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Berkmüllers Weltbild

Aber, ist dies die damalige Realität?

Alphons Berkmüller bedient mit seinen beschaulichen und überschaubaren Welten dieses Bedürfnis nach Einfachheit. Seine Werke überfordern den Betrachter nie. Immer sind sie verständlich, immer haben sie etwas Geruhsames, etwas Tröstliches. Es sind liebenswürdige Erzählungen eines friedfertigen Dorflebens. Das berührt uns; selbst dann, wenn wir uns bewusst sind, dass solche Vereinfachungen die Erzählung nicht wahrer machen.

Die Fakten lagen anders. Die damals noch kleinbäuerlich organisierte Welt im Murgtal ging zu Ende. Was folgte waren Bewegung und Aufbruch, begleitet von Erschütterungen und Unsicherheiten. Der Bruch mit der Vergangenheit wurde Programm. Die Moderne begann. Berkmüller war Zeitzeuge.

In seiner Ansicht vom Weiler Jakobstal bildet Berkmüller drei dominante Fabrikgebäude samt Fabrikschlot ab, ordnet sie aber harmonisch in die ländliche Idylle ein. Auf der Strasse promenieren Leute, und Bauern bringen ihr Heu ein.

Berkmüllers Weltbild

Natürlich hat Berkmüller all die gesellschaftlichen und politischen Schattenseiten seiner Zeit gekannt und wohl auch am eigenen Leibe erfahren. Über die wirtschaftlichen Umbrüche, welche die Industrialisierung des Murgtales mit sich brachte, war er als Buchhalter der Spinnerei und Weberei Wängi aus der Nähe informiert.

Aber am Feierabend blendet er diese Realitäten aus. Er schafft in seinen Werken eine Welt der Gemächlichkeit und der Ruhe. Er stellt – bewusst oder unbewusst – der Realität eine Art Gegenwelt entgegen. Er zeigt dörfliche Beschaulichkeit. Allfällige Gedanken an die mühsame Arbeit in den Maschinensälen der Fabrik tauchen nicht auf. Lieber zeigt er ländliche Rechtschaffenheit und bäuerlichen Fleiss. Er vergisst die Schweissperlen auf der Stirn der Fabrikarbeiter, den Husten vom eingeatmeten Staub, die Baumwollfusseln in den Haaren, die Blasen an den Händen. Kein ständiger Kampf um ein karges Leben, keine gebeugten Rücken, kein frühes Altern, Berkmüller liebt die stimmungsvollen Landschaften, bevölkert von emsigen Menschen,

Alphons Berkmüller. (1802 – 1879). Jakobstal von Süden. Bleistift. 11.5 x 7.5 cm. Ohne Signatur und Datierung. BmKat. Nr. 29. Ortsmuseum Wängi. 15

16 immer überstrahlt von einem heiteren Himmel mit Schönwetterwolken.

Es sind zwei Dinge, welche uns beim Betrachten seiner Zeichnungen auffallen: Da sind einerseits die realistisch portraitierten Häuser im Sinne von «Genau so sieht es aus». Zum andern bettet er diese Häuser in eine idealisierte Umgebung ein. Er zeigt die Welt, wie er sie sehen wollte und nicht, wie sie tatsächlich war. Indem er all die zeitbedingte Verunsicherung und Mühsal des alltäglichen Lebens ausblendet, trifft er einen Nerv seiner Zeit. Und er trifft, ohne dass er’s hätte ahnen können, Generationen später denselben Nerv nochmals. Auch heute fühlen sich Menschen von der Komplexität und Geschwindigkeit ihrer Welt überfordert. Was liegt da näher, als von einer beschaulichen und übersichtlichen Vergangenheit zu träumen, von einer Zeit, die es so nie gab.

Vielleicht ist es diese doppelte Botschaft, der gleichermassen wirklichkeitsgetreuen Abbildung als auch der idealisierten Darstellung, welche letztlich den Grundstein für Berkmüllers anhaltenden Erfolg über die Jahrhunderte ausmacht.

Armenhäuser waren seit jeher Brennpunkte sozialer Not. Armut und Gebrechlichkeit prägten das Leben in und um diese Häuser. Wer auf Berkmüllers Zeichnung

Alphons Berkmüller. (1802 – 1879). Armenhaus Neuhaus Wängi mit Ordensschwestern. Bleistift. 9.5 x 6.0 cm. Ohne Signatur. Ohne Datierung. BmKat. Nr. 26. Ortsmuseum Wängi.

vom Armenhaus Wängi die alten Leute sucht, sucht vergebens. Zu sehen sind, wie schon auf dem Schäfliplatz, Spaziergänger und Kinder; meist paarweise und in Gespräche vertieft.

Otto Bischof würdigt in seinem Aufsatz zu Berkmüller dessen hervorragendes zeichnerisches Talent. Und er schreibt: «Die Zeichnungen Berkmüllers ergeben ein treffendes Bild vom Aussehen unserer Gegend vor hundert Jahren.»6 Genau dies ist nach unseren bisherigen Überlegungen anzuzweifeln. Berkmüller ist nicht einfach der dokumentarisch präzise Berichterstatter. Immer stellt er der Wirklichkeit seine konstruierte Idealwelt entgegen. Damit ist er Teil des damaligen Zeitgeistes. Doch davon später.

Zunächst wenden wir uns dieser Wirklichkeit zu. Wir schauen aus verschiedenen Perspektiven auf Wängi im 19. Jahrhundert. Alphons Berkmüller ist als Mensch kaum zu verstehen ohne diesen Blick auf seine Zeit, auf seine beruflichen und familiären Umstände. Wir wollen hier vor allem auf erstere näher eingehen, während letztere dem Wängener Heft 7 über seine Frau Katharina Berkmüller-Stutz vorbehalten sind.

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