 x 41.0 cm. Signiert und datiert. Inv. B11068. Museum zu Allerheiligen Schaffhausen. Reproduktion mit Genehmigung.

Alphons Berkmüller (1802 – 1879). La chûte du Reichenbach (Berne). Bleistift. 13.0 x 18.0 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 133. Ortsmuseum Wängi. Gabriel Lory. (1784 – 1846). Der Reichenbachfall. Aquarell über Bleistift. 31.9 x 47.5 cm. Inv. B11043. Museum zu Allerheiligen Schaffhausen. Reproduktion mit Genehmigung. 83

Neben den mitunter beschwerlichen Reisen ins Gebirge kamen erbaulichere See- und Städtereisen in Mode. Auch davon liess sich Berkmüller inspirieren. Als Dorfbewohner von Wängi faszinierten ihn ferne Seen und grosse Städte. Immer spielte da ein Hauch Exotik mit. Zudem regten Reiseberichte die Fantasie an: Verwunschene Seen und Schlösser in fernen Landen, Vulkane in Süditalien und Paläste im Orient. Von solchen Reiseberichten hatte Berkmüller Kenntnis. Wir erinnern uns an sein Buch «Die Erde und ihre Bewohner», aus welchem er einen Stich kopierte. Sollte er selbst wirklich keine Reisen unternommen und weder das Gebirge noch die fernen Städte aus eigener Anschauung gekannt haben, so fühlte er sich von den fremden Welten dennoch angezogen. Er wählte seine Vorlagen mit Bedacht und kopierte sie mit Hingabe.

84 Alphons Berkmüller (1802 – 1879): Peters-Insel im Bielersee. Bleistift. 19.5 x 13.0 cm Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 120. Ortsmuseum Wängi.

Johann Joseph Hartmann (1753 – 1830). Vue de l’Isle St. Pierre sur le Lac de Bienne. 1787. Kolorierte Umrissradierung. 42.1 x 28.1 cm. Inv. B7181. Museum zu Allerheiligen Schaffhausen. Reproduktion mit Genehmigung.

Zur Übersteigerung des unverdorbenen Gebirges als «grandiose und heroische Alpenwelt» zur politischen Metapher für Freiheit schlechthin gehörte die gleichermassen romantisierte Übersteigerung des Landlebens. Bauern und Hirten fernab aller städtischen Verlockungen wurden zu Symbolfiguren eines natürlichen, unverdorbenen und freien Lebens emporstilisiert.

Inbegriffen in diesen Mythos waren Vorstellungen einer gesunden Landluft und heilender Quellen. Berkmüller hat das gewusst. Er hat ja selbst das Wängemer Heilbad Jakobsbad samt den städtischen Badegästen mehr als einmal in Zeichnungen festgehalten.

Alphons Berkmüller (1802 – 1879): Göschenen. Bleistift. Breitoval 20.0 x 15.0 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 115. Ortsmuseum Wängi.

Unbekannter Künstler. Vue de Fameux Pont du diable sur la Reuss, au Mont St. Gothard, Canton Uri, grand passage pour aller de Suisse en Italie. Kolorierte Umrissradierung. 25.1 x 32.4 cm. Inv. C7571. Museum zu Allerheiligen Schaffhausen. Reproduktion mit Genehmigung. 85

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Alphons Berkmüller (1802 – 1879): Im Berner Oberland. Bleistift. 18.5 x 12.0 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 123. Ortsmuseum Wängi.

Matthias Pfenninger (1739 – 1813). A Wiedicon / aux Environs de Zuric. Kolorierte Umrissradierung. 21.4 x 13.8 cm. Inv. C7912. Museum zu Allerheiligen Schaffhausen. Reproduktion mit Genehmigung.

Alphons Berkmüller (1802 – 1879): Lausanne. Bleistift. 24.0 x 16.5 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 143. Ortsmuseum Wängi.

Gabriel Lory, genannt Lory fils (1784 – 1846). Lausanne, von Nordosten. 1806. Kolorierte Umrissradierung. 67.8 x 44.1 cm. Inv. C7373. Museum zu Allerheiligen Schaffhausen. Reproduktion mit Genehmigung.

Wenn wir den Horizont geografisch noch etwas erweitern und über die unmittelbaren Landesgrenzen in «die weite Welt» hinausschauen, so finden wir auch hier wieder dieselben romantischen Träume mit Wasserschlössern, exotischen Inseln, rauchenden Vulkanen und orientalischen Fantasien.

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Alphons Berkmüller (1802 – 1879): Laxenburg (Wien). Bleistift. 18.0 x 12.0 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 105. Ortsmuseum Wängi. Laxenburg war die Residenz des österreichischen Kaisers Franz II. Er liess einen englischen Landschaftspark mit künstlichen Wasserflächen anlegen und auf einer aufgeschütteten Insel ein Schlösschen in neugotischem Stil mit maurischem Einschlag errichten.

Pierre-Samuel-Louis Joyeux (1749 – 1818) und Friedrich Georg Wexelberg (um 1745 – um 1820). Le Château de Chillon en allant de Vevey à Villeneuve. Kolorierte Umrisssradierung. 48.3 x 32.9 cm. Inv. C7102. Museum zu Allerheiligen Schaffhausen. Reproduktion mit Genehmigung.

Alphons Berkmüller (1802 – 1879): Der Aetna (Sicilien). Bleistift. 20.5 x 14.0 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 112. Ortsmuseum Wängi.

Alphons Berkmüller (1802 – 1879): Im Orient. Bleistift. 18.0 x 12.0 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 141. Ortsmuseum Wängi.

Reisen in andere Länder galten als soziales Prestige und blieben als kulturelle Praxis den oberen Schichten vorbehalten. Berkmüller hat als Buchhalter kaum dazu gehört. Vorstellbar ist vielmehr, dass er mit seinen Zeichnungen einem Wunsch seines verehrten Auftraggebers Georg August Stierlin nachkam. Dafür sprechen auch die Titel in französischer Sprache. Es waren nicht zuletzt französische Kupferstecher und Koloristen, welche zum einen die landschaftlichen Eigenheiten der alpinen und ländlichen Schweiz erkannten.71 Zum andern sahen sie wohl auch die Möglichkeiten des damals aufkommenden Tourismus kommen und brachten in möglichst grosser Zahl eindrucksvolle Erinnerungsbilder auf den Markt. Die in Kupfer gestochenen Umrissskizzen wurden x-fach gedruckt und hernach koloriert. So wich jedes Blatt ein wenig vom andern ab und erinnerte an originale Ölbilder. Wir erinnern uns: die Fotografie kam später.

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Ausschnitt aus dem Hülfsbuch für Reisende durch die Schweiz mit Abbildungen von Gasthöfen von J.J. Leuthy. 1840. Faksimiledruck. Auf der Textseite links sind die Sonne in Tägerwilen und der Bären in Uttweil beschrieben. Die Abbildung rechts zeigt das Gasthaus zum Ochsen in Wagenhausen bei Stein am Rhein. Die Darstellung orientiert sich an der Vedutenmalerei des 19. Jahrhunderts und zeigt kulissenartig den Gasthof vor dem Schloss Hohenklingen. Auf dem Platz davor beobachten neugierige Jugendliche aus dem Dorf einige städtisch gekleidete Reisende, welche soeben einer vornehmen Droschke entstiegen sind.

Zum Schluss nur noch kurz dies: Berkmüllers gleich im ersten Kapitel erwähnte Darstellung des Schäfliplatzes in Wängi mit dem stattlichen Gasthof und den verschiedenen Reisenden zu Pferd oder in Droschken erinnert sehr stark an die in der damaligen Zeit aufkommenden Reiseführer. Ein besonders frühes Beispiel ist das «Hülfsbuch für Reisende» von J.J. Leuthy aus dem Jahre 1840.72 Einen kleinen Ausschnitt daraus haben wir bereits eingangs mit dem Bericht über den Gasthof Engel im Nachbardorf Münchwilen kennen gelernt.

Wenn wir abschliessend zurückkommen auf unsere zweite Frage, nämlich was die Faszination Berkmüllers heute noch ausmacht, zeigen diese wenigen Vergleiche mit den Werken einiger Vertreter der Schweizer Kleinmeister: Es ist die Bewunderung der ungezwungenen Natur. Und es ist die Möglichkeit zu reisen und unbekannte Orte und Länder zu entdecken. Ungezwungenheit, Selbstbestimmung und erweiterte Horizonte werden zu Sinnbildern für den neuen Menschen. Indem Berkmüller solche Sujets übernimmt, sprengt er seinen Horizont eines