Komplex 2019

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DAS MAGAZIN DER HALTER AG Nr. 12/2019



Editorial

Mut haben. Neue Wege gehen. Etwas anders machen als zuvor. Manchmal fällt das nicht leicht. Manchmal ist es wie eine Befreiung. In den meisten Fällen jedoch stellt es den Schritt dar, der nötig ist, um eine Sache voranzubringen. So wie bei unserem Unternehmensmagazin «Komplex», das wir 2008 lancierten und bis in unser Jubiläumsjahr 2018 elfmal druckten. Schon diesen Mai gingen wir mit komplex-magazin.ch online, nun kommt unsere neue Print-Ausgabe. Sie ist anders. Aus gutem Grund. Die Digitalisierung hat in den letzten Jahren nicht nur die Bauindustrie erfasst. Die Medien wurden schon viel früher in ihren Grundfesten erschüttert. Ihre Flucht ins Internet hat für sie bis heute keine Lösung gebracht. Im Gegenteil. Die Jagd nach Klicks und Reichweiten schadet den journalistischen Inhalten – online, aber genauso im Print. Publikationen buhlen um breite Zustimmung, anstatt kritisch zu hinterfragen. Was nicht dem Mainstream und dem Zeitgeist entspricht, dem wird nur selten Platz eingeräumt. So werden Inhalte zunehmend austauschbar und belanglos. Dieser Entwicklung wollen wir entgegensteuern. Mit dem neuen «Komplex», einem Magazin aus der Wirtschaft, das Platz für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Themen rund ums Bauen schafft. Der Raum für den Diskurs war schon immer Teil seiner DNA. Architekturreportagen, Sachbeiträge, Interviews und Kolumnen bildeten den Kern dessen, was Sie über die letzten Jahre kennengelernt haben. Kurzmeldungen als Auftakt und ein Unternehmensteil mit Projektbeschrieben dienten als Rahmen. Dieser fällt nun weg – weil nüchterne Daten und aktuelle Nachrichten einen besseren Platz im Internet haben. Auf halter.ch finden Sie schon lange alles, was Sie über unser Unternehmen wissen müssen. Und mit komplex-magazin.ch gibt es nun auch eine Online-Plattform, die Themen aus unserem Tätigkeitsbereich in journalistischer Form spannend und attraktiv aufbereitet. Neben klassischen Textbeiträgen und Bildreportagen können wir hier auch bewegte Bilder zeigen – Filme, Drohnenflüge, 3D-Animationen. So, wie sich die ­Halter AG in den letzten Jahren durch die Anwendung neuer 3

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digitaler Tools und digital gestützter Arbeitsabläufe verändert hat, so wandelt sich auch unsere Kommunikation. Eine eigene Meinung vertreten, das dürfen unsere Autoren. Das sollen sie sogar. Denn nur der, der fragt und hinterfragt, kann neue Ansätze und Gedanken entwickeln, die abseits aus­ getretener Pfade liegen. So entwirft der Architektursoziologe Joris Van Wezemael in seinem Artikel ein neues Wettbewerbs­ wesen und zeigt konsequent auf, wie eine Produktivitätssteigerung in der Baubranche möglich wird. Doch nicht immer sind Visionen gefragt. Manchmal müssen Wissenschaftler und Spezialisten auch von ihrem Elfenbeinturm he­rabsteigen. Zu den Menschen, unseren Kunden. Dann können Projekte entstehen wie jenes in Bern. Mit «Wir sind Stadtgarten» initiierte Halter eine Wohnbaugenossenschaft, die nun schweiz­ weit als Modell dienen kann, um jenen zu helfen, die auf dem freien Markt keine bezahlbaren Wohnungen mehr finden. Aber wozu braucht es überhaupt ein Dach über dem Kopf? Ist es manchmal nicht viel spannender, tagelang durch die Peripherie zu streifen oder mit dem Auto mit 120 Stundenkilometern im Zickzack durch die Stadt zu rasen, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg die Situationisten taten, um ihr Paris zu erspüren? Diese ganz andere Sicht auf die Stadt und ihre Auswirkungen auf unsere Psyche zeigt uns der bekannte Zürcher Philosoph und Denker Stefan Zweifel. Sein Essay lädt zum Innehalten und Träumen ein. Ernsthaft und engagiert widmet sich unser Verwaltungsrats­ präsident Balz Halter dem grossen Thema der Verdichtung, die sich in ihrer Umsetzung in der Schweiz oft als mühsam oder gar unmöglich erweist. In seinem Beitrag skizziert er Wege und ­Strategien, wie innere Verdichtung qualitätsvoll gelingen kann und damit sogar der angespannte Immobilienmarkt entlastet wird. Zurück zum Anfang. Wir glauben auch weiterhin an Print. Weil wir das Bedürfnis nach einem bewussten Innehalten sehen und immer mehr auch die Sehnsucht nach dem Abstand vom Alltag vor dem Computer. Nehmen Sie sich die Zeit, und widmen Sie sich der neuen Ausgabe von «Komplex». Christine Marie Halter-Oppelt 4

Editorial




INHALT 3 Editorial

8 PLANEN & BAUEN 8 Chance Wettbewerb 20 Ein Stern für Grand-Lancy

46 ARCHITEKTUR

46 Das «Wohnhaus Honegger Frères» 52 Wie Stadt entstehen kann 66 Vom gleichen Holz

68 IMMOBILIEN & KAPITAL

68 Kolumne: Schlusslicht Bauindustrie 70 Aufbruch mit der Genossen­schaftsidee 76 «Man sollte keine Angst vor dem ­Scheitern haben – es kann das Sprungbrett zum Erfolg sein»

84 STADTENTWICKLUNG

84 Essay: Schweifzüge durch das IchGehäuse. Vom utopischen U ­ rbanismus der ­Pariser Situation­isten zum ­Traumhaus der ­eigenen Kindheit – m ­ it einem psychogeogra­fischen Selbst­versuch 102 Damit innere Verdichtung nicht zur Worthülse wird

126 Die Halter-Gruppe auf einen Blick 128 Impressum

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CHANCE WETTBEWERB

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Die Planungs- und Baubranche entwickeln sich auf ein inte­ griertes Wertschöpfungsmodell und ein durchgängiges Informations- und Innovationssystem hin. Der Wettbewerb soll diese Transformation nicht bloss überleben – er soll dabei eine bedeutende Rolle spielen und seinen Kern stärken. Ein Beitrag zu einer Debatte, die wir führen sollten. Planen & Bauen

Zeichnung: Bernard Tschumi Architects, Wettbewerbsbeitrag für das neue Akropolismuseum, 2014

Text: Joris Van Wezemael


Die Planungs-, Bau- und Immobilienbranche erbringen je nach Berechnungsart zwischen 15 und 18 Prozent des Bruttoinlandprodukts der Schweiz und gehören damit zu den bedeutendsten Wirtschaftsbereichen des Landes. Umso schwerer wiegt, dass Bau und Immobilien das Schlusslicht hinsichtlich der Entwicklung der Arbeitsproduktivität im Branchenvergleich bilden (siehe Grafik unten). Dies lässt sich im Alltag nachvollziehen, sieht doch eine ­Baustelle heute verblüffend ähnlich aus wie vor hundert Jahren. Der Krebsgang in der Arbeitsproduktivität darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass gegenwärtig vieles im Fluss ist, dass sich der Reformstau in einer Welle von tiefgreifenden Veränderungen entladen wird. So sieht sich die in Standardverträgen und Leistungsordnungen stipulierte, linear verlaufende Wertschöpfungskette nach dem Wasserfallprinzip in Wirklichkeit längst einer Vielzahl von Organisationsmodellen gegenüber. Als Beispiele gelten die horizontale (zwischen Planern unterschied­ licher Fachbereiche) und vertikale Integration (Zusammenschlüsse entlang der Wertschöpfungskette, z. B. Totalunternehmer­modelle), die Verschränkung von Planung und Ausführung (wie etwa im ­Modulbau), die Renaissance der Vorfertigung, die steigende Bedeutung von technischen Unternehmerlösungen oder die mittels durchgängiger Datenmodelle ermöglichte Ausrichtung von Planung und Management auf den gesamten Lebenszyklus von Infrastruktur im Zuge der Digitalisierung. Während sich die Verbände damit schwertun, aus dem goldenen Käfig der Besitzstandswahrung Entwicklung der Arbeitsproduktivität nach Branchen, 1995–2016 200

180

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19 98

60

19 96

Grafik: Bundesamt für Statistik, 2017

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Verarbeitendes Gewerbe

Baugewerbe / Bau

Handel

Verkehr, Information und Kommunikation

Finanzdienstleistungen

Versicherungen

Immobilien und Unternehmensdienstl.

Gesundheits- und Sozialwesen

Zu Preisen des Vorjahres, Referenzjahr 2010, 1995 = 100

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auszubrechen und die Entwicklung im Sinne der gesamten Branche mitzuprägen, kommen fast täglich herausfordernde Ansätze und Produkte aus der PropTech-Szene oder von digitalen Vorläufern in der Branche auf den Markt. Zukunft braucht Herkunft

Architekturwettbewerbe haben eine Tradition von mindestens 2500 Jahren. So weiss man von einem Wettbewerb für Gebäude auf der Athener Akropolis im Jahr 448 v. Chr. Weiter gab es in der Renaissance mehrere gut dokumentierte Wettbewerbe, etwa zu ­Sakralbauten in Italien. Die zeitgenössische Form von ­Planungswettbewerben ist aber erst in der zweiten Hälfte des ­ 19. Jahr­hunderts entstanden. Seitdem sind Wettbewerbe Teil der (Bau-)Kultur von Ländern wie Österreich, Finnland oder ­Frankreich. Vor allem aber die Schweiz hat hier eine Sonderstellung. Denn sie ist das einzige Land, wo Bauherren und Planende den Wett­bewerb mit einer grossen Selbstverständlichkeit, gewissermassen einer Nonchalance, zu ihrer Planungskultur ­zählen und ihn als Instrument ungezwungen und vielfältig einsetzen. In der Folge darf die Schweiz von sich sagen, dass sie im internationalen Vergleich eine extrem hohe Wettbewerbsdichte verzeichnet und dieser eine hohe wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung zukommt. An der Wiege des Schweizer Wettbewerbs standen spezifische soziale, politische und wirtschaftliche Verflechtungen. Ende des 19. Jahrhunderts begann der junge Bundesstaat, auf der Grundlage moderner architektonischer Wettbewerbsverfahren eine bedeutende Anzahl funktionaler und zugleich repräsen­ tativer Gebäude zu bauen – etwa die heute vielerorts zentrumsprägenden Postbauten. In diesem Zusammenhang sind zwei Ereignisse hervorzuheben: zum einen die Verabschiedung der Bundesverfassung von 1874, die den Bund ermächtigte, ein ­eigenes Bauamt einzurichten; zum anderen die Generalversammlung des noch jungen Schweizerischen Vereins der Ingenieure und Architekten (SIA) in Zürich 1877. An dieser Sitzung verabschiedete der Verein seine Grundsätze für die Regeln der Architekturwettbewerbe. Diese beiden Ereignisse bedeuteten, dass es dem Schweizer Staat – der selbst noch eine Baustelle in Bezug auf seine Institutionen und sein Selbstverständnis war – eingeräumt wurde, seine öffentlichen Gebäude zu bauen. Gleichzeitig definierten die Schweizer Ingenieure und Architekten mit der Schaffung der Wettbewerbsordnung einen Aktionsplan zur Verteilung des entstehenden Kuchens für Planungs- und Bauleistungen. Die Akquise war zu jener Zeit das treibende Moment der Branchenvereine 10

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in der Schweiz (und sie ist es bis heute). Mit der zukunftsorientierten Schaffung des Schweizer Wettbewerbswesens etablierten die Planer schrittweise einen nationalen Markt für Planungs- und Bauleistungen, den es zuvor nicht gab. Die Entstehung des Wettbewerbs ist noch immer Teil der Schweizer Planungs-DNA und damit zentral für das Selbstverständnis der Branche. Es stellen sich die Fragen, was der Wettbewerb leistet, was ihn im Kern ausmacht, und wie wir ihn heute mit Blick auf die Zukunft weiterentwickeln können? Manufaktur für Legitimation

Die erste Leistung des Wettbewerbs betrifft seine Fähigkeit, aus seinem Prozess heraus Legitimation zu schaffen. Dieser Aspekt wird in der Siedlungsentwicklung nach innen mit ihren vielfältig betroffenen Anspruchsgruppen immer wichtiger. In den vergangenen rund fünfzehn Jahren wurden Themen wie Wohnen, Stadt- oder Raumentwicklung sehr stark politisiert und fanden ihren Platz im öffentlichen Interesse. Dies wird sich in den kommenden Jahren, in denen wir die Siedlungsentwicklung nach innen von einem Lippenbekenntnis in gelebte Praxis umsetzen werden, weiter verstärken. Den Wettbewerb müssen wir als Quelle von Akzeptanz und Legitimation festigen. Aber wie geht das? Zwei Klassiker der System- und Gesellschaftswissenschaften verdeutlichen den Zusammenhang: Jürgen Habermas legte 1981 mit seiner «Theorie des kommunikativen Handelns» einen Grundstein für das Verständnis, wie Kommunikation als Quelle von ­Vernunft wirken kann. Für die Entscheidungsfindung in der ­Planung heisst dies: Nicht nur was eine Entscheidung beinhaltet, ist von Bedeutung für ihre Legitimierung und damit ihre ­Akzeptanz, sondern auch wie sie zustande kommt und wer an der ­Erar­bei­tung von Lösungen beteiligt wird. Die Systemtheoretiker Roger C. Conant und W. Ross Ashby formulierten bereits 1970: «Every good regulator of a system must be a model of that system.» Effektive Regulation ist selber ein Modell dessen, was es zu steuern gilt. Der Wettbewerb ist ein Modell der Wirklichkeit. Die Fachjuroren bilden die relevantesten Fachrichtungen ab. Die Sachjuroren stehen für ein Abbild der spielentscheidenden Ressorts. Die Diskurse, Dynamiken und Zielkonflikte, die in der Wirklichkeit bestehen, bilden sich also in der Jury ab und erlauben es dem Verfahren, als Modell der Wirklichkeit kollektiv Entscheide zu treffen. Dies heisst aber für die Zukunft, dass nicht nur in der Sach-, sondern auch in der Fachjury die relevanten Kompetenzen vor­ handen sein müssen. Gesellschaftliche, ökonomische und technologische Kompetenzen müssen im System gestärkt werden. 11

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Übersetzungen

Was die Öffentlichkeit über Fragen der baulichen Entwicklung unserer Städte weiss, kennt sie zumeist aus Wettbewerbsverfahren. Der Wettbewerb bringt zur Sprache, übersetzt zwischen dem ­Baulichen und dem Gesellschaftlichen. Die zweite Leistung des Wettbewerbs ist daher dessen Fähigkeit, Übersetzungen zwischen scharf getrennten Bereichen der Wirklichkeit vorzunehmen: Einerseits können Wettbewerbe als direkte Brücken zwischen verschiedenen Bereichen der Gesellschaft wie Politik, Ästhetik, Recht, Wirtschaft und Wissenschaft betrachtet werden. Dieser interdisziplinäre Aspekt ermöglicht es einem Wettbewerb, ­verschiedene, für die Planung grundlegende Bereiche in einem Verfahren miteinander zu verbinden und zwischen ihnen zu ­vermitteln. Andererseits vermitteln Wettbewerbe zwischen dem ­Diskursiven und dem Gebauten. Sie übersetzen die Fragen, was Kindheit und Lernen heisst, wie die Beziehung zwischen Lehrperson und Schüler heute und zukünftig zu gestalten ist, in die «Bauaufgabe Schulhaus». Gleiches gilt für das Thema Gesundheit und den Spitalbau oder die Frage nach Arbeit oder W ­ ohnen und entsprechenden Aufgaben im Wohnungs- oder Bürobau: Welches «Leben» soll stattfinden, und mit welcher baulichen Form wird dieses Leben unterstützt und gefördert? Wettbewerbe sind daher in der Lage, politische Fragen in apolitische Gestaltungsprobleme zu verwandeln (und umgekehrt). Der Wettbewerb verwandelt gesellschaftliche Ideale in gebaute Stadtlandschaft. Somit produziert der Wettbewerb Identitäts­ bezüge für die Gesellschaft. Varianz und Vergabe

Wettbewerbe sind historisch gesehen «Vergabeverfahren avant la lettre». Sie wurden lange als Vergabeverfahren praktiziert, bevor das Vergabewesen in seiner heutigen Gestalt überhaupt existierte. Mit einem Wettbewerb sucht man mit den Mitteln organisierter Konkurrenz das beste Projekt, den besten Partner oder beides. Mit dem Inkrafttreten des WTO-Übereinkommens über das öffentliche Beschaffungswesen im Jahr 1994 erhielt der Wettbewerb in der Schweiz denn auch als Vergabeverfahren formal ein grosses Gewicht. Ein Wettbewerb wird indes nicht eingesetzt, um klar definierbare Offerten zu bewerten (Materialisierungen, Lieferanten o. Ä.). Vielmehr ist der Wettbewerb dort notwendig, wo es trotz klarer Vorgaben (ein Raumprogramm, städtebauliche Vorgaben) eines Entwurfs bedarf, um verschiedene Möglichkeiten zu ergründen. Die Problemstellung wird daher mit Mitteln des Entwurfs erforscht. Auf der Suche nach der besten entsteht eine 12

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Varianz von konkurrierenden Lösungen. Hierbei tritt oft, ja systematisch, Überraschendes zutage. Dies ist im Wettbewerb Teil des Verfahrens und markiert keinen Betriebsunfall. Zwar wird gerade von öffentlichen Bauherren behauptet, «die Beurteilungskriterien werden im Wettbewerbsprogramm festgehalten und sind allen Teilnehmenden bekannt» (siehe etwa die Ausstellung «Fokus Architektur-Wettbewerbe», Kanton Zürich). Dies stimmt aber nur beschränkt. Denn es macht den Wettbewerb gerade aus, dass die Kriterien im Verfahrensverlauf geschärft, verändert oder präzisiert werden und damit die Vorgaben des WTO-Übereinkommens mit guten Gründen herausfordern. Jurieren als Entwerfen

Jurieren ist dem Entwerfen verwandt. Es ist ein kreativer Prozess, in welchem Entscheidungskriterien in einer Ko-Evolution mit dem Programm und den vorgeschlagenen Projekten entstehen. Die Entscheidungskriterien sind also nicht unabhängig von den Eingaben. Kurz gesagt bedeutet dies, dass der Wettbewerb die Unsicherheit und die Verpflichtung zum Lernen ins Zentrum stellt. Hiervon unterscheiden sich die WTO-basierten Vergabeverfahren ganz wesentlich. Bei diesen liegt eine abschliessende, anfecht- beziehungsweise einforderbare Bestellung vor. Denn die Zuschlagskriterien sind bereits zum Zeitpunkt der Ausschreibung fest definiert. Hierzulande setzen sich nur sehr wenige mit dem Spannungsfeld zwischen dem Wettbewerb und einer technischen Ausschreibung auseinander. Dies ist töricht – immerhin stösst mit dem Planungswettbewerb eine wesentliche kulturelle Institution auf international vereinbarte Regelwerke. Was also ist der Kern des Jurierens? Der Beurteilungsprozess der Jury ist im Kern eine Interaktion zwischen dem Geflecht von Möglichkeiten, die erst durch die eingereichten Projekte vergegenwärtigt werden. Das heisst, dass aus dem Programm, der Juryzusammensetzung und den vorgeschlagenen Projekten erst jener Möglichkeitsraum entsteht, der die Relevanz und Legitimation von Vorschlägen bestimmen wird. Die effektiven Kriterien – nicht zwingend jene, die im Jurybericht nachzulesen sind – ­ entstehen erst im Rahmen der beschriebenen Interaktion. Dies und nichts anderes ist der Kern des Jurierens. Nichts anderes grenzt den Kern des Wettbewerbs deutlicher von anderen Vergabeverfahren ab. Wie Jean-Pierre Chupin, Wettbewerbsforscher an der Université de Montréal, betont, gleicht Jurieren selber stark dem Prozess des Entwerfens mit seinen Sequenzen von Setzen und Verwerfen. Ein kultivierter und vorgesehener Umgang mit Verletzungen des Programms (etwa durch die vorgesehene Möglichkeit des 13

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Ankaufs) – weil das entsprechende Team die Fragestellung zum Besseren hin gedehnt haben mag – dient als weiterer Beleg für die Argumentation. Die Beobachtung des Diskurses über Wettbewerbe zeigt aber deutlich, dass sich gerade auch die Befürworter des Wettbewerbswesens zu wenig bewusst darüber sind, was das Jurieren wirklich definiert. Ein Schub der Internationalisierung der Bau- und Planungsbranche steht gegenwärtig an, und die Schweizer Wettbewerbskultur ist nicht vorbereitet. Das «System» Wettbewerb

Die Planungs- und Baubranche entwickeln sich auf ein integriertes Wertschöpfungsmodell und ein durchgängiges Informationsund Innovationssystem hin. Endlich! Der Wettbewerb soll diese Transformation nicht bloss überleben – er soll darin eine bedeutende Rolle spielen und seinen Kern stärken: Legitimation schaffen, übersetzen, Varianz von Lösungen herstellen und vor Konventionelle Projektabwicklung gemäss SIA Strategische Planung

Vorstudien

Vorprojekt

Bauprojekt

Bewilligungsverfahren

Ausschreibung

Realisierung

Betrieb

Bauherrschaft Architekt Fachingenieure Unternehmen 25% +/-

15% +/-

0% +/-

10% +/-

Kosten-Know-how / Kosten-Sicherheit

Integrierte Projektabwicklung – Zukunftsmodell Development

Design

Engineering

Production

Operation

Bauherrschaft Architekt Spezialisten

Fachingenieure

Kosten-Know-how / Kosten-Sicherheit Was?

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Wer?

Wie?

Do it!

Planen & Bauen

Grafiken: Halter AG

Unternehmen


allem das Lernen im Jurieren-als-Entwerfen. Entsprechend wird er sich in seiner konkreten Ausgestaltung ebenso wandeln, wie sich die gesamten Zusammenarbeitsmodelle verändern werden. Thorsten Dirks roher Ausspruch «Wenn Sie einen Scheissprozess digitalisieren, dann haben Sie einen scheiss digitalen Prozess» erinnere uns aber daran, dass es bei der Digitalisierung um einen Wandel der Wirtschaftskultur (Kollaboration, Risiko­ teilung, Informationsfluss etc.) geht – nicht um Technik. Nichts sollte uns daher ferner liegen, als die heutigen Formate per se digitalisieren zu wollen. Wir wissen, dass Lernprozesse allgemein mehrheitlich auf der Ebene des Systems und nicht auf der Ebene des Individuums stattfinden. Als Beispiel sei die Sicherheit im Strassenverkehr genannt, die nicht auf bessere Fahrerkompetenzen zurückzuführen ist. Genauso im Wettbewerbswesen: Spielformen, Prozeduren, Anreize, Risikoverteilung müssen für das «System» Wettbewerb neu gedacht werden und nicht für den einzelnen Wettbewerb. Hin zur integralen Projektabwicklung

Der heutige Wettbewerb ist Teil eines Wertschöpfungsmodells, welches in seinen Grundfesten herausgefordert wird. In der konventionellen Projektabwicklung (abgebildet etwa in den Leis­ tungsbeschrieben des SIA) verlaufen Prozesse linear, sukzessiv und voneinander getrennt – Planung (Planer) und Ausführung (Unternehmer) liegen weit auseinander (Wasserfallprinzip) (siehe Grafik S. 14 oben). Solche Modelle eignen sich, wenn Sicherheit über Leistungen und Lösungen vorherrscht. Sie scheitern aber, wenn Innovation durch die Verknüpfung bislang unverbundener Praktiken oder Rückkop­pelungen zwischen Design und Umsetzungen das Bild prägen. Als Ergebnis herrschen Wissens- und Erfahrungssilos vor, die Inno­vation durch die fehlende Verknüpfung separater Wissensformen verhindern. Es führt leider auch dazu, dass Risiken erst spät im Prozess behandelt werden. So zum ­Beispiel die gängigen und nicht unerheblichen Stolperfallen der Kosten, der Genehmigungsfähigkeit oder der Akzeptanz. Integrierte Projektabwicklung hingegen bedeutet, dass ­Prozesse parallel und in mehreren Ebenen und Planungstiefen gleichzeitig ablaufen (siehe Grafik S. 14 unten). Design und Engineering, Production und Operation werden konsequent zirkulär verstanden. Wissens- und Erfahrungsbeiträge erfolgen früh im Prozess, Informationen werden offen geteilt. Auch die Zusammenarbeitskultur wandelt sich: Vertrauen und Respekt sind die Basis des Gelingens. Die Branche bewegt sich in Richtung integrierter Prozesse. Die Kernfragen lauten daher: Was leistet der Wett­ bewerb in einem integrierten Planungs- und Bauprozess, und wie? 15

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Integriertes Innovationsmodell

Im konventionellen Modell dominieren die Fragen Was (Funktion, Volumina etc.) und Wie (Bau- und Konstruktionsweise etc.) alle Planungsphasen bis hin zur Ausschreibung (siehe Grafik S. 16 oben). In der Ausschreibung geht es dann primär um den Preis, was nur Sinn macht, wenn sich die Angebote qualitativ (in der Art der Lösung) kaum unterscheiden. In einer integrierten, durchgängigen, digital unterstützten und lebenszyklusbezogenen Arbeitsweise hingegen weisen Lösungen grössere konzeptionelle Unterschiede und höhere Innovationsgrade auf, sie setzen spezifische Kenntnisse voraus und können daher nicht primär über den Preis gesteuert oder selektiert werden. Daher rückt die Frage nach dem spezifischen Partner hinter die Frage des Was an die zweite Stelle. In der integrierten und digitalen Welt leitet sich das Wie also massgeblich aus dem Was und Wer ab (siehe Grafik S. 16 unten).

Do it!

Wer?

Wie?

Was?

Kosten

Kosten-Zeit-Vergleich im konventionellen Modell

Zeit

Grafiken: Halter AG

Do it!

Wie?

Wer?

Was?

Kosten

Kosten-Zeit-Vergleich in der integrierten, digitalen Welt

Zeit

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Die Fragen der Kompetenz, der Innovation und des Partners werden so zur eigentlichen Voraussetzung für das Wie. Das bedingt, dass neue Akteure – das Wer –, nicht zuletzt Unternehmer, systematisch in den Designprozess einzubeziehen sind. Dies fordert den Wettbewerb und seine Systemgrenze heraus, und es zeichnet sich eine «Umkehrung des Normalfalls» ab: Der konventionelle Projektwettbewerb steht für das Wasserfallprinzip in der Planung und somit für ein Modell, das den Herausforderungen systemisch und strukturell immer weniger gewachsen ist. Könnte eine neue, eine erweiterte Art des Gesamtleistungswettbewerbs zur natürlich vorherrschenden Form des Wettbewerbs in einer integrierten Planungswelt werden? Vieles spricht dafür. Spannend ist in ­diesem Zusammenhang, dass der Wettbewerb in Zukunft disziplinär, wertschöpfungsbezogen und branchenpolitisch eine bedeutend breitere Basis seiner Befürworter erhalten würde. Wettbewerb, Pioniergeist und offene Standards

Was weiter wesentlich wird – das zeigt das Durcheinander im Bereich des Building Information Modeling –, ist eine klare Verständigung über Leistungen, Verbindlichkeiten und Modi. Hierbei ist nicht zwingend eine regulierende Instanz gefragt. Vielmehr wäre eine Orientierung an den etablierten Zusammenarbeitskul­ turen im Bereich Open Source (offene Programmierung) und Open Data (zugängliche Daten) zielführend. Diese eröffnen einer Branche die Möglichkeit, schrittweise, kollektiv und transparent zu offenen Standards zu gelangen, auf die man sich zukünftig beziehen und die man weiterentwickeln kann. Ausweitung der Systemgrenze

Neben den strukturellen Gründen der Integration gibt es sach­ liche Gründe, welche die Systemgrenze des Wettbewerbs aufsprengen. Weitere gesellschaftlich relevante Dimensionen – gerade die Aufwertung eines Verständnisses von Nachhaltigkeit als Orien­ tierung über mehrere Generationen und Lebenszyklen hinweg – ­müssen zukünftig mittels Wettbewerbsverfahren «übersetzt» werden können. Mit Blick auf Städtebau, Raumentwicklung, Innen­ent­ wicklung, Stadtklima, bezahlbare Gewerbe- und Wohnräume, energetische Lösungen und eine konsequente Ausrichtung aller Entscheide am Lebenszyklus auf verschiedenen Massstabsebenen greift zudem die Unterscheidung von Fachleuten und Sachver­ ständigen zu kurz. Sie widerspiegelt das Wasserfallprinzip durch die sukzessive Abfolge statt die integrative und zirkuläre Auseinandersetzung mit ebenbürtigen Erfahrungs- und Wissens­ beständen. Um auch künftig Legitimation herstellen zu können, müssen daher zusätzliche, fürs Gelingen des Projekts kritische 17

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Dimensionen früh im Wettbewerbsprozess einbezogen werden. Der Wettbewerb wird durch diese Öffnung des analytischen Brennpunkts in einem frühen Stadium gestärkt: Das holistische, ortsspezi­ fische Denken und die Konkurrenz grundsätzlich unterschiedlicher Lösungsvarianten werden in weiteren Bereichen der Planung und Entwicklung gefördert und gestützt. Voraussetzung für die erfolgreiche Erweiterung des thematischen Umfangs im Wettbewerb ist aber, dass im Zuge des gesamten Planungsprozesses – und insbesondere im Jurierungsprozess – ein laufender und interaktiver Einbezug von Simulationsmöglichkeiten in den Bereichen Primärenergie, Kosten (Investition und Betrieb), Nutzerverhalten (Way-Finding, Orientierung etc.) gegeben ist. Das Jurieren-als-Entwerfen und ein offener Lern­ prozess, der die Kriterien für die Juryentscheide erst schafft, werden so auf eine grössere Anzahl von Dimensionen ausgedehnt. Auch die Nachwuchsförderung im Rahmen von Wettbewerben ist in einem neuen Licht zu sehen – sie betrifft den Nachwuchs in sämtlichen Planungsdisziplinen und den Bereich der Jungunternehmer. Blicken wir auf vergleichbare innovationsintensive Felder, in denen intellektuelle Leistungen miteinander in den Wettbewerb treten, so haben hier in der Regel die Jungen und Innovationsfreudigen die Nase vorn – es sind eher die etablierten Unternehmen, die Gefahr laufen, den Zug zu verpassen. Produktivitätssteigerung durch Wettbewerbe

Kennzahlen in den Bereichen Energie oder Kosten werden inte­ griert, frühzeitig ergründet und verbindlich festgelegt. Dies reduziert Risiken und erhöht die Produktivität. Konzeptionell umfasst der konventionelle Wettbewerb die wesentlichen Zielkonflikte und bietet grundsätzlich Hand zu deren Aushandlung und zu einer lösungsorientierten Abwägung. Dies ist wie gesehen eine Basis seines Erfolgs über eine lange Zeitdauer: Der Wett­ bewerb schafft Legitimation! Dieser Aspekt wird im integralen Wettbewerb noch weiter gestärkt und thematisch ausgeweitet. Hier ist in Zukunft mehr noch als heute politische Arbeit ­(Lobbying) gefragt. Denn das holistische und integrative Wettbewerbsergebnis darf im Nachgang nicht in der Logik von Wissens- oder Regulationssilos zerpflückt und auseinanderdividiert werden. Die eigentliche Qualität von guten Wettbewerbsergeb­ nissen ist gerade ihre integrale Lösung. Und diese muss in einer thematisch ausgeweiteten, weil integrierten Welt mehr Gewicht erhalten! Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass man nicht «ein bisschen» integrativ arbeiten kann. Vielmehr steht unserer Branche ein Systemwechsel bevor. Entsprechend muss sich die erneuerte und verbreiterte Allianz der Wettbewerbsbefürworter 18

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dafür einsetzen, dass sich mithilfe von Wettbewerben Qualität und Robustheit (einschliesslich Rechtssicherheit) von Ergebnissen gewinnen und Zeit sowie Kosten einsparen lassen. Die Branche und ihre neue Kultur

Vorgängig wurde aufgezeigt, dass der Wettbewerb im Kontext gelesen (Herkunft, Zukunft) und in seinem Wesen verstanden werden muss (Kern). Der vorliegende Text dient als Aufruf, den Wett­ bewerb mit demselben Pioniergeist, demselben Optimismus und demselben Streben nach Erfolg zu erneuern, wie er seinerzeit aus der Taufe gehoben worden ist. Dies gelingt aber nur, wenn wir unsere Haut aufs Spiel setzen, uns hinterfragen und den Mut haben, die Besitzstandswahrer und Bedenkenträger frontal he­rauszufordern. Wir Planer und Baufachleute müssen unsere Branche aus dem bewahrenden Gewerkschaftsdenken genauso herausführen wie aus der Schmuddelecke von Preis- und Honorarabsprachen. Die Erneuerung des Wettbewerbs als Treiber für eine integrierte Projektabwicklung und eine innovationsbefeuernde Arbeitsweise ist der Proof-of-Concept für uns selber. Alle sollen willkommen sein, produktiv in einer Allianz zur schrittweisen Heraus­ bildung eines integrativen Wettbewerbs mitzuwirken. Jene, die bereit sind zur Veränderung, werden sich sehr bald von jenen absondern, die den Wandel nur proklamieren.

Joris Van Wezemael hat mehrere Nationalfondsprojekte (SNF) zum Wettbewerbs­wesen geleitet und die Plattform konkurado.ch initiiert. Er kennt das Wettbewerbs­ wesen als Organisator, Juror und Teilnehmer. Der schweizerisch-belgische Planungswissenschaftler und Architektursoziologe ist Partner bei der Imhof Van Wezemael Odinga AG für Innenentwicklung in Luzern, Mitbegründer von Civic Data Intelligence, cividi.ch, in Zürich und Ko-Leiter der Spatial Transformation Laboratories (STL) an der ETH Zürich. Zuvor war er Mandatsleiter einer Anlagestiftung in der Pensimo Gruppe und Professor für Stadtgeografie und Raum­entwicklung an der Universität Freiburg. 19

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EIN STERN FÜR GRAND-LANCY

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Fotos (mit Umschlag): Senta Simond Text: Carole Villiger

In der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre durch das Architektur­ büro Honegger Frères errichtet, galt das Gebäude Etoile-­ Palettes in Grand-Lancy im Verhältnis zur Nachbarschaft und Grösse der Stadt Genf als vollkommen überdimensioniert. Das dreiarmige, sternförmige Ensemble mit seinem originellen Grundriss und 16 Geschossen war eine Antwort auf die Wohnungsknappheit dieser Zeit. Der Innovationsdrang der Architekten zeichnete sich unter anderem durch eine gemischte N ­ utzung von Wohnen und Arbeiten sowie die Verwendung modularer Bauteile aus. Im Zuge der Urbanisierung haben sich Bau und Stadtbild einander angenähert. Heute gilt die Anlage als Wahrzeichen des sozial durchmischten Viertels Les Palettes. Ein Teil der ­Wohnungen des über 50 Jahre alten Gebäudes wird nun in Etappen bis 2021 durch die Halter AG in Zusammenarbeit mit ­2dlc Architectes partenaires renoviert. Ein Foto-Essay. Planen & Bauen

























Senta Simond wurde 1989 in Genf geboren. Sie studierte Ästhetik und Filmwissenschaften an der Universität Lausanne, gefolgt von einem Studium der Fotografie an der ECAL Lausanne, das sie 2017 mit dem Master abschloss. Im gleichen Jahr wurden ihre Arbeiten für den Unseen Dummy Award und den First PhotoBook Award der Messe Paris Photo nominiert. 2018 erhielt sie den Swiss Design Award. In der Zwischenzeit stellte sie bei Webber Gallery und Peckham 24, beide in ­London, sowie im Centre d’art Pasquart, Biel, und im Museum FOAM, Amsterdam, aus. Die Bilder ihres Diplomprojekts wurden in einem Buch mit dem Titel «Rayon Vert» veröffentlicht, das 2018 im «British Journal of Photography» als eines der besten Bücher des Jahres gelistet war. Die 30-jährige Simond beschäftigt sich schwerpunktmässig mit der intimen Annäherung an den weiblichen Körper und dem Porträt. Zurzeit lebt und arbeitet sie in London. 44

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Die drei BrĂźder Jean-Jacques, Pierre und Robert Honegger (von oben nach unten). Fotos: Privatarchiv, Claude ZĂźrcher


DAS «WOHNHAUS HONEGGER FRÈRES» Text: Christian Bischoff

In den 1950er- und 1960er-Jahren baute Honegger Frères in Genf rund 400 Gebäude und 9000 Wohnungen – fast ein Drittel der damals auf dem Markt befindlichen Wohnungen im Kanton. Zu Zeiten eines explodierenden Bevölkerungswachstums fanden dank dem Talent und dem Know-how des Architektur- und Baubüros bis zu 35 000 Menschen ein neues Zuhause. Lange Zeit verhinderte die hohe Produktivität jede andere Betrachtung. Eine qualitative Bewertung des gebauten Werks der Gebrüder Honegger hat erst kürzlich begonnen. In den letzten zehn Jahren veränderte sich die Wahrnehmung, und die Honegger-Häuser, die den Genferinnen und Genfern so vertraut sind, werden endlich als architektonische Leistung betrachtet. Ihre historische Bedeutung wurde bewertet und bei einigen Projekten durch Schutzmassnahmen anerkannt und bestätigt. 47

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«Brüder» – in der Architektur der deutschsprachigen Schweiz denkt man dabei zuerst an die Gebrüder Pfister, Otto (1880–1959) und Werner (1884–1950), deren Werke untrennbar mit dem Bild der Stadt Zürich verbunden sind, wie die Geschäftshäuser Peterhof und Leuenhof an der Bahnhofstrasse, der Hauptsitz der Schweizerischen Nationalbank, der Bahnhof Enge und viele andere zeigen. Im französischsprachigen Raum sind es die Meister des Stahlbetons, die Gebrüder Perret, Auguste (1874–1954), Gustave (1876–1952) und Claude (1880–1960), die einem sofort in den Sinn kommen. Die beiden Letzteren, vor allem aber der Jüngste, sind nur wenig bekannt und ihre Vornamen fast vergessen. Gleiches gilt für die Gebrüder Honegger: Jean-Jacques (1903–1985), der Älteste, überschattete stets seine Brüder Pierre (1905–1992) und Robert (1907–1974). Jean-Jacques und Pierre Honegger waren Maschinenbauer, die an der Ingenieurschule der Universität Lausanne ausgebildet wurden, die 1969 zur heutigen Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) umbenannt wurde. Nur Robert, der Jüngste, war ausge­ bildeter Architekt. Er studierte an der École des beaux-arts in Genf. In der 1948 gegründeten Firma Honegger Frères waren die Aufgaben jedes Einzelnen klar verteilt: Jean-Jacques leitete, obwohl er das Fach nicht studiert hatte, die Architektur, Pierre kümmerte sich um technische Belange, Robert war für die Bauausführung verantwortlich. 1967 wurde der Firmenname in Honegger-Frères, Schmitt & Cie geändert, was den Eintritt einer neuen Generation in das Unternehmen markierte. Die Bedeutung der Honeggers geht jedoch weit über die zeitliche Begrenzung des Namens Honegger Frères hinaus. Der Vater Henri Honegger (1878–1949) war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein sehr ­aktiver Geschäftsmann auf dem Genfer Immobilienmarkt. Auch seine Söhne, insbesondere Jean-Jacques, prägten die 1930er-Jahre. In Zusammenarbeit mit dem Architekten Louis Vincent und seinem Bruder Pierre als Inge­ nieur ist Jean-Jacques Autor einiger der wenigen Zeitzeugnisse der Moderne in der Stadt Genf: die beiden Wohngebäude an der Avenue Théodore-Weber (1930–1932) sowie die Villen Les Ailes (1932) und Vincent (1932–1933). Die beiden Brüder wurden in der 1912 von ihrem Vater gegründeten Immobiliengesellschaft Riant-Parc zu Direktoren ernannt und bauten auch die bemerkenswerten Mietshäuser an der 48

Route de Frontenex 53–57, die ersten Gebäude der Stadt Genf mit einer Stützentragstruktur (Abb. 1). Das Engagement der Familie Honegger in der Genfer Architekturszene endete auch nicht mit dem Rückzug der Gründergeneration aus dem Unternehmen. Ihre Nachfolger setzten die Aktivität in den 1970er- und 1980er-­Jahren intensiv fort. Dann wurde es ruhiger, bis die Firma 2008 geschlossen wurde.

Abb. 1 — Postkarte aus den 1930er-Jahren mit dem Riant-Parc-Wohngebäude. Foto: Privatarchiv, Claire-Lise Schmitt-Honegger

Es ist die zentrale Periode der 1950er- und 1960er-Jahre, die uns interessiert. In dieser Zeit schufen die drei Brüder das «Wohnhaus Honegger Frères», einen Architekturtyp, den jeder Genfer kennt: lang gezogene Gebäude mit grosszügigen Loggien, Flachdächern und auskragenden Vordächern. Mehrere solcher Scheiben bilden grosse Ensembles in der städtischen Peripherie, so zum Beispiel Balexert in ­Vernier (1957–1962, 704 Wohnungen) (Abb. 2) und Cité Caroll in Lancy (1958–1966, 1048 Wohnungen) (Abb. 3). In der Nähe der Innenstadt ­entstanden die Überbauungen Cité Carl-Vogt (1960–1964, 445 Wohnungen) (Abb. 5) und Cité d’Aïre (1960–1963, 340 Wohnungen). In mehreren Stadtteilen Genfs – Les Acacias, Champel und Les Eaux-Vives – setzen einzelne Häuser Akzente und fungieren als Zitate einer grosszügigen urbanen Planung, zum Beispiel zwischen der Rue des Rois und der Rue du Diorama ( ­ 1960– 1962, 76 Wohnungen) (Abb. 4) oder in Saint-Jean, Les Tilleuls (1961–1963, 48 Wohnungen). Diese Bauwerke aus der Reifezeit des Architekturbüros wurden nicht etwa aus dem Ärmel geschüttelt, sondern entsprangen einem ­grossen Erfahrungsschatz. Seit den ersten ­Häusern, die Anfang der 1930er-Jahre an der Avenue Théodore-Weber gebaut wurden, konnten die Gebrüder Honegger ihre Erkenntnisse Architektur


Abb. 2 — Die Überbauung von Balexert in den 1960er-Jahren. Foto: Archiv Honegger Frères

vertiefen und manche Charakteristik entwickeln. Das typische Gebäude, das das ganze Können des Büros widerspiegelt, ist also das Ergebnis eines seltenen kumulierten architektonischen Wissens, wie die von Franz Graf geleitete Studie zeigte, aus der das 2008 veröffentlichte Buch «Honegger frères. Architectes et constructeurs 1930–1969 – De la production au patrimoine» hervorging. In dieser Phase spielt das «marokkanische Abenteuer», auf das sich das Büro Honegger Frères 1949 einliess, eine wesentliche Rolle. Nach dem Krieg, während sich das Geschäft in Genf nur langsam wieder erholte, eröff­ neten die Gebrüder Honegger ein Büro in ­Casa­blanca. Sie entwickelten dort eine pragmatische Vorfertigungsmethode für Stahlbeton, die es ermöglichte, Decken und Fassaden zu moderaten Produktionskosten herzustellen. 1951 meldete Pierre Honegger beim Eidgenössischen Institut für Geistiges Eigentum in der Schweiz zwei Patente an: eines für Kassettendecken, das andere für Fassaden. Diese 1954 in Genf erstmals angewandte Bauweise, das «Honegger-­Afrika-System» oder «HA-System», ist mit einem weiteren modularen Prinzip verbunden, dem «Marokko-­Standard». Er basiert auf einem 60 Zentimeter grossen, quadratischen Raster, das die Standard­ wohnungspläne bestimmt.

Abb. 3 — Die Cité Caroll während der 1960er-­ Jahre vom Innenhof des Einkaufs­zentrums aus fotografiert. Foto: Aus der B ­ roschüre ­«Jean-Jacques Honegger raconte Honegger Frères, à l’occasion du 50e anniversaire de Honegger-Frères, Schmitt & Cie, ­urbanistes, architectes, ingénieurs à Genève», ­Imprimerie G. de Buren SA, Genf um 1981

Abb. 5 — Die Cité Carl-Vogt in den 1960er-­ Jahren. Im Vordergrund liegen die alten Schlachthöfe. Foto: Georges Neri, Foto­ dokumentation der Stadt Genf

Abb. 4 — Das Dioramagebäude liegt im ­Zentrum von Genf zwischen der Rue des Rois und der Rue du Diorama, 2019. Foto: Christian Bischoff, Architekt, Genf

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Die beiden Systeme sind in ihrer Kombination sehr flexibel und können an jede Art von Programm angepasst werden. Trotz der Variationen, die sie zulassen, verleihen sie der Architektur der Gebrüder Honegger eine starke formale Identität. Die Kassetten von grosser skulpturaler Kraft sind auf der Unterseite der Vordächer, Loggien und ­Traufen sichtbar. Die standardisierten Komplex Nr. 12/2019


Abb. 6 — Ausschnitt des Gebäude-Ensembles von Balexert in Vernier, 2019. Foto: Christian Bischoff

Abb. 7 — Detail der Balkone von Balexert, 2019. Foto: Christian Bischoff

Abb. 8 — Detail der Oberfläche einer für Genf charakteristischen Bodenplatte aus Beton, 2019. Foto: Christiane de Muralt

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Komponenten der Fassaden, die, um wasserdicht zu sein, wie die Ziegel eines Daches übereinanderliegen, bilden eine subtile Profilierung mit raffiniertem Ausdruck. Das Charakteristische an den Honegger-Frères-Gebäuden ist jedoch nicht nur das Zusammenwirken der Systeme und konstruktiven Details, sondern auch der gewählten städtebaulichen und architektonischen Muster. Daraus ergibt sich die Morphologie des Ensembles: Scheibenhäuser mit Erdgeschoss und acht Stockwerken, Flachdach und Fassaden, die durch den regelmässigen Rhythmus der horizontal verlaufenden Loggien und die vertikalen Gitterfenster der Treppenhäuser gekennzeichnet sind (Abb. 6). Ein überall wiederkehrendes Detail komplettiert das Bild der Gebäude und nimmt die Geometrie des quadratischen Modulrasters nach aussen hin sichtbar auf: Die Brüstungen der Loggien, die zusätzlichen Raum schaffen, bestehen aus vorgefertigten Betonelementen, die mit kleinen Quadraten perforiert sind (Abb. 7). Dieses Motiv erinnert an ein weiteres typisches Genfer Designdetail: Die Trottoirs der Stadt bestehen aus talochiertem Zement, auf dem, um Steine nachzuahmen, falsche Fugen gezeichnet sind. Die Oberfläche der Platten wurde zudem mit einer Rolle bearbeitet, die ein regelmässiges Muster aus kleinen Quadraten erzeugt (Abb. 8). Die Cité Carl-Vogt In dem zentralen Stadtteil Jonction gelegen, ist dieser Wohnkomplex zweifellos der­ jenige, der prototypisch für das «Wohnhaus ­Honegger-Frères» steht (Abb. 9/10). Das ­«Honegger-Afrika-System» wurde hier zum letzten Mal angewendet. Ab 1962 gab man es wegen steigender Lohnkosten schrittweise zugunsten einer Vorfertigung in Schwerbauweise auf. Die charakteristischen Kassettendecken kamen in dem in Grand-Lancy in Rekordzeit von 1965 bis 1966 erbauten, monumentalen Sternhaus Etoile-­Palette mit 588 Wohnungen auf 16 Stockwerken zum letzten Mal zum Einsatz (siehe Umschlag und Foto-Essay ab S. 20). Die Integration der Cité Carl-Vogt in den städtischen Kontext ist bemerkenswert. Die fünf Scheibenhäuser sind senkrecht zum ­Boulevard Carl-Vogt angeordnet, auf dessen Nordseite eine durchgehende Zeile historisierender Gebäude verläuft. Sie wurden an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von den Architekten Léon Bovy (Nr. 31–43) und Théo Cosson (Nr. 45–53) erbaut. Auf diese Situation reagierten die Gebrüder Honegger, indem Architektur


sie die einzelnen Häuser im Erdgeschoss mit durchgehenden Ladenfronten verbanden, über denen ein Vordach thront, das bis über das Trottoir reicht (Abb. 11). Derzeit befindet sich die Cité Carl-Vogt im Umbau (Abb. 12). Die beiden ausführenden Archi­tekturbüros MSV Architectes Urbanistes und CLM Architectes (heute CCHE Genève) g ­ ingen erfolgreich aus einem Wettbewerb hervor. Die Intervention, die die architektonischen ­Qualitäten des Ensembles respektiert, zielt darauf ab, «soziale und kulturelle Werte sowie Nutzungsaspekte mit Energie- und Umwelt­ anforderungen in Einklang zu bringen».

Abb. 10 — Die Cité Carl-Vogt am Boulevard d’Yvoy in den 1960er-­Jahren. Foto: Dominique Appia und Victor Bouverat, Archiv Honegger Frères

Abb. 11 — Die Cité Carl-Vogt vom Boulevard Carl-Vogt aus gesehen, 2019. Foto: Christian Bischoff

Abb. 9 — Die Cité Carl-Vogt vom Boulevard d’Yvoy aus gesehen, 2016. Foto: Claudio M ­ erlini

Abb. 12 — Eine Loggia der Cité Carl-Vogt während des Umbaus, 2019. Foto: Christian Bischoff

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WIE STADT ENTSTEHEN KANN Text: Hubertus Adam Fotos: David Willen

Die Rahmenbedingungen für die Revitalisierung des Zwicky-­Areals an der Grenze zwischen Wallisellen und Dübendorf waren nicht einfach: Durch Infrastrukturachsen ist das Gelände der einstigen Zwirnerei von benachbarten Siedlungsbereichen abgeschnitten. Mittels Umnutzung der denkmalgeschützten Bausubstanz und ­kompakter Neubauten entsteht hier ein neues Stück Stadt. Nun ist das z ­ entrale Baufeld neben den historischen Industrie­ gebäuden fertig geworden: das Zwicky-Zentrum mit vier Gebäuden von Giuliani Hönger und einem Solitär von Zanoni Architekten. 53

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Die Katze ist wieder da. Seit 1946, als sie der Schweizer Gebrauchsgrafiker Donald Brun erfunden hatte, warb sie, mit einer Garnrolle zwischen den Pfoten, für Nähseide der Firma Zwicky. Nicht zuletzt dank der Katze mit ihrem Fünfzigerjahre-Charme kannte fast jeder in der Schweiz die Produkte der Firma. Und weit darüber hinaus, denn Zwicky-­Nähseide wurde weltweit vertrieben. Bis die globa­ lisierte Wirtschaft mit der Herstellung in Billiglohnländern eine Produktion in der Schweiz unrentabel machte. Der Krise hatte man zunächst durch die Entwicklung von Produkten für die Automobilindustrie zu trotzen versucht. Doch nach dem Zusammengehen mit dem in Gutach im Breisgau ansässigen Unternehmen Gütermann 2001 wurde die Produktion im Stammwerk Wallisellen nach langen Krisen­ jahren endgültig eingestellt. Die Phase der Konversion begann, die 23,6 Hektar des früheren Industrie-Areals wurden umgenutzt. ­Wohnungen und Ateliers entstanden, wo früher Garnspulen gewickelt wurden. Auf verschie­ denen Baufeldern wurden Neubauten errichtet, unlängst auch im Kernbereich des ehemaligen Indus­trie-Areals. Zwicky-­Zentrum heisst dieser Teil des Gesamtareals. Und die Katze von Brun mit Garn­knäuel ziert nun die Vermarktungsbroschüren für die Wohnungen und Gewerbeflächen.

Umgebung sank der Wasserstand in Glatt und Chriesbach, sie wurde tiefer gelegt und kanalisiert, aber die Wasserkraft liess sich fortan nicht mehr nutzen. Im folgenden Jahrzehnt kam im Zuge des Ausbaus der S-Bahn Zürich ein sich nach Nordosten hin verzweigender Eisenbahnviadukt hinzu. Damit war das Zwicky-Areal von Infrastruktur­achsen nicht nur umzingelt, sondern auch durchschnitten. Keine gute Ausgangslage mithin für die Revitalisierung des Areals, als die Pro­duktion 2001 eingestellt wurde. Doch die Eigentümer waren von den Potenzialen überzeugt und liessen 2003 einen privaten Gestaltungsplan durch den Hausarchitekten Tomaso Zanoni erarbeiten, der eine Mischnutzung aus Wohnen und Gewerbe vorsah. Dafür wurde das nur ­teilweise bebaute Gesamtareal in einzelne Baufelder gegliedert. Zunächst entstanden 2007 Wohnungen im alten Verwaltungsgebäude, ab 2009 begann man mit Neubauten auf den bislang unbebauten Bereichen. Im Westen wurde eine lang gestreckte hofartige Wohnbebauung nach Plänen von Spühler Architekten erstellt, am S-Bahn-Viadukt auf der anderen Seite der Neugutstrasse ein Geschäftshaus von Tomaso Zanoni, das auch die Swiss ­International School beherbergt, dahinter, ganz im Nordosten, ein Wohnkomplex von Fischer Architekten.

Umzingelt von Strassen und Gleisen Wie anderenorts in der Schweiz war auch hier die Wasserkraft der Motor der Industrialisierung. 1839 entstand dort, wo der C ­ hriesbach in die Glatt mündet, die Spinnerei Neugut. Das Gebäude-Ensemble wuchs kontinuierlich, zumal auch Kosthäuser für die Unterbringung der Arbeiter gebaut werden mussten. Damals bildete die Fabrikanlage eine Insel inmitten von Wäldern und Wiesen, gleich weit entfernt von den Dörfern Wallisellen, Schwamendingen und Dübendorf. Um 1902 entstand eine neue Zwirnerei; erst sechs Jahrzehnte später musste die Firma an ihrem Ursprungsstandort noch einmal expandieren. Mit dem Wachsen der Metropole nach dem Zweiten Weltkrieg verdichtete sich die Z ­ ürcher Peripherie. Die Landschaftsräume wichen, und doch bewahrte die Spinnerei N ­ eugut ihre Insellage: Die Autobahn A1 trennte das Areal in den Siebzigerjahren von Wallisellen ab, überdies wurde im Westen ein überdimen­ sionierter Zubringer als Verbindung zwischen Überlandstrasse und Autobahn eingerichtet. Aufgrund der baulichen Massnahmen in der

Verdichtung und kritische Masse Die grösste Herausforderung stellte das Baufeld E dar, besser bekannt unter Zwicky-Süd. Denn dieses liegt unmittelbar im Zwickel zwischen Bahnviadukt und den viel befahrenen Magistralen Neugut- und Überlandstrasse. Über die Immobilienberatungsgesellschaft Wüest & Partner kamen die Grundstückseigentümer in Kontakt mit der Stadtzürcher Bau­­­ genossenschaft Kraftwerk 1, die nicht nur durch experimentelle Konzepte im Wohnbau aufge­fallen ist, sondern auch Erfahrung mit städtischen Randlagen besitzt. Das junge Büro Schneider Studer Primas, das den Studienauftrag des Jahres 2009 für sich entscheiden konnte, setzte mit Sichtbeton, Stahl und Drahtgittern bei der Siedlung, die sich nach aussen abschirmt und ihre Qualitäten in den Gassen und Plätzen zwischen den Blöcken sowie im Inneren der unkonventionellen ­Wohnungen offenbart, bewusst auf die Rauheit –­ aus gutem Grund, wäre doch verniedlichende Kleinteiligkeit an diesem Standort ebenso unangemessen wie die Reaktivierung traditioneller Muster des Städtebaus.

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Erst als die Umsetzung auf dem Baufeld E in die Wege geleitet war, begann die Planung für das Baufeld A. Nicht ohne Grund hatte man mit dem Teilbereich Zwicky-Zentrum zunächst abgewartet, um auf die Erfahrungen mit den übrigen Baufeldern reagieren zu können. Und zwar sowohl hinsichtlich des Wohnungsangebots als auch bezüglich der Geschäftsstruktur. Der Erfolg von Zwicky-­Süd, bei dem die Baugenossenschaft Kraftwerk auf einen Bevölkerungsmix zielt, der dem Stadtzürcher Durchschnitt entspricht, gab auch hier die Anregung, nicht die üblichen Wohnkonzepte für den Stadtrand zu realisieren. Ohnehin sah der Bebauungsplan, der 2012 in aktualisierter und revidierter Version vorlag, eine hohe Verdichtung vor. Und das nicht allein aus ökonomischen Gründen; entscheidend war auch die Notwendigkeit, angesichts der Insellage mit einer dichten Bebauung so viele Bewohnerinnen und Bewohner anzulocken, dass Geschäfte tatsächlich funktionieren und kein weiteres Schlafgetto, sondern ein lebendiges Stadtquartier entsteht. Und dieses hat nun mit dem Zwicky-Zentrum tatsächlich sein Zentrum erhalten. Bei einem Rundgang wird deutlich: Es wirkt hier urbaner als ringsum in den meisten Teilen von Wallisellen, Dübendorf oder Schwamendingen. Erheblich zur Qualität des neuen Siedlungszentrums tragen die denkmalgeschützten, zu Büros, Gewerbeflächen und Wohnungen ­umgewandelten Ziegelbauten der alten Textil­ fabrik bei. Dabei handelt es sich um drei parallele Baukomplexe: die kleinteiligen Färbereibauten am Ufer der Glatt, eine Zeile von Fabrikbauten mit Maschinenhallen und dem samt Aufschrift mit Firmennamen als vertikale Dominante fungierenden Hochkamin sowie schliesslich die Zwirnerei aus dem Jahr 1902. Den Abschluss Richtung Westen bildet ein exakt rechtwinklig zu den drei Zeilen angeordneter Baukomplex mit der früheren Verwaltung. In Verlängerung der Zwicky­ strasse, auf deren westlicher Seite sich die Wohnbauten von Martin Spühler und ein zum Spinnerei-Areal gehöriger ehemaliger Gutshof anschliessen, führt eine Brücke über die Glatt, wo die einstigen Kosthäuser der Arbeiter noch der Sanierung harren. Dahinter wird derzeit auf dem Baufeld D nach Plänen von Localarchitecture aus Lausanne die ­sieben- bis achtgeschossige Wohn- und Geschäfts­bebauung Zwicky-Riedgarten mit weiteren 215 Wohneinheiten realisiert. 56

Fünf Bauten, 194 Wohnungen In einem Wettbewerb im Jahr 2014 konnte sich das Zürcher Architekturbüro Giuliani Hönger mit seinem Vorschlag für das Baufeld A durchsetzen. Die Gesamtinvestition für die fünf Gebäude – vier von Giuliani Hönger, eines von Zanoni Architekten – betrug 90 Millionen Franken. Halter entwickelte das Projekt im Auftrag der Zwicky & Co. AG, führte es durch den Wettbewerb und konnte den Investor Anfos, einen Immobilienfonds der UBS, akquirieren. Die Neubauten fügen sich hinsichtlich Ausrichtung, Anordnung und Volumetrie in das System der bestehenden Bauten ein. Bei den Bauten von Giuliani Hönger handelt es sich um zwei gegeneinander versetzte blockartige Ensembles aus jeweils zwei Baukörpern. Die Baukörper auf der Nord- und Ostseite sind siebengeschossig, die auf der Süd- und Westseite jeweils viergeschossig, um zur historischen Fabrikarchitektur mit ihren maximal vier Geschossen zu vermitteln. Der Baukomplex, der unmittelbar an den Eisenbahnviadukt anschliesst, besteht aus zwei winkelförmigen Volumina, die einen gemeinsamen ebenerdigen Hof umschliessen; die beiden Gebäude, die näher an der Neugutstrasse liegen, teilen sich ein gemeinsames Podium als öffentlichen ­Aussenraum, da hier eine grosse, zusammenhängende Fläche für einen Supermarkt auf Erdgeschossniveau geschaffen werden musste. Für die Fassaden wählten die Architekten ein massives Sichtmauerwerk aus Klinkern. Die Strukturierung mittels vortretender Vertikalen und zurückspringender Brüstungs­ zonen knüpft ebenso wie die Mate­rialisierung an die historischen Bauten an, während der beige changierende Farbton sich vom Gelb und Rot der Verblendklinker des Bestands absetzt. Bei den siebengeschossigen Bauteilen findet sich der Klinker nur an der Erd­ geschosszone. Die oberen Geschosse besitzen helle, aussengedämmte Putzfassaden. Zanoni wählte einen gelblicheren Farbton für sein sechsgeschossiges Gebäude, das als Solitär die mittlere Reihe der Fabrikbauten fortsetzt und zusammen mit dem Gebäude von Giuliani Hönger eine Torsituation bildet, wenn man von Zwicky-Süd oder vom Eisenbahn­ viadukt her kommt. Was man in vielen anderen Neubausiedlungen vermisst, ist im Zwicky-Zentrum gelungen: Die Erdgeschosse weisen eine grössere Raumhöhe auf und werden weitestgehend für Geschäfte genutzt. Hinter den Pfeilerarkaden der viergeschossigen Baukörper reihen sich kleine Architektur


Baufeld A, Schnitt und Ansicht entlang der Achse Neuguetplatz

Boutiquen und Geschäfte mit Flächen zwischen 22 und 58 Quadratmetern. Dazu kommen ein kleines Café-Restaurant am Neuguetplatz zwischen den beiden Giuliani-Hönger-Baukomplexen und die Hardwaldbrauerei, die zusammen mit einer Gaststätte das Erd­geschoss des Zanoni-­ Gebäudes nutzt. Im Sommer wird darüber hinaus die zur Glatt hin vorge­lagerte Freifläche als Biergarten genutzt. Im Zanoni-Bau befinden sich in den oberen Geschossen ausschliesslich Wohn- und Gewerbe-­ Ateliers, flexibel nutzbare Apartments mit Nasszelle und Reduit, bei denen die Fläche zwischen 42 und 67 Quadratmetern variiert. Andere Atelierwohnungen findet man in den Bauten von Giuliani Hönger, dort in Form von Maisonettewohnungen mit doppelt hohem Hauptraum und Schlafbereichen auf der Galerie-­ Ebene. Von den insgesamt 194 zur Verfügung stehenden Wohnungen des Zwicky-Zentrums sind 44 Atelierwohnungen. Ansonsten variiert die Grösse zwischen 1,5 und 4,5 Zimmern. Der Hauptanteil von 78 entfällt auf 2,5-Zimmer-­ Wohnungen mit Flächen von 53 bis 75 Qua­drat­ metern. Nahezu sämtliche Wohnungen besitzen Aussenräume, meist in Form von Loggien. Für die Nutzer der Atelierwohnungen im Zanoni-­ Gebäude steht eine gemeinsame Dach­terrasse zur Verfügung.

Z W I C K Y

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Zwicky Zentrum A6-A9_Ansicht Osten Publikationspläne

Tatsächlich funktioniert das Areal wie eine Stadt im Kleinen (und eben nicht wie eine Kleinstadt). Durch die überzeugende Posi­ tionierung der Baukörper konnte die sich ­zwischen den bestehenden Bauten aufspannende Platz- und Strassenstruktur nahtlos in ihrer Körnigkeit fortgesetzt werden. Richtung ­Neugutstrasse schliesst sich ein vom Strassen­ lärm durch eine Lärmschutzwand abgeschirmte Grünzone um die Fabrikantenvilla an, die 1930 durch Erhard Gull, den Sohn des Zürcher Stadtbaurats Gustav Gull und langjährigen ETH-Professor, errichtet wurde. Auf der anderen Seite erhebt sich seit Jüngstem das Hotel- und Wohnhochhaus Neuguet von R ­ amser Schmid Architekten. Im Süden fungiert die Glatt samt Ufer­ wegen als Erholungsraum. Sie sieht hier längst nicht mehr aus wie ein Kanal, und auch der Chriesbach wurde in den vergangenen Jahren renaturiert. Schliesslich gibt es noch den Raum unterhalb des Viadukts. Seitdem ihn beidseitig die neuen Bebauungen fassen, ist die Zäsur zwischen den beiden Baufeldern zu einem verbindenden Element geworden. Und die Leerstelle unter den Gleisen lässt räumliches Potenzial erkennen, das als ­wettergeschützter Freiraum auf Entdeckung und Nutzung wartet.

Komplex Nr. 12/2019 05.06 .19

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giuliani .hönger architekten eth-bsa-sia , Zürich


Regelgeschoss, Zwicky-Zentrum 14.08.2019

Erdgeschoss

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Regelgeschoss

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Situation Baufeld A Situation Baufeld A

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S. 52 — Der Neuguetplatz liegt zwischen den beiden Wohnkomplexen von Giuliani Hönger. Die Treppe führt hinauf zum erhöhten Hofbereich zwischen dem siebengeschossigen Wohnblock entlang der Neugutstrasse und dem niedrigeren, mit Klinkern verkleideten Gebäude gegenüber der historischen Zwirnerei. S. 54 — Die neuen Gebäude stufen sich nach Süden hin ab, um auf die Massstäblichkeit der umgenutzten Fabrikbauten zu reagieren. Je ein siebengeschossiges und ein vier­ geschossiges Volumen umfassen einen Hofraum. Durch die breiten Öffnungen und die differenzierten Höhen wird der Eindruck einer Blockrandbebauung vermieden. S. 59 — An den Neuguetplatz grenzt auch der parkartige Freibereich mit der ehemaligen Fabrikantenvilla, einem Werk des Architekten Erhard Gull aus dem Jahr 1930.

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S. 62 — Erdgeschoss-Atelierwohnung im östlichen der Wohnkomplexe von Giuliani Hönger. Die Wohnfläche umfasst 77,8 Quadratmeter. Zur Wohnung gehört auch eine Terrasse mit 20 Quadratmetern. S. 63 — Hinter den Pfeilerarkaden im Erdgeschoss der Bauten von Giuliani Hönger sind kleine Geschäfte eingezogen. Ausserdem finden sich im Zwicky-Zentrum ein Supermarkt und zwei Lokale. Zusammen mit weiteren Gewerbeflächen in den historischen Zwirnereibauten und den Ateliers ist ein lebendiges Stadtquartier entstanden. S. 65 — Der Neubau von Zanoni Architekten direkt neben dem Eisenbahnviadukt bildet den Auftakt des Zwicky-Zentrums; er fügt sich in die mittlere Reihe der Fabrib­bauten ein. Im Erdgeschoss hat die Hardwald-Brauerei samt Lokal ihr neues Domizil gefunden. Links, zur Glatt hin, dient der baumbestandene Vorplatz im Sommer als Biergarten.

S. 60/61 — Der erhaltene Hochkamin mit dem Schriftzug «Zwicky» bildet die Dominante der historischen Fabrik­ bauten. Sie entstanden sukzessive im 19. Jahrhundert und fanden mit der Zwirnerei (in der Bildmitte) ihren vorläufigen Abschluss.

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Architektur



VOM GLEICHEN HOLZ

66 Text: Victoria Easton Foto: Martina Bjorn

Die Möbelserie «Athens Series» der Basler Architekten Emanuel Christ und Christoph Gantenbein basiert in Idee und Form auf einem traditionellen hölzernen Schneidblock, so «wie wir ihn auf dem Athener Fischmarkt vorfanden». Interessiert an der scheinbaren Banalität des Objet trouvé, lesen die Gestalter den Schneidblock als Architektur und entwickeln daraus eine Serie aus Tisch, Hocker und Beistelltisch. «Beim Versuch, das Objekt zu verstehen, entdeckten wir seine Tektonik. Sie verwies auf ein System, in dem einzelne Elemente zu einem grösseren Ganzen zusammengesetzt werden konnten. Durch Interpretation, Fehl­ interpretation, Übersetzung und Transformation wurde aus der ‹anonymen Architektur› eine Objektserie, die ihren Referenz­ rahmen gleichermassen vorgibt und verlässt. ‹Athens Series› ist nicht Ausdruck einer persönlichen, intimen Idee, eines Gefühls oder einer Besessenheit, sondern eine bewusste gestalterische Setzung, die die Position der Autoren infrage stellt.» Tischplatten und Sitzflächen aller Objekte bestehen aus Tulpenbaumblöcken, die von zylindrischen Elementen mit ­«japanischem Schloss» zusammengehalten werden und ihnen ihre Robust­heit und Einzigartigkeit verleihen. «Athens Series» wurde von Christ & Gantenbein für die Brüsseler Design-­ Initiative Maniera entwickelt. Architektur



SCHLUSSLICHT BAUINDUSTRIE Die deutsche Forschungsministerin Anja ­Karliczek äusserte sich Ende 2018 in einem Reuters-TV-Interview zum Thema Mobilfunk­ frequenzausbau mit dem denkwürdigen Satz: «5G ist nicht an jeder Milchkanne notwendig.» Diese Aussage stiess in den Medien auf viel Kritik und wurde zum Sinnbild für eine noch immer herrschende, unterschwellige Techno­ logieskepsis und Innovationsfeindlichkeit in Teilen von Politik und Wirtschaft. Manche fühlten sich gar an Ron Sommers Aussage aus dem Jahr 1990 erinnert: «Das Internet ist eine Spielerei für Computerfreaks, wir sehen darin keine Zukunft.» Wie Unrecht der da­malige Telekom-Chef hatte, weiss heute jedes Kind. Die digitale Revolution ist längst in vollem Gang, technikfeindlichen Voten und kolossalen Fehlprognosen zum Trotz. Doch während die meisten Industrien bereits von der Digitalisierung profitieren, hinkt die Baubranche müde hinterher. Die Gründe dafür sind wohl nur zum Teil struktureller Natur. Der anhaltende Bauboom hat während knapp zweier Jahrzehnte jeglichen Leidensdruck von allen involvierten Akteuren genommen. Sie konnten auf einer Welle aus tiefen Zinsen und anhaltender Zuwanderung fast schwerelos dahingleiten. Unter diesen ­Voraussetzungen gedieh eine Beratungs- und Dienstleistungssparte – zusätzlich getrieben von einer stetig wachsenden Regulierungsdichte –, die von komfortablen Mandaten und satten Gewinnen gespeist wurde. Auch (para-)staatliche Akteure haben sich bis in Randbereiche wie Vogelschutz oder Sozio­ animation weitgehend an den Kriterien der volkswirtschaftlichen Relevanz vorbei ausgedehnt. Kurz gesagt: Der Immobilienkuchen war zu schmackhaft, als dass die Beteiligten an einem neuen Rezept interessiert gewesen wären. Stagnation der Produktivität Diese Konstellation half, das eigentliche Problem der Schweizer Bau- und Immobilien­ industrie zu kaschieren: die Stagnation der

68 Text: Nik Grubenmann

Produktivität. Ein Phänomen, das nicht nur den hiesigen Markt betrifft, sondern weltweit zu beobachten ist. Eine Studie des McKinsey Global Institute (MGI) aus dem Jahre 2017 rechnet vor, dass die Produktivität der Baubranche weltweit seit zwei Jahrzehnten auf einem bescheidenen 1-Prozent-Wachstum pro Jahr verharrt, während der gesamte ­Industriesektor ein jährliches Produktivitätswachstum von 3,6 Prozent aufweist. Im schweizerischen Vergleich zeigt sich ein ähnliches Bild. Interessant ist dabei der Blick auf die Landwirtschaft, die anders als die Bauindustrie mit einer relativ zügigen Adaption digitaler Technologien in der Geräte­steuerung, Saatgutentwicklung und im Management einen beeindruckenden Fortschritt erzielen konnte. Die MGI-Studie kategorisiert die einzelnen Länder nach steigender Produktivitätsleistung in Laggards, Accelerators, Declining Leaders und Outperformers. Zusammengefasst lässt sich das Gros der europäischen Staaten bei den Declining Leaders und vereinzelt auch bei den Outperformers einordnen. Schwellenländer sowie die BRICS-Staaten gehören zu den Laggards oder Accelerators. Nur ein Staat sticht besonders heraus: Belgien. Hier verzeichnet die Baubranche ein Produktivitätswachstum von jährlich 1,8 Prozent. Das nimmt sich vielleicht bescheiden aus, dennoch übertrifft es Deutschland, Schweden, Spanien, Grossbritannien und die meisten anderen EU-Staaten. Eine positive Entwicklung in Belgien war möglich, obwohl hier im Gegensatz zur Schweiz kein durch Zuwanderung getriebener Bauboom herrscht und ein Grossteil der Bautätigkeit aus Bestandserneuerung besteht. Die Gründe lassen sich wie folgt benennen: Zum einen sind die Löhne in der belgischen Baubranche vergleichsweise hoch, was die Unternehmen dazu antreibt, Kosten woanders zu reduzieren, etwa mithilfe neuer Technologien. Zum anderen verzichten die belgischen Behörden, die ja bereits an die gängigen EU-Richtlinien Immobilien & Kapital — Kolumne


gebunden sind, auf weitergehende Regulatoren für Bauvorhaben. Vorschub leistet auch eine Besonderheit des belgischen Industriesektors: die hohe Ingenieurkompetenz im Schiffbau und bei Offshore-Windfarmen. Hier entwickelte Verfahren der Präfabrikation von Zement­ bauteilen werden von der Baubranche adaptiert. Belgien ist Weltmarktführer im Bereich Sichtbeton mit einem Exportanteil von 30 bis 40 Prozent. Historisch gewachsene Komplexität In der Schweiz bietet sich ein anderes Bild. Die hiesige Bau- und Immobilienbranche zeichnet sich durch eine besonders hohe Fragmentierung und eine komplexe Struktur aus. Anschaulich zeigt dies die Internetseite netzwerk-digital.ch – von SIA, CRB, KBOB, IPB und Bauen Digital Schweiz betrieben –, die sich der Aufgabe verschrieben hat, «die digitale Transformation im Planungs-, Bau- und Immobilienwesen zu koordinieren». An die Ästhetik eines Fadenbilds angelehnt, werden die Verbindungen zwischen den einzelnen ­Themenbereichen der Digitalisierung im Bauwesen mit Hunderten von Linien dargestellt. Doch spätestens nach fünf Klicks geht jede Übersicht verloren, und der User hat sich im Dickicht des Netzwerks verirrt. Die Metapher zur Komplexität der hiesigen Baubranche könnte nicht besser sein. «Die (zwangsläufige) Ortsgebundenheit von Bauten geht meistens mit einer Trägheit einher, die im Falle des Bauwesens der Statik, aber auch häufig den regional verwurzelten Strukturen der Bauindustrie geschuldet sind», ist in der Einleitung zur umfangreichen Sonderausgabe der Zeitschrift «Architektur + Technik» zum Thema digitales Bauen im Jahr 2016 zu lesen. «Bezeichnenderweise ist die Digitalisierung dort am meisten fortgeschritten, wo die Nähe zum Bauplatz sekundär ist: bei der Planung und der Vorfabrikation», heisst es weiter. Den Bruch zwischen ­Planungs- und Ausführungsbranche beim Leistungsmodell verstärken unterschiedliche Tempi in der Digitalisierung: Während die Planung bereits Fortschritte macht, hinkt die Ausführungsbranche weiter hinterher. Ein echter Produktivitätsgewinn kann nur gelingen, wenn dieser Bruch nicht nur überwunden, sondern beide Phasen integriert und gesamtheitlich bearbeitet und angeboten ­werden. Dies wiederum setzt voraus, dass die Industrie von produkt- und leistungsbasierten Ausschreibungen zu funktions- und 69

bauteilorientierten Angeboten wechselt. Der Besteller legt in der Entwicklungsphase Erscheinungsbild und Funktion fest, ohne die technische Ausführung zu definieren. Diese wird im Rahmen der Angebotsausarbeitung durch Planer und Unternehmer gemeinsam erarbeitet. Ihr Ziel ist eine optimierte Lösung in Bezug auf die definierten Funktionsanforderungen unter Einhaltung der vorgegebenen architektonischen Erscheinung, insbesondere aber hinsichtlich der Kosten im Erstellungsprozess. Die integrierte Vorgehensweise ermöglicht nicht nur maximale Effizienz. Für den Besteller schafft sie sehr viel schneller Verbindlichkeit und Kostensicherheit, ohne langwierige, teure und möglicherweise unnütze Planungen erstellt zu haben. Unternehmerische Intelligenz gefragt Dass die digitale Transformation von der Unternehmenskultur ausgeht, ist inzwischen ein Allgemeinplatz und hat in weiten Teilen den Primat der Technik verdrängt. «Agilität», «SCRUM», «New Work» sind die Schlagworte. Der von ihnen ausgelöste Trend ist Teil der sogenannten Digitalisierungskultur. Doch sie verschleiern eher, als dass sie erhellen, worum es eigentlich geht. Letztlich ist im Umgang mit Digitalisierung unternehmerische Intelligenz nötig. Diese wiederum erfordert nichts anderes, als sich zu trauen, die Frage nach dem Nutzen von Modernisierung und Transformation zu stellen und gegebenenfalls auch das eigene Geschäftsmodell anzupassen. Gemäss Orestis Terzidis, Leiter des Lehrstuhls für Entrepreneurship und Technologiemanagement am Karlsruher Institut für Technologie, besteht die Kernkompetenz der Digitalisierung darin, «sich entscheiden zu können». Das Thema der digitalen Transformation ist für ein Unternehmen strategisch von zen­traler Bedeutung. Die zu Beginn dar­ gelegte Problematik des fehlenden Produktivitätswachstums in der Baubranche wird spätestens dann virulent, wenn äussere Faktoren wie die tiefe Zinslandschaft und die anhaltende Zuwanderung wegfallen. Man braucht kein Prophet zu sein, um vorauszu­ sehen, dass Marktteilnehmer, die ihre Haus­ aufgaben gemacht haben und dank digitalen Prozessen, eingespielten Abläufen in Planung, Bau und Betrieb und einer entschei­dungs­ freudigen Unternehmenskultur eine höhere Produktivitätsleistung erbringen, im Vorteil sein werden. Komplex Nr. 12/2019


AUFBRUCH MIT DER GENOSSENSCHAFTSIDEE

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Text: David Strohm Visualisierung: Play-Time

Das Wohnungsangebot in den grossen Zentren ist zu gering und für weniger gut Verdienende meist unerschwinglich. Zwei neue Wohnbaugenossenschaften in der Stadt Bern eröffnen nun ein neues Kapitel für die gemeinnützigen Bauträger in der Schweiz: Das von der Halter-Gruppe initiierte Projekt Huebergass wird zu einer Mietergenossenschaft. Die Genossenschaft «Wir sind Stadtgarten» soll das Modell als Entwicklungspartner schweiz­ weit verbreiten. Immobilien & Kapital


Günstigen Wohnraum anzubieten, ist angesichts hoher Mieten und knappen Angebotes in vielen Städten der Schweiz ein Gebot der Stunde – und oftmals Vorgabe für Ausschreibungen bei Projekten, die auf öffentlichen Grundstücken geplant werden sollen. Auch in der Stadt Bern, wo das Stimmvolk 2014 eine «Wohninitiative» angenommen hat, gilt diese Massgabe. Sie war eines der Elemente für einen kombinierten Wettbewerb für die geplante Wohnsiedlung und den angrenzenden Stadtteilpark des Fonds für Boden- und Wohnbaupolitik der Stadt Bern. Unter gemeinnützigen Wohnbauträgern wurde eine Bietergemeinschaft gesucht, die Planung, Finanzierung, Baurealisation und Betrieb einer Siedlung auf einem Areal an der Mutachstrasse übernehmen kann. Die Jury mass bei der Beurteilung der Wettbewerbsbeiträge folgenden Kriterien eine hohe Bedeutung bei: der Schaffung von preisgünstigem Wohnraum bei kostendeckender Rendite, einer nachhaltigen Bauweise und der Vernetzung der Bauten mit dem angrenzenden Stadtteilpark Holligen-Nord. Aus zehn eingereichten Projekten kürte das Beurteilungsgremium schliesslich einstimmig das Projekt Huebergass zum Gewinner des Wettbewerbs, mit der neu zu gründenden Genossenschaft «Wir sind Stadtgarten» und der Halter AG als Initiantin, dem Büro GWJ Architektur aus Bern, ASP Landschafts­ architekten aus Zürich sowie dem Berner So­zial­planer Martin Beutler als Partnern. Überzeugt habe unter anderem die konsequente Ausrichtung des Projekts auf die Nachbarschaft, begründete die Jury ihren Entscheid. Ungewöhnlich an diesem Wettbewerb war das Vorgehen. Statt wie andernorts üblich zuerst einen Bauträger auszuwählen, ihm das Grundstück im Baurecht abzugeben und zu einem anschliessenden Architekturwettbewerb zu verpflichten, entschieden sich die Ver­ antwortlichen in Bern für einen anonymen Wettbewerb mit Teams aus Planern und Investoren. Dass hinter dem siegreichen Projekt mit der Halter AG ein Immobilienentwickler steht, gab Anlass zu kontroversen Diskus­sionen innerhalb der Wohnbaugenossenschaften (WBG). 100 Jahre Tradition Für das gut 100 Jahre alte Unternehmen Halter bedeutet das Modell keineswegs Neuland. Schon im Jahr 1922 hatte die Firma eine Genossenschaft gegründet mit dem Zweck, deren ­Mitgliedern «unter Mithülfe von Staat und Gemeinde durch Erstellung von Kolonien mit 71

Zwei- und Mehrfamilienhäusern billige Wohnungen zum Verkauf oder durch Vermietung zu verschaffen». Artikel 2 der Statuten hielt damals fest: «Die Genossenschaft beabsichtigt keine Gewinn­erzielung. Die Spekulation mit Liegenschaften auf den Grundstücken der Baugenossenschaft ist für alle Zeiten wegbedungen.» Neben den eigenen Genossenschaftsprojekten realisierte Halter in den 1920er-Jahren unter anderem auch für die Eisenbahner-Baugenossenschaft zahlreiche Wohnbauten. 95 Jahre später greift die frisch gegründete Genossenschaft «Wir sind Stadtgarten» das damalige Gedankengut wieder auf. Nach dem Vorliegen der Baubewilligung im Frühjahr 2019 erfolgte im August der Spatenstich. Bezugsbereit wird die Überbauung Huebergass mit ihren 103 Wohneinheiten voraussichtlich Anfang 2021. Das vorgesehene Wohnungsspektrum soll zu einer vielfältigen Durchmischung der Bewohnerschaft und zu einer sozial und ökologisch nachhaltigen Stadtentwicklung beitragen. Das Angebot ist mehrheitlich auf Familien ausgerichtet, für die es 4,5- und 5,5-Zimmer-­ Wohnungen gibt, bietet aber mit Wohnateliers, Cluster-Wohnungen und Einheiten, die über 1,5, 2,5 und 3,5 Zimmer verfügen, auch Einpersonen- und Paarhaushalten sowie anderen Nutzungsformen entsprechenden Platz. Gemeinschaftsräume, Co-Working-Plätze, Garten- und Jokerzimmer sowie eine Kindertagesstätte, ein Quartierraum und ein Café ergänzen den Mix. Im Mobilitätskonzept sind Mobility-­ Stellplätze am Rand der Siedlung und Beiträge an das Abonnement für den öffentlichen Nahverkehr vorgesehen. Die Stadt Bern hatte für das Projekt einerseits einen günstigen Baurechtszins von 16 Franken pro Quadratmeter Bruttogeschossfläche gewährt, dafür aber das Prinzip der Kostenmiete als Vorgabe und die Gemeinnützigkeit festgelegt. Der jährliche Nettomietzins sollte 187 Franken pro Quadratmeter Hauptnutzfläche nicht überschreiten. Um diese Auflage zu erfüllen, setzte Halter auf die eigenen Erfahrungen in der Erstellung von Wohnbauten und auf die Erkenntnisse der ­Studie «Günstiger Mietwohnungsbau ist möglich», die das Bundesamt für Wohnungswesen (BWO) 2012 zusammen mit Halter und Pensimo veröffentlichte. Einsparungen sind möglich Ausgangspunkt der Studie war die Tatsache, dass der Bestand an günstigen Wohnungen, Komplex Nr. 12/2019



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Durchschnittlicher Wohnflächenverbrauch pro Bewohner 58m²

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Alle bewohnten Wohnungen Wohnungen des gemeinnützigen Wohnungsbaus Je grösser eine Wohnung ist, desto auffälliger ist der Unterschied zwischen dem Wohnflächenverbrauch in ­Genossenschaften und dem durchschnittlichen Wohnflächenverbrauch in der Schweiz.

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auf Einbauten, Schiebetüren und Querverbindungen zwischen den Zimmern. Gleiches gilt für die Konzeption von Treppenhäusern im baurechtlich nötigen Rahmen. Die 2012 erstellte Studie «Günstiger Wohnungsbau ist möglich» stiess in Fachkreisen auf ein grosses Echo. Ihre Schluss­ folgerungen wurden nicht nur im freien Immobilienmarkt, sondern auch im gemein­ nützigen Wohnungsbau aufgegriffen und hier und dort bereits umgesetzt. Auf das Wesentliche fokussiert Auch für die WBG Huebergass sind einfach strukturierte Baukörper, auf das Wesentliche fokussierte Grundrisse und geringere Zir­ kulationsflächen Ansätze, die Baukosten im Griff zu halten. Volumen wird daher nur dort gebaut, wo es wirklich gebraucht wird. So soll es möglich werden, die Zielvorgabe bezüglich der Miete wesentlich zu unterschreiten und die grössten Familienwohnungen für rund 200 Franken Monatsmiete pro Zimmer anzubieten. Einkommens- und Vermögensgrenzen sowie Belegungsvorgaben sollen dafür sorgen, dass von den günstigen Mietzinsen diejenigen ­profitieren, die bezahlbaren Wohnraum auf dem freien Markt nur schwer finden. Einen gewissen Komfortstandard, der zum Teil deutlich über die gesetzlichen Minimalvorgaben hinausgeht, bieten die Wohnungen aber gleichwohl. Das Projekt Huebergass verinnerlicht dabei konsequent die Ideale des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Während der Wettbewerbs­phase erarbeiteten die sieben Gründungsmitglieder, darunter vier Mitarbeitende von Halter und drei Externe, neben dem Projekt die Strukturen der künftigen Wohnbaugenossenschaft – die Statuten und Mieterreglemente. Nach dem Wettbewerbserfolg im Jahr 2017 ­gründeten sie die WBG «Wir sind Stadtgarten», die sich 2019 in Huebergass umbenannte. Zugleich wurde «Wir sind Stadtgarten» mit neuer inhaltlicher Ausrichtung erneut gegründet. Diese Genossenschaft soll künftig weitere WBG-Projekte initiieren und auf den Weg bringen. Das Projekt in Bern wird dafür die erste Referenz sein. Modellcharakter sollen auch die Bemü­ hungen um eine funktionierende, gute Gemeinschaft innerhalb der künftigen Bewohnerschaft haben. So hat bereits ein soge­ nannter Gesellschaftsgärtner seine Arbeit aufgenommen, der in Zusammenarbeit mit Immobilien & Kapital

Grafik: Bundesamt für Wohnungswesen / Gebäude- und Wohnungsstatistik 2015, BFS

die nicht mehr dem heute «gängigen» Wohnungsneubau entsprechen, aber vom Markt meist sofort absorbiert werden, bei Sanierungen oder Ersatzneubauten sukzessive verschwinden. Die so entstehende Lücke zwischen der Nachfrage nach solchen Wohnungen und dem Angebot könnte nach Ansicht der Studien­ autoren durch entsprechend konzipierte Projekte geschlossen werden. Als grössten Hebel zur Reduktion der Brutto­monatsmiete identifizierten sie die Fläche pro Wohnung. Zeitgemässe Grundrisse, die optimiert und effizient in einem Gebäu­ dekörper angeordnet sind, ermöglichen diese Flächenreduktion. Einsparungen bei den Erstellungskosten lassen sich auch bei Ausrüstung und Materialien, der Nutzung von Skaleneffekten durch Standardisierung von Bauteilen und der Projektgrösse sowie bei der Berücksichtigung der Lebenszykluskosten von Bauteilen erreichen. Nötig sind ferner eine konsequente Ausrichtung des Wohnungsangebots auf die ­Zielgruppe, eine stringente Projektentwicklung und -steuerung sowie die transparente Regelung der Zusammenarbeit aller in das Projekt involvierten Personen und Firmen. Wichtig sei zudem, während der Bauphase auf Änderungen zu verzichten, sagen Praktiker. Auch beim Ausbaustandard sind Abstriche möglich, ohne auf allzu viel zu verzichten. So lässt sich einiges an Fläche und Budget einsparen mit der Anzahl und Grösse von Nebenräumen, zum Beispiel von Kellerabteilen, dem Weglassen von Reduits in den Wohnungen, gemeinsamen Waschküchen, dem Einsatz von Standardapparaturen sowie dem Verzicht


­ ehreren Arbeitsgruppen die drei Dimensiom nen der Nachhaltigkeit – Umwelt, Wirtschaft, Gesellschaft – und den Dialog mit der Quartierbevölkerung voranbringen soll. Wirtschaftlich tragbare Lebensräume Die beiden jungen Genossenschaften sind dem Verband Wohnbaugenossenschaften Schweiz und dessen Regionalverband Bern-Solothurn beigetreten und suchen den Austausch und die Begegnung mit anderen WBG. Erklärter Anspruch ist, sowohl bei der Entwicklung von neuen Projekten als auch in der Umsetzung «wirtschaftlich tragbare Lebensräume zu entwickeln und zu realisieren». Auch damit stellen sich die Berner Ini­ tianten in die über 100 Jahre alte Tradition der Wohnbaugenossenschaften in der Schweiz: Am 20. September 1919 gründeten Behördenvertreter, Architekten und Politiker in Olten den Schweizerischen Verband zur Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus, dem sich schon im ersten Jahr seines Bestehens 57 Genossenschaften anschlossen. In der Folge wurden Grundlagen, Musterstatuten, Normen und Muster­ häuser erstellt sowie Tagungen, Beratungen, Ausstellungen und Besichtigungen rund um das Bauen organisiert. Schon 1921 sprach der Bund Mittel für einen Baufonds von 200 000 Franken für Wohnungen für «wenig Bemittelte». Er war der Vorläufer des Fonds de Roulement, der Genossenschaften bis heute zinsgünstige, rückzahlbare Darlehen gewährt. 1956 beteiligte man sich an einer neuen Hypothekar-Bürgschaftsgenossenschaft (HBG), die seitdem die Finanzierung gemeinnütziger Wohnbauten erleichtert. Marktanteile im Schweizer Wohnungsmarkt

Grafik: Wohnbaugenossenschaften Schweiz

5%

38% 57%

2002 entwickelte der Verband ein Leitbild und formulierte gemeinsam mit den anderen Dach­organisationen und dem Bundesamt für Wohnungswesen eine Charta für gemeinnützige Wohnbauträger mit den Grundsätzen der Spekulationsfreiheit, Solidarität, Nach­ haltigkeit, Mitgliederbeteiligung und Offenheit für alle. Festgehalten wurde auch: Wohnen ist ein Grundbedürfnis der Menschen. Zahlreiche Instrumente für die Förderung Um allen eine Wohnung zu tragbaren Bedingungen zu sichern, reichen die Marktkräfte allein nicht aus. Gemeinnützige Wohnbauträger wie Wohnbaugenossenschaften, Stiftungen sowie gemeinnützige Vereine und Aktiengesellschaften füllen diese Lücke. Der Anteil der WBG am Wohnungsbestand ist in der Schweiz zuletzt zurückgegangen und liegt derzeit bei nur noch knapp fünf Prozent (siehe Grafik links unten). Wie in Bern sind daher in vielen Städten und Gemeinden Bestrebungen im Gang, um WBG zu fördern, oft angestossen durch entsprechende Gesetzesinitiativen. Die Instrumente dafür sind zum einen raumplanerischer Art, wie die Abgabe von Land im Baurecht oder durch Verkauf, Anteile in der Nutzungsplanung oder Nutzungsprivilegien als Anreiz sowie Bauverpflichtungen und Kaufrecht. Zum anderen sind Finanzierungsinstrumente im Einsatz, etwa Beiträge für den Landerwerb oder günstigere Baurechtszinsen, günstige Darlehen, Bürgschaften oder A-fonds-perdu-­ Beiträge, etwa für energetische Massnahmen. Dazu gehören auch Beteiligungen der öffentlichen Hand am Anteilkapital, steuerliche Massnahmen sowie Beratungen, Projektbegleitungen und die Sensibilisierung von Gemeinden und Grundeigentümern. Für die WBG «Wir sind Stadtgarten» und Huebergass kommen aus diesem relativ grossen Baukasten nur einzelne Elemente infrage. Sie können sich dank dem Know-how der Gründer weitgehend ohne Hilfe von aussen organisieren sowie finanzieren und leisten dennoch einen wertvollen Beitrag zum genossenschaftlichen Wohnen, dem «dritten Weg zwischen Miete und Wohneigentum».

Mieter oder Untermieter Wohnungs- oder Hauseigentümer Genossenschafter oder Bewohner anderer gemeinnütziger Wohnungen Insgesamt sind in der Schweiz rund 185 000 Wohnungen im Besitz gemeinnütziger Wohnbauträger. Ihr Marktanteil liegt bei 5 Prozent.

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S. 72/73 — Die Genossenschaftssiedlung Huebergass entsteht im Berner Quartier Hollingen und wird über grosszügige Begegnungszonen verfügen.

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«MAN SOLLTE KEINE ANGST VOR DEM SCHEITERN HABEN – ­ ES KANN DAS SPRUNGBRETT ZUM ERFOLG SEIN» Text: Chantal de Senger Fotos: Anoush Abrar

Abdallah Chatila gehört zu den bedeutendsten privaten Immo­ bilienentwicklern Genfs. Seine Firmengruppe m3 ist in vielen Bereichen tätig – von der Architektur über die Projektent­ wicklung bis hin zu Immobilienverwaltung und -verkauf. D ­ arüber hinaus investiert die Gruppe auch in die Branchen Hotellerie, Gastronomie, Versicherungen und Cannabis. Mit seinen vielfältigen Aktivitäten möchte der Serial Entrepreneur A ­ bdallah ­Chatila die Stadt Genf verschönern, erhalten, modernisieren – aber vor allem bewegen. 77

Komplex Nr. 12/2019


Abdallah Chatila wurde 1974 im Libanon geboren. Als er zwei Jahre alt war, flüchtete seine Familie vor dem Krieg, zog zuerst nach Italien und später nach Frankreich, bevor sie sich 1988 in der Schweiz am Genfersee niederlassen konnte. Als diplomierter Gemmologe trat Chatila 1995 in das Juweliergeschäft seines Vaters ein. 2006, elf Jahre später, begann er mit der Entwicklung von Wohn- und Gewerbe-Immobilien. Heute ist er Präsident und alleiniger Gesellschafter der Gruppe m3, zu der etwa sechzig Unternehmen in unterschiedlichen Branchen gehören. Darüber hinaus gründete der Kunstliebhaber, Mäzen und ­Phi­lanthrop 2011 die Stiftung Sesam, die pä­d­agogische und soziokulturelle Projekte ­überwiegend in Genf, aber auch im Libanon unterstützt. Am Firmensitz von m3, im Gebäude des Bahnhofs Cornavin, trafen wir den vielseitigen Unternehmer und Vater von drei Kindern zum Interview.

Sie haben Ihr Heimatland als Kind mitten im Bürgerkrieg verlassen. Welche Erinnerungen und Verbindungen zum Libanon sind geblieben? Ich hege keine besonders positiven Kindheitserinnerungen. Wir mussten das Land ja während des Krieges verlassen. Ich habe immer noch das Bild vor Augen, wie mich meine Eltern auf den Arm nehmen und in den Keller tragen, wo wir uns während der Bombenangriffe immer verstecken mussten. Daneben gibt es noch einige schöne Urlaubserinnerungen aus der Zeit vor 1981. Danach beschlossen wir, nicht mehr in den Libanon zurückzukehren. Später war ich doch noch ein paar Mal dort, aber nicht regelmässig. Heute habe ich keine wirkliche Beziehung mehr zu meinem Heimatland, auch wenn noch Cousins und andere Familienmitglieder dort leben. Manche von ihnen kenne ich gar nicht.

Warum fiel die Wahl Ihrer Familie auf Genf? Unsere Beziehungen zur Schweiz bestehen seit den 1950er-Jahren. Aus Furcht vor einem ­Bürgerkrieg aufgrund der zunehmenden interreligiösen Spannungen riet mein Grossvater meinem Vater und meinem Onkel, hier eine 78

Niederlassung zu eröffnen, um einen Teil der Gewinne aus dem Diamantengeschäft zu investieren. So brachten die beiden Brüder bis in die 1970er-Jahre Geld nach Chiasso. Noch vor Ausbruch des Krieges im Libanon waren sie zu bedeutenden Grosshändlern mit einer Aussenstelle im Genfer Zollfreilager geworden. Als wir unser Heimatland verliessen, zogen wir zunächst nach Mailand, da wir in der Nähe eine Schmuckmanufaktur besassen. Während wir darauf warteten, uns in der Calvin-Stadt niederlassen zu können, verbrachten wir drei schöne Jahre in Cannes. 1981 beschlossen mein Vater und mein Onkel dann, ein Geschäft an der Rue du Rhône in Genf zu eröffnen. Es existiert bis heute. Zu diesem Zeitpunkt war ich 15 Jahre alt. Nach der französischen Matur am Institut Florimont schloss ich ein Studium der Gemmologie in Los Angeles ab. Ich war dafür bestimmt, in der Schmuckbranche zu arbeiten.

Sie starteten Ihre Laufbahn also in der Joaillerie. Erzählen Sie uns von dieser Lebensphase. In der Tat. Ich habe mit 21 Jahren begonnen, bei meinem Vater im Familienunternehmen zu arbeiten. Es gelang mir, das Geschäft erfolgreich weiterzuentwickeln. Darauf bin ich bis heute sehr stolz. 1989 trennten sich mein Vater und mein Onkel. Danach eröffnete ich zusammen mit meinem Bruder zahl­ reiche Boutiquen in Frankreich – die wir aber ebenso schnell wieder schlossen. 1998 lancierten wir dann zusammen mit dem Fussballer Ronaldo die Uhr R9. Das Modell machte uns sehr bekannt. Doch trotz dieser interessanten Begegnung waren mein Bruder und ich noch nicht bereit, ein derart ambitioniertes Projekt zu managen. Mit gerade einmal 25 Jahren unterliefen uns eine Menge Fehler. Wir ver­ loren 30 Millionen Franken aus dem Familienvermögen. 2003 mussten wir schliesslich Insolvenz anmelden, später verklagten wir Ronaldo wegen Vertragsbruchs. Um unseren Eltern das verlorene Geld zurückzahlen zu können, begannen wir wieder im Familienunternehmen zu arbeiten. Glücklicherweise erzielten wir dank unserer Kunden aus dem Mittleren Osten grosse Verkaufserfolge im Diamanten­ geschäft. Wir kamen wieder zu Eigenkapital und konnten weitere Geschäfte wie einen Investmentfonds in Diamanten lancieren. Immobilien & Kapital


Wie begann Ihre Karriere im Immobiliensektor? Eher zufällig. Ich spielte Tennis in BoisCarré in der Gemeinde Veyrier und verschiedene Umstände führten dazu, dass ich am selben Tag den Eigentümer eines zum Verkauf stehenden Grundstücks gleich neben dem Klub und den Agenten traf, der es verpachtete. Da mich das Projekt sehr interessierte, liess ich nicht locker, bis ich die Parzelle erwerben konnte. So begann mit dem Bau von 52 für den Verkauf bestimmten Apartments meine Karriere als Immobilienentwickler. Diese erste Erfahrung hat mir sehr viel Geld eingebracht. Was mich dazu anspornte, weitere Projekte in Angriff zu nehmen, etwa eine Liegenschaft in La Capite in Vésenaz mit 16 Wohnungen. Auch das lief sehr gut, und so machte ich weiter.

Sie besitzen heute rund 60 Unter­ nehmen, darunter auch eines in der Cannabisindustrie. Was macht Ihnen am meisten Spass? Zurzeit begeistern mich Restaurants. Sie stellen den Anfang eines wunderbaren Abenteuers dar. Ich bin jemand, der gerne ausgeht und isst, darum passt das Projekt so gut zu mir. Mit dem Vorhaben kann ich alle meine Unternehmen vernetzen und ihnen gegenseitig Mehrwert verschaffen. Möglich wird das eben durch die Restaurants, in denen wir so viele Genfer wie möglich empfangen wollen.

Nach welchen Kriterien investieren Sie in ein Unternehmen? Das hängt immer von den Möglichkeiten ab. Ich habe beispielsweise zwei Millionen Franken in eine Firma gesteckt, die Cannabis produziert. Heute ist sie fünfzehn Millionen wert. Ich verbringe meine Zeit damit, Unternehmen zu kaufen und zu verkaufen. Künftig werde ich mich vor allem auf Genf konzentrieren, um diesen Standort weiter zu stärken.

Welche Unternehmung erfordert die meiste Aufmerksamkeit? Alle unsere Immobiliengesellschaften kosten mich viel Zeit und Energie. Auch die Führung 79

der Mitarbeitenden – 250 innerhalb der Gruppe – ist aufwendig. Ganz abgesehen davon, dass Mitarbeiterführung zu den Dingen gehört, die ich nicht besonders gut beherrsche. Beispielsweise fällt es mir sehr schwer, mich von einem Angestellten zu trennen, auch wenn ich weiss, dass er auf seinem Gebiet nicht gut ist. Ich würde immer versuchen, ihm eine andere Stelle zu geben. Wenn solch ein Mitarbeiter das Unternehmen dann von sich aus verlässt, bin ich erleichtert, weil es mir schwergefallen wäre, ihm zu kündigen. Je älter ich werde, desto mehr möchte ich Aufgaben delegieren, um nur noch an der Spitze der Holding zu stehen, die alles verwaltet. Mir ist bewusst, dass es umso besser läuft, je weniger ich mich einmische.

Welche Zukunftsprojekte haben Sie? Wir werden in Kürze m3 Leasing lancieren, einen Mietservice für Möbel und IT-Equipment für gewerbliche und private Kunden. Darüber hinaus führen wir eine Zahlkarte für unsere Restaurants ein. Diese Karte wird verschiedene Vorteile bieten, beispielsweise auch an Tankstellen. Ein weiteres Dienst­ leistungs­angebot ist ein Reinigungsservice – m3 Ménage – zu äusserst wettbewerbsfähigen Preisen.

Wie viele Restaurants möchten Sie eröffnen? In 2020 sollen es sieben sein: zwei Restaurants in Pont Rouge, das Sesflo in Champel, das gerade renoviert wird, ein Restaurant an der Rue du Prince in einem Hotel mit 100 Zimmern, das wir in Kürze eröffnen werden, ein weiteres in Tour Maîtresse, eines im Einkaufszentrum Meyrin und eines im Indus­ triegebiet Stellar 32 in Plan-les-Ouates. Mein Ziel ist es, etwa fünfzig Restaurants in den nächsten drei Jahren zu eröffnen. Dafür soll eine zentrale Grossküche auf einer ­Fläche von 1500 Quadratmetern in Plan-les-­ Ouates eingerichtet werden, die sich um die gesamte Lebensmittelbeschaffung, die Zubereitung und das Abpacken der Speisen kümmert, die anschliessend an die verschiedenen Betriebe geliefert werden. Das System soll automatisiert werden, damit es gewinnbringend arbeitet. Wir werden ausschliesslich Komplex Nr. 12/2019



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saisonale und lokale Produkte verwenden. Zudem wollen wir bevorzugt Arbeitslose und Menschen mit leichten Behinderungen ein­ stellen. Unser Ziel ist es, zusammen mit dem Kanton Genf ein Zentrum für Weiterbildung und soziale Inte­gration zu gründen.

Welche Immobilienprojekte verfolgen Sie aktuell? Da ist das 400-Millionen-Franken-Projekt Pont Rouge im Acacias-Quartier, das zwei Hochhäuser – eines davon ein Hotel –, Büros, Geschäfte und Parkplätze umfasst. Wir real­ isieren es zusammen mit Halter. Ferner haben wir zwei Projekte in Etoy (VD), eine Indus­ triehalle mit einer Fläche von 20 000 Quadratmetern und ein Hotel mit 7000 Quadratmetern und 200 Zimmern. Was die Wohnprojekte an­belangt, so konnten wir gerade zwei grosse Parzellen erwerben. Eine in Thônex verfügt über 15 000 Quadratmeter, eine andere in ­Corsier über 20 000 Quadratmeter. Darüber hinaus haben wir 10 000 Quadratmeter in Cologny und Vandœuvres sowie zwei neue Projekte in Anières mit 7000 und 12 000 Qua­dratmetern. Hinzu kommt ein kleineres Vorhaben in Mies (VD) und eines mit 100 000 Quadratmetern in Cherpines in Plan-les-­Ouates. Wir studieren jeden Tag neue Projekte oder Verkaufsangebote und suchen nach Grundstücken, die wir auf­ werten und anschliessend veräussern können. Um das Risiko zu reduzieren, holen wir bei allen unseren Wohnprojekten private Inves­ toren mit ins Boot.

Manch einer ist der Meinung, dass Genf verkehrstechnisch und baulich an die Grenzen der Kapazität stösst. Wie wird sich die Stadt Ihrer Ansicht nach entwickeln? Ich blicke der Zukunft Genfs sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht voller Zuversicht entgegen. Zwar stimmt es, dass sich die Dinge hier nur langsam bewegen, doch kann dies sowohl eine Schwäche als auch eine Stärke sein. Der Reichtum der Stadt ist vor allem auf die Diversität ihrer Bewohner und Unternehmen zurückzuführen. Man darf nicht vergessen, dass Genf ein Ort mit internationaler Ausstrahlung ist, über eine verlässliche Rechtsordnung verfügt, 82

eine enorm hohe Lebensqualität und viel Sicherheit bietet. Alles funktioniert reibungslos. Besonders auf Reisen merkt man, was für ein Glück wir haben.

Sie investieren hauptsächlich in Genf. Warum? Das ist am einfachsten. Ich kenne diesen Kanton sehr gut. Inzwischen bin ich auch ein wenig faul geworden.

Sie sind ein grosser Kunstliebhaber. Woher kommt diese Leidenschaft? Ich bin kein Sammler, aber ich liebe alles, was mit Kunst zu tun hat. Durch den An- und Verkauf von Kunstgegenständen und Gemälden hatte ich die Möglichkeit, leidenschaftliche Sammler und Händler kennenzulernen. Es ist ein bisschen so, als wenn sich Weinliebhaber um einen guten Tropfen versammeln, um die Freuden des Bacchus zu teilen. Übrigens werden wir m3 Vins lancieren, eine Art «Regus des Weines». Wir bieten damit die Möglichkeit, Flächen zu mieten, um Flaschen in einer ­Freizone zu lagern, sich Flaschen liefern zu lassen oder Zugang zu Räumlichkeiten zu erhalten, in denen Abendessen mit eben diesen Weinen organisiert werden können.

Darüber hinaus sind Sie ein grosser Philanthrop, insbesondere mit Ihrer Stiftung Sesam. Welche Projekte liegen Ihnen am Herzen? Ich bin ein sehr sozialer Mensch. Das bedeutet, dass ich anderen gerne bei den grund­ legenden Dingen des Lebens helfe – Nahrung, Kleidung oder Bildung. Auch wenn ich über meine Stiftung jedes Jahr eine Million Franken spende, ist es manchmal doch sehr ­frustrierend. Es gibt derart viele Projekte, die Unterstützung brauchen. Dies war auch ein Grund dafür, Partnerschaften mit zahlreichen anderen Genfer Stiftungen ins Leben zu rufen. Nur so können wir Projekte langfristig vorantreiben. Durch unsere Restaurants werden wir überdies mit der Lebensmittelbörse Partage, die 54 Vereine und Sozialdienste im Kanton Genf beliefert, zusammenarbeiten. Wir wollen nicht verwendete Lebensmittel – Immobilien & Kapital


keine Reste – zur Verfügung stellen. Zudem finanzieren wir seit einigen Jahren mehrere Aufnahmezentren für Migranten sowie punk­tuelle Projekte wie den Skatepark von Plainpalais.

Sie gelten in der Genfer Immobi­ lienszene mitunter als wenig nahbar. Wie erklären Sie sich das? Meine Mutter sagte immer, ich hätte eine Elefantenhaut und sei durch nichts zu erschüttern. Das kann man als Vorteil oder als Nachteil auslegen. Ich hingegen glaube in aller Bescheidenheit, dass jene, die mich wirklich kennen, mich auch schätzen. Ich teile gerne und sehe mich als einen von Grund auf guten und ehrlichen Menschen.

Mensch, bevor er beginnt, so viel Erfahrung wie möglich sammeln. Nur so kann er erkennen, wenn etwas in einem Unternehmen nicht stimmt – und nach den richtigen Lösungen suchen.

Worauf sind Sie heute am meisten stolz? Auf ein gelungenes Familienleben. Es ist eine wahre Freude, meine Kinder aufwachsen zu sehen. Im Hinblick auf meine Karriere bin ich froh, dass mir ein erfolgreicher Neuanfang gelungen ist. Ich habe an mich geglaubt und konnte nach der Niederlage aufstehen wie Phönix aus der Asche. Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass man keine Angst vor dem ­Scheitern haben sollte – es kann das Sprungbrett zum Erfolg sein.

Ihnen wird auch nachgesagt, Sie seien ein treuer Freund. Vor allem bin ich sehr grosszügig. Das hilft ungemein. Ich nehme mir Zeit, die Menschen zu treffen, die mich sehen wollen. Und ich versuche, denen zu helfen, die meine Hilfe benötigen.

Erzählen Sie uns eine Anekdote über sich selbst. Ich war trotz meiner 1,69 Meter Körpergrösse Kapitän meiner Volleyballmannschaft (lacht). Spass beiseite. Doch wo wir schon beim Sport sind: Wir werden bald m3 Fitness mit 1000 Quadratmeter Fläche eröffnen. Hier kostet die Mitgliedschaft für alle, die sportlich aktiv sein wollen, nur einen Franken am Tag. Fitness­trainer, Yogalehrer oder Kampfsportler können Räume mieten, um ihre Kurse abzuhalten. Dank diesem Geschäftsmodell müssen wir niemanden fest anstellen.

Welchen Rat würden Sie jungen Menschen geben, die unternehmerisch tätig sein wollen? Um Unternehmer zu sein, braucht es eine Idee, die sich von anderen unterscheidet. Wenn man nicht wirklich davon überzeugt ist, dass man etwas bewirken kann, sollte man erst gar nicht anfangen. Zudem muss ein junger 83

S. 76 — Abdallah Chatila vor einem der Kunstwerke, die in seinem Büro im Gebäude des Bahnhofs Cornavin hängen. S. 80/81 — Der umtriebige Unternehmer ist alleiniger Aktionär der Gruppe m3 und Vater von drei Kindern.

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Guy Debord The Naked City. Guide psychogéographique de Paris, 1957. Nach monatelangen Schweifzügen zeichnete Guy Debord die emotionalen «Drehscheiben» von Paris auf. © 2019, Alice Debord

Jean-Louis Brau Ohne Titel, 1950. «Die Sekunden verbreiten per Radio Tränen.» Einer der frühesten Versuche, den Einfluss der Stadt auf die eigene Stimmung zu kartografieren.


SCHWEIFZÜGE DURCH DAS ICH-GEHÄUSE VOM UTOPISCHEN ­URBANISMUS DER ­PARISER SITUATIO­­N­ISTEN ZUM TRAUMHAUS DER EIGENEN KINDHEIT – ­MIT EINEM PSYCHOGEOGRA­FISCHEN SELBST­VERSUCH Text: Stefan Zweifel

«Jeder wird seine persönliche ‹Kathedrale› bewohnen. Es wird Zimmer geben, die mehr zum Träumen einladen als Drogen, und Häuser, in denen man gar nicht anders kann, als einander zu lieben.»

Ivan Chtcheglov, Formular für einen neuen Urbanismus, 1953

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Guy Debord und Asger Jorn Mémoires. Structures portantes d’Asger Jorn, Internationale situationniste, Paris 1959 (gedruckt 1958). Man sieht darauf Pläne von Gefängnisbauten, Übermalungen von Asger Jorn und Zitate, die Guy Debord angeordnet hat, hier unter dem Titel Eine Generation schwindet mit

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Erwähnung der Lieblingsdrogen (Äther, Absinth, Rotwein) und der Sentenz unten: «Die Gewalt ist nur ein Hinweis auf die Wüste der Herzen». © 2019, Alice Debord, © Donation Jorn, Silkeborg / 2019, ProLitteris, Zürich

Stadtentwicklung — Essay


Der junge Guy Debord in der lettristischen Zeitschrift ION 1, 1952. Š 2019, Alice Debord

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Die jungen Situationisten in einer Pariser Bar Anfang der 1950er-Jahre.

Graffito in der Sorbonne, Paris im Mai 1968.

Internationale situationniste Nouveau théâtre d’opérations dans la culture, Paris, 1958. Mit diesem Plakat machten die Situationisten öffentlich, dass sie den Schau- und Kampfplatz der Kunst auf die Strassen verlegen wollten.

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Stadtentwicklung — Essay


Besucher der ­situationistischen Ausstellung Destruction of the ­ RSG-6 (1963) zielten auf Bilder von Regierungschefs wie Charles de Gaulle. Im Hintergrund «Gemälde» von Guy Debord mit dem Titel Überwindung der Kunst.

Guy Debord Unité d’ambiance à Paris, 9. Januar 1957. Eines der ganz seltenen Dokumente über die psycho­ geografischen Forschungen, die erhalten sind. © 2019, Alice Debord

Constant Gele sector, 1958. Metall (Eisen, Aluminium, Kupfer) und Holz 21 × 82,5 × 77,5 cm © 2019, ProLitteris, Zürich

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«Wie wirkt sich die Architektur einer Stadt auf unsere psychische Selbstwahrnehmung aus?», fragten sich die Pariser Situa­tionisten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. «Und wie wirkt sich die Wahrnehmung der ersten Wohnungen und Räume, in denen wir gelebt haben, auf unser Leben aus?», fragte sich M ­ arcel ­Proust während des Ersten Weltkrieges. Diese Fragen sind bis heute offen und jeder muss sie für sich selbst hier und jetzt beantworten, in seinem Hirn und Herz. Aus dem Einsamen unserer eigenen Antworten ins Gemeinsame übertragen stellt sich damit die Frage: In welchen Städten wollen wir wohnen? Doch was wirkt eigentlich stärker auf unsere Wahrund Wahnnehmungen der Welt – das Aussen der Stadt oder das Innen der eigenen Erinnerung? Soll und kann man diese Wahrnehmungen urbanistisch planen und lenken, muss man neue Städte bauen, um die Menschen und ihre Fantasie zu befreien, wie es die Situationisten propagierten, oder ist die eigene Kreativität nicht stark genug, um sich in jedem Umfeld eine eigene Topografie der Wünsche zu erschaffen, wie Marcel Proust in seinem Roman «Auf der Suche nach der ver­ lorenen Zeit» zeigte? Die urbanistischen Untersuchungen der Situationisten wurden in ein paar Handzetteln publiziert, die sie nach Lust und Laune Leuten zuschickten, die ihnen wichtig waren. Sie polemisierten darin gegen die Wohnmaschinen von Le Corbusier, den sie nur «Sing-Sing-Corbusier» nannten, da seine Bauten an Gefängnisse erinnern und ihnen der Anblick seiner «Maquetten» nur den einen Wunsch eingaben: sich sofort umzubringen! Ein Gräuel war ihnen auch das Bauhaus rund um Max Bill, wo die Funktionalität den cartesischen Rationalismus feiert und die Natur sowie die menschliche Psyche auf die Folter der Zweckrationalität gespannt wird. Der Maler Asger Jorn, der 1937 für Le Corbusier gearbeitet hatte und von Bill ans Bauhaus berufen wurde, verliess es nach einem Jahr fluchtartig und gründete in Alba das «Bauhaus imaginista», ein Bauhaus, das auf unsere Imagination und Fantasie wirkt, wie uns die Ausstellung im Paul-Klee-Zentrum diesen Herbst zeigt.1 Der Ruf von Asger Jorn und seinen situationistischen Freunden verhallte zunächst ungehört, bis er von Architekten wie Rem ­Koolhaas aufgenommen wurde, der 2009 nach einem von Hans Ulrich Obrist organisierten Redemarathon in London feststellte, dass niemand so oft zitiert wurde wie die Situationisten.2 Sie gelten als letzte wahre Avantgarde und sind die Helden vieler 1 2

Bauhaus imaginista, Zentrum Paul Klee, 20.9.2019–12.1.2020. In Girum Imus Nocte. Die Situationistische Internationale (1957–1972), Katalog zur Ausstellung im Museum Tinguely, hrsg. von Stefan Zweifel, Juri Steiner und Heinz Stahlhut, JRP Ringier Kunstverlag, Zürich 2006.

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Stadtentwicklung — Essay

Constant Spatiovore, 1960. © 2019, ProLitteris, Zürich


Eli Lotar Aux Abattoirs de la Villette, 1929. © 2019, Eli Lotar

zeitgenössischer Künstler – und doch weitgehend unbekannt. Ihr Chefdenker Guy Debord wurde gerade als «Christus der ­Avantgarde» bezeichnet.3 Dass die Vielfalt der Erfahrungen, die die Situationisten vorgebahnt haben, bis heute zu Selbstversuchen anregen, ent­ faltet ein reiches Lesebuch, das in diesen Tagen erscheint.4 Denn jeder von uns kann diese Experimente im Rahmen einer Psycho­geografie selbst erkunden, mit dem Fahrrad rasch hinaus in die Peripherie der eigenen Stadt! Ein Abenteuer, das man genauso auf sich nehmen sollte, wie Prousts Anregung, die Wirkmacht der ersten Räume, in denen man aufwuchs, auf das eigene Leben zu erkunden. Auf der Suche nach einer verlorenen Zeit und einer verlorenen Architektur. Surreale Raumfluchten

Manuel Alvarez Bravo Optical Parable, 1931. © 2019, Estate of Manuel Alvarez Bravo

Einst hatten die Surrealisten den Zauber der Pariser Grossstadt voll Schwarmseligkeit erkundet. Sie schwärmten aus, mitten aus den Pariser Passagen, in denen noch das 19. Jahrhundert schlummerte. Die Passagenbauten bildeten eine Art Warenhaus, durch das man wie Charlie Chaplin auf seinen Rollschuhen gleiten konnte, wobei sich das Alte und das Neue Schock um Schock auf die Netzhaut der Flaneure brannten: Da ein Schaufenster mit Prothesen für Opfer des Ersten Weltkrieges und dahinter blinzelt das Schild für einen Optiker oder der Eingang in eine erotisch schwüle Sauna. Wie in Luis Buñuels Film «Un Chien Andalou» wird das Auge durch die Wahrnehmung der Gegensätze zerschnitten, aufgeschlitzt. Im Schock trifft das untergegangene Jahrhundert auf die Triebwelt des Jetzt. Die Surrealisten tranken also im Café Certa einen «Dada»-Drink und schwärmten aus, hinaus aus dem Zentrum, wo André Bretons Muse, die angeblich wahnsinnige Nadja, unter den Pariser Pflastersteinen die Kräfte der verborgenen Gefängnisse spürte und aus der Seine eine feurige Hand in den Himmel steigen sah.5 Die Sur­ realisten wollten einmal noch das Wunderbare der Moderne feiern, in freier Assoziation, wie es ihr heimlicher Lehrmeister S ­ igmund Freud im Rahmen seiner Psychoanalyse fruchtbar gemacht hatte. So schwärmten sie aus dem historischen Zentrum hinaus in die Bannmeile der Vorstädte. Dort zogen sie nächtens über die Abfallhalden und durch Parklandschaften, wo sie auf der sogenannten Selbstmörderbrücke im Parc des Buttes-Chaumont die ­Fantasie der schwarzen Romantik feierten und sich zu Gedichten in Prosa küssen liessen: 3 4 5

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Mehdi Belhaj Kacem, Grabmal für Guy Debord, übers. von Michael Heitz in DIAPHANES, Nr. 6/7, Gespenster der Avantgarde, Berlin / Zürich 2019. Psychogeografie, hrsg. von Anneke Lubkowitz, erscheint im Oktober bei Matthes & Seitz, Berlin. André Breton, Nadja, übers. von Bernd Schwibs, Suhrkamp Verlag, Berlin 2002.

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«O Liebespärchen! In eurem Schweigen tauchen plötzlich die Umrisse eines grossen Vogels auf. Es gibt jene Pärchen, die eine einzige Brücke verbindet, zum Beispiel die Schultern, jene, deren Körper von oben bis unten miteinander verschmolzen sind, jene, die einander lauschen, jene, die in der Landluft leichten Sinnes sind, die reservierten, die ängstlichen und die stürmischen Liebenden, jene, die glauben, in einem tiefen endlosen Kuss unsichtbar zu sein (…) Ergehen wir uns in diesem Garten der Lüste.» 6 Wir langweilen uns in den Städten!

Die Situationisten waren in gewisser Weise die Erben der Surrealisten, aber sie meinten, dass jener Schlüssel zur Verzauberung verloren gegangen sei: «Wir langweilen uns in der Stadt, es gibt keine Sonnentempel mehr. Zwischen den Beinen der Passantinnen suchten die Dadaisten den Zauberschlüssel und die Surrealisten einen Kristallkelch – vergebens. (…) Wir langweilen uns in der Stadt, denn man muss sich müde laufen, um noch Geheimnisse auf den öffentlichen Strassen und Schildern zu entdecken. (…) Wir leben in einer geschlossenen Landschaft, deren Fixpunkte uns dauernd in die Vergangenheit reissen. Gewisse Dreh-Punkte, gewisse Perspektiven-Fluchten geben uns noch den Blick frei auf originelle Raumkonzeptionen, aber die Vision bleibt Fragment.» 7 Die Pariser Situationisten, dieser «letzte Resonanzkörper der Radikalität» (Jean Baudrillard), wollten keine Kunst mehr machen wie die Surrealisten, denn die wird von den Galerien und Museen aufgekauft, ihre kritische Kraft in Kapital umgemünzt und der Gesellschaft des Spektakels zugeführt. In ihr kommt der Kapitalismus auf eine neue Ebene: Die Ware wird zum reinen Schein, den die Menschen konsumieren, vereinsamt und atomisiert in ihren Wohnung mit Kühlschrank und TV (oder heute vor dem Handy). Man lebt nur noch, Vampiren gleich, von leeren Bildern, anstatt das pralle Leben zu fühlen. Die letzte Form der Kunst, so meinten sie, ist es, neue Situationen zu schaffen, mitten in den Städten Verwirrung zu stiften. Und so tranken sie ein paar Flaschen Mescal, bevor sie in die Betonwüsten hinausdrangen, um zu fühlen, was diese Bauten mit ihrer eigenen Psyche anrichten: «Der Alkohol hatte uns buchstäblich umgeworfen, wir rollten unter einen Tisch, der sich vor unseren Augen zu verflüssigen und in der wirren Geometrie eines Zimmers aufzulösen schien, in dem wir nur noch als Schatten spukten. (…) Es war eine regelrechte Höllenfahrt: dieses unsinnige Schweifen zwischen Ordonnanz-Kasernen, die jegliches 6 7

Louis Aragon, Der Pariser Bauer, übers. von Lydia Basilas, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. Gilles Ivain, Formular für einen neuen Urbanismus, 1953 in: Ivan Chtcheglov Écrits retrouvés, hrsg. von Jean-Marie Apostolidès & Boris Donné, Allia, Paris 2006.

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Stadtentwicklung — Essay

Der Protest gegen das Industriedesign, das die Bewegungen der Menschen am Arbeitsplatz erforscht, wurde in der ersten Nummer der Zeitschrift Internationale situationniste im Juni 1958 pub­­liziert.

Wenn sich der ­Urbanismus an der ­fortschreitenden Krankheit des ­Parkings orientiert. Abbildung in der Zeitschrift Internationale ­ situationniste, Nr. 9, August 1964.


Constant Ambiance de départ, 1959. Metall (Eisen, Stahl, Kupfer), Plexiglas, Öl / Holz 10 × 99 × 77,5 cm © 2019, ProLitteris, Zürich

­ lanieren und Spazieren verunmöglichten, da die Mauern – Ecke F um Ecke – die Langeweile durch Repetition rhythmisierten, sodass man durch die reine Leere ging, während unsere Migräne immer stechender wurde.» 8 Sie nannten diese neue Forschung «Psychogeografie». Anstatt auf der Couch dem Psychoanalytiker die Assoziation ihrer Gedanken zu offenbaren, folgten sie der Assoziation ihrer Füsse auf der Strasse, um nicht nur das eigene Unbewusste, sondern das Unbewusste der Stadt zu erkunden und zu befreien. Und wenn es einen Befreiungsschlag brauchte, rasten sie im Auto mit 120 Stundenkilometern im Zickzack durch Paris, um ihre gewohnten Gehwege hinter sich zu lassen und ins Fremde einzutauchen. Denn sie fühlten sich ins Getto von St-Germain des Près zurückgedrängt. «Vom Standpunkt des Umherschweifens aus haben die Städte ein psychogeografisches Bodenprofil mit beständigen Strömen, festen Punkten und Strudeln, die den Zugang zu gewissen Zonen oder ihr Verlassen sehr mühsam machen.» Sie publizierten eine Karte von Paris, auf der die Wege eines Mädchens zu sehen waren, die es während eines Jahres zurücklegte. Eng wie der Radius eines Gefangenen zwischen Wohnung, Schule und Klavierlehrer. Aus dieser Enge wollten sie ausbrechen und jene Stellen und Schwellen in der Stadt suchen, wo man in das Reich der Fantasie gleitet. Drogenrausch auf Gleitschienen

Die Situationisten träumten davon, dass man die Kunst nicht im Museum zeigen soll, sondern die Bilder der Künstler in die Bars und Restaurants der Stadt verfrachten muss. Sie standen an einer Kreuzung vor dem Café Flore in Paris und lenkten, als Polizisten verkleidet, die Autos in falsche Richtungen. Sie planten, die Abfahrtszeiten und Zielorte der Züge auf den Anzeigetafeln in den Bahnhöfen zu manipulieren, sodass jemand, der sagen wir, von Zürich nach Luzern fahren will, um dort in seiner Wohnung zu schlafen, plötzlich in Milano Centrale aussteigt und sich sagt, hier schmeckt der Espresso ja viel besser, hier bleibe ich und verlasse Frau und Kind, um ein neues Leben zu beginnen. Ein Architekt unter ihnen, Constant, versuchte auf der Grundlage ihrer psychogeografischen Forschungen ein neues Netz von visionären Bauten quer durch Europa zu errichten: «New Babylon». Wie Ivan Chtcheglov in seinem «Formular für einen neuen Urban­ ismus» gefordert hatte, wollte er Häuser bauen, die in der Nacht auf Schienen an andere Orte gleiten, sodass man plötzlich an einem Strand der Bretagne erwacht statt an der Rue Madame in Paris. Und er entwarf gewaltige Bauskulpturen, die auf die Fantasie der Bewohner unmittelbar wirken sollten und uns 8

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Raoul Vaneigem, Le chevalier, la dame, le diable et la mort, Le cherche midi, Paris 2003.

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­ schöner träumen lassen». Räume, in denen man erotisch aufgela« den wird, Räume, in denen man in seine sinnlichen Träume sinkt. Gerüche und Musik, Klänge und der Hall der Räume sollten die Psyche erweitern, wie es die Drogen tun. «In den zwei Haus-Labyrinthen gibt es einen tauben Saal, der mit Isoliermaterial ausgeschlagen ist, einen schreienden Saal mit grellen Farben und kreischenden Klängen, einen Echo-Raum (radio­fonische Spielereien), einen Bild-Raum (cinematografische Spielereien), Denk-Raum, Ruhe-Raum, Spiel-Saal (psychologische Einflüsse erotischer Spiele), Zufalls-Raum etc. Ein verlängerter Aufenthalt in diesen Häusern hat eine wohltuende Wirkung im Sinn einer Gehirnwäsche.» 9 Im Gegensatz zu ähnlichen Ansätzen bei Yona Friedman, Archi­ gram oder Superstudio schwebte Constant jedoch kein Master­plan vor, der den Menschen einen «Fun Palace» im Stil von Cedric Price zur Verfügung stellt, in dem sie Erfahrungen einfach konsumieren, sondern ein Labyrinth, das sie selber ständig verändern können.10 Die Kunst muss von allen gemacht werden! Eine Art Anarchie krea­ tiver Menschen, die in jedem Moment das architektonische Gehäuse verändern, beeinflussen und ihren Wünschen anpassen, um einen ganz neuartigen Weltinnenraum zu kreieren, wie Peter S ­ loterdijk resümiert: «Die Neobabylonier tummeln sich in hängenden Gärten des Wahnsinns – kombattant, kongenial, kondelirant. ‹New Babylon› will ein künstliches Paradies in der Gestalt eines planetarischen Klettergartens für dauerkreative Mutanten erzeugen.» 11 Barbapapa-Mama-Haus

Die Situationisten lösten mit Flugblättern in Nanterre über «das sexuelle Elend der Studenten» den Pariser Mai 68 aus und leiteten das Okkupationskomitee der Sorbonne. An die Wände von Paris sprayten sie ihre Parolen wie «Ne travaillez jamais – Arbeitet nie!» oder «Unter dem Pflaster liegt der Strand». Die Brandmauern der Stadt wurden so zu Buchseiten aus Guy Debords revolutionärem Traktat «Die Gesellschaft des Spektakels» 12, durch die man sich als Passant beim Gang zur Arbeit blätterte, um die Parolen des Widerstands zu lesen. Der Generalstreik und die Revolution scheiterten zwar, doch im Rückblick meinte Debord nicht ohne Stolz: «Wir haben Paris zum Tanzen gebracht.» Ihre Ideen schlugen sich auch bald in Kinderbüchern nieder, die meine Kindheit geprägt haben: ­«Barbapapa» von Talus Taylor und Annette Tison, die in Frankreich Architektur studiert hatte, und «Serafin» von Philippe Fix. 9 Constant, Description de la zone jaune, Zeitschrift Internationale situationniste, Nr. 4, Juni 1960. 10 Simon Sadler, The Situationist City, MIT Press, Cambridge 1998. 11 Peter Sloterdijk, Sphären III – Schäume, Suhrkamp Verlag, Berlin 2004. 12 Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, übers. von Jean-Jacques Raspaud, Edition Tiamat, Berlin 1996.

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Stadtentwicklung — Essay

Comité Enragés-­ Internationale situationniste À Nanterre comme ailleurs il n’y a plus de hasard, Nanterre, 14. Februar 1968. In Nanterre bereiteten die Situationisten als geheime Drahtzieher den Pariser Mai 68 vor.


Constant De New Babylon, informatief, Uitgave Stichting Artishock, Juli 1965. © 2019, ProLitteris, Zürich

Die Barbapapa-Familie wird aus ihrem altmodischen Haus vertrieben, das abgerissen wird. Dafür bekommen sie eine Wohnung in einem modernen Block. Sie fühlen sich eingesperrt und fliehen aufs Land. Dort kämpfen sie gegen Bulldozer, die sie vertreiben, indem sie aus Früchten Bomben basteln, die das Räderwerk der Maschinen verkleben. Nun endlich sind sie frei und können das Haus ihrer eigenen Träume bauen: Jedes Zimmer wird mit Sand gebaut, indem der runde Bauch von Barbapapa für jedes Kind ein eigenes Zimmer formt. Es gibt keine Ecken, sondern nur runde Formen. In jedem Zimmer herrscht eine eigene Atmosphäre. B ­ arbawum kann Sport treiben und Hanteln heben, Barbarix kann mit dem Fernrohr die Sterne beobachten, Barbalala den Klang ihrer ­In­­s­trumente durch Orgelpfeifen in den Himmel senden. Diese Form des Lebens prägte sich in meine eigenen Träume ein. Immer wieder träume ich, bis heute, von einem idealen Haus in der freien Landschaft, dessen Ecken gerundet sind, in der Mitte ein Schwimmbad, mitten in der Wohnung, das man durch Schiebemechanismen unter dem freien Himmel öffnen kann. Es ist eine Mischung aus Bildern von Villen im Stil der frühen James-Bond-Filme und den Barbapapa-Büchern. Ach, wie gern würde ich so wohnen! In Prousts Bett

Selber bin ich in einem Block aufgewachsen, gleich am Waldrand von Witikon bei Zürich. Bis heute strukturiert die Architektur jenes Blocks meine Psyche und mein Bild einer Familie. Mein ­Zimmer neben den Eltern, ein langer Gang mit dem Badezimmer, dann ein Wohnzimmer mit Küche, das auf einen kleinen Garten ­hinausgeht. Das genaue Gegenteil von Barbapapa. Eckig und kantig. Und doch hänge ich an diesem Bild. Und obwohl mein Zimmer nicht rund war, verwandelte es sich beim Spiel in ein Floss auf den Wogen eines stürmischen Meers, in eine Höhle für Saurier oder eine Formel-1-Box zum Reifenwechseln. Diese poetische Kraft der Räume auf Kinder erkundete Marcel Proust. Er schrieb dabei die 3000 Seiten seines Romans «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» im Bett, die Wände des Zimmers hatte er mit Kork tapeziert, damit ihn bei seiner Suche kein Stadtlärm stört. Gleich zu Beginn des Romans schläft der Erzähler ein und wirbelt durch Zeit und Raum; aus seiner Rippe entsteht eine schöne Frau und beim Erwachen weiss er zunächst nicht mehr, wo er sich befindet. In einem Hotelzimmer am Meer, im Haus seiner Tante, im Zimmer seiner Kindheit? Er erinnert sich mit seinem bewussten Gedächtnis zunächst nur bruchstückhaft an das Ferienhaus seiner Kindheit in Combray. Dann, nach dem Biss in die Madeleine, die in Lindenblütentee getunkt wird, taucht das Haus mit all seinen ­Zimmern auf, «und ich höre das Raunen der durchmessenen Räume». 95

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Wenn er später in fremden Zimmern übernachtet, ängstigt er sich. Die Decke ist zu hoch, er fühlt sich verloren. Proust schildert das in schwindelerregenden Sätzen, bei denen man den Bezug zum Zimmer durch eine Flut von Nebensätzen und Adjektiven in der Syntax Schritt um Schritt aus den Augen verliert: «Die winterlichen Zimmer, wo man, ins Bett gekuschelt, den Kopf in ein Nest schmiegt, das man aus den unterschiedlichsten Sachen zusammengestoppelt hat: einer Ecke des Kopfkissens, dem Saum der Decken, dem Ende eines Schals, der Kante des Bettes sowie einer Ausgabe der ‹Débats roses›, all dies nach Art der Vögel gekittet, indem man, noch und noch, das eigene Gewicht dagegen presst; und wo man dank des Feuers, das die ganze Nacht im Kamin genährt wird, wohlig schlummert, eingehüllt in einen Mantel aus Luft, warm und rauchig, durchschossen vom Glanz glimmernder Kohlen, eine Art unfühlbarer Alkoven, heisse Höhle, mitten ins Zimmer gegraben, eine glühende Zone im wallenden Gewand thermischer Schichten, von Luftzügen durchzogen, die unser Gesicht erfrischen, aus Ecken wehend, aus den kühlen Bereichen rund um das Fenster oder fern vom Feuer.» 13

13 Marcel Proust, Das Flimmern des Herzens – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, übers. von S ­ tefan Zweifel, Die Andere Bibliothek, Aufbau Verlag, Berlin 2017.

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Stadtentwicklung — Essay


Alice Taylor & Thomas Taylor Barbapapa. © 2019, Alice Taylor & Thomas Taylor

Constant Spatiovore, 1958/1959. Aluminium, Plexiglas, 25 × 41 × 38 cm. © 2019, ProLitteris, Zürich

HP Zimmer Ohne Titel, 1960. Kunsthalle in Emden – Schenkung Otto van de Loo. © 2019, ProLitteris, Zürich

Wie nun könnte man solche Satz-Räume bauen? Räume, in denen man den zentralen Bezug zu seinem Ich verliert, um neue Eindrücke zu sammeln wie einst die Situationisten bei ihren Ausflügen? Paradoxerweise müssen das nicht postmoderne Bauten im Nachhall von Constant sein, sondern es können auch alte Visionen und ­Häuser sein, die sich neu beleben. Das Haus als Grab

Seit drei Jahren steht das Haus meiner Grossmutter leer – ein schrecklicher Betonbau und doch heften sich schöne Erinnerungen an die Räume. Dort lernte ich, an die Garage gelehnt, Einrad­ fahren. Im Garten gackerten Hühner, sehr zum Ärger der Nachbarn. Und im Glashaus wucherten Pflanzen. Um die Betonarchitektur zu kaschieren, zog mein Grossvater schreckliche Holzdecken ein. Doch die vergesse ich, da meine Grossmutter aus der Einbauküche Griessbrei mit Zimt und Zauber brachte, bevor ich mit meinem Cousin in der Garage einen Dschungel entdeckte. Kinder können die Räume mit ihrer eigenen Fantasie ins Ungesehene weiten und leben in eigenen Welten, die sich die Architekten nie träumen liessen. Seit Jahren also steht das Haus leer, seit meine Grossmutter eines Morgens am Tischchen in der Küche starb, während auf der Elektroherdplatte der Kaffee dampfte. Bis heute fühle ich mich ihr in dieser Leere und Kälte des Todes nah. Ich sah sie noch, nach dem Tod auf ihr Bett gebettet. Umschwärmt von meinen Erinnerungen an diese ferne und fremde Welt in Richterswil. Und ich frage mich: Jetzt, wo die Bauzonen neu definiert wurden und man einen Stock höher bauen könnte – was für ein Traumhaus sollte man dort neu errichten? Vielleicht aber, das ist nur so ein Gedanke, vielleicht gibt es kaum etwas Traurigeres, als über solche Traumhäuser nachzudenken. Nicht etwa, weil man sie sich selbst nicht leisten kann. Sondern weil das Traumhaus eine rein räumliche Illusion ist, die uns vorgaukelt, dass wir uns im Leben richtig einrichten könnten – doch dabei müssen wir das eigentliche Traum- und Trauer­haus, das Grab, verdrängen. Denn wir können mit Technik und Statik den Raum beherrschen und nach unseren Vorstellungen gestalten, nicht aber die Zeit. Mein Traumhaus

Mein Traumhaus, es steht nicht am Meer, es braucht aber auch keine seidig schimmernde Schneefläche rundherum, um die innere Gemütlichkeit und Geborgenheit zu betonen, es braucht keine Pfeiler und Säulen, keine Wandelhallen und Balkonbrüstungen, die breit und lüstern über die Ebene eines paradiesischen 97

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Gartens ragen, nein: Mein Traumhaus braucht keinen Architekten, sondern die richtigen Leute, die es bewohnen. In der Küche muss sonntags meine Grossmutter stehen und ihre selbstgemachten Tortellini zubereiten. An seinem Tisch, der heute in meiner Zweizimmerwohnung steht, müsste mein Grossvater noch immer an Bauplänen zeichnen und jenen Tisch zimmern mit kleinen Fächern für Besteck, Bleistifte und vergilbte Fotos verflossener Freundinnen. Aber – er zeichnet nicht mehr. Er ist tot. Wie will ich mir da ein Traumhaus einrichten mit all der Trauer über die Menschen, die in ihm leben müssten, aber nicht mehr in ihm leben können? Im Traum gibt es kein Gesetz der Zeit. Im Traum leben sie noch alle, all meine Freunde, meine Verwandten, meine Vorbilder, meine Freundinnen. Im Traum überlagern sich alle Zeit-Räume. Vorherrschend sind dabei immer wieder Bilder aus der Kindheit. Gaston Bachelard, ein französischer Philosoph, dessen Buch «Poetik des Raumes» 14 man unbedingt lesen sollte, bevor man sich ein Haus oder gar ein Traumhaus bauen lässt, hat beschrieben, wie sehr im Traum und im Haus die Gefühle der Kindheit sich verdichten. Das Haus wird zur Muschel und Mutter: In diese Ohr­ muschel dringen die Geräusche von damals, als die Mutter in der Küche den Salat wusch, mit den Tellern klapperte. Jedes Zimmer ist eine Höhle in diesem Ohr der ewigen Gezeiten, wo die Gischt der Tage und das Salz einsamer Nächte durcheinander rauschen.

Micky Maus, Dezember 1973. © 2019, The Walt Disney Company

Geborgen in Oma Ducks Bauernhof

Ja, einst da brachte mir der Pöstler jede Woche mein Traumhaus. Ich schliff auf dem Treppengeländer hinunter, drei Stockwerke hinunter in rasendem Gleiten mit der Brust auf dem Geländer, dann wurde die Post herausgerissen, hinaufgetragen, drei Stufen auf einmal nehmend, das Paket aufgerissen und schon packte ich es aus: Dagobert Ducks Geldspeicher oder Oma Ducks Bauernhof. Die Bastelbeilage zur «Micky Maus». «Klappklapp» machte die Schere, Leim verklebte die Finger. Falte um Falte wurde das Papier aufgewölbt zu Oma Ducks Bauernhaus, mit Tick, Trick und Track bevölkert, mit Kühen und Bäumen. Doch war ich jeweils so aufgeregt, dass die Bäume umknickten und das Haus windschief in meinem Zimmer stand. Renzo Ganz, der Bruder von Bruno Ganz, wohnte damals bei uns. Wir malten die Wohnung rosarot an. Bei einem Fest kamen die Schauspieler von Peter Stein zu uns, nachdem sie Shakespeares Stück im Stadthof 11 gezeigt hatten: Am Anfang trat man in einen weiss gleissenden Raum. Rund um uns Zuschauer standen erhöht die Schauspieler und eröffneten das Stück. Durch einen Gang gelangte man zur nächsten 14 Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, übers. von Kurt Leonhard, Hanser Verlag, München 1975.

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Guy Debord Vorlage für M ­ émoires. Structures portantes d’Asger Jorn ohne die Übermalungen von Asger Jorn, 1958. Kulturstiftung Phoenix Art Sammlung Falckenberg. © 2019, Alice Debord


Szenerie: Im Raum verteilt die Bäume, in die der verliebte Held den Namen der Geliebten in die Rinden schnitt, deren Geruch unsere Nasen kitzelten – Rosalie. So heisst meine Mutter: Rosalina. Nach der Premiere kamen alle zu uns zur Feier. An der Schwelle zur Küche stand, den ganzen Abend, Bruno Ganz. Diese Stellung an der Schwelle hat mich ein Leben lang begleitet, durch alle Keller und Räume der illegalen Bars. Immer ertappte ich mich, wie ich nicht auf die Tanzfläche hinauswollte, sondern an der Schwelle alles beobachtete. Geborgen von dieser Erinnerung. In Serafins Turm

Philippe Fix Serafin und seine Wundermaschine. © 2019, Diogenes

Es gehörte lange zum guten Ton, sich über die Geborgenheitsillusionen der Einfamilienhauskäufer lustig zu machen. Doch wenn ich ehrlich bin, ich würde gern wie im Kinderbuch «Serafin» mitten in der Stadt ein gigantisches Turmtraumhaus bauen, mit glitzernden Zinnen und wagemutigen Holzkonstruktionen. ­Himmelhoch wie meine Wünsche. Doch Serafins Haus wurde von Spekulanten eingekreist, die Hochhäuser errichteten und den Freiraum enger und enger machten. Zuletzt schickten sie die Polizei, um Serafin und seinen Freund Plimm aus dem Haus zu vertreiben. Die beiden flüchteten höher und höher. Bis in den Dachstock. Und als die Polizisten kamen, da nahmen sie ein paar Treppen und fügten sie aneinander. Vier Stufen. Stiegen darauf hoch. Dann nahmen sie die hinterste Stufe weg und setzten sie oben an. Und dann wieder die hinterste Stufe. So schwebten sie plötzlich auf ihren vier Stufen immer weiter in die Höhe. Vier Stufen vom Wunsch der Freiheit getragen, im Himmel schwebend, ins Freie entschwebend, verfolgt von den neidischen Blicken der Polizisten. Nicht der Hass auf jene, die sich Traumhäuser leisten, heilt die Wunden unserer Wünsche, sondern nur die Gewissheit, dass das wahre Haus der Träume immer nur in der Flucht der Fantasie zu haben ist. Dass man nur den eigenen Kopf bewohnen kann, den Kopf mit all seinen Zimmern, Flurfluchten und Küchennischen, mit seinen Zimmern mit allen Freunden und seinen Küchen mit Grossmüttern, die am Sonntag Tortellini kochen. Ein Raum jenseits der Zeit. Schweifzug in die Peripherie

Um diesen Raum jenseits aller Räume zu erkunden, drifte ich also als Psychogeograf hinaus in die Stadt. Die Strassennamen machen mich weiblich-weich. Idaplatz, Gertrudstrasse, Berta­ strasse. Unter dem Licht des gelben Vollmondes spüre ich schon Brüste wachsen, an denen ich die Kraft der Milchstrasse trinke. 99

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Der Regen lässt die Flüsse schwellen. Ich steige frühmorgens in den Zug, mit Fischerstiefeln, und fahre ins Toggenburg, das «gleich einem langgezogenen Moll-Akkord quer zur Weltgeschichte steht» (Peter Weber). Sein «Wettermacher» zaubert hinter den Hochhäusern von Wattwil Dünste und Dämpfe in die Landschaft. Schon gleite ich hinunter in einen Nebenfluss der Thur mit dem seltsamen Namen «Steinenbach». Der Schatten der Forellen zischt durch das Wasser. Die Fliege der Angelrute fliegt. Da steigt ein Fisch wie mein eigener Wunsch und lässt die Rute zucken. Ich haste weiter. Durch dunkles Grün. Hier sieht man nichts mehr vom Tal und kein Hochhaus mehr. Dafür peitschen mich die Bäume mit ihren Zweigen. Der Fuss gleitet am lehmigen Boden ab. Ein Strudel lockt mich, um in ihm meinen Köder zu versenken. Die Schwelle des Wassers spült die Rinnsteine der Stadt weg. Ich taumle ins Grün und Blau. Ein Reiher fliegt auf. Schon rauscht es. Ein riesiger Wasserfall der Wünsche, im Becken tummeln sich Schatten von Forellen. Führen die Steine als Stufen in eine Bar an der Langstrasse? Die Stadt und ihre Lüste lösen sich hier auf in der Gischt der Tage. Der Wald wird zur Stadt, die Stadt zum Wald. Jede Stromschwelle wird zur bewusstseinserweiternden Strassenschwelle. Taumle ich in eine Bar? Trinke ich das Wasser der Stadt? Die Angel zuckt, eine Forelle zeigt ihr Fell, es gleisst wie ein Zebra­ streifen im Vollmondschein. Ich weiss nicht mehr, wo ich bin. Brutzelt die Pfanne an der Gertrudstrasse? Nein, es ist ein Wasserfall. Ist die Stadt ein Fluss der Triebe und Wünsche geworden? Die Gischt löst alles auf, ich gleite im Zug zurück nach Zürich wie in Constants Häusern auf gleitenden Schienen, und die Mauern der Stadt stauen das Wasser der Wünsche. Die Ecken der Wohnung werden vom Wasser weich geschliffen, mein Schreibtisch treibt als Floss über den Fluss, das Floss aber ist mein Bett in meinem K ­ inderzimmer, fast vier Meter lang, ein Bett, über das ich Purzelbäume schlagen konnte, ohne an das Kapital zu denken, das diese Räume schuf; ich purzle hinaus, vorbei am Eiffelturm, dessen himmelhohe Sehnsucht die Situationisten zum Träumen brachte, als sie ihn in die Luft sprengen wollten, in einer fernen Nacht 1950, doch diese sehnende Suche ist nie zu Ende, sie begleitet mich hinaus aus Zürich, auf dem Fahrrad, den Fluss entlang, zwischen eckige Bauten, die sich im Wahntraum krümmen, denn meine eigenen ­Wünsche, sie sind so stark, dass sie alle Grenzen, die ihnen die Architektur setzt, überwinden, im Tag- und Nachttraum, der uns alle befreit, befreit von den Paradigmen der Avantgarde und den Paragrafen der Katasterpläne. Das Ich ist nur bei sich, wenn es ausser sich ist. 100

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Ed van der Elsken fotografierte die jungen Situationisten in den Pariser Bars und auch die Stimmung in den Pariser Strassen der frühen 1950er-Jahre. © 2019, Nederlands Foto­museum, Rotterdam


Dora Maar Portrait d’Ubu, 1936. © 2019, ProLitteris, Zürich

Schon höre ich aus dem Rauschen des Wasserfalls ein Gedicht von Arthur Rimbaud: «Genug gesehn. Die Vision findet sich in allen Sphären. Genug gehabt. Un=RAST der Städte am Abend und in der Sonne und über=haupt. Genug er=fahren. Die Spuren des Lebens – Un=RAST und Visionen. Auf=Bruch zu neuer Liebe und neuem Getümmel.» Und schon löst sich das Gehäuse unserer Häuser im Fluss der Erinnerungen an die eigene Kindheit und dem Wunsch nach neuen ­Städten auf. Wenn wir als Schnecken in das alte Gehäuse zurückkriechen wollen, merken wir den Schrecken und erfinden im Schock der Schönheit eine neue Stadt, die Stadt unserer Träume, in der der duftende Dampf der Tortellini meiner Grossmutter die Scheiben der Fenster beschlägt, hinter denen das Haus gegenüber verschwindet, um einer Stadt Platz zu machen, die wir jede Nacht entdecken können, wenn wir nur unseren Wünschen ­folgen, jenseits der Schwellen des Bewusstseins, als Psychogeo­ grafen unserer eigenen Lust, die jedes Gehäuse sprengt.

Rogi André Jacqueline Lamba dans un aquarium, 1934. © 2019, Bibliothèque nationale de France, © 2019, Linéature

Stefan Zweifel, 1967, dissertierte in Philosophie. Er übersetzte Justine & Juliette von D.A.F. Marquis de Sade (zusammen mit Michael Pfister), J.J. ­Rousseaus Träumereien und zuletzt Prousts Druckfahnen Das Flimmern des Herzens. Er kuratierte zuletzt mit Juri Steiner Imagine 68 – Das Spektakel der ­Revolution, Landesmuseum Zürich 2018. Er war von 2007 bis 2014 Kritiker und Moderator im Literaturclub im Schweizer Fernsehen. Er erhielt den Berliner Kritikerpreis (2009) und den Zürcher Preis für k ­ ulturelle Vermittlung 2017. 101

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Passeig de Gràcia, Barcelona, 1:13 000

Passeig de Gràcia, Barcelona

Barcelona, Eixample mit der Altstadt im Südosten und dem Quartier Gràcia im Nordwesten 1:10.000


DAMIT INNERE VERDICHTUNG NICHT ZUR WORTHÜLSE WIRD Text: Balz Halter Schwarzpläne: aus «Atlas zum Städtebau»

Wenn wir unsere Landschaft erhalten wollen, müssen wir in den vorhandenen Siedlungsräumen weiterbauen. Darüber sind sich Politik und Öffentlichkeit einig. Doch praktisch überall stösst die konkrete Umsetzung auf grossen, oft vielfältigen Widerstand. Welche Strategien sind zu verfolgen, damit die raumplanerische Aufgabe, die wir uns selber gestellt haben, nachhaltig und qualitätsvoll gelingen kann? 103

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Mit deutlicher Mehrheit von knapp 63 Prozent wurde 2013 die Revision des Raumplanungsgesetzes angenommen und im Mai 2014 in Kraft gesetzt. Sein zentrales Anliegen ist die innere Verdichtung im Siedlungsgebiet, um das aktuelle und zukünftige Bevölkerungswachstum in der Schweiz aufzunehmen. Bis 2040 dürfte die Zahl der Einwohner von heute 8,5 auf 10 Millionen anwachsen. Eine weitere Ausdehnung des Siedlungsgebiets soll verhindert werden, Landschaft, Natur und vorhandene Baudenkmäler sind zu schonen. Ist die Stossrichtung im Prinzip allseits anerkannt und unbestritten, machen sich schon nach fünfjähriger Inkraftsetzung und ersten zaghaften Schritten Ernüchterung und Ratlosigkeit breit. Die Widerstände in der Bevölkerung steigen. Kaum ein Verdichtungsprojekt, das nicht im politischen Verfahren oder mittels Rekursen bekämpft wird – von Privaten, Interessenverbänden oder Amtsstellen. Das Aufeinanderprallen vielfältiger, individueller Interessen oder sich widersprechender Gesetze, Pläne und Ausführungsbestimmungen führt zu Blockaden und verhindert die dringend angesagte Verdichtung. Die Folgen sind weiterhin wucherndes, unkoordiniertes Wachstum des Siedlungsgebiets, gesichts- und seelenlose Agglomerationen und eine eklatante Unterversorgung von modernen, bezahlbaren Wohnungen in Wirtschaftszentren. Wollen wir das Thema einer qualitätsvollen inneren Verdichtung ernst nehmen und den uns selbst gegebenen politischen ­Auftrag umsetzen, so braucht es zweckmässige Bilder, Strategien, Werkzeuge und Verfahren, um die sich widersprechenden Inte­ ressen auszutarieren, den Transformationsprozess in der gebotenen Geschwindigkeit in Gang zu setzen und unser baukulturelles Erbe in anzustrebender Qualität weiterzuentwickeln. Wieder Städte planen und Städte bauen

Die Situation, in der wir uns heute befinden, ist nicht neu. Bereits im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert konnte aufgrund der sich beschleunigenden Industrialisierung ein Bevölkerungswachstum beobachtet werden, verbunden mit einem beträchtlichen Zuwanderungsdruck auf die Wirtschaftszentren. Zur Deckung der Nachfrage nach günstigem Wohnraum entstanden beispielsweise in Zürichs Vorortgemeinden neue, dichte Quartiere, in denen sich vor allem gering verdienende Arbeiter ansiedelten. Um die sozialen und hygienischen Missstände aktiv angehen zu können und eine übergeordnete Planung zu ermöglichen, erfolgte 1893 eine erste Eingemeindungswelle. Alleine aus der Gemeinde Aussersihl stiessen dadurch mehr Einwohner zur Stadt, als diese bisher selber zählte. Die Stadt wuchs an ihren Rändern nach grossstädtischen Mustern, insbesondere dem 104

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Blockrand. War diese Stadtform damals wenig beliebt und eher für die soziale Unterschicht gedacht, zählen Aussersihl, W ­ iedikon und das Seefeld heute dank ihrer hohen urbanen Dichte und den attraktiven öffentlichen Räumen zu den begehrtesten Wohnquartieren Zürichs. Im Zuge des weiterhin andauernden Wachstumsdrucks entschlossen sich die Stadtväter, nach dem Vorbild Berlins einen inter­ nationalen Wettbewerb für ein Gross-Zürich zu veranstalten. Er galt dem Bestreben, über Grenzen hinauszudenken sowie Ideen und Strategien zu entwickeln, die sich aus den modernsten Erkenntnissen des Städtebaus ableiteten. Von den interessanten und vielbeachteten Wettbewerbsbeiträgen wurde im pragmatischen, zwinglianischen Zürich nur wenig umgesetzt. In einer krisen­ geschüttelten Zwischenkriegszeit, in der es auch an notwendigen Finanzen mangelte, mussten grosse Würfe, wie die Bahnhofstrasse, das Bahnhofsquartier und die Ufergestaltungen zu Zeiten des Stadtingenieurs Arnold Bürkli im 19. Jahrhundert, Wunschdenken bleiben. Dennoch stärkte das Wettbewerbsverfahren das Bewusstsein für Stadtplanung und Städtebau in der gesamten Schweiz. Und mit der Wahl Hermann Herters zum Stadtbaumeister und Konrad Hippenmeiers zum Adjunkten des Stadtingenieurs wurden gleich zwei preisgekrönte Teilnehmer in öffentliche Ämter berufen. Womit die Ideen eines modernen Städtebaus in die Stadtverwaltung einfliessen konnten. Leider waren das Bewusstsein und die Kultur des Städtebaus nicht von langer Dauer. In der Nachkriegszeit begann das Auto zunehmend die Planungen zu dominieren. Es obsiegte die Überzeugung, dass das wieder einsetzende Wachstum mithilfe der Mobi­ lität zu lösen sei. Verkehrsinfrastrukturen wurden geplant und gebaut – ohne Rücksicht auf die Städte. Agglomerationen entstanden, eine struktur- und gesichtslose Zersiedelung unserer Landschaft und Dörfer setzte ein. Mit dem neuen Raumplanungsgesetz hat sich die Erkenntnis auch politisch manifestiert, dass wir einer solchen Siedlungsentwicklung Einhalt gebieten müssen. Die Strategie lautet nun ­«Verdichtung». Der Auftrag geht an alle Kantone, an alle Gemeinden. Die Konsequenz ist, dass wir flächendeckend verdichten werden. Überall ein bisschen, nirgends richtig. In demokratischer Manier muss jeder dem Wachstum Tribut zollen. Niemand soll ­übermässig belastet werden. Keiner darf unverhältnismässig profitieren. Als raumplanerischer Effekt wird Agglomeration zementiert. Grossflächig werden sich Ausnützungen erhöhen, in «vertretbarem Mass», aus Rücksicht auf «gewachsene Strukturen». Durchaus erhaltenswerte Gebiete, zum Beispiel im Stil von Gartenstädten, 105

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Cité de Trévise, Paris, 1:13 000

Paris 1:10‘000, Erstes, zweites, neuntes und zehntes Arrondissement

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EducationalVersion

Zentralhof, Zürich, 1:13 000

Zürich, Altstadt mit umliegenden Quartieren Enge, Aussersihl, Industrie, Unter- und Oberstrass, Fluntern und Hottingen, Maßstab 1:10.000

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Piazza Farnese, Rom, 1:13 000

Rom, Centro Storico mit den historischen Quartieren Ponte, Parione, S. Eustachio und Regola 1:10.000

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oder attraktive, nachgefragte Stadt- und Einfamilienhausquartiere werden aufgeblasen und verlieren Kontur und Charakter. In weniger gelungenen Siedlungen wird aufgestockt und angebaut, womit sich ihr Lebenszyklus um weitere 50 bis 100 Jahre verlängert. Verdichtung ist wichtig, aber sie muss richtig erfolgen. Am rechten Ort in relevantem Ausmass und keinesfalls dort, wo es qualitätsvolle, schützenswerte und nachfragegerechte Strukturen gibt oder ein übermässiges Verkehrsaufkommen die Folge wäre. Nur eine signifikante Verdichtung bringt Entlastung im angespannten Immobilienmarkt. Nur sie führt zu dichten, urbanen und intensiven Orten, an denen sich pulsierendes Leben entwickeln und vielfältige Angebote entstehen und überleben können. Mit anderen Worten: Wir müssen wieder Städte planen und Städte bauen. In der Schweiz, im weitgehend definierten Siedlungsraum, bedeutet dies einerseits, Orte, die ausgezeichnet angebunden sind, in richtige Städte zu transformieren, und andererseits bestehende Städte an ihren Rändern weiterzubauen und dichte Stadtquartiere zu realisieren. Der vorhandene Siedlungsraum muss differenzierter betrachtet werden. Es sind klare Konturen zu schaffen. Eingemeindungen wie vor hundert Jahren sind dazu nicht zwingend. Das Beispiel des Wettbewerbs Gross-Zürich könnte aber durchaus wieder aufgenommen werden. Auch für Bern, Basel, Luzern, Genf und Lausanne. Stadtplanung und Städtebau müssen wieder gelehrt und praktiziert, der unglaubliche Fundus nachahmens­ werter Vorbilder in der europäischen Stadt genutzt und unsere ­Baukultur weiterentwickelt werden. Die Menschen suchen die Stadt, die ausgezeichnete Versorgung, das grosse Angebot an Arbeit, Kultur, Gastronomie, Bildung und Unterhaltung. Sie schätzen urbane Strassen und Plätze, Stadtparks und Uferanlagen. Sie benötigen bezahlbare, moderne Wohnungen in Zentrumsnähe. Wollen wir diesen berechtigten Bedürfnissen nachkommen, müssen wir den Raum über politische Grenzen hinaus neu denken, definieren und umwidmen. Wir müssen Stadträume ausscheiden und strategisch, konsequent und über Zeithorizonte von mehreren Dekaden hinaus planen, um sie dann schrittweise und qualitätsvoll bauen zu können. Das ist in unserer basisdemokratischen Gesellschaft einfacher gesagt als getan. Es braucht Impulse – stellvertretend sei hier die Studie der Architektengruppe Krokodil erwähnt –, Engagement, Zeit und Überzeugungsarbeit. Es braucht die notwendigen Instrumente und Prozesse. Vorhandene Pläne, gewohnte ­Verfahren und Strukturen sind zu hinterfragen, abzuändern oder ganz abzuschaffen. Das ist kein Spaziergang im Stadtpark. Aber in einem föderalistischen Land besteht durchaus die Chance, 109

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dass einzelne Kantone und Kommunen mit gutem Beispiel voran­ gehen und eine neue Ära in der schweizerischen Raum-, Siedlungsund Stadtplanung einleiten. Stadtbauregeln statt Ausnützungsziffern

Die Anforderungen an die Raumentwicklung haben sich verändert, das Instrumentarium ist das Gleiche geblieben. Es stammt aus Zeiten des industriellen Wachstums, in denen es aus wohnhygienischen Gründen notwendig wurde, immissionsstarke Nutzungen von ruhigeren zu trennen, und aus einer Ära der zunehmenden Verfügbarkeit individueller Mobilität, die das Bedürfnis nach Wohnen im Grünen, ausserhalb der lauten, stinkenden und hyperaktiven Stadt, weckte. Zonierungen, wie sie heute für das Gros des Siedlungsgebietes bestehen, tragen noch immer den Gedanken der Nutzungstrennung in sich. Sie trennen, wo es heute keiner Trennung mehr bedarf, wo eine Durchmischung im Interesse der Belebung und Optimierung der Mobilität sogar erwünscht wäre. Für den Werkplatz Schweiz typische hochtechnologische Industrien, wie beispielsweise die Biotechnologie, die Mikroelektronik oder die Software-Entwicklung, finden nicht mehr in lauten, raumgreifenden Industriehallen, sondern zunehmend im Bürohaus, am Schreibtisch statt. Heute definieren Bauordnungen die Art und das Mass der Nutzung, Abstände, Gebäudehöhen, Dachaufbauten oder Ähnliches. Sie sind schematisch, monoton und austauschbar. Sie tragen überhaupt keine Idee, keine Vorstellung der Raumbildung, der Gestaltung, der Bespielung in sich. Sie differenzieren in keiner Weise öffentlichen von privatem Raum und seiner Nutzung. Was für eine Industrie- oder Gewerbezone als Regelwerk richtig sein mag, kann für ein Dorf-, Zentrums- oder Stadtquartier kaum das adäquate Mittel sein. Das Resultat der identitätslosen Aneinanderreihung von Häusern, Nutzungen und Vororten können wir in unserem Mittelland ablesen. Da kann der Mangel an siedlungs- und raumplanerischem Gestaltungswillen auch durch noch so gute Architektur nicht aufgefangen werden. Aktuelle Bemühungen nach qualitätsvoller Verdichtung, vorwiegend auf ehemaligen Industrie-Arealen, sind erste verheissungsvolle Schritte. Weil aber auch sie im Regime der Zonenordnungen nur parzellenscharf umgesetzt werden, den übergreifenden räumlichen Kontext nicht einbeziehen und allzu oft in gut gemeinter Manier der Anpassung an den Rändern ausfransen, bleiben sie Stückwerk und verlieren sich wie Eisschollen im weiten, konturlosen Agglomerationsmeer. Wir müssen das Regime der universellen und technokratischen Bau- und Zonenordnungen überwinden und spezifische Vorstel­ lungen für die Gestaltung eines Ortes entwickeln. Im Wesentlichen 110

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geht es um die Definition der öffentlichen Räume, Strassen, Plätze, Parks und Uferanlagen. Sie liegen im allgemeinen Inte­ resse, haben öffentliche Funktionen zu erfüllen und prägen den Charakter und das Leben eines Ortes. (Pflicht-)Baulinien, Gebäude- und Traufhöhen können wieder an Gewicht gewinnen, ebenso die Ausgestaltung von Fassaden und Erdgeschossen. Wird das Regulativ zum öffentlichen Raum hin restriktiver, sollten die Freiheitsgrade im Innern der Parzelle umso grösser sein. Es braucht keine Festlegungen von Nutzungen und Dichten mehr. Diese sollen im Ermessen des Bauherrn liegen. Für die nötigen feuerpolizeilichen oder wohnhygienischen Anforderungen bilden die entsprechenden Gesetze und Verordnungen eine grundsätzlich ausreichende Basis. Wenngleich auch hier gewisse Paradigmen, zum Beispiel in Fragen des Lärmschutzes und der Besonnung, zu hinterfragen sind. Übermässige Restriktionen verhindern unter Umständen, dass günstige, städtische Wohnungen an lärmmässig weniger privilegierten, aber dennoch nachgefragten Lagen entstehen. Und der ominöse Zweistundenschatten steht städtebaulich durchaus sinnvollen und bezüglich Verdichtung höchst effizienten Hochhausensembles oder -quartieren entgegen. Der Wechsel von generischen, abstrakten Bau- und Zonenordnungen hin zu konkreten, übergreifenden, den spezifischen Orten entsprechenden, qualitätssichernden Planungsvorgaben setzt Gestaltungswille, Autorenschaft und politische Durchsetzungskraft voraus. Sich für eine Idee, ein Konzept, eine Strategie zu entscheiden und persönlich dafür einzustehen, ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass eine qualitätsvolle und relevante innere Verdichtung überhaupt erfolgen kann. Es handelt sich dabei um einen hoheitlichen Akt der Gesetzgebung und ­Planfestsetzung. Dazu braucht es Mut und Leadership seitens der Exekutivbehörden sowie weitsichtige Parlamente. Heute stehlen sich leider viele politische Behörden aus dieser Verantwortung. Sie überlassen Verdichtungsvorhaben weitgehend der Initiative privater oder institutioneller Bauherren, um dann reaktiv im Rahmen von sogenannt kooperativen Verfahren Regeln und Bedingungen zu diktieren und bisweilen Aufgaben und Anforderungen zu überbinden, die die Möglichkeiten von Bauträgern sprengen. Zudem verweisen sie diese auf den kaum kalkulierbaren, legislativen Verfahrensweg von Gestaltungsplänen sowie Revi­ sionen von Richtplänen, Bau- und Zonenordnungen. Konnten der­ artige politische Risiken in der Vergangenheit noch durch Wertsteigerungen, die sich primär als Folge ständig sinkender Kapitalmarktzinsen ergeben hatten, aufgefangen werden, so ist davon auszugehen, dass sich die Privatwirtschaft in einem rauer werdenden Marktumfeld diesen Herausforderungen kaum mehr 111

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stellen und nach Regelbauweise realisieren wird. Und sollte es dennoch so weitergehen, werden Stadtplanung und -entwicklung alleine dem Zufall privater Initiativen, aber keinen übergeordneten Ideen und gesamtheitlichen Plänen folgen. Verfahren für mehr Qualität und Rechtssicherheit

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind wesentliche Elemente unseres Staatsverständnisses. Das spiegelt sich auch in den heute etablierten Planungs- und Bewilligungsverfahren wider. Wir kennen ausgeprägte Rechtsmittel für Private, Interessenverbände und Behörden, weitgehend auf direktdemokratische Entscheidungsfindung basierende Planfestsetzungen, eine höchst produktive Gesetzes- und Normenmaschinerie und einen rasant anwachsenden Ämter- und Beamtenstaat, der – in zweifellos guter Absicht – alle Interessen zu berücksichtigen und jedes potenzielle Risiko auszuschalten versucht. Der Preis, den wir als Marktteilnehmer und Volkswirtschaft bezahlen, ist exorbitant. Wir planen viel zu lange, bauen viel zu teuer und beschäftigen ein Heer von kostspieligen, aber kaum Wertschöpfung generie­ renden Beratern und Juristen. Dementsprechend hat sich die Produktivität im Baugewerbe, ganz im Gegensatz zu allen anderen Wirtschaftssektoren einschliesslich der Landwirtschaft, in den letzten zwei Jahrzehnten nicht gesteigert; in der Immobilien­ industrie war sie sogar rückläufig. Im Kontext von Verdichtungsbemühungen, wo, in der Natur der Sache liegend, sehr vielfältige und vielschichtige Interessen aufeinanderprallen, ist bereits eine weitere massive Zunahme von Rekursen oder anderen verzögernden oder verhindernden ­Aktivitäten spürbar. Die Angst vor Veränderung, der Verlust der gewohnten Umgebung, ökologische Anliegen und der Schutz von Landschaft und Baudenkmälern stehen Verdichtungsvorhaben gegenüber. Die Vielfalt an Rechtsmitteln, deren tiefe Hürden sowie die Dichte von in Gesetzen verankerten Interessen machen es möglich, dass jedes Bauvorhaben unter irgendeinem Titel verzögert oder sogar verunmöglicht werden kann. Ob vorgebrachte Einwände auch den tatsächlichen Interessen entsprechen, ist dabei nicht überprüfbar und deshalb nebensächlich. Wenn wir innere Verdichtung ernsthaft und relevant vorantreiben wollen, brauchen wir Verfahren, in denen die unterschied­ lichen Interessen, private und öffentliche, innert nützlicher Frist und mit überschaubaren Kosten abgewogen und rechtsverbindlich austariert werden. Die zunehmende Komplexität und die Vielfalt der Ansprüche machen es nötig, dass wir stufenweise vorgehen und uns neuartiger Mittel bedienen, wie sie die Digitalisierung bereits heute ermöglicht. 112

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N

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Hackesche Höfe, Berlin, 1:13 000

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Berlin, Spandauer Vorstadt nördlich der Berliner Kernstadt und der Dorotheenstadt, Maßstab 1:10.000

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Als wichtiges und in der Schweiz breit etabliertes qualitätssicherndes Verfahren gilt der Wettbewerb. Er sorgt für Kreativität und Ideenvielfalt und kann im Rahmen der allenfalls stufenweisen Jurierung zu qualitätsvollen, sehr vorteilhaften Resultaten ­führen. Wir alle kennen unzählige grossartige Beispiele von sehr erfolgreichen, städtebaulichen oder architektonischen Wettbewerbsverfahren. Selbst der zuvor erwähnte Wettbewerb Gross-Zürich darf dazu gezählt werden, auch wenn er nur sehr beschränkt umgesetzt wurde. In einem strukturierten Wettkampf der Ideen können die riesigen fachlichen und schöpferischen Kompetenzen in der Schweiz, aber auch international zunutze gemacht werden; um unsere zu bauende Umwelt, öffentliche und private Bauprojekte qualitätsvoll und nachhaltig zu gestalten. Werden bei konkreten Bauvorhaben nicht nur qualitative Massstäbe, sondern auch ökonomische angelegt, so steigen die ­Chancen, dass die guten Lösungen auch in die Realität umgesetzt werden. Gesamtleistungs- oder Investorenwettbewerbe sind in diesen Fällen reinen Planungswettbewerben vorzuziehen, weil Verbindlichkeit geschaffen wird, keine unrealisierbaren Fantasien aufkommen und am Ende greifbare Entscheidungsgrundlagen vorliegen. Wenn die Wettbewerbsparteien auch auf die ökonomischen Eckdaten verpflichtet werden, kann ein Scheitern aufgrund ­wirtschaftlicher Faktoren weitgehend verhindert werden. Wettbewerbsverfahren haben den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass sie ganz unterschiedliche und auch widersprechende Anliegen reflektieren. Gerade Verdichtungsprojekten stehen oft denkmalpflegerische oder ökologische Interessen entgegen. Im Rahmen des Wettbewerbsprogramms können widersprechende Anliegen adressiert und im Verlaufe der stufenweisen Jurierung dis­ kutiert, abgewogen und austariert werden. Entscheidend für den Erfolg des Verfahrens und einer nachfolgenden Umsetzung ist jedoch, dass die unterschiedlichen, zukünftig einspracheberechtigten Interessenvertreter nicht nur einbezogen werden, sondern sich auch aktiv und verbindlich in die Interessenabwägung im Rahmen des Verfahrens einbringen. Das Wettbewerbsverfahren, ­insbesondere ein mehrstufiges, ist ideal geeignet, einen breiten, fachlich vertieften Diskurs über mögliche Lösungen zu führen. Sollte sich keine Lösung abzeichnen, die Konflikte elegant löst, so kann zumindest eine sorgfältige Diskussion, notfalls auch Vertiefung spezifischer Fragen möglich sein. Nur wenn sich alle Parteien schon im Vorfeld darauf verpflichten, eine gemeinsam gewählte Lösung, das heisst einen eindeutigen Juryentscheid, mitzutragen und nicht in einem nachfolgenden Verfahren mit rechtlichen, administrativen oder politischen Mitteln zu torpedieren, ist eine ernsthafte und zielführende 114

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Abwägung aller Interessen möglich und erfolgversprechend. Leider werden viel zu oft aufwendige, zeit- und kostenintensive Verfahren mit vielversprechenden Lösungen zur Makulatur, weil sich Interessenverbände oder Behördenvertreter, sogar wenn sie in die Verfahren einbezogen sind, einen Widerspruch oder Rekurs in nachfolgenden Planfestsetzungs- oder Bewilligungsverfahren vorbehalten und diesen dann auch umsetzen. Architektur und Städtebau sind ortsgebundene Interventionen mit lokaler, vielleicht regionaler, sehr selten aber darüber hinausgreifender Wirkung. Deshalb ist es angezeigt, dass dem Primat des Föderalismus Rechnung und Sorge getragen wird. Die ansässige Bevölkerung gestaltet den Raum, in dem sie leben will. Sie pflegt ihre Kultur, kennt die Örtlichkeiten und ihr kulturelles Erbe und setzt ihre Vorstellungen um. Entsprechend muss ihre Hoheit gewahrt, ihre Entscheidungsbefugnis respektiert und müssen Fragen von Einordnung und Angemessenheit in erster Linie den Kommunen, gegebenenfalls den Kantonen überlassen werden. Die Tendenz, immer mehr Kompetenzen auf nächst­ höhere Ebenen zu ziehen und sich Entscheidungsbefugnisse anzumassen, muss deshalb gebremst oder sogar gekehrt werden. Das gilt für die Gesetzgebung, Inventarisierung und Rechtsprechung. Ein Entscheid wie derjenige des Bundesgerichts im Fall Ringling, wo einem Wohnbauprojekt in der Stadt Zürich die Einordnung trotz qualitätssichernden Wettbewerbsverfahrens mit zweifellos kompetenter und breit abgestützter Jury abgesprochen wurde, dürfte nicht geschehen. Gleiches gilt für Bundesinventare, wie beispielsweise das ISOS, in dem 20 Prozent aller Ortsbilder der Schweiz inventarisiert werden. Auch wenn dieses nicht in allen Fällen zwingende Schutzwirkung entfaltet, wird ein Bundesinventar trotzdem gerne als Indiz dafür herangezogen, dass nationale Bedeutung vorliegen dürfte. Zunehmend beliebt sind partizipative Verfahren, in denen nach Möglichkeit viele Stakeholder, insbesondere die Anwohner und interessierten Bürger, in die Entscheidungsfindung einbe­ zogen werden. Auf diese Weise können gute Ideen und spezifische Anliegen einfliessen, die ansonsten übersehen würden. Der wesentliche Vorteil eines solchen Vorgehens liegt aber vor allem darin, dass Verständnis und Akzeptanz geschaffen werden, die sich im Rahmen der nachfolgenden politischen und recht­ lichen Prozesse positiv auswirken und Opposition reduzieren können. Partizipative Verfahren sind jedoch sehr kontrolliert einzusetzen und bedürfen einer sehr klaren und geschickten Führung, weil sie gerne über die erwünschten Ziele hinausschiessen, das Gegenteil bewirken oder unter Umständen angestrebte Qualitäten verhindern. 115

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Eine Bürgerbeteiligung erfordert persönliches Engagement. Der Prozess lädt ein, sich einzubringen und Vorstellungen und Wünsche zu formulieren. Sind diese wegen unterschiedlicher Sachzwänge nicht erfüllbar, werden Erwartungen enttäuscht, was zu Frustrationen und Widerstand führt. Die Vielzahl der Vorstellungen, verbunden mit dem nachvollziehbaren politischen Reflex, es möglichst allen recht zu machen, führen tendenziell zur Verwäs­ serung von potenzialreichen und identitätsstiftenden Konzepten. Wünsche aus der Bevölkerung entstehen oft aus unmittelbaren Bedürfnissen und orientieren sich stark an aktuellen Gegebenheiten und Zeitströmungen. Weil städtebauliche und architekto­ nische Planungen den Ort und das Leben über mehrere Dekaden prägen, sollten sie langfristig und strategisch erfolgen. Dies kann zu schwer überbrückbaren Konflikten führen. Entsprechend sorgfältig ist abzuwägen, ob ein Mitwirkungsverfahren durchgeführt werden soll und falls ja, zu welchem Zeitpunkt und mit welcher Fragestellung. Da, wie ausgeführt, strukturierte Wettbewerbsverfahren erfahrungsgemäss zu den besten Lösungen führen, können vor Aufgabendefinition in parti­ zipativen Prozessen Inputs erarbeitet werden, die dann, soweit sinnvoll, ins Wettbewerbsprogramm einfliessen. Im Nachgang zu qualifizierten Verfahren kann es angebracht sein, die Bevölkerung für spezifische Fragestellungen, zum Beispiel bei der Ausstattung und Nutzung öffentlicher Räume, einzubeziehen, ohne jedoch Geschmacksdebatten zu provozieren und die Autorenschaft der Entwerfer zu untergraben. Mit digitaler Unterstützung zu effizienteren Bewilligungsverfahren

Die Komplexität von Baubewilligungsverfahren hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten aufgrund der steigenden Anforderungen an Bauwerke und der kontinuierlich anwachsenden Zahl an Normen, Gesetzen und Verordnungen zugenommen. Ebenso ist die Vielzahl legitimierter Interessen gestiegen und mit ihr die Zahl der mit der Prüfung betrauten Ämter sowie einspracheberechtigten ­Parteien. Es muss davon ausgegangen werden, dass sich dieser Trend weiter verstärken wird, nicht zuletzt aus dem Erfordernis der Verdichtung heraus, wo die Mehrheit der Bauvorhaben in gebautem Kontext zu bewilligen ist. Die Kosten für diese Ver­ fahren sind mittlerweile beträchtlich, sowohl aufseiten der Privaten und der Wirtschaft als auch bei Kantonen und Gemeinden. Der volkswirtschaftliche Preis ist nicht mehr zu vernachläs­ sigen, insbesondere auch im Hinblick auf die zunehmende Dauer. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Bewilligungsverfahren im Zeitalter der Digitalisierung nicht effizienter gestaltet, das heisst Kosten und Dauer gesenkt werden können. Insbesondere 116

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für die Phase, in der aufgrund von Rekursmöglichkeiten seitens Dritter die Rechtssicherheit für die Bewilligungsfähigkeit noch nicht gegeben ist. Bereits vorhandene und verfügbare digitale Werkzeuge eröffnen heute ein enormes Potenzial an Effi­ zienzgewinn. Noch grösser ist dieses allerdings, wenn der Bewilligungsprozess in seiner Gesamtheit hinterfragt und neu strukturiert wird. Eine sinn- und zweckvolle Strukturierung würde den Bewilligungsprozess in zwei Phasen gliedern. In der ersten Phase geht es um die Aussenwirkung des Bauprojekts und die Frage, ob rechtliche Interessen Dritter verletzt sind. Themen wie Gebäudehöhen, Volumen, Nutzungen, Erschliessungen, Emissionen, allenfalls Materialisierung stehen im Vordergrund. Im Weiteren wird geprüft, ob bereits vorhandene, schutzberechtigte Bau­ denkmäler oder Natur und Landschaft über Gebühr tangiert werden. Derartige Aspekte können Dritte in rechtlich relevantem Sinne berühren und zur Einsprache befähigen. Ein erfolgreicher Rekurs kann zur Aufhebung einer Bewilligung führen und eine grundsätzliche Überarbeitung eines Projektes nach sich ziehen. Die zweite Phase beschäftigt sich mit der Innenwirkung, mit Themen wie Sicherheit, Wohn- und Bauhygiene und Ökologie. Diese sind weitgehend normiert und werden im Rahmen der amtlichen Prüfung bewilligt oder beanstandet. Die Zahl legitimierter Einsprecher ist in diesen Fällen sehr viel kleiner, die grundsätzlichen Auswirkungen auf ein Bauprojekt bedeutend geringer. Wird nun in einem strukturierten Vorgehen zuerst die Aussenwirkung geprüft und bewilligt, kann sehr viel rascher, mit ­weniger Aufwand eine erste wichtige Hürde genommen und Rechtssicherheit in den wesentlichen, für die Öffentlichkeit und Nachbarn relevanten Fragen erzielt werden. Projekte müssten dann nicht, wie bei heutigen Baueingaben erforderlich, derart fundiert und detailliert ausgearbeitet werden. Das Risiko von fehlerhafter oder sogar nutzloser Planung ist massiv reduziert, ebenso die Dauer bis zu einem rechtskräftigen Bauentscheid. In der nachfolgenden Phase geschieht dann die detaillierte Ausarbeitung des Projektes, aufgrund derer die Prüfung bezüglich Innenwirkung, zum Beispiel für die Erteilung der Baufreigabe, vorgenommen wird. In beiden Phasen kann die Digitalisierung sehr wertvolle Unterstützung leisten und die Effizienz und Qualität der Prüfung massiv verbessern. Geht es um die Aussenwirkung, stehen heute 3D-Tools zur Verfügung, die ein Projekt in der digitalisierten Welt mittels Virtual Reality oder sogar im realen Umfeld dank Augmented Reality erleben lassen – aus beliebigen Perspektiven, zu jeder Tages- und Jahreszeit, mit entsprechendem Sonnenstand. 117

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Wienfluss-Promenaden, Wien, 1:13 000

Wien, Innenstadt mit den angrenzenden Bezirken 2 bis 4 und 7 bis 9, 1:10.000

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Stadtentwicklung


Herengracht, Amsterdam

Herengracht, Amsterdam, 1:13 000

Amsterdam, Stadtbezirk Centrum mit den drei angrenzenden Stadtteilen Oost und Zuid 1:10.000

Amsterdam - Schwarzplan - M 1:10'000

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Stadtentwicklung

Kramgasse, Bern, 1:13 000

Bern, Altstadt mit den umliegenden Quartieren Längasse, Altenberg, Schlosshalde, Kirchenfeld und Sandrain 1:10.000


Auf dieser Basis können sehr qualifizierte Diskussionen und sorgfältige Abwägungen betroffener Interessen erfolgen. Themen wie visuelle Beeinträchtigung, Beschattung, Aussicht etc. werden rasch und ohne Kostenfolge nachvollziehbar. Sind diese Tools ­allgemein verfügbar, zum Beispiel über Internet, ist es sogar denkbar, zukünftig auf Bauaussteckungen zu verzichten. Das vorhandene und in der zweiten Phase detaillierter ausgearbeitete 3D-Modell könnte bei der Innenprüfung genutzt werden, um algorithmische Normenkontrollen vorzunehmen. Dazu bräuchte es keine zeitraubende Handarbeit mehr. Ein Computer könnte dies objektiv, schnell, kostengünstig und umfassend tun. Er wäre in der Lage, alle Aspekte, Normen und Regulierungen einander gegenüberzustellen und Konflikte aufzulisten. Die technolo­ gischen Voraussetzungen sind heute schon gegeben. Dazu braucht es noch nicht einmal künstliche Intelligenz, wenngleich davon auszugehen ist, dass diese den Erkenntnisgewinn nochmals erheblich steigern wird. Innere Verdichtung als historische Chance

Innere Verdichtung darf nicht bloss als raum- oder siedlungsplanerische Strategie oder Massnahme zur Schonung der Natur und Landschaft verstanden werden. Innere Verdichtung ist eine riesige gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Chance, unseren Siedlungs- und Landschaftsraum neu zu verstehen, unsere Baukultur weiterzuentwickeln, neue lebenswerte Orte und Städte zu schaffen und so manche planerische Fehlentwicklung zu korrigieren. In relevantem Mass an den richtigen Orten schafft die Verdichtung wie selbstverständlich die Möglichkeit, den zunehmend nachgefragten, aber viel zu knappen Wohnraum in städtischen Zentren in durchmischter Form und durchaus ohne direkte oder indirekte Zuschüsse seitens der öffentlichen Hand entstehen zu lassen. Es wäre die einmalige Chance, den Städtebau wieder zu kultivieren, einen qualifizierten, differenzierten und gesamt­­ heitlichen Diskurs über Bestand und Zukunft, Aufgabe und Ausgestaltung der grossen, mittleren und kleinen Städte zu führen. Ebenso gilt es, die Bedeutung, Funktionsweise und Aus­ prägung öffentlicher Räume, Strassen, Plätze und Uferanlagen zu klären. Das Know-how ist vorhanden, Anschauungsbeispiele in der schweizerischen sowie europäischen Stadt ebenfalls. Auch Verfahren in Anlehnung an den Wettbewerb Gross-Zürich sollten in Betracht gezogen werden. Der Föderalismus kann helfen, weil er Identifikation schafft und unterschiedliche Konzepte und Strategien ermöglicht. Es gibt nicht die eine richtige Lösung für die Vielfalt der Orte mit ihren unterschiedlichen Historien. 121

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Gefragt ist Leadership, insbesondere bei den politischen Behörden. Siedlungs- und Stadtplanung sind langfristige, hoheitliche Aufgaben, die Moden, kurzfristige Strömungen und Befindlich­ keiten überdauern müssen. Sie sollten über politische Grenzen hinausgedacht und umgesetzt werden. Sie verlangen einen demokratischen Diskurs, können aber nur Erfolg haben, wenn sich Persönlichkeiten, Gemeinde-, Stadt- und Regierungsräte für derartige Ideen, Prozesse und Konzepte engagieren und exponieren, auch mit dem Risiko, politisch zu scheitern.

Die auf den Seiten 102 bis 123 abgebildeten Schwarzpläne wurden dem zweibändigen, im Hirmer Verlag, München, erschienenen «Atlas zum Städtebau» entnommen. Das von V ­ ittorio Magnago Lampugnani, Harald R. Stühlinger und Markus Tubbesing 2018 herausgegebene Werk stellt eine Auswahl von 68 Strassen, Plätzen, Höfen und Uferpromenaden europäischer Städte vor. Die äusserst sorgfältig gestaltete Sammlung ermöglicht einen einmaligen Blick auf die hohe Kultur des europä­ ischen Städtebaus und regt zum vertieften Studium sowie zur Adaption und Weiter­ entwicklung im aktuellen und zukünftigen Kontext an. Balz Halter ist Zürcher Unternehmer und als Hauptaktionär der Halter AG seit mehr als drei Jahrzehnten im Schweizer Immobilienmarkt tätig. Das Familien­ unternehmen hat in seiner über 100-jährigen Firmengeschichte viele städtebauliche Entwicklungen, ausgehend von Zürich-Altstetten, in mittlerweile fast der ganzen Schweiz initiiert und mehrheitlich umgesetzt. 122

Stadtentwicklung


Plaza Mayor, Madrid, 1:13 000

Madrid, Stadtzentrum mit den Quartieren Salamanca und Retiro im Osten 1:10.000

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KOMPLEX-M


MAGAZIN.CH


HALTER AG

Mission Wir identifizieren Entwicklungspotenziale – von Arealen, Grundstücken, Bauprojekten, Liegenschaften – und setzen sie um.

Organisation Gruppe Markus Mettler CEO

Personalbestand 236 Mitarbeiter

Rolf Röthlisberger Rechtsdienst

Umsatz 2018 500–600 Mio. CHF

Nik Grubenmann Kommunikation

Adressen Hauptsitz Zürich Halter AG Hardturmstrasse 134 CH–8005 Zürich T +41 44 434 24 00

Alexandra Stamou Produkt- und Innovationsmanagement

Geschäftsstelle Basel Halter AG Freilager-Platz 4 CH–4142 Münchenstein (BL) T +41 61 404 46 40 Geschäftsstelle Bern Halter AG Europaplatz 1A CH–3008 Bern T +41 31 925 91 91 Geschäftsstelle Luzern Halter AG Zihlmattweg 46 CH–6005 Luzern T +41 41 414 35 40 Geschäftsstelle Lausanne Halter SA Rue de Genève 17 CH–1003 Lausanne T +41 21 310 13 00 Geschäftsstelle St. Gallen Halter AG St. Leonhard-Strasse 49 CH–9000 St. Gallen T+41 71 242 44 10 Verwaltungsrat Balz Halter Präsident Roger Dettwiler Mitglied Dr. Urs Ernst Mitglied Dr. Nicolas Iynedjian Mitglied

Thomas Bachmann Corporate Services

www.halter.ch

Business Development Mission Wir entwickeln Visionen und Business-Cases. Dadurch finden wir Mehrwertpotenziale in Liegenschaften. Personalbestand 13 Mitarbeiter Organisation Simon Schmid Region Zürich und Nordostschweiz Raphael Strub Region Basel und Zentralschweiz Olivier Thomas Westschweiz Herbert Zaugg Region Bern Deborah Eggel «Wir sind Startgarten» Alex Valsecchi Investitionsmanagement und Movement Systems

Gesamtleistungen Mission Wir optimieren Immobilienprojekte und reduzieren Baukosten durch integrale Planung und Ausführung. Personalbestand 99 Mitarbeiter Organisation Maik Neuhaus Geschäftsführer Anna von Sydow Engineering Rainer Schmitt Digital Planen und Bauen Thomas Zenhäusern Spezialprojekte ­(Entwicklung und Akquisition) Marcel Weber Region Basel Theo Fahrni Region Bern

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Die Halter-Gruppe auf einen Blick


Frédéric Boy Westschweiz Diego Frey Region Zürich und Ostschweiz Philip Kiefer Zentralschweiz

Renovationen Mission Wir bieten Gesamtlösungen und handwerkliches Geschick im Umbau. Personalbestand 46 Mitarbeiter Organisation Felix Hegetschweiler Geschäftsführer Daniel Handschin Development & Akquisition / Renovationen Stefan Cavallaro Baudienstleistungen Roland Baron Renovationen Christian Ulrich Renovationen Andreas Wüthrich Bauservice

Entwicklungen Mission Wir investieren in Arealentwicklungen und schaffen Anlageprodukte. Personalbestand 29 Mitarbeiter Organisation Ede I. Andràskay Geschäftsführer

TEND AG

RAUMGLEITER AG

Mission Wir sichern Erträge und senken die Betriebskosten. Damit realisieren wir für unsere Kunden wertvollere Immobilien.

Mission Wir bieten ein integrales Dienstleistungsangebot in den Bereichen Digital Planen und Bauen, 3 ­ D-Modell und High-End-Visualisierung.

Personalbestand 31 Mitarbeiter

Personalbestand 30 Mitarbeiter

Verwaltungsrat Markus Mettler Präsident

Verwaltungsrat Markus Mettler Präsident

Roger Dettwiler Mitglied

Roger Dettwiler Mitglied

Organisation Jacques Hamers Geschäftsführer

Organisation Daniel Kapr Virtual Design & Construction

Andres Stierli Facility Management Philipp Schelbert (ab 1. November 2019) Transaction Management Adressen Hauptsitz Zürich Tend AG Hardturmstrasse 134 CH–8005 Zürich T +41 44 434 24 24 Geschäftsstelle Basel Tend AG Freilager-Platz 4 CH–4142 Münchenstein T +41 61 404 46 40 Geschäftsstelle Bern Tend AG Europaplatz 1A CH–3008 Bern T +41 31 925 91 91 Geschäftsstelle Lausanne Tend SA Rue de Genève 17 CH–1003 Lausanne T +41 21 310 13 00

Mario Ercolani Baumanagement Ost

Geschäftsstelle Chiasso Tend SA c/o Acofin Via Luigi Pasteur 1 CH–6830 Chiasso T +41 91 921 80 80

Bertrand Borcard Baumanagement West

www.tend.ch

Andreas Campi Entwicklungen

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Komplex Nr. 12/2019

Matthias Knuser Research & Development Adresse Raumgleiter AG Pfingstweidstrasse 106 CH–8005 Zürich T +41 44 202 70 80

www.raumgleiter.com


KOMPLEX DAS MAGAZIN DER HALTER AG Nr. 12/2019

Herausgeber und Redaktionsanschrift Halter AG Hardturmstrasse 134 CH–8005 Zürich T +41 44 434 24 00 www.halter.ch Heftkonzept und Redaktionsleitung Christine Marie Halter-Oppelt Gestaltungskonzept und Art Direction Studio Marie Lusa, Marie Lusa, Dominique Wyss Mitarbeiter dieser Ausgabe Anoush Abrar, Hubertus Adam, Martina Bjorn, Christian Bischoff, Victoria Easton, Nik Grubenmann, Balz Halter, Senta Simond, Chantal de Senger, David Strohm, Carole Villiger, Joris Van Wezemael, David Willen, Stefan Zweifel Übersetzung Lionbridge Switzerland AG, Opfikon Korrektorat Bettina Kunzer (deutsche Ausgabe) Mario Giacchetta (französische Ausgabe) Titelbild Etoile-Palettes, Grand-Lancy, Senta Simond Auflage 13 000 Exemplare (deutsche Ausgabe) 2000 Exemplare (französische Ausgabe) Lithografie und Druck Druckerei Odermatt AG, Dallenwil Hinweis Ein Nachdruck ist nur mit Genehmigung der Redaktion möglich. Die Nennung von Foto­ grafen und Copyright-Inhabern erfolgt nach bestem Wissen. Bei unvollständigen Angaben ­bitten wir um Nachricht. Das Magazin «Komplex» wurde im Projekt mit ClimatePartner CO2-kompensiert, also klimaneutral gedruckt. www.swissclimate.ch Kompensations-Nr.: SC2019082901 Printed in Switzerland

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Impressum






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