ÖFG 2023

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DAS MAGAZIN DER ÖSTERREICHISCHEN FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT

Illustration: Georg Feierfeil / www.schorschfeierfeil.com

KLEINE FÄCHER. POLASCHEK. BUNDESLÄNDER 01_Cover_23_CZ_korr_L.indd 1

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EDITORIAL LIEBE LESERINNEN,

Sie mit der zehnten AusW gabe des Magazins der Österreichischen Forschungsgemeinschaft über

unsere Initiativen und Aktivitäten im Jahr 2023 informieren zu dürfen!

Harald Kainz, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der

Wissenschaft und Politik sind zwei Teilsysteme, die gesellschaftlich verschiedene Funktionen erfüllen und sich an verschiedenen Leitwerten orientieren. Aufgrund unterschiedlicher Rationalitäten kann es zu Reibung zwischen diesen beiden Bereichen kommen. Trotzdem ist es unvermeidlich und notwendig, dass sich Wissenschaft und Politik in ein richtiges Verhältnis setzen. Wie es möglich sein kann, dass Wissenschaft Wissenschaft und Politik Politik bleibt und dennoch ein sinnvolles und konstruktives Miteinander gelingt, damit beschäftigte sich der diesjährige Wissenschaftstag zum ˜ ema „Wissenschaft und Politik“ aus den verschiedensten Perspektiven. In dieser Ausgabe des Magazins ÿ nden Sie eine umfangreiche Nachbearbeitung der spannenden und vielfältigen Beiträge des Wissenschaftstags (S. 24 f).

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Darüber hinaus erwarten Sie eine ausführliche Berichterstattung über den diesjährigen ÖFG-Workshop, der sich dem ˜ ema „Kleine Fächer – Fächerdiversität abseits des Mainstreams“ widmete (S. 8 f), sowie ein Einblick in das Scha˛ en unserer Arbeitsgemeinschaften (S. 14 f).

Reinhold Mitterlehner, Präsident der Österreichischen Forschungsgemeinschaft

In der Rubrik „4 aus 300“ dürfen wir Ihnen vier Projekte, die mit Hilfe unseres Förderprogramms „Internationale Kommunikation“ verwirklicht werden konnten, vorstellen. Zwei Projekte stammen von Forscher:innen von österreichischen Universitäten, zwei weitere Projekte werden von ukrainischen Forscher:innen präsentiert, die wir im Rahmen eines außerordentlichen Förderprogramms als Reaktion auf die russische Invasion in die Ukraine und in Kooperation mit der ÖAW unterstützen konnten (S. 4).

ir freu en un s,

(ÖFG)

Ganz besonders freuen wir uns, unserem diesjährigen Preisträger Wolfgang Lutz zum Erhalt des Wissenschaftspreises 2023 zu gratulieren (S. 6)! IHR HARALD KAINZ IHR REINHOLD MITTERLEHNER

PEFC/06-39-364/16

DIE ÖFG IST EINE FORSCHUNGSFÖRDERUNGSEINRICHTUNG, GETRAGEN VON BUND UND LÄNDERN

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Fotos:Lunghammer/TU Graz, Hans Ringhofer

In bewährter Tradition des Magazins baten wir den Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Martin Polaschek, sowie Vertreter:innen aller neun Bundesländer zum Interview, und befragten sie zu ihren aktuellen Schwerpunkten im Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungsbereich (S. 18–23).

Medieninhaber und Verleger: Österreichische Forschungsgemeinschaft, Berggasse 25/21, 1092 Wien T: +43/1/319 57 70 E: oefg@oefg.at Druck: Wograndl Druck GmbH, 7210 Mattersburg

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Fotos: BOKU, Uni Wien, TU Graz/Lunghammer, Sissy Furgler, Mozarteum, D. Sailer, , Barbara Mair, privat, H. Kolarik , Puch, W. Skokanitsch, DavidSailer, beigestellt

LIEBE LESER!


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DER WISSENSCHAFTLICHE BEIR AT DER ÖFG

Fotos: BOKU, Uni Wien, TU Graz/Lunghammer, Sissy Furgler, Mozarteum, D. Sailer, , Barbara Mair, privat, H. Kolarik , Puch, W. Skokanitsch, DavidSailer, beigestellt

Fotos:Lunghammer/TU Graz, Hans Ringhofer

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Martin Gerzabek, Univ.-Prof. für Ökotoxikologie und Isotopenanwendung, BOKU Wien

Reinhard Heinisch, Univ.-Prof. für Politikwissenschaften, Universität Salzburg

Bernhard Jakoby, Univ.-Prof. für Mikroelektronik, Universität Linz

Harald Kainz, Univ.-Prof. für Siedlungswasserwirtschaft, TU Graz, Beiratsvorsitzender

Wolfgang Kautek, Univ.-Prof. für Physikalische Chemie, Universität Wien

Oswald Panagl, Univ.-Prof. em. für Sprachwissenschaft, Universität Salzburg

Peter Parycek, Univ.-Prof. für E-Governance, Universität für Weiterbildung Krems

Magdalena Pöschl, Univ.Prof. für Rechtswissenschaften, Universität Wien

Eva-Maria Remberger**, Univ.-Prof. für Romanistik, Universität Wien

Kurt Scharr, Univ.-Prof. für Geschichte, Universität Innsbruck

Eva Schernhammer, Univ.-Prof. für Epidemiologie, Medizinische Universität Wien

Heinrich Schmidinger, Univ.-Prof. Philosophie/Theologie, Universität Salzburg

Christiane Spiel, Univ.-Prof. für Bildungspsychologie und Evaluation, Universität Wien

Barbara StelzlMarx, Univ.-Prof. für Geschichte, Universität Graz

Hans Tuppy*, Univ.-Prof. em. für Biochemie, Univ. Wien, ehem. Wissenschaftsminister

Friederike Wall, Univ.-Prof. für Unternehmensführung, Universität Klagenfurt

Viktoria Weber, Univ.-Prof. für Biochemie, Universität für Weiterbildung Krems

Susanne WeigelinSchwiedrzik, Univ.-Prof. für Sinologie, Universität Wien

*bis 6/23

**ab 7/23

I N H A LT FÖRDERUNG FÜR DEN NACHWUCHS

Vier von 300 JungforscherInnen, die die ÖFG heuer unterstützte

und Menschenrechte“ und „Epigenetik“ 14–17 4–5

WISSENSCHAFTSPREIS FÜR WOLFGANG LUTZ

Demograph am IIASA

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„K LEINE FÄCHER“ UND IHRE BEDEUTUNG

So lautete das Thema des diesjährigen bildungspolitischen Workshops 8–13

ARGE DER ÖFG

Aus den ARGEs „Künstliche Intelligenz

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Beiträge zum Österreichischen Wissenschaftstag 2023

GESPR ÄCH MIT MINISTER MARTIN POLASCHEK

Über Vermittlungsprojekte zu Demokratie und Wissenschaft 18–19

WISSENSCHAFTS­ FÖRDERUNG IN DEN BUNDESLÄNDERN

Ziele und Schwerpunkte der Wissenschaftspolitik

WISSENSCHAFT UND POLITIK 24–39

Töten Antibiotika Viren? 26–27 Universität ist immer politisch 28–29 Gefahr durch Gefühle im Diskurs 3 0 – 3 1 Wissenschaftliche Politikberatung 3 2 – 3 3 Wissenschaftsjournalismus in der Misere 34–35 Wissenschaft einfach ignorieren? 3 6 – 3 7 Wissensfragen sind Wertefragen 3 8 – 3 9

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PUBLIKATIONEN

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Wissenschaftliche Exzellenz ohne Grenzen Jahr für Jahr unterstützt die ÖFG die internationalen Kommunikationsbestrebungen exzellenter N A C H W U C H S F O R S C H E R : I N N E N durch Förderung von Reisemitteln

euer partizipierte die zusätzlich am H Programm der Österreichischen Akademie der Wissenschaften „Joint Excellence in ÖFG

Science and Humanities“ (JESH), das ukrainischen Wissenschaftler:innen mehrmonatige Forschungsaufenthalte an österreichischen Einrichtungen ermöglicht. Durch die Kooperation konnten diese verlängert werden. Hier berichten zwei der 2023 von einer hochkarätigen Jury ausgewählten Geförderten über ihre Erfahrungen.

Dariia Kholiavchuk, Nationale JurijFedkowytch-Universität, Czernowitz, Ukraine „Die Klimaveränderungen der letzten Jahrzehnte und ihre sichtbaren Auswirkungen auf die Karpaten haben mich veranlasst, tiefer darüber nachzudenken, was hinter dem Klimawandel steckt“, sagt die Geografin. „Ich möchte herausfinden, welche Faktoren ihn antreiben und was wir als Nächstes für die natürliche und die vom Menschen geschaffene Umwelt erwarten können.“ Kholiavchuk ist Assistenzprofessorin am Department für Physische Geografie, Geomorphologie und Paläogeografie der Nationalen JurijFedkowytsch-Universität in Czernowitz. Ihr Forschungsfokus, die Karpaten, sind das zweitgrößte Gebirge Europas. „Obwohl die Ökosystemleistungen ihrer Wälder von enormer regionaler Bedeutung

Dariia Kholiavchuk, Nationale JurijFedkowytch-Universität Czernowitz

Sebastian Rätze, Johannes Kepler Universität Linz

DIE AUSWIRKUNGEN DES KLIMAWANDELS A U F D I E K A R PAT E N E R F O R S C H E N sind, sind die klimawandelbedingten Beeinträchtigungen hier noch unzureichend erforscht“, unterstreicht sie. „Insbesondere in der Ukraine.“ Im Zuge ihrer Habilitation arbeitet sie daran, die Evidenzbasis über die Jahrtausend-Klimaveränderungen in den Karpaten zusammenzufassen, um deren Zukunft zu modellieren. Ein JESH-Aufenthalt an der Universität Innsbruck bot ihr Einblick in den dort angesiedelten interdisziplinären Forschungsschwerpunkt „Alpiner Raum“ mit seinen acht Forschungszentren. „Das stärkte meine Vision über die Ressourcen, die für eine bessere Überwachung

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und Anpassung an Naturgefahren und den Klimawandel in den ukrainischen Karpaten notwendig sind.“ Auch die Teilnahme an der IMC (International Mountain Conference) 2022 unter dem Dach der Universität Innsbruck sei äußerst inspirierend gewesen. „Ich konnte viel Wissen in die ukrainischen Karpaten mitnehmen.“ Einen weiteren Aufenthalt von Jänner bis Mai 2023 ermöglichte schließlich die ÖFG-Förderung. „Dies schuf die Basis für künftige Kooperationen.“ Sebastian Rätze, Johannes Kepler Universität, Linz „Resilienz ist in den letzten Jahren zum Schlagwort geworden, aber in diversen Forschungsfeldern war sie schon früher ein wesentliches Konzept“, sagt Sebastian Rätze. Er ist Assistenzprofessor am Institut für Personalführung und Veränderungsmanagement der Johannes Kepler Universität Linz und erforscht die Faktoren, die Organisationen resilient machen. „Ursprünglich stammt der Begriff aus der Materialforschung und bezeichnet das Ausmaß, in dem Materialien elastisch auf externe Kräfte reagieren“, erklärt er. „Umgelegt auf die Managementebene geht es um Aspekte, die es den in einer Organisation Tätigen ermöglichen, neuen Herausforderungen effektiv zu begegnen und aus Rückschlägen gestärkt hervorzugehen.“ In diesem Sinne konzentriert er sich seit seiner Postdoc-Zeit an der TU Dresden, wo er Wirtschaftswissenschaften studiert und in Betriebswirtschaftslehre promoviert hat, auf Teams. „Obwohl oft wichtige, mitunter sogar existenzielle Aufgaben wie beispielsweise im Krisenmanagement in Teams bearbeitet werden, ist das Thema in Hinblick auf sie wenig erforscht.“ Rätze konnte seine Forschungsergebnisse bereits in international führenden Fachzeitschriften wie dem Journal of Applied Psychology oder Group and Organization Management veröffentlichen. Mithilfe der ÖFG-Förderung hat er im August zwei seiner Projekte am 83rd Annual Meeting of the Academy of Management (AOM) in Boston, Massachusetts (USA), vorgestellt. „Für einen Managementforscher meiner Karrierestufe ist die Teilnahme

Fotos: privat (2), Sebastian Rau , Helmut Lunghammer/TUGraz

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an dieser hochkarätigen Tagung quasi ein Muss, sowohl zur Netzwerkpflege und -erweiterung als auch zum Debattieren neuester Erkenntnisse.“ Dies sei in jeder Hinsicht gelungen, freut er sich.

Konferenzen vorstellen und einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlichen. „Für diese großartige Kooperationsmöglichkeit sowie die Chance, ein so schönes Land wie Österreich zu erkunden, bin ich dankbar.“

Myroslav Stoika, Ferenc Rákóczi II Transcarpathian Hungarian College of Higher Education, Berehowe, Ukraine „Der Austausch mit der Forschungsgruppe Algebra und Zahlentheorie von Alberto Mínguez und die gemeinsame Bearbeitung offener Probleme haben zu faszinierenden neuen Erkenntnissen geführt“, berichtet der ukrainische Mathematikprofessor über seinen viermonatigen ÖFG-geförderten JESHAufenthalt an der Fakultät für Mathematik der Universität Wien. „Unsere Forschungsinteressen decken sich hervorragend.“ Stoika, ebenfalls Zahlentheoretiker, legt seinen Fokus auf Darstellungen von Gruppen und Gruppenringen. „Gruppendarstellungen sind in der theoretischen Physik von großer Bedeutung, insbesondere in der Quantenmechanik, wo sie zur Beschreibung von Symmetrien und Transformationen beitragen“, erklärt er. Erkenntnisse auf diesem Gebiet spielen aber auch in der Kryptografie und Informatik eine Rolle. „Ich finde es unglaublich

Alessia Valotta, Technische Universität Graz „Um das Ökosystem zu schonen, müssen wir chemische Standardverfahren ändern“, sagt die in Mailand geborene und in Süditalien aufgewachsene Verfahrenstechnikerin. Ihr Ziel: eine umweltfreundlichere Produktion alltäglich verwendeter Substanzen. Prägend für ihren Werdegang war das Vorbild ihres Vaters. „Er ist ebenfalls Ingenieur und hat früh mein Interesse an Lösungen geweckt, die der Menschheit wirklich nutzen“, erzählt sie. Die 29-Jährige hat in Rom Verfahrenstechnik studiert und an der TU Graz ihren Master in „Chemical und Pharmaceutical Engineering“ gemacht. Am dortigen Institut für Prozess- und Partikeltechnik ist sie jetzt Universitätsassistentin und Doktorandin in der Forschungsgruppe „Kontinuierliche Synthesen und Prozesse“. Sie arbeitet an einem Verfahren für mehrstufige katalytische Kaskadenreaktionen, bei dem sowohl Chemo- als auch Biokatalyse in einem kontinuierlichen Prozess kombiniert werden. „Biokatalysatoren könnten eine grüne Alternative zu konventionellen Katalysatoren sein“, erklärt sie. „Doch um sie für die Industrie interessant zu machen, gilt es noch einige Herausforderungen zu überwinden.“ So bräuchten die bei der Biokatalyse eingesetzten Enzyme zwar keine hohen Temperaturen oder Drücke, sprich Energie, mit deren Stabilität und Produktivität hapere es aber noch. Die von Valotta entwickelten kontinuierlichen Bioreaktoren, die auf die jeweilige Bioreaktion zugeschnitten sind und spezifische Parameter berücksichtigen, zielen auf eine bessere industrielle Anwendung ab. Mit der ÖFGFörderung reiste sie im November 2022 zur IMRET (International Conference on Microreaction Technology) im australischen Melbourne. „Eine tolle Gelegenheit, die Arbeit unserer Gruppe vorzustellen und Feedback dazu zu erhalten.“

Myroslav Stoika, Ferenc Rákóczi II Transcarpathian Hungarian College of Higher Education, Berehowe, Ukraine

Alessia Valotta, Technische Universität Graz

FOKUS AUF DARSTELLUNGEN VON GRUPPEN UND GRUPPENRINGEN IN DER THEORETISCHEN PHYSIK

Fotos: privat (2), Sebastian Rau , Helmut Lunghammer/TUGraz

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aufregend, wenn es mir gelingt, Probleme zu lösen, die noch niemand zuvor geknackt hat.“ Dieses Gefühl habe ihn schon als Kind angetrieben. „Wenn mir eine logische Aufgabe gestellt wurde, konnte ich nicht ruhen, bis ich sie gelöst hatte.“ Die Wiener Kolleg:innen sind Spezialist:innen für das sogenannte Langlands-Programm, eine Reihe von Vermutungen, die die Zahlentheorie und die Darstellung von Gruppen miteinander verknüpfen. „Es bietet ein breites Spektrum an Methoden, Ansätzen und Anwendungen, wobei das wiederkehrende und verbindende Thema die Theorie der Gruppendarstellungen ist.“ Während des Aufenthalts konnte Stoika seine Arbeit auf zwei internationalen

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Unverdächtiger Freund der Bildung Der Wissenschaftspreis der Österreichischen Forschungsgemeinschaft ging heuer an den Demographen W O L F G A N G L U T Z

er sechsundsechzigjährige Forscher D Wolfgang Lutz wurde für seine „hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen so-

wie aufgrund der wissenschaftspolitischen Relevanz und hohen Aktualität seiner Forschungsschwerpunkte“ ausgezeichnet. Er lieferte den wissenschaftlichen Nachweis, dass Bildung das Gelbe vom Ei ist – einer der Gründe dafür, dass die Vereinten Nationen in den Nachhaltigkeitszielen sekundäre Bildung für alle zusätzlich zur Primärbildung forcierten. „Universale Bildung für alle ist die absolut notwendige Voraussetzung für eine gedeihliche Entwicklung aller Gesellschaften“, sagt der Demograph. Er könne dies als „Unverdächtiger“ behaupten. „Ich war zunächst kein Liebhaber von Schule, sondern ganz das Gegenteil.“ „Meine schlimmste Zeit war die Volksschule, die sicher nicht reibungslos verlaufen ist. Jeden Tag kam ich weinend nach Hause, weil ich das Ganze so gehasst habe.“ Disziplin und akkurate Heinzelmännchenschrift waren gefragt, interessante Lerninhalte fehlten. Wolfgang Lutz wurde in Rom geboren, besuchte Volksschulen in München, Saarbrücken und Wien. Die Schreibstilvorgaben waren zu seinem Leidwesen überall verschieden, er brachte die geforderte Verschnörkelung oft an den falschen Stellen an. „Es war schrecklich, aber das humanistische Gymnasium in Wien ist dann super gewesen.“ Dort veröffentlichte er als Chefredakteur der Schülerzeitung seine erste PublikaLUTZ LIEFERTE DEN WISSENSCHAFTLICHEN NACHWEIS DER BEDEUTUNG VON BILDUNG

tion zum Thema Bildung. Sie trug den Titel: „Volksschule, ein Verbrechen am Kind“. Es folgten ein für Lutz interessantes Studium in Wien und seine Doktorarbeit in den USA. „Ich bin eigentlich eher zufällig darauf gekommen, dass die Bildung unter allen demographischen Variablen mit Abstand die wichtigste ist. Nicht nur für die

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demographischen Prozesse selbst, wie die Geburten- und Sterberate, sondern für alle gesellschaftlichen Konsequenzen.“ Üblicherweise stelle man eine Gesellschaft nach der Altersstruktur und dem Geschlecht dar. Als „experimentelle Übung“ bezog Lutz die Bildung mit ein. „Wenn man dies tut und neben der höchsten abgeschlossenen Bildung vielleicht auch noch die Erwerbstätigkeit dazunimmt, kommt ein viel relevanteres Bild heraus. Wo immer wir nachgeschaut haben, ist Bildung der ganz entscheidende Faktor gewesen.“ Anderswo lag Wolfgang Lutz „wie alle Demographie-Kolleg:innen“ zunächst komplett falsch. „Bei den Bevölkerungsprognosen, mit denen ich mich in der ersten Hälfte meiner Karriere hauptsächlich beschäftigt habe, ist man davon ausgegangen, dass sich die Geburtenrate irgendwie von selbst erholen wird.“ Nach dem üblichen Abschwung in hoch entwickelten Ländern sollte sie bald wieder in die Nähe von zwei Kindern pro Frau steigen. „Das hat sich fast nirgendwo bewahrheitet. Die Gründe dafür verstehen wir immer noch nicht ganz.“ Zur Wissenschaft brachten ihn die Studien des Club of Rome, die 1972 die Grenzen des Wachstums aufzeigten. „Es ging das erste Mal darum, die Zukunft der Menschheit mit Computermodellen zu erfassen. Das hat mich interessiert, deshalb habe ich mich für Statistik und ihre menschlichste Dimension, die Demographie, entschieden: Nebenbei studierte ich lange katholische Theologie. Es hätte auch passieren können, dass ich eine geistliche Laufbahn einschlage.“ Aus den USA kehrte Lutz nach Wien zurück, weil seine Frau ihr Studium für evangelische Theologie hier abschließen wollte. „Ich arbeitete an einem winzigen österreichischen Demographie-Institut mit nur zwei Mitarbeitenden. Da ist es doch recht provinziell zugegangen. So war ich schon wieder auf dem Sprung zurück an eine amerikanische Universität.“ Dann bekam er die Gelegenheit, am Internationalen Institut für

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Foto: SILVERI /IIASA

JOCHEN STADLER


Foto: SILVERI /IIASA

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Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien zu forschen. „Damals leitete dort einer der wichtigsten Vertreter der mathematischen Demographie das Bevölkerungsprogramm, der damals bereits emeritierte Harvard-Professor Nathan Keyfitz.“ Lutz versteht sich trotz hiesiger Staatsbürgerschaft „eigentlich nicht“ als Österreicher, sondern „irgendwie dem süddeutschen Sprachraum zugehörig“. Im Grunde lehne er nationale Identitäten ab und zögere auch, sich wegen vielfältiger Verbindungen in die USA und nach Asien als Europäer zu bezeichnen. Lutz ist also Kosmopolit.

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Wolfgang Lutz, Demograph am IIASA in Laxenburg

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Wolfgang Lutz gehört einer demographischen Altersgruppe an, in der viele schon im Ruhestand sind. „Das verschiebt sich bei mir aber immer wieder.“ Da sich die Nachfolgersuche als stellvertretender Generaldirektor am IIASA verzögert, bat man ihn zu verlängern, was er gerne tat. An der Universität Wien muss er demnächst aufhören. „Dort muss man schon mit 65 in Pension gehen“, in den USA aber machen die Kolleg:innen bis Ende siebzig oder achtzig weiter. „Ich weiß nicht, warum man bei uns an den Unis die Menschen mit all ihrem Wissen und ihrer Erfahrung mit 65 in die Wüste schickt.“

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Orchideen zum Verwelken? „Orchideen“, „nice to have“ oder relevante Querungen zwischen quasimonolithischen Theorietraditionen? So unterschiedlich die „ K L E I N E N F Ä C H E R “ wahrgenommen werden, herrscht Einvernehmen darüber, dass ihre Position im Gefüge moderner Universitäten zusehends prekär wird

WERNER STURMBERGER

m Rahmen der diesjährigen bildungspoliI1. April tischen Tagung der am 31. März und sollte den „kleinen Fächern“ im FestÖFG

Heinrich Schmidinger, Philosoph und Theologe

saal der Diplomatischen Akademie Wien vor rund sechzig Interessierten eine Bühne geboten werden. Die Tagung in Kooperation mit dem Verein zur Förderung der Universitätenkonferenz wurde von Heinrich Schmidinger eröffnet. Gemeinsam mit Susanne Weigelin-Schwiedrzik hatte er die Tagung konzipiert. In seinem Beitrag erörterte er die aktuelle Situation der „kleinen Fächer“. Sie stehen im Kontext ökonomischer Zwänge des Universitätsbetriebs unter ständigem Legitimationsdruck. So sei das Ziel der Tagung, die Teilnehmenden für die Heterogenität „kleiner Fächer“ hinsichtlich ihrer Themenschwerpunkte wie ihrer Einbindung in die jeweiligen übergeordneten Organisa-

Illustration: Georg Feierfil, Fotos: David Seiler

„ K L E I N E FÄ C H E R “ K Ö N N E N P L Ö T Z L I C H AUCH GANZ GROSS WERDEN

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Susanne Weigelin-Schwiedrzik, Sinologin

tionen zu sensibilisieren. Das Thema müsse daher, insbesondere mit Blick auf konkrete Schlussfolgerungen, differenziert betrachtet werden. Die Tagung solle zudem für die Universitätsdirektionen im Umgang mit „kleinen Fächern“ relevanten Kriterien offenlegen. Schmidinger schloss damit, dass Universitäten mit ihrer Positionierung zu „kleinen Fächern“ ihr jeweils spezifisches Selbstverständnis im Spannungsfeld ökonomischer Leistungskriterien und wissenschaftlichem, Fortsetzung nächste Seite

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Peter-André Alt, ehemaliger Präsident der Hochschulrektorenkonferenz Deutschland

Herr Alt, was macht ein „kleines Fach“ aus? Peter-André Alt: Im Wesentlichen zwei Kriterien: Ein „kleines Fach“ besitzt je Standort nicht mehr als drei unbefristete Professuren. Es muss aber auch als „Fach“ definiert sein, etwa durch Fachgesellschaften und -zeitschriften sowie die Verankerung als

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Peter-André Alt, ehemaliger Präsident der Hochschulrektorenkonferenz Deutschland

Uwe Schmidt, Leiter des Zentrums für Qualitätssicherung und -entwicklung der Johannes GutenbergUniversität Mainz

Welche Veränderungen lassen sich beobachten? Alt: Aus kleineren können größere und aus größeren kleinere Fächer werden. Etwa weil sich die Anzahl der Professuren und das Interesse der Studierenden verändert. Auch auf inhaltlicher Ebene gibt es Verschiebungen. Bei Natur- und Technikwissenschaften haben sich viele „kleine Fächer“ rund um die Lösung aktueller, aus dem Klimawandel resultierender Herausforderungen positioniert. Geistes- und kulturwissenschaftliche Fächer haben sich vermehrt aktuellen Entwicklungen zugewandt und beschäftigen sich weniger stark mit den alten Welten, etwa die Turkologie oder auch Japanologie. Welche Relevanz haben „kleine Fächer“? Alt: Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Lösung der Umwelt- und Klimakrise und zur kulturellen Vielfalt. Sie eröffnen neue Sichtweisen und schaffen Zugänge zu weniger bekannten Kulturen. Auch sind sie unverzichtbar, wenn es darum geht, bestehende Wissensbestände zu erhalten. Um das leisten zu können, benötigen sie Unterstützung durch Politik und Verwaltung, aber auch durch die Hochschulen selbst. Die Studierendenanzahl darf nicht das alleinige Kriterium für den Erfolg bzw. das Fortbestehen von Studienrichtungen sein. Die Hochschulen sind dazu angehalten, fantasievoll zu handeln und „kleine Fächer“ standortübergreifend zu vernetzen, etwa durch gemeinsame digitale Lehrangebote. „ K L E I N E FÄ C H E R “ S I N D INTERDISZIPLINÄR UND I N T E R N AT I O N A L Uwe Schmidt, Leiter des Zentrums für Qualitätssicherung und -entwicklung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie der Geschäftsstelle des Hochschulevaluierungsverbundes

Herr Schmidt, seit wann spricht man von „kleinen“ und „großen Fächern“? Uwe Schmidt: Seit der Öffnung der Hochschulen in den 1960er- und 1970er-Jahren.

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Foto: privat

WAS SIND „KLEINE FÄ C H E R “ ?

eigenständiger Studiengang oder Studienschwerpunkt. Aktuell gibt es in der Bundesrepublik Deutschland 159 „kleine Fächer“, denen 2.354 Professuren an staatlichen Hochschulen zugeordnet sind. Für viele „kleine Fächer“ ist dabei typisch, dass die Reichweite ihres gesammelten Wissens ihre institutionelle Bedeutung deutlich übersteigt.

Fotos: David Ausserhofer/Wikipedia, Johannes Gutenberg Universität

kulturellem und nicht zuletzt ethischem Anspruch zum Ausdruck bringen. Der Vorgabe entsprechend, widmeten sich die Vortragenden der Aufgabe, dieses Spannungsfeld klarer herauszuarbeiten: Peter-André Alt, bis Ende März 2023 Präsident der Hochschulrektorenkonferenz Deutschland, sprach von der unverzichtbaren Rolle „kleiner Fächer“ im Gefüge moderner Universitäten. Uwe Schmidt, Leiter des Zentrums für Qualitätssicherung und -entwicklung sowie der Geschäftsstelle des Hochschulevaluierungsverbundes, hätte mit seinem Vortrag zu Entwicklung, Stand und Perspektiven „kleiner Fächer“ die thematische Einleitung abrunden sollen, musste aber leider krankheitsbedingt absagen. Ergänzt wurden die allgemeinen Überlegungen zur Situation der „kleinen Fächer“ durch praxisrelevante Innenperspektiven, die Eveline Krummen (Gräzistik Universität Graz), Kirsten Rüther (Afrikawissenschaften Universität Wien) und Ronald Miletich-Pawliczek (Kristallographie Universität Wien) in ihren Vorträgen eröffneten. Die einzelnen Vorträge wurden unter reger Beteiligung des Publikums von Frage- und Diskussionsrunden begleitet. Dazu kam eine hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion. Unter der Moderation von Susanne Weigelin-Schwiedrzik diskutierten Günther Burkert (Zentrum für Hochschulgovernance und Transformation der Universität für Weiterbildung Krems), Antonio Loprieno (Geschichte der Institutionen an der Universität Basel), Regina Polak (Institut für praktische Theologie der Universität Wien) und Suzanne Kapelari (Fakultät für Lehrer:innenbildung der Universität Innsbruck). In ihrem Verlauf wurden die in den Vorträgen skizzierten Überlegungen noch einmal aus unterschiedlichen Blickwinkeln erörtert. Die Vortragenden stellen hier ihre zentralen Überlegungen in Interviews noch einmal vor.


Damals kam es mit der Entstehung von „Massenfächern“ zur Ausdifferenzierung struktureller Bedingungen. „Kleine“ und „große Fächer“ unterscheiden sich nicht im Hinblick auf die inhaltliche Breite oder Bedeutung ihres Gegenstandes, sondern anhand struktureller Bedingungen, wie der Anzahl der Studierenden und der personellen Ausstattung. Jedes sich neu konstituierende Fach ist zunächst ein „kleines Fach“. Häufig als Ergebnis von Prozessen inhaltlicher und methodischer Differenzierung von Disziplinen oder von gesellschaftlichen Entwicklungen. Arbeiten „kleine“ anders als „große Fächer“? Schmidt: Aus den strukturellen Merkmalen „kleiner Fächer“ ergeben sich Spezifitäten wie die größere Notwendigkeit von und die Offenheit für Kooperationen. Aber auch eine starke internationale Orientierung aufgrund der in der Regel kleineren nationalen Fachcommunity. Analysen zu ihrer Beteiligung im Rahmen der Exzellenzinitiative in Deutschland belegen ihr besonderes Potenzial an der Schnittstelle unterschiedlicher Disziplinen. Auch im Hinblick auf ihre internationale Ausrichtung. Im Kontext der Entwicklung von neuen Studiengängen kann von „kleinen Fächern“ eine Stärkung interdisziplinärer Inhalte und Strukturen ausgehen. Mit welchen Herausforderungen sind „kleine Fächer“ konfrontiert? Schmidt: Durch die Umstellung von Studiengängen auf die Bachelor- und Masterstruktur sowie aktuell nachlassende Studierendenzahlen in geisteswissenschaftlichen Disziplinen sind „kleine Fächer“ unter Druck geraten. Es wurde schwieriger, als „kleines Fach“ Studiengänge überwiegend eigenständig zu realisieren. Wissensbestände vorzuhalten, um sie in spezifischen historischen Momenten nutzen zu können – man denke etwa an Ukrainistik oder Islamwissenschaften –, ist eine gesellschafts- und bildungspolitische Herausforderung, die mit Blick auf die zum Teil prekären Strukturmerkmale „kleiner Fächer“ mitgedacht werden sollten. GRÄZISTIK SICHERT W I S S E N S B E S TÄ N D E F Ü R DIE ZUKUNFT Foto: privat

Fotos: David Ausserhofer/Wikipedia, Johannes Gutenberg Universität

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Eveline Krummen, Professorin für Klassische Philologie/Gräzistik an der Universität Graz , über ihr Fach

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Eveline Krummen, Klassische Philologin, Gräzistin

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Frau Krummen, was zeichnet die Gräzistik aus? Eveline Krummen: Die Gräzistik umfasst eine Zeitspanne vom Ende des 8. Jahrhunderts vor Christus mit den frühesten Texten in Alphabetschrift, der „Ilias“ und „Odyssee“, bis in die christliche Spätantike im 6. Jahrhundert. Viele dieser Texte sind Grundlagentexte der europäischen Literatur und Philosophie. Sie behandeln zentrale Fragen des Menschseins, der Position des Menschen in der Welt, seiner Grenzen und seiner Verantwortung, auch gegenüber der Natur. Für uns heute noch wichtige Begriffe wie Demokratie, Ökonomie, Ethik sind in der Antike verankert. Es wird eine Offenheit des Denkens, kritisches Denken und die Orientierung an der Wahrheit vermittelt. Verstehen heißt, die Herkunft und den Zusammenhang der Dinge zu erfassen. Das scheint mir für eine moderne Gesellschaft, die sich mit Ideologien, Fake News, künstlicher Intelligenz konfrontiert sieht, etwas Zentrales zu sein. Wie ist es um die Zukunft der Gräzistik bestellt? Krummen: Sie weist einerseits eine hohe Spezialisierung auf, ist andererseits durch eine moderne literatur- und kulturwissenschaftliche Ausrichtung aber auch interdisziplinär angelegt und damit wesentlich für Forschungskooperationen. Die „kleinen Fächer“, wie die Gräzistik, sind für die moderne Universität ein großer Gewinn. Sie sind Kennzeichen der Tradition und Diversität, der Wissenschaft und Innovativität, der Zukunft der Universität. Die große Leistung, die Gräzisten in Kommissionen, Doktoratsprogrammen und Akademien erbringen und damit Kompetenz und Fortbestand sichern, muss institutionell anerkannt werden. In der gegenwärtigen Situation sehe ich den Wissenstransfer an die jüngere Generation gefährdet. Es liegt an den Universitäten, zukunftsfähige Rahmenbedingungen zu schaffen und für den Erhalt disziplinärer sowie interdisziplinärer Kompetenz und Leistungsfähigkeit zu sorgen. Eine fundierte Nachwuchsförderung ist dafür unerlässlich. Die Einrichtung universitätsübergreifender Forschungsplattformen kann Internationalität und Innovativität sichern sowie Zukunftsperspektiven vermitteln.

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AFRICAN STUDIES MIT DEN THEMEN DER ZUKUNFT

K R I S TA L L O G R A P H I E : IN VIELEN DISZIPLINEN VERANKERT

Kirsten Rüther, Leiterin des Instituts für Afrikawissenschaften an der Universität Wien, über ihren Fachbereich

Warum steht angesichts der Weltentwicklung Ihr Fach unter Rechtfertigungsdruck? Rüther: Die Geschichte der Verachtung und der Nichtwahrnehmung vermeintlich weniger relevanter Gesellschaften, ihrer Geschichten, ihrer Gegenwarten, ihrer Erwartungen, ihres Willens, zur Weltgesellschaft beizutragen, ist lang und tief verankert. Es bedarf wohl einer mentalen Öffnung und der Bereitschaft, sich zuzuwenden. Wir bleiben befangen in der Vorstellung von eigener Größe. Das ist oft nicht hilfreich.

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Ronald MiletichPawliczek, Mineraloge

Herr Miletich-Pawliczek, was macht die Kristallographie zu einem „kleinen Fach“? Ronald Miletich-Pawliczek: Sie müsste nicht „klein“ sein: Teile der Kristallographie sind beispielsweise als Festkörperphysik, Strukturbiologie, molekulare Pharmazie bzw. molekulare Medizin etikettiert und damit Teildisziplinen übergeordneter großer Fächer. Auch die 29 Nobelpreisträger, die für ihre kristallographischen Errungenschaften geehrt wurden, erhielten ihre Nobelpreise in Chemie, Physik, Physiologie oder Medizin. Jeder Besuch einer kristallographischen Konferenz vermittelt mir die oft überraschende Vielfalt der Anwendungsgebiete und Einsatzmöglichkeiten. Kristallographie ist Voraussetzung für unser Verständnis der belebten und unbelebten Materie, von biologischen und pharmazeutischen Makromolekülen bis hin zu den Bausteinen von Planeten, Monden und anderen extraterrestrischen Körpern sowie einer Vielzahl davon abgeleiteter Praxisanwendungen wie der nachhaltigen Konservierung von Kunstwerken. Mit welchen Herausforderungen ist sie gegenwärtig konfrontiert? Miletich-Pawliczek: Die interdisziplinäre Ausrichtung der Kristallographie macht sie im Kontext strukturierter und institutionalisierter Wissenschaftsdisziplinen leider oft unsichtbar. Diese häufig willkürliche Strukturierung ist meist bloß historisch gewachsen, nicht aber fachlich begründbar. Sie wird jedoch durch Lehrer:innenausbildung und fehlende Durchlässigkeit benachbarter Studiengänge fortgeschrieben. Es bedarf darum unseres steten Engagements in Kindergärten und Schulen, um für ein gesteigertes Bewusstsein für Kristalle im Alltag bzw. für die Sichtbarkeit der kristallographischen Forschung zu sorgen. In Unternehmen und Industrie beginnt man der Strukturkristallographie als materialwissenschaftlicher Schlüsseltechnik entsprechende Wertschätzung entgegenzubringen. Ich erhoffe mir, dass wir diesen Aufwind in den kommenden Jahren entsprechend nutzen können.

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Fotos: Alek Kawka

Wie sehr bestimmen die kolonialen Herrschaftsverhältnisse das Fach? Rüther: Im Zentrum steht heute weniger „das Koloniale“ selbst, sondern der Umgang mit diesem Erbe. In vielen afrikanischen Ländern geht es darum, Geschichte und Gegenwart weniger verzerrt zu interpretieren und zu neuen Erzählungen zu finden, die ein Verstehen afrikanischer Gesellschaften ermöglichen. Das heißt auch, dem zuzuhören, was auf dem afrikanischen Kontinent und aus dem Kontinent gesagt wird. Zugleich ist so ein größeres Bewusstsein für Zusammenarbeit, Austausch sowie Reflexion über gemeinsam hergestelltes Wissen entstanden.

Kirsten Rüther, Afrikawissenschaftlerin

Fotos: Visionas , Alek Kawka

Frau Rüther, warum werden Afrikawissenschaften bzw. African Studies zu den „kleinen Fächern“ gezählt? Kirsten Rüther: Afrika ist ein riesiger Kontinent mit unzähligen Geschichtsverläufen, Sprachen, Kulturen und Gegenwarten. Nicht zu vergessen die vielen freiwillig und zwangsweise entstandenen „Diasporen“. Klein sind die Afrikawissenschaften nur insofern, als es kaum Institute gibt, an denen sie gelehrt werden: in Österreich lediglich an der Universität Wien. Diese wenigen und kleinen Institute sind aber sehr aktiv, so dass „klein“ nicht gar so viel aussagt. Glücklicherweise gibt es auch an anderen Instituten auf Afrika bezogene Expertise. Doch zu wenig angesichts des Anspruchs und der Notwendigkeit, Kulturen, Historien und Herausforderungen der Gegenwart global verflochten zu denken und zugleich die Perspektiven des sogenannten Globalen Südens angemessen zu berücksichtigen.

Ronald Miletich-Pawliczek, Leiter des Instituts für Mineralogie und Kristallographie an der Universität Wien, über sein Fach


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D I E TA G U N G I N D E R D I P O L M AT I S C H E N A K A D E M I E W I E N Ü B E R „ K L E I N E F Ä C H E R “

Fotos: Alek Kawka

Fotos: Visionas , Alek Kawka

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Im Festsaal der Diplomatischen Akademie wurde am 31. März und 1. April 2023 zum Schwerpunkt „Kleine Fächer“ diskutiert

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ARGE KI und Menschenrechte Die Rechtsexpertin I R I S E I S E N B E R G E R erläutert, was KI für Gesellschaft und Menschenrechte bewirken kann BRUNO JASCHKE

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Iris Eisenberger, Leiterin der ARGE Künstliche Intelligenz und Menschenrechte

KI KANN MENSCHEN ERST ERMÖGLICHEN, A U C H A N D E M O K R AT I E T E I L Z U N E H M E N gendeiner Form mitsprechen können, wie es in Demokratien auch sonst üblich ist. Damit Entscheidungen in einem demokratischen Rechtsstaat akzeptiert werden, braucht es unter anderem Transparenz und Zeit. Techno-soziale Systeme, die es ermöglichen, immer schnellere Entscheidungen zu treffen, und deren Entscheidungslogik für die Betroffenen mitunter im Verborgenen bleibt, sind mit Sicherheit nicht demokratiefördernd.“ Diese Systeme wirklich in den Dienst von Demokratie und Menschenrechten zu stellen, würde auch voraussetzen, die Ziele ihres Einsatzes gründlich zu überdenken: Vor allem das Dogma der Effizienzsteigerung wäre zu diskutieren. „Wenn wir von Effizienzsteigerung sprechen, sollten wir immer auch die

Fotos: Astrid Eckert, Adobe Stock

ünstliche Intelligenz (KI) hat per se keine Moral. Sie kann eine effektive Hilfe für humanitäre Prozesse sein, aber auch brutale Unterdrückung forcieren. Westliche Demokratien haben üblicherweise weder das eine noch das andere im Sinn: Meist wird, betont Iris Eisenberger, Professorin für Innovation und Öffentliches Recht am Institut für Innovation und Digitalisierung im Recht an der Universität Wien, KI im staatlichen Kontext mit dem Ziel der Effizienzsteigerung eingesetzt. Mittelbar allerdings könne sie selbstverständlich zu menschenrechtlichen Fortschritten führen: „Beispielsweise wenn Asylwerber:innen rascher zu ihren Entscheidungen kommen. Umgekehrt ist eine KI-basierte Spracherkennungssoftware zur Bestimmung des Herkunftslandes einer Asylwerber:in eine Verschlechterung der Menschenrechtssituation. Ergebnisse einer Spracherkennungssoftware machen aus einer an sich schon hinterfragenswerten Praxis eine für die Betroffenen kaum überwindbare Hürde. Auf der anderen Seite könnte KI auch sehr unterstützend wirken, etwa wenn eine Übersetzungs-KI oder Large Language Models wie ChatGPT eine Kommunikation überhaupt erst ermöglichen.“ Es ist keine bahnbrechende Erkenntnis mehr, dass KI bereits unseren Alltag beeinflusst, teilweise auch bestimmt. Das weltweit milliardenfach genutzte soziale Netzwerk TikTok stützt sich zu wesentlichen Teilen auf KI-generierte Inhalte, das vom Unternehmen OpenAI entwickelte Sprachmodell ChatGPT findet vielerorts als zeitsparende Arbeits- und Lernhilfe Einsatz. Für Eisenberger sind sie weit mehr als technologische Tools: „Nämlich techno-soziale Systeme, denen milliardenschwere Geschäftsmodelle zugrunde liegen.“ Als solche stehen sie in keinerlei zwingender Wechselwirkung mit demokratischen Werten. „TikToks Ziel“, erläutert Eisenberger, „ist nicht, in erster Linie einen Marktplatz der Ideen zu kreieren. Inhalte werden vielmehr ökonomisiert. Nur was Aufmerksamkeit erlangt, kann sich in dieser Ökonomie der Aufmerksamkeit durchsetzen. ChatGPT

erzeugt, vereinfacht gesagt, Texte, indem es statistisch wahrscheinliche Worte oder Wortsequenzen aneinanderreiht. Auch wenn ChatGPT ein Zufallselement eingebaut hat, ist anzunehmen, dass sich die Mehrheitssprache und nicht die der Minderheit durchsetzen wird. Das führt zu einem Verlust von Pluralität. Eine Demokratie braucht aber Pluralität und Meinungsvielfalt. Techno-soziale Systeme, die zu einem Verlust von Meinungsvielfalt und Pluralität führen, tragen zu einer Entdemokratisierung der Gesellschaft bei.“ Demgegenüber, relativiert die Rechtswissenschaftlerin, könnten Sprachmodelle wie ChatGPT einzelnen Menschen überhaupt erst ermöglichen, am demokratischen Diskurs teilzunehmen. Jedenfalls hält es Eisenberger für wünschenswert, dass techno-soziale Systeme wie ChatGPT nicht ohne externe Qualitätskontrolle auf den europäischen Markt gelangen. „Jeder Würstelstand muss derzeit weit mehr Auflagen erfüllen als ein Sprachmodell wie ChatGPT“, kritisiert sie. „Da diesen Systemen Wertentscheidungen zugrunde liegen, beispielsweise welche textlichen Antworten zulässig sind oder nicht, sollten die zugrunde liegenden Parameter offengelegt werden. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass diejenigen, die von den wertenden Entscheidungen dieser Systeme betroffen sind, in ir-

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Fotos: Astrid Eckert, Adobe Stock

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Frage stellen, effizienter für wen? Wer sind die Gewinner:innen, und wer verliert?“, präzisiert Eisenberger. „Ein demokratisch wünschenswertes Ziel wäre die Verbesserung des demokratischen Diskurses, etwa durch eine KI, die Hate Speech verhindert, wie immer man sie definiert. Übersehen werden darf hier allerdings nicht, dass diese Technologien Zensur auch begünstigen.“ Potenziell wichtige Anwendungen von KI in menschenrechtlicher Mission seien bislang kaum zur Debatte gestellt worden: „Über die liberale Funktion von Menschenrechten hinaus wäre es wichtig, dass diese Technologien etwa auch für eine gerechtere Verteilung von Ressourcen eingesetzt werden.“ Eines allerdings ist auch für Eisenberger klar: Um KI für die Menschenrechte dienstbar zu machen, müssen längere und komplexere Wege gegangen werden. Anders

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Iris Eisenberger: „Demokratie und Menschenrechte sind teuer. Wenn wir diese Kosten als Gesellschaft nicht tragen wollen, wird der Markt entscheiden, welche Technologien für welche Zwecke eingesetzt werden. Auch das ist eine Möglichkeit. All dies sollte in einer Demokratie aber letztlich immer die Gesellschaft entscheiden“

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gesagt: Zur Verbesserung der Menschenrechtssituation kann KI nur über Umwege eingesetzt werden, für Unterdrückungsmaßnahmen aber sehr direkt und effizient. Dass KI sehr gut im Aufsammeln und Auswerten von Daten ist und Muster gut erkennt, kommt autoritären Regimes bei der Überwachung zupass. Aber selbst als vermeintlich unschuldige Alltagshilfe birgt sie Diskriminierungspotenzial, wie das umstrittene AMS-Assistenzsystem AMAS gezeigt hat. „Demokratie und Menschenrechte sind teuer“, resümiert Iris Eisenberger. „Wenn wir diese Kosten als Gesellschaft nicht tragen wollen, wird der Markt entscheiden, welche Technologien für welche Zwecke eingesetzt werden. Auch das ist eine Möglichkeit. All dies sollte in einer Demokratie aber letztlich immer die Gesellschaft entscheiden.“

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ARGE Epigenetik Die ARGE-Leiterinnen G E R D A E G G E R und A L E X A N D R A L U S S E R erklären die Ziele ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit BRUNO JASCHKE

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Gerda Egger, Professorin für Epigenetik, Medizinische Universität Wien, Leiterin der ARGE

Alexandra Lusser, Professorin für Molekularbiologie, Medizinische Universität Innsbruck, Stv. Leiterin der ARGE

DURCH DIE EPIGENETIK HABEN SICH DIAGNOSTISCHE FORTSCHRITTE ERGEBEN ker zur klinischen Diagnose heranzuziehen. Auch werden große Anstrengungen unternommen, um Therapeutika zu entwickeln, deren Wirkung auf einer gezielten Modulation der epigenetischen Aktivitäten beruht. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von zugelassenen Substanzen, sogenannten „epidrugs“, zur Behandlung verschiedener Krebsarten. Durch die Epigenetik haben sich diagnostische Fortschritte ergeben. Ein Beispiel bildet das Heranziehen von epigenetischen Mustern auf der DNA zur Früherkennung verschiedener Krebserkrankungen in „liquid biopsies“. Dabei werden Tumorzellen oder aus Tumorzellen freigesetzte DNA, die im Blut von Patient:innen zirkulieren,

Fotos: MedUni Wien/Houdek (2) , FotoRuth, iStock

rbliche Veränderungen in der Genexpression, die nicht durch Veränderungen in der DNA-Sequenz bedingt sind, stehen im Fokus der epigenetischen Forschung. Die Epigenetik berücksichtigt und verarbeitet nicht nur Erkenntnisse der Lebenswissenschaften, der Chemie und der Informatik, sondern auch aus dem Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften, um zu (er)klären, wie Umwelteinflüsse, individuelle und gesellschaftlich gelernte bzw. erwünschte Verhaltensweisen die Genexpression langfristig beeinflussen können. Um die vielfältigen medizinischen, naturwissenschaftlichen, ethischen, ökonomischen und sozialen Auswirkungen der Epigenetik deutlich zu machen und die Akteure besser zu vernetzen, wurde im März 2021 durch die Beiratsmitglieder Wolfgang Kautek und Hans Tuppy die ARGE Epigenetik der ÖFG initiiert und durch Gerda Egger von der Medizinischen Universität Wien und Alexandra Lusser von der Medizinischen Universität Innsbruck gegründet. 2021 fand ein erster Workshop mit Teilnehmenden aus Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation, von regulatorischen Institutionen sowie Medien statt. Bei dieser gut besuchten Veranstaltung wurde in Vorträgen die Vielfalt und Komplexität der Disziplin Epigenetik dargestellt: Neben medizinischen Aspekten wurden u. a. auch Fragen und Themen der Ethik, des Rechts, der Umwelt und der wissenschaftlichen Kommunikation erörtert. Außerdem wurde darüber diskutiert, wie der gegenseitige Austausch speziell auch auf der Ebene des wissenschaftlichen Nachwuchses verbessert werden könnte. Aus den zahlreichen Rückmeldungen auf das Event kam auch klar zum Ausdruck, dass sich viele, die auf dem Gebiet der Epigenetik tätig sind, eine stärkere Vernetzung und Interaktion innerhalb der Community wünschen. Auf der Website www.oefg.at/arbeitsgemeinschaften/ epigenetik führt die ARGE ihre aktuellen Mitglieder an und informiert über ihre Aktivitäten. Besondere Unterstützung erhalten wir vom Verein Open Science und Brigitte Gschmeidler, die ARGE-Mitglieder ihrer-

seits zu Vorträgen eingeladen hat und über die nächsten Aktivitäten der ARGE berichten möchte. Der Verein hat mittlerweile bereits einige Beiträge zum Thema Epigenetik auf der Homepage www.viennaopenlab.at/de publiziert. Im November 2023 veranstaltete die ARGE Epigenetik einen weiteren Workshop, thematisch fokussierter als der erste. Es ging speziell um epigenetische Erkenntnisse im biomedizinischen Bereich. Das Besondere dabei: Der Workshop war speziell auf Nachwuchsforscher:innen ausgerichtet. Er bot der neuen Generation ein Forum und einen überschaubaren Rahmen, um ihre Forschungsergebnisse präsentieren und untereinander wie auch mit arrivierten Wissenschaftler:innen diskutieren zu können. Deutlich ist der biomedizinische Bereich das wichtigste Forschungs- und Anwendungsgebiet der Epigenetik. Das immer besser werdende Verständnis der Wirkungsweise epigenetischer Modifikationen im Zusammenhang mit verschiedenen Erkrankungen, beginnend mit Tumoren bis hin zu neurodegenerativen und psychiatrischen Erkrankungen, richtet die Forschung zunehmend in eine anwendungsorientierte Richtung aus. Die Ansätze zielen darauf ab, epigenetische Veränderungen als Biomar-

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Fotos: MedUni Wien/Houdek (2) , FotoRuth, iStock

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aufgrund einer epigenetischen Signatur aufgespürt. Dazu gibt es diagnostische Tests, die etwa für die Detektion von Darmkrebs (von der FDA zugelassen 2016) mit Hilfe von Stuhlproben verwendet werden, oder Tests zur Detektion von Blasenkrebs in Urinproben (FDA 2021). Besonders wichtig ist auch die pathologische Klassifizierung von Tumoren des Zentralnervensystems aufgrund von DNA-Methylierung, die von einer Forschungsgruppe in Heidelberg entwickelt wurde und nun Teil der klinischen Diagnostik ist. Für Glioblastompatient:innen kann aufgrund der Methylierung eines Gens das Ansprechen auf Chemotherapie vorhergesagt werden.

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Die epigenetische Forschung wird dazu beitragen, die Regulation des Genoms in ihrer gesamten Komplexität zu entschlüsseln und unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit zu vertiefen

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Neben den epigenetischen Mustern auf der

DNA finden auch klinische Studien zu einer

möglichen diagnostischen Verwendung von epigenetischen Mustern auf den Histonen (Proteine, die die DNA verpacken) statt. Insgesamt wird die epigenetische Forschung dazu beitragen, die Regulation des Genoms in ihrer gesamten Komplexität zu entschlüsseln und unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit zu vertiefen. Daraus werden sich neue Diagnose- und Therapieansätze ergeben, die auf den individuellen epigenetischen Profilen der Patient:innen basieren und somit die Medizin auf ein noch personalisierteres Niveau heben.

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Vertrauen in Wissenschaft und Demokratie Sie zu stärken, ist das Anliegen des Bundesministers für Bildung, Wissenschaft und Forschung M A R T I N P O L A S C H E K , und dazu setzt er verschiedene Maßnahmen

Herr Minister, in diesem Jahr waren Ihre Wissenschaftsbotschafter:innen an heimischen Schulen unterwegs. Was hat die Aktion aus Ihrer Sicht gebracht? Martin Polaschek: Sie war ein voller Erfolg. Seit dem Start der Initiative im Frühjahr 2023 ist es uns bereits gelungen, 435 Forschende dafür zu gewinnen, sich ehrenamtlich als Wissenschafts- und Demokratiebotschafter:innen zu engagieren und in die Schulklassen zu kommen, um Schüler:innen dort von ihrer täglichen Arbeit im Labor, im Hörsaal oder in der Klinik zu erzählen und zu zeigen, was Forschung ausmacht. Allein im Sommersemester 2023, dem ersten der Initiative, haben österreichweit mehr als 200 Besuche stattgefunden, bei denen über 5.200 Kinder und Jugendliche erreicht wurden. Das zeigt, wie groß der Bedarf, aber auch das Interesse sowohl von Schüler:innen, Lehrenden, als auch von den Wissenschaftler:innen an einem stärkeren Austausch und einer Verschränkung von Wissenschaft und Schule ist. Durch diesen persönlichen Kontakt, durch das wechselseitige Kennenlernen, eröffnen sich sowohl für die Schüler:innen als auch die Forschenden neue Perspektiven und ein Verständnis für die Herausforderungen, mit denen Wissenschaft und Schule konfrontiert sind. Dabei hat sich besonders gezeigt, wie wichtig die gute Vor- und Nachbereitung dieser Schulbesuche für beide Seiten ist. Deshalb haben wir von Expertinnen und Experten entsprechende Handreichungen und Unterrichtsmaterialien ausarbeiten lassen und bieten nun über den Verein Science Center Netzwerk eigene Coachings sowie Austauschund Netzwerktreffen für Wissenschafts- und Demokratiebotschafter:innen an. Wird es ähnliche weitere Wissenschaftsvermittlungsaktionen geben? Polaschek: Selbstverständlich wird es das. Wir arbeiten laufend daran, unsere aktuelle Ressortstrategie, das Zehn-PunkteProgramm zur Stärkung des Vertrauens in Wissenschaft und Demokratie, umzusetzen und weiterzuentwickeln. Aktuell diskutieren wir beispielsweise intensiv darüber, wie

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wir die Erwachsenenbildung darin entsprechend abbilden und gleichermaßen erfassen können. Die Stärkung des Vertrauens in Wissenschaft und Demokratie ist ein langfristiges Unterfangen, das die gesamte Bildungskette und damit alle Player in Bildung, Wissenschaft und Forschung betrifft. Mit der Etablierung der Wissenschaftswoche für Polytechnische Schulen, die im Juni 2023 das erste Mal stattgefunden hat, haben wir auch bereits darüber hinausgehende Maßnahmen gesetzt. Mehr als 400 Schulklassen nutzten die Möglichkeit der vorwiegend online durchgeführten Workshops, in denen engagierte Wissenschafter:innen Einblicke in ihre Forschungsthemen und ihre Forschungsarbeit gaben. Dieses Konzept wird nun ausgebaut und auf andere Schulstufen bzw. -typen erweitert. Wo sehen Sie momentan bei der Wissensvermittlung den größten Bedarf ? Polaschek: Das ist schwierig zu beantworten. Uns liegt zwar nun mit der sogenannten Ursachenstudie des Instituts für Höhere Studien die erste evidenzbasierte Erhebung vor, die die Gründe für die Wissenschafts- und Demokratieskepsis in Österreich umfassend erhebt. Sie zeigt aber auch, dass es die einfache Antwort auf dieses vielschichtige Phänomen nicht gibt. Da gibt es die eine, relativ D I E F T I - S T R AT E G I E 2 0 3 0 U N D D E R H O C H SCHULPLAN 2030 BILDEN DEN ZENTRALEN LANGFRISTIGEN RAHMEN FÜR HOCHSCHULEN kleine Bevölkerungsgruppe von rund zehn Prozent, die der Wissenschaft gegenüber tatsächlich ablehnend bis feindlich eingestellt sind. Bei ihnen lässt sich dieser Zusammenhang zwischen Wissenschafts- und Demokratieskepsis auch am deutlichsten festmachen. Dann gibt es weitere zwanzig bis dreißig Prozent, die Wissenschaft zwar kritisch sehen, aber dennoch zentralen wissenschaftlichen Erkenntnissen vertrauen. Und unabhängig davon sprechen wir von rund vierzig Prozent, die nur einen geringen direkten Bezug in ihrem Lebensalltag zu Wissenschaft sehen und sich daher nur wenig für Wissenschaft interessieren. Unsere Aufgabe ist, sie alle in der einen oder anderen Form

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Foto: Andy Wenzel

INTERVIEW: CHRISTIAN ZILLNER


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aktuellen Leistungsvereinbarungen mit den Universitäten mit dem Ausbau von Netzwerken, die weitere Umsetzung von e˛ ektiven IP- und Verwertungsstrategien, die Forcierung von Kooperationen mit der Wirtschaft sowie die Steigerung universitärer Spin-o˛ s bis 2024 um ein Drittel. Auch das Förderprogramm „Spin-o˛ Fellowships“ mit einer Gründungsquote von rund 67 Prozent sowie die trotz schwieriger wirtschaftlicher Herausforderungen steigende Anzahl an Spino˛ s zeigen, wie stark Entrepreneurship an unseren Hochschulen und Forschungseinrichtungen bereits gelebt wird. Wir kommen damit dem Ziel der FTI-Strategie, bis 2030 hundert Prozent mehr erfolgreiche Spin-o˛ s zu erreichen, ein gutes Stück näher.

Foto: Andy Wenzel

anzusprechen. Wie, darüber diskutieren wir gerade intensiv, indem wir aus den Erkenntnissen der Studie versuchen, neue Maßnahmen abzuleiten. Wie weit wird aus Ihrer Sicht die Third Mission an den Universitäten und Hochschulen entsprechend gewürdigt? Sie dient ja in erster Linie auch der Wissenschaftsvermittlung. Ist das noch Pionierarbeit oder wird es schon Routine? Polaschek: Ich würde im Zusammenhang von ˜i rd Mission weder von Pionierarbeit noch von Routine sprechen. Ich denke, die Universitäten sind sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung im Wirtschafts- und Wissenstransfer sehr bewusst und tun viel, um diese wichtige Aufgabe erfolgreich zu erfüllen. Das gilt für das ˜ ema der Wissenschaftsvermittlung bzw. Wissenschaftskommunikation ebenso wie für Ausgründungen, Unternehmertum und Innovationsförderung. Diese fallen ja auch unter die ˜ ird Mission. Wir unterstützen die Universitäten und Forschungseinrichtungen tatkräftig dabei, die Rahmenbedingungen noch weiter zu optimieren, damit Erÿ ndungen maximal in Innovationen umgesetzt werden können. So ist der akademische Wissens- und Technologietransfer in der strategischen Weiterentwicklung von Universitäten und Forschungseinrichtungen fest verankert. Wichtige Handlungsfelder sind dabei die

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Martin Polaschek, Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung

Welche generellen Entwicklungen im Bereich Wissenschaft und Forschung in Österreich sehen Sie momentan als die herausforderndsten? Polaschek: Österreich ist ein rohsto˛ armes Land und daher mehr als andere auf seine Wissens- und Innovationskraft durch Wissenschaft und Forschung angewiesen. Umso wichtiger ist es, dass wir Fachkräfte und Wissenschaftler:innen hervorbringen, die imstande sind, kreative Lösungen für die globalen Herausforderungen unserer Zeit zu ÿ nden – egal, ob es sich um den Klimawandel, alternative Energieformen, Rohsto˛ knappheit, die Digitalisierung oder die Gesundheitsversorgung handelt. Darauf zielt unser gesamtes Wissenschafts- und Forschungssystem mit all seinen Governance-Instrumenten ab. Die FTI-Strategie 2030 und der Hochschulplan 2030 bilden gerade für Hochschulen und Forschungseinrichtungen den zentralen langfristigen Rahmen, die den ab dem kommenden Jahr gültigen FTI-Pakt 2024 bis 2026, aber auch die Leistungsvereinbarungen, die kommendes Jahr für die Periode 2025 bis 2027 verhandelt werden, weiter konkretisieren werden. Dabei muss ein Fokus auf MINT, aber auch exzellente Forschung und bahnbrechende Innovationen liegen. Darauf zielt auch das gemeinsame Europa mit dem Europäischen Forschungsraum und Horizon Europe ab, allen voran die EU-Missionen. Das Vertrauen in die Wissenschaft bildet in diesem Zusammenhang die Basis für jegliche Form des wissenschaftlich fundierten und demokratischen Handelns. Deshalb ist mir die Stärkung des Vertrauens in Wissenschaft und Demokratie auch so ein wichtiges Anliegen. Und das sage ich nicht nur als zuständiger Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungsminister, sondern auch als überzeugter Demokrat und Wissenschaftler.

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Formen der Wissenschaftsförderung Wie jedes Jahr präsentieren hier die österreichischen B U N D E S L Ä N D E R ihre Fördermaßnahmen zu Wissenschaft und Forschung JOHANNES MÖRTH

Veronica Kaup-Hasler, Stadträtin für Kultur und Wissenschaft in Wien

F O K U S A U F D I G I TA L E N H U M A N I S M U S I N DER WIENER FORSCHUNGSLANDSCHAFT

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B E I D E R V E R A N S TA LT U N G S R E I H E „ S C I E N C E V I L L A G E TA L K S “ E R K L Ä R E N W I S S E N S C H A F T L E R : I N N E N W E LT U N D U N I V E R S U M Eine integrale Komponente der Wissenschaft wie auch eine Grundlage für Wachstum und Innovation ist die Forschung. Im Burgenland werden rund 88 Millionen Euro pro Jahr investiert, um Forschung und Entwicklung zu forcieren, darunter auch Mittel der öffentlichen Hand.

Hans Peter Doskozil, Landeshauptmann Burgenland

Niederösterreich: Wissenschaft und Forschung sichern unsere Zukunft In Niederösterreich ist es sehr gut gelungen, in den letzten 20 Jahren eine bedeutsame Wissenschaftsachse aufzubauen: In Klosterneuburg haben wir das ISTA etabliert, das sich mit der Grundlagenforschung

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Fotos: Markus Hintzen, Herrmann Wakolbinger

rin, den Menschen wieder ins Zentrum informationstechnologischer Entwicklung zu rücken und im digitalen Raum eine umfassende Handlungssouveränität zu etablieren. Ein maßgeblicher Akteur ist hier der Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds WWTF. Dieser hat am 16. Mai 2023 den Call „Digitaler Humanismus“ (3,5 Millionen Euro) gestartet für Wiener Forscher:innen mit einem interdisziplinären Forschungsprojekt (2–4 Jahre) zwischen IKT und Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sowie künstlerischer Forschung (GSK), die sich mit digitalen Technologien & Praktiken aus einer menschenzentrierten und gesellschaftlichen Perspektive befassen. Neben dem Format der Wiener Vorlesungen, die einer breiten Öffentlichkeit relevante Forschungsdiskurse näherbringen und so das Verständnis für Wissenschaft fördern, ist es der Fortschrittskoalition ein starkes Anliegen, Wissensvermittlung aktiv in die gesamte Stadt zu bringen. Im Zuge des von der Stadt Wien ausgelobten Calls „Vom Wissen der Vielen“ wurden elf Projekte ausgewählt, welche partizipative Wissenschaftskommunikation auf Augenhöhe mit innovativen Strategien in die Wiener Flächenbezirke bringen.

Burgenland: Forschung und Entwicklung forcieren Im Bereich der Wissenschaft präsentiert sich das Land Burgenland vielseitig und innovativ – und wartete im Jahr 2023 mit Highlights wie dem Symposium „85 Jahre „Anschluss“. Flucht – Vertreibung – Emigration. Die jüdischen Gemeinden aus lokalhistorischer Sicht“ auf. Ob ihres Erfolges soll die Veranstaltung eine Neuauflage erfahren. Auch die Veranstaltungsreihe „Science Village Talks“, im Rahmen derer Top-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler das Burgenland, die Welt und das Universum erklären, freut sich über eine positive Bilanz. Es haben 44 Veranstaltungen mit 1.635 Gästen in 29 Gemeinden stattgefunden. Im Bereich der Ausgrabungen feierte der „Archäologische Rastplatz Grafenschachen“ samt Aufbereitung von Grabungsergebnissen eine gelungene Eröffnung. Das Projekt hat kulturtouristische Bedeutung, in Zukunft sollen weitere geschichtsträchtige Orte auf diese Weise erlebbar gemacht werden. In der Synagoge Kobersdorf wurden die Wissenschaftspreise „Fred Sinowatz Wissenschaftspreis“, „Simon Goldberger Preis“ und „Young Science Wissenschaftspreis“ an etablierte und aufstrebende Forscherinnen und Forscher verliehen.

Fotos: Katarina Soskic, Manfred Weis

Wien: Wissenschaftspolitik unter multiplen Herausforderungen In einer Zeit, in der Wissenschaftsfeindlichkeit in Teilen des öffentlichen Diskurses salonfähig gemacht wird und sich eine Ablehnung der Komplexität der Wirklichkeit in der Öffentlichkeit breitmacht, erhalten wissenschaftliches Denken und ein wissenschaftlicher Zugang zu gesellschaftlichen Herausforderungen eine zunehmende Bedeutung. Die Fortschrittskoalition der Stadt Wien bekennt sich dezidiert zur Intensivierung von Forschungs- und Vermittlungsaktivitäten, um die Integrität und Innovationskraft der wissenschaftlichen Landschaft zu stärken. Der Fokus auf Digitalen Humanismus prägt die Wiener Forschungslandschaft schon seit einiger Zeit. Das Ziel besteht da-


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beschäftigt und mittlerweile weltweit Anerkennung findet. Wir sind hier auf Augenhöhe mit Institutionen wie Oxford, der ETH Zürich und dem Weizmann-Institut. In Tulln haben wir das „Haus der Digitalisierung“ und den Forschungscampus mit dem Schwerpunkt Umwelt und Technologie als Forschungshotspot für Landwirtschaft und Nachhaltigkeit, in St. Pölten etwa die Fachhochschule mit ihrer Spezialisierung auf Digitalisierung, Cyber Security und KI und nicht zuletzt in Wiener Neustadt das internationale Gesundheitszentrum MedAustron als Hoffnungsprojekt im Kampf gegen den Krebs. Und künftig wird es noch einen weiteren Knoten auf dieser Wissenschaftsachse geben: Hainburg, wo wir uns dem Thema Biotechnologie widmen. Zudem investieren wir

Johanna Mikl-Leitner, Landeshauptfrau von Niederösterreich

Fotos: Markus Hintzen, Herrmann Wakolbinger

WIR UNTERSTÜTZEN JUNGFORSCHER:INNEN M I T E C O P L U S , A C C E N T, T E C N E T E Q U I T Y U N D E I N E M V E N T U R E - K A P I TA L - F O N D S auch in die Förderung von Wissenschaftsprojekten von nationalen und internationalen Forschenden. Wissenschaft und Forschung in Niederösterreich sichern die Zukunft unseres Landes und liefern uns die Antworten auf gegenwärtige und künftige Herausforderungen. Wenn man sich die weltweite Situation ansieht, wird eines rasch klar: Antworten auf die brennendsten Fragen, ob beim Klimawandel, bei der Energiewende, im Gesundheits- oder Biotechnologiebereich, kann es nur durch Innovationen in Wissenschaft und Forschung geben. Niederösterreich investiert aber nicht nur viel Geld, um die besten Rahmenbedingungen für die besten Köpfe zu schaffen. Wir unterstützen auch Jungforscherinnen und Jungforscher etwa mit unserer Wirtschaftsagentur ecoplus, dem Inkubator accent und tecnet equity und auch einem eigenen Venture-Kapital-Fonds. In den Kindergärten und Schulen geht es darum, bereits die Jüngsten für Wissenschaft und Forschung zu begeistern. Durch Workshops in unseren Forschungseinrichtungen, mit unserer Science Academy und mit dem Forschungsfest im Palais Niederösterreich.

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Oberösterreich: Wasserstoff-Offensive 2030 Oberösterreich als Vorreiter bei klimafitter Industrie, dieses Ziel verfolgen wir konsequent. Mit der OÖ. Wasserstoff- ffensive 2030 wird die Transformation intensiv vorangetrieben. Die Initiative umfasst drei zentrale Maßnahmen: den Ausbau von Forschungsinfrastruktur, ein Wasserstoff- etzwerk und Förderausschreibungen, unter anderem für „Future Energy Technologies“ sowie ganz konkret für Wasserstoff-Technologien. Mit einem eigenen OÖ. Wasserstoff-Forschungszentrum auf dem FH OÖ Campus Wels sollen Unternehmen und Forschungseinrichtungen beim Einsatz von grünem Wasserstoff und bei der Entwicklung von Komponenten für die Wasserstofftechnologie unterstützt werden. Insgesamt werden in einer ersten Phase in dieses Projekt 8,4 Millionen Euro investiert, davon kommen 7,3 Millionen Euro an Förderungen vom Land OÖ. Heimische Unternehmen und Forschungseinrichtungen sind zum Thema Wasserstoff höchst innovationsaktiv. Die zahlreichen Aktivitäten werden in einem Wasserstoff-Netzwerk zusammengeführt. Ein Strategieboard mit Vertreter:innen von Leitbetrieben und Forschungseinrichtungen sorgt für ein koordiniertes Vorgehen

2024: EINE WEITERE FÖRDERAUSSCHREIBUNG VON OÖ ZU WASSERSTOFFTECHNOLOGIEN

Markus Achleitner, Landesrat für Wirtschaft und Forschung in Oberösterreich

und hat insbesondere die Entwicklung weiterer konkreter Projekte ganz oben auf der Agenda. Mit der regionalen Förderausschreibung „Future Energy Technologies“ werden insgesamt sieben zukunftsträchtige Forschungsprojekte gestartet. Diese beschäftigen sich mit verschiedenen Aspekten der Transformation von Energiespeichersystemen über Netzinfrastruktur bis hin zur Energieerzeugung. Die Projekte haben ein Gesamtvolumen von etwa 4,7 Millionen Euro. Dafür werden rund drei Millionen Euro LandesFortsetzung nächste Seite

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förderung aus dem Wirtschafts- und Forschungsressort bereitgestellt. Anfang 2024 ist bereits der nächste Meilenstein geplant: eine weitere Förderausschreibung zu Wasserstoff Technologien, die vom Land OÖ mit vier Millionen Euro dotiert wird.

Wilfried Haslauer, Landeshauptmann von Salzburg

M I T D E U T L I C H E M A B S TA N D V O R A L L E N ANDEREN BUNDESLÄNDERN

Salzburg: Innovationsstrategie Salzburg „WISS 2030“ Wissenschaft und Forschung sind die Grundlage für Fortschritt, Innovation und Weiterentwicklung unseres Landes. Sie schaffen Lösungen zum Wohle der Menschen und sorgen für einen wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstandort, für Wertschöpfung und Arbeitsplätze mit Zukunft. In den ersten Monaten der neuen Salzburger Landesregierung wurde bereits viel in diese Richtung vorangetrieben, wie etwa durch Landesstipendien für die Paracelsus Medizinische Privatuniversität zur

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FORSCHUNGSFÖRDERUNG WEITER AUSBAUEN UND AUF LANGE SICHT DIE FORSCHUNGSQUOTE ERHÖHEN möchten wir am Standort bündeln. Zudem soll die Forschungsförderung des Landes für die Spezialisierung unserer Hochschulen weiter ausgebaut werden und auf lange Sicht die Forschungsquote erhöhen. Ich bin überzeugt, dass diese und zahlreiche weitere Maßnahmen Salzburg als Leuchtturm des Wissens nachhaltig festigen werden. Barbara EibingerMiedl, Landesrätin für Wissenschaft und Forschung in der Steiermark

Gaby Schaunig, Landeshauptmannstellvertreterin und Technologiereferentin in Kärnten

Kärnten: Zukunftsgerichtete Forschungsschwerpunkte 2023 war ein weiteres Jahr der Meilensteine in der Kärntner Forschungslandschaft. Am High Tech Campus in Villach konnten wir Österreichs größten Forschungsreinraum eröffnen, wo auf 1.100 Quadratmetern Fläche innovative Forschung und Entwicklung mit modernster Technologie stattfindet. Der neue Forschungsreinraum dient nicht nur dem Micro Nano Fabrication Center von Silicon Austria Labs als steriles Umfeld für die Forschung und Entwicklung innovativer Technologien. Das Spitzenforschungszentrum stellt die Räumlichkeiten darüber hinaus auch Industriepartnerinnen und -partnern für die Kleinserienfertigung zur Verfügung. Ebenfalls gewachsen ist der Kärntner Standort der Joanneum Research im Lakesidepark Klagenfurt. Mit dem Digital

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Fotos: Die Fotorafen, Schöbi Fink, lisamathis.at

erreichen und liegen damit auch mit deutlichem Abstand vor allen anderen Bundesländern. Diesen Erfolg verdanken wir vor allem der guten Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und öffentlicher Hand sowie dem großartigen Engagement der heimischen Forscherinnen und Forscher. Insgesamt werden in der Steiermark pro Jahr 2,67 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung ausgegeben. Die heimischen Unternehmen investieren davon jährlich rund zwei Milliarden und tätigen somit rund drei Viertel der steirischen F&E-Ausgaben. Ich bin davon überzeugt, dass Forschung und Entwicklung auch in Zukunft der Schlüssel für die weitere positive Entwicklung unseres Standorts sind. Denn damit sind zusätzliche Wertschöpfung, neue Arbeitsplätze und Lösungen für die großen Herausforderungen unserer Zeit verbunden. Es ist mir daher ein großes Anliegen, weiterhin gezielt in Forschung und Entwicklung zu investieren, um den Erfolgsweg der Steiermark weiter fortsetzen zu können.

Fotos: Leopold, Teresa Rothwangl, Rauchenwald

Steiermark: Schlüssel für weitere positive Entwicklung Die Steiermark ist nicht nur eine wirtschaftsstarke und lebenswerte Region, sie ist auch eine der führenden Forschungsregionen Europas. So konnten wir bei der jüngsten Erhebung der regionalen Forschungs- und Entwicklungsquote einen Wert von 5,17 Prozent

Bekämpfung des Ärztemangels, die Inbetriebnahme des neuen Forschungslabors für Human-Computer-Interaction an der Paris Lodron Universität Salzburg oder auch den Einstieg des Landes als Gesellschafter der Fachhochschule Salzburg. Um Salzburg als Wissenschaftsstandort auch weiterhin zu stärken, haben wir im Koalitionsprogramm eine Vielzahl an Maßnahmen vereinbart. Wir bekennen uns beispielsweise ganz grundlegend zur Wissenschafts- und Innovationsstrategie Salzburg „WISS 2030“ und deren konsequenter Umsetzung, zur bedeutenden Rolle von Wissenschaft, Forschung, Bildung und Innovation für die wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Weiterentwicklung des Landes sowie seine Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit. Salzburgs bereits vorhandene Kernkompetenzen, etwa im Bereich der Datenforschung, dem alpinen Bauen, der Krebsforschung und der Neurowissenschaften,


TwinLab siedelte sich nun auch ein Forschungsprojekt des JR-Bereichs DIGITAL in Klagenfurt an. Einen weiteren Meilenstein setzte das Holzforschungszentrum Wood K plus in St. Veit an der Glan, das sich bei der Ausschreibung der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft für COMET-K1-Zentren eindrucksvoll durchsetzen konnte. Im COMET-Forschungsprogramm „WOOD – Transition to a sustainable bioeconomy“ geht es um die nachhaltige Nutzung von biobasierten Rohstoffen, energieoptimierte Fertigungsverfahren und eine durchgängig

Cornelia Hagele, Landesrätin für Wissenschaft, Forschung, Gesundheit, Pflege und Bildung in Tirol

A L S E I N E T O P F O R S C H U N G S - U N D E N TW I C K L U N G S R E G I O N I N E U R O PA E TA B L I E R T kreislaufgeführte Bioökonomie. Mit einem jährlichen Investitionsvolumen von rund zwanzig Millionen Euro konnte sich Kärnten in den vergangenen Jahren als eine TopForschungs- und -Entwicklungsregion in Europa etablieren. Neben den oben erwähnten Organisationen setzen auch der 5GPlayground, die Air-Labs, das Fraunhofer Innovationszentrum „KI4LIFE“ und die Lakeside Labs zukunftsgerichtete Forschungsschwerpunkte. Tirol: Forschung stärkt Innovationskraft Über 40.000 Studierende absolvieren derzeit eine akademische Ausbildung am Hochschulstandort Tirol, dementsprechend groß ist das Potenzial an hochqualifizierten Absolvent:innen, die durch Forschung zur Weiterentwicklung Tirols beitragen. Um dieses Potenzial weiter zu stärken und die Innovationskraft in Tirol zu fördern, wur-

de das Wissenschaftsförderungsprogramm des Landes neu aufgestellt. Ziel der Tiroler Wissenschaftsförderung es ist vor allem, den Wissenschafts- und Forschungsstandort Tirol weiter zu stärken und auf die europäischen und globalen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte vorzubereiten. Für die Jahre 2023 bis 2027 werden daher vonseiten des Landes insgesamt 8,6 Millionen Euro in die Wissenschaftsförderung investiert. Im Zuge dessen werden wissenschaftliche Projekte und Veranstaltungen, aber vor allem auch Tiroler Nachwuchsforscher:innen unterstützt. Zusätzlich dazu fließen 2023

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weitere rund 1,1 Millionen Euro in das „Dissertationsprogramm für Tiroler Hochschulen“. Mit dem Programm werden Dissertationsprojekte gefördert, die an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Wirtschaft stehen. Unterstützt werden sollen Arbeiten aus verschiedensten Disziplinen im Bereich Naturwissenschaft und Technik, die Forschungsfragen mit einem konkreten Bezug zu Tiroler Unternehmen vorweisen. Vorarlberg: Fachhochschule als überegionales Wissenszentrum Forschung und Entwicklung ist für den Wirtschaftsstandort ein wichtiger Treiber, um die Wettbewerbsfähigkeit und die Standortattraktivität zu erhalten bzw. zu stärken. Mit über achtzig Forschenden in vier Forschungszentren, zwei Forschungsgruppen und zwei Tochterunternehmen ist die FHV – Vorarlberg University of Applied Sciences eine der forschungsstärks-

2024 GEHT DAS NETZWERK RUN IN DIE ZWEITE FÖRDERPERIODE UM MEHR I N T E R N AT I O N A L E V E R N E T Z U N G

Barbara Schöbi-Fink, Landesstatthalterin in Vorarlberg

WISSENSCHAFTSFÖRDERUNGSPROGRAMM D E S L A N D E S N E U A U F G E S T E L LT

Fotos: Die Fotorafen, Schöbi Fink, lisamathis.at

Fotos: Leopold, Teresa Rothwangl, Rauchenwald

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Marco Tittler, Landesrat für Wirtschaft, Vorarlberg

ten Fachhochschulen Österreichs. Die Wissenschaftler:innen und Expert:innen forschen und entwickeln für die Region und mit der Region. Die Fachhochschule ist gleichzeitig ein überregionales Wissenszentrum. In diesem Jahr wurde an der FHV eine neue Forschungsgruppe für Digital Business Transformation mit starker Verbindung zu den bestehenden Wirtschaftsinformatik-Studiengängen eingerichtet. Die FHV ist Teil der Europäischen Universität RUN (Regional University Network) und arbeitet mit internationalen Partner:innen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft weltweit zusammen. Im Jahr 2024 startet das Netzwerk in die zweite Förderperiode, um die internationale Vernetzung und Zusammenarbeit weiter zu intensivieren. Am Forschungsinstitut für Textilchemie und Textilphysik der Universität Innsbruck haben wissenschaftliche Arbeiten zur Zirkularität von textilen Fasern zum Durchbruch bei der chemischen Trennung und Rückgewinnung von Faserpolymeren geführt. Durch die neuen Methoden können Mischungen textiler Fasern so getrennt werden, dass beide Materialien wiederverwendet werden können. Die Forschungsarbeiten liefern wichtige Grundlagen zum zukünftigen Design for Recycling für textile Produkte.

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Wissenschaft und Politik

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ILLUSTRATIONEN: GEORG FEIERFEIL

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Töten Antibiotika Viren?

SOPHIE HANAK

ie Erwärmung der Erde ist nicht „ähnlichen D menschengemacht. “ Mit solchen und Verschwörungstheorien befasst

sich Reinhard Heinisch in seiner Forschung und untersucht dazu mehrere europäische Länder. In Nordeuropa, etwa in Skandinavien, wurde die geringsten Tendenz zu Verschwörungstheorien gefunden. Der Glaube an unterschiedliche verschwörungstheoretische Thesen ist in Westeuropa, darunter Deutschland und Österreich, etwas höher. Im Osten jedoch sitzen ihnen bis zu zwei Drittel der Menschen auf. Wie entstehen Verschwörungstheorien überhaupt? „Menschen sind immer auf der Suche nach existenziellen Lösungen. Früher wurde dies durch die Religion beantwortet, doch heute rückt sie immer mehr in den Hintergrund. Das führt zu einem Vakuum. So versuchen einige Personen, ihre Antworten auf existenzielle oder politische Fragen in falschen Behauptungen zu finden“, erklärt Heinisch. Verschwörungstheorien treten vor allem in Zeiten von Krisen auf, etwa der CovidPandemie in den letzten Jahren. Wird die Bevölkerung dann durch bestimmte Maßnahmen in ihrem Handeln und Lebensgewohnheiten eingeschränkt, zusätzlich zu unverständlichen Erklärungen, vertrauen viele Menschen vermehrt Verschwörungs-

Reinhard Heinisch, Univ.-Prof. für Politikwissenschaften, Universität Salzburg

„DIE SKEPSIS GEGENÜBER DEN WISSENSCHAFTEN KÖNNTE DURCH DIE POLITIK GEMINDERT WERDEN“ theorien. Wenn sich zudem Frustration und Unzufriedenheit verfestigen, suchen die Menschen nach jemandem, dem sie die Schuld geben können, und bauen ihre eigene Welt und Wahrheit auf. Eine davon ist „Die Elite ist gegen das Volk“. Dieser These schließt sich der politische Populismus an. Demgemäß gebe es zwei Gruppen: auf der einen Seite die korrupte Elite und auf der anderen das irregeführte Volk. Die Elite diktiere den Alltag der Bevölkerung, übe Verrat an ihr und zwänge ihr die eigene Agenda auf. „Hier stellt sich die

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Frage, ob die Wissenschaft Teil dieser Elite ist. Die Antwort kann je nach Inhalt variieren“, meint Heinisch. Die Situation in Österreich zeige einen Mix aus Populismus, Identitätsgeschichte, politischer Aufladung bestimmter Themen, dem Umgang der Politik mit der Wissenschaft und der Wissenschaftskommunikation. Laut einer Eurobarometer-Studie der Europäischen Kommission vertrauen siebzig Prozent der Österreicher:innen der Wissenschaft voll oder eher, dreißig Prozent hingegen kaum. Damit ist die Anzahl jener Menschen, die der Wissenschaft vertrauen, in Österreich höher als in Deutschland, wo es nur 62 Prozent sind. In der Schweiz vertrauen sogar nur 59 Prozent der Wissenschaft. „Die Österreicher:innen zeigen ein starkes Interesse an der Wissenschaft, sind jedoch wenig informiert. Fragen wie etwa ,Sind Elektronen wirklich kleiner als Atome‘ oder ,Können Antibiotika nicht auch Viren töten? ‘ kann die Mehrheit in Österreich nicht beantworten“, sagt Heinisch. „Die Skepsis gegenüber den Wissenschaften könnte insbesondere durch die Politik gemindert werden.“ Wissenschaft und Politik sind jedoch weitgehend getrennte Bereiche, die nach ihren eigenen Regeln funktionieren. Zukünftig ist hier eine stärkere Zusammenarbeit erforderlich, wie in Skandinavien oder den USA. Dort werden beispielsweise große politische Reden an den Universitäten gehalten, wie schon 1947 die „Marshall-Rede“ an der Universität Harvard. Ähnliche Aktionen wären auch in Österreich von großer Bedeutung und würden zu einer Aufwertung und Sichtbarkeit der Universitäten und Wissenschaften führen. „Bei uns spielt das Zusammenspiel mit der Politik eher im Kulturbereich eine Rolle. Hier werden große Reden bei Festspielen gehalten, wie etwa jene von Bundespräsident Alexander Van der Bellen bei den Salzburger Festspielen 2023 über das Wunder Musik und dem Aufruf, miteinander zu kommunizieren und Kommunikation zu hinterfragen“, betont Heinisch. Schließlich spielen auch die Medien in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle, und es ist längst überfällig, dass

Foto: Alek Kawka

Der Politikwissenschaftler R E I N H A R D H E I N I S C H von der Universität Salzburg untersucht Verschwörungstheorien und Wissenschaftsskepsis

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Illustration: Georg Feierfeil

Foto: Alek Kawka

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der Wissenschaftsjournalismus einen angemessenen Platz in den Medien erhält. In Österreich ist dies, im Vergleich zu anderen Ländern, viel zu selten. Es braucht hier eine gute Zusammenarbeit zwischen den Wissenschaftler:innen und den Wissenschaftsjournalist:innen. „Für Wissenschaftsjournalist:innen wiederum ist es wichtig, dass sie über eine gewisse akademische Ausbildung verfügen, Wissenschaft und Wissenschaftler:innen verstehen und schließlich Forschungsergebnisse in eine allgemein verständliche Sprache übersetzen. Dann bin ich mir sicher, dass

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Reinhard Heinisch: „Fragen wie etwa ,Sind Elektronen wirklich kleiner als Atome?‘ kann die Mehrheit in Österreich nicht beantworten“

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die Wissenschaftsjournalist:innen die besten Fürsprecher:innen für die Anliegen der Wissenschaft sind“, sagt Heinisch schmunzelnd. Dennoch blickt er positiv in die Zukunft: „Ich denke, dass Politiker:innen und Wissenschaftler:innen mit einer neuen Pandemie besser zurechtkommen würden. Um die Bevölkerung vor Verwirrung und Unsicherheit zu bewahren, ist es entscheidend, mit Professionalität aufzutreten. Dies kann durch eine klare Kommunikation, mit klaren Verantwortlichkeiten und im Einklang von Politik, Wissenschaft und Medien erreicht werden.“

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Universität ist immer politisch ELENA RITSCH

nur ungern von Universi„zen“,I chtätsagtspreche und Politik als getrennten InstanMitchell Ash, der als emeritierter

Professor für Geschichte an der Universität Wien tätig ist. Anders als zum Beispiel in den USA sind österreichische Universitäten schon seit der Regentschaft von Maria Theresia Mitte des 18. Jahrhunderts staatliche Einrichtungen. Weil Staat nicht ohne Politik verstanden werden kann, sind Universität und Politik in Österreich miteinander verwoben. Diese Verbindung wurde in der ersten Verfassung des Universitätsorganisationsgesetzes nach der Niederwerfung der Revolution von 1848 deutlich: Darin spricht man von Universitäten als „akademischen Behörden“. „Hier beginnt in meinem Sinne schon die Politisierung der Universität“, erklärt Ash. Politik und Universität völlig zu trennen ist also praktisch unmöglich. Auch kann die Politisierung der wissenschaftlichen Forschung an Universitäten in vielen Formen stattfinden. Die offensichtlichste ist die ideologische: Eine bestimmte Ideologie gewinnt im Kontext bestimmter politischer Verhältnisse die Oberhand. Was Wissenschaft sein darf und was nicht, wird so zur politischen Entscheidung. „In Österreich denkt man in diesem Zusammenhang natürlich an die Nazizeit“, sagt Ash. Zu dieser Zeit entstanden Phänomene wie die „deutsche Physik“ und die „arteigene

Mitchell Ash, Univ.-Prof.(emeritiert) für Geschichte an der Universität Wien

„ M A N V E R S T E I F T S I C H G E R N D A R A U F, P O L I T I K SEI AUSSEN UND WISSENSCHAFT SEI DRINNEN“ Mathematik“: Diese Programme sollten die Themen der Forschung in diesen Disziplinen an den Universitäten beeinflussen. „Die Ironie dabei ist, dass diese Programme nicht von Politikern erfunden wurden, sondern von den als Wissenschaftlern tätigen Professoren“, erklärt Ash. Deutsche Physik war bei Lichte besehen nichts anderes als die gute alte Experimentalphysik. Nicht Quantenphysik oder Relativitätstheorie, die man als „jüdisches Zahlenspiel“ brandmarkte. „Ich spreche in diesem Kontext also von wissenschaftlicher Innenpolitik.“

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Diese ist nicht mit einer ideologischen Bestimmung der universitären Verhältnisse gleichzusetzen. Vielmehr gibt sich die Wissenschaft hier selbst im Rahmen ihrer vermeintlichen Autonomie die Regeln vor. Während des Nationalsozialismus wie auch zu anderen Zeiten wurde Forschung innerhalb gewisser Disziplinen an Universitäten von politischen Verhältnissen beeinflusst. Allerdings eben nicht nur von außen hinein, sondern auch von innen heraus. Dies sei in der öffentlichen Darstellung nur schwer unterzubringen, sagt Ash. „Man versteift sich gern darauf, Politik sei außen und Wissenschaft sei drinnen. Politisierung bedeute, dass Politik zu bestimmen versucht, was Wissenschaft zu sein hat und wie an Universitäten gearbeitet werden soll.“ Universität und Politik stehen in einer ständigen Wechselwirkung zueinander. Kann es unter diesen Umständen so etwas wie parteipolitische Neutralität an Universitäten geben? Professor:innen sollen ihren Lehrstuhl nicht dazu verwenden, politische Ansichten zu vertreten. Diesbezüglich gibt es sogar juristische Regelungen. Doch ob Professor:innen außerhalb ihres Berufs ihre politischen Ansichten frei mitteilen dürfen, ist Teil einer aktuellen Debatte. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war dies gang und gäbe, denn prinzipiell gilt auch für Professor:innen Redefreiheit. Konnte die Universität da wirklich politisch neutral sein? „Natürlich nicht“, sagt Ash. „Studierende lasen ja Zeitung. Und wussten daher, welche politische Orientierung ihre Professor:innen vertraten.“ Redefreiheit und die Ambition einer Universität, ein Raum frei von politischen Meinungen zu sein, sind nur schwer vereinbar. Wer an Universität denkt, hat auch die Studierenden vor Augen. Mitunter laute aktivistische Studentengruppen. Politisch aktive Student:innen bilden historisch gesehen nur eine sehr kleine Minderheit der Studierenden, erläutert Ash. „Die meisten Studierenden waren seit dem Mittelalter einfach auf ihren Abschluss aus. Das ist nicht zynisch gemeint, sondern ein empirisches Faktum.“ Trotzdem gab es immer wieder Phasen, in denen Studierende besonders aktiv waren. So erlebte die Universität Wien etwa in den 1920er-Jahren xenophobisch und

Foto: Alek Kawka

Der Historiker M I T C H E L L A S H analysiert das Verhältnis von Politik und Wissenschaft anhand der Situation an Hochschulen wie der Universität Wien

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Illusration: Georg Feierfeil

Foto: Alek Kawka

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antisemitisch motivierten Aktivismus. Besonders aktiv agierten damals Studentengemeinschaften, die mehrheitlich rechtsradikal waren. „Es gab politische Kämpfe an den Universitäten, und zwar mit Fäusten und Knüppeln.“ Aktive sozialistische Studentengruppen waren vergleichsweise selten, denn Sozialismus war vor allem in der Arbeiterklasse vertreten. Sie besaß Anfang des 20. Jahrhunderts in der Regel nicht die Mittel, um ihre Kinder an Universitäten zu schicken. In diesem politischen Klima plädierte 1919 die „Deutsche Studentenschaft“ für die Einführung einer Maximalquote für Studierende jüdischer Abstammung, entsprechend ihrem Anteil in der Bevölkerung.

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Mitchell Ash: „Die meisten Studierenden waren seit dem Mittelalter einfach auf ihren Abschluss aus. Das ist nicht zynisch gemeint, sondern ein empirisches Faktum“

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„Das war knapp ein Prozent. Die Botschaft war klar genug“, sagt Ash. Die Forderung verstieß gegen die Verfassung und wurde daher von den Behörden und politischen Parteien abgelehnt. „Außer von einer: der Deutschnationalen Partei. Aber die besaß damals noch keine Macht.“ Wissenschaft und deren Autonomie werden oft als Wert an sich gesetzt, sagt Ash. Da die Universität primär als wissenschaftliche Institution begriffen wird, sehe man auch deren Autonomie als selbstverständlich an. Doch dies sei eine subjektive Wertsetzung und keine objektive Feststellung. „Erst wenn man das begreift, kann man beginnen, Wissenschaft und Politik sowie deren Verhältnis zu analysieren.“

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Gefahr durch Gefühle im Diskurs MICHAELA ORTIS

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ie großen Krisen der Volksparteien, neue Gefährdungen der Demokratie von rechts und links und eine Mitte, die schwächer wird, das beobachte ich schon lange. Was passiert dabei an den Hochschulen? Wie neutral ist Wissenschaft? Woher rühren die Politisierungsprozesse? “ Solche Fragen untersuchte die Politikwissenschaftlerin und Soziologin Ulrike Ackermann in einem Forschungsprojekt. Die Auslöser dieser Veränderungen werden unter den Stichworten Cancel Culture und Identitätspolitik diskutiert. Ihren Anfang nahmen sie an den angelsächsischen Hochschulen aus einer gut gemeinten sozialen Bewegung, die auf Diskriminierung aufmerksam machen und Minderheiten bewusst fördern wollte: zuerst Frauen, dann Schwule, später ethnische und religiöse Minderheiten. Doch mit der Zeit bildeten sich Blasen, die Identitätspolitik dieser Gruppen wurde selbstbezüglicher und stellte sich gegen die allgemeine Wissenschaft. Dazu beigetragen haben Safe Spaces, erklärt Ackerman, die sich früh für Frauenforschung eingesetzt hat: „Safe Spaces waren ursprünglich Schutzräume vor Gewalt. Das hat sich dann auf den wissenschaftlichen Bereich ausgedehnt. Es entstanden Schutzräume, in denen man nur unter sich spricht: Nur Frauen sollen über Frauen forschen dürfen, nur Schwarze über Schwarze. Durch die Sepa-

Ulrike Ackermann, Univ.-Prof. für Politikwissenschaften und Soziologie am John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung an der SRH Hochschule Heidelberg

„ I D E N T I TÄT S P O L I T I K I S T N I C H T F O R T S C H R I T TL I C H , S O N D E R N R Ü C K W Ä R T S G E W A N D T, W E I L DAS KOLLEKTIV IM ZENTRUM STEHT“ rierung fehlt aber die Selbstreflexion, die lebendige Auseinandersetzung mit anderen und der allgemeinen Wissenschaft.“ Mit zunehmender Ideologisierung setzte man sich von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft ab, die als weiße Tätergesellschaft wahrgenommen wurde. So entstanden Gruppen mit ethnischen, religiösen oder Geschlechtsmerkmalen. Dies ist für Ackermann, die in Heidelberg das John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung leitet, der entscheidende Punkt: „Mir ist wichtig zu zeigen, dass es plötzlich

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wieder um Gruppen geht. Wir dachten, dass wir uns mit der Aufklärung von Horden oder Stämmen befreit haben. Die Wertschätzung des einzelnen Menschen hat viele Jahrhunderte und Revolutionen gebraucht und fand Eingang in die Erklärung der Menschenrechte: Jeder ist vor dem Recht gleich, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht oder Religion. Daher ist diese Identitätspolitik nicht fortschrittlich, sondern rückwärtsgewandt, weil das Kollektiv im Zentrum steht und die Menschen sich beugen müssen.“ Safe Spaces haben mit ihrer Abschottung Denkbarrieren hochgezogen. Die Verbreitung dieser Ideen folgt einem gut erkennbaren Mechanismus, erklärt Ackermann: „In der Sprache geht es nicht nur um Gendersternchen, die Studierenden lernen vor allem Begrifflichkeiten, die eine bestimmte Idee von Gesellschaft transportieren. Etwa wenn sie permanent von der Mehrheitsgesellschaft reden und nicht die Mehrheit der Gesellschaft meinen.“ Dieses Wort aus der Critical Race Theory bezeichnet eine weiße, patriarchale, kapitalistische Tätergesellschaft, die den diskriminierten Opfergruppen gegenübersteht. Absolvent:innen würden diese Begrifflichkeiten in Unternehmen, Kulturbetriebe oder Redaktionen tragen, wodurch sie in Gesellschaft und Politik gelangen. Die Entwicklung einer „woken“ Politik stellt das Prinzip der repräsentativen Demokratie in Frage, weil über Quoten und Gruppenzugehörigkeiten neue Machtstrukturen geschaffen werden. Kleine aktivistische Minderheiten können Gesetzesänderungen erreichen, dies wurde in Deutschland am Beispiel des Selbstbestimmungsgesetzes sichtbar: 14-Jährige können beim Standesamt ihr Geschlecht anmelden. Natürlich müsse man gegen die Diskriminierung von Transsexuellen vorgehen, aber wenn die Mehrheit der Bevölkerung aufgrund ihrer Heterosexualität als „Normalos“ von aktivistischen Minderheiten beschimpft werde, stoße das auf Unverständnis und treibe die Spaltung der Gesellschaft voran. Um diese Polarisierungstendenzen zu stoppen, brauche es eine große Debatte wie den Werturteilsstreit unter Soziolog:innen Anfang des 20. Jahrhunderts. Von Max Weber

Foto: Alek Kawka

Die Soziologin U L R I K E A C K E R M A N N erforscht Cancel Culture und Identitätspolitik in der Wissenschaft und deren Folgen für die Gesellschaft

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angeführt, ging es um Fragen, wie politisch Wissenschaft sein darf, wie sehr sie eingreifen und die Gesellschaft transformieren darf, oder ob sie analysieren, beraten und Wissen beisteuern soll. Wie sehr Wissenschaft in eine Richtung drängen darf, darüber haben auch Theodor Adorno und Karl Popper in den 1960er-Jahren debattiert. „So einen großen Streit brauchen wir jetzt wieder, um die Aufklärung zu verteidigen. Stattdessen herrscht Schweigen, und wer sich mutig dagegenstellt, wird alleingelassen, auch Professor:innen von ihrer Hochschulleitung.“ Die Wissenschaft müsse mehr Selbstreflexion pflegen und sich fragen, welche normativen Grundlagen ihre Forschungs-

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Ulrike Ackermann: „In der Sprache geht es nicht nur um Gendersternchen, die Studierenden lernen vor allem Begrifflichkeiten, die eine bestimmte Idee von Gesellschaft transportieren. Etwa wenn sie permanent von der Mehrheitsgesellschaft reden und nicht die Mehrheit der Gesellschaft meinen“

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strategie bestimmen. Damit sich Denk- und Redeverbote nicht weiter ausbreiten, sollten Studierende lernen, zu debattieren. Dazu brauche es Präsenz- statt des aus Spargründen forcierten Onlineunterrichts. Sie müssten Ambiguitätstoleranz entwickeln und widersprechende Positionen aushalten können, ohne gleich beleidigt zu sein. Um eine Persönlichkeit herauszubilden, brauche es Freiheit im Denken ohne Tabus. „Auch in der öffentlichen Debatte müssen wir wieder argumentieren lernen. Teilnehmende in Talkshows sollten nicht nach Gruppenzugehörigkeit ausgewählt werden, sondern danach, ob sie inhaltlich etwas zu sagen haben.

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Wissenschaftliche Politikberatung Die Rechtswissenschaftlerin A N N A G A M P E R zeigt, wie sich die Beziehung zwischen Politik und wissenschaftlicher Beratung in Österreich gestaltet Wenn die Politik nichts mehr tun darf, ohne die Wissenschaft vorher zu befragen, würde das in die Richtung einer Epistokratie gehen und damit die Demokratie bedrohen. Dann würde eine Art wissenschaftliche Elite die Politik bestimmen. Das wäre verfassungsrechtlich ausgeschlossen.

olitik und Wissenschaft sind auch P durch verschiedene Formen der wissenschaftlichen Politikberatung miteinan-

der verbunden. Neben der Politikberatung durch etablierte Institutionen werden auch Ad-hoc-Anfragen an die wissenschaftliche Fachgemeinschaft gestellt. Anna Gamper, Rechtswissenschaftlerin an der Universität Innsbruck, erläutert die Situation.

Anna Gamper, Univ.-Prof. für Rechtswissenschaften an der Universität Innsbruck

Frau Gamper, wie unterscheiden sich Ad-hocAnfragen von institutioneller Politikberatung? Anna Gamper: Typischerweise wird die institutionalisierte Beratung von Forschungsinstituten oder wissenschaftlichen Beiräten geleistet. Expertise kommt aber auch von ministeriellen Fachabteilungen, politischen Stiftungen und staatsnahen Thinktanks. Eine Ad-hoc-Anfrage wiederum erfolgt spontan, häufig werden einzelne Wissenschaftler:innen angefragt – besonders in Krisenzeiten wie der Coronapandemie. Es werden dann auch Ad-hoc-Gremien eingesetzt. In einer akuten Krise braucht es oft ganz schnell ein funktionierendes Gremium, das bei der politischen Entscheidungsfindung unterstützen kann. Es gibt grundsätzlich keine Verbote oder Gebote, wer als wissenschaftliche:r Berater:in von der Politik herangezogen werden kann, allerdings DAS AMTSGEHEIMNIS ZUGUNSTEN DER I N F O R M AT I O N S F R E I H E I T Ä N D E R N ? in einzelnen Bereichen durchaus gesetzlich eingerichtete Beiräte und Kommissionen. Sie werden zumindest zum Teil von Wissenschaftler:innen besetzt. Das heißt aber nicht, dass was sie sagen, verpflichtend ist und umgesetzt werden muss. Unterliegt die Politik einer wissenschaftlichen Beratungspflicht? Gamper: Es gibt kein generelles Gebot, dass sich die Politik immer wissenschaftlich beraten lassen müsste. Das hat auch demokratische Gründe. Ein Parlament etwa, als gewählte Vertretung des Volkes, muss in der Lage sein, souveräne Entscheidungen zu treff n.

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Ist die Politik zur Transparenz verpflichtet, wenn Expertise von außen eingeholt wird? Gamper: Erst seit wenigen Monaten gibt es eine Regelung, die festlegt, dass von der Politik in Auftrag gegebene Umfragen, Gutachten oder Studien sowie die dadurch entstandenen Kosten veröffentlicht werden müssen. Ausnahmen werden nur gemacht, sofern das Amtsgeheimnis dem entgegensteht. Es gibt bereits die Idee, das noch geltende Amtsgeheimnis zugunsten einer Informationsfreiheit zu ändern. Gibt es bestimmte Kriterien für die wissenschaftliche Politikberatung? Gamper: Wer für eine wissenschaftliche Beratung in Frage kommt, hängt davon ab, ob das Geäußerte Wissenschaft ist. Laut Verfassungsgerichtshof ist Wissenschaft prinzipiell alles, was auf einem bestimmten Wissensgebiet neue Erkenntnis sucht und ältere Erkenntnis verfestigt. Das ist durch die Rechtswissenschaft um den Punkt ergänzt worden, dass der Erkenntnisprozess auf rationale Weise und innerhalb der Kriterien wissenschaftlicher Methodik erfolgen muss. Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs, die Wissenschaftlichkeit eines im Rahmen von wissenschaftlicher Politikberatung erstellten Dokuments als Grundlage eines Rechtsakts zu bewerten. Es können grobe Plausibilitätskontrollen durchgeführt werden, wie die Coronarechtsprechung gezeigt hat. Feinprüfungen können auf wissenschaftlicher Ebene nicht durch den Verfassungsgerichtshof erfolgen, dort greifen dann die Regulationsmechanismen der Scientific Community oder das Universitätsrecht. Auch ist es Wissenschaftler:innen überlassen, sich selbst mit Expertise zu Wort zu melden. Besteht ein Best-Practice-Modell zu wissenschaftlicher Politikberatung? Gamper: Ein interessanter Vorschlag geht

Foto: Alek Kawka

INTERVIEW: NATHALIE JASMIN KOCH

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in die Richtung, ein Bestellungsverfahren vorzusehen, das an die Bestellung von Höchstrichter:innen erinnert. Eventuell mit öffentlichem Hearing, Unvereinbarkeitsbestimmungen und formalen Qualifikationen, etwa Berufserfahrung und dem Abschluss eines Studiums und einem Nominierungsrecht von unabhängigen Institutionen. Prinzipiell wäre das eine erwägenswerte Vorgehensweise, die zumindest ansatzweise auch bei manchen beratenden Kommissionen rechtlich gefordert wird. Für die Ad-hoc-Anfragen ist das nicht möglich, weil es da schnell gehen muss. Sind institutionelle Formen der Politikberatung generell vertrauenswürdiger?

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Anna Gamper: „Erst seit wenigen Monaten gibt es eine Regelung, die festlegt, dass von der Politik in Auftrag gegebene Umfragen, Gutachten oder Studien sowie die dadurch entstandenen Kosten veröffentlicht werden müssen. Ausnahmen werden nur gemacht, sofern das Amtsgeheimnis dem entgegensteht“

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Gamper: Das lässt sich a priori nicht pauschal beantworten. Die institutionalisierte Beratung erfolgt zumeist durch eine größere Gruppe von Expert:innen, was eine größere Schwarmkompetenz bedeuten kann. Andererseits, sobald etwas institutionalisiert wird, kann es natürlich auch eine organisatorische und finanzielle Abhängigkeit geben. Ich würde weniger zwischen institutioneller und Adhoc-Beratung unterscheiden als zwischen Einzelpersonen und Kollegien beziehungsweise ob Regelungen existieren, die eine Unabhängigkeit der Expertise garantieren. Wo mehrere Personen angefragt werden, wird häufig ein interdisziplinärer Ansatz gewährleistet und dadurch möglicherweise eine Art von Checks and Balances gefördert.

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Wissenschaftsjournalismus in der Misere Warum Medien immer weniger Möglichkeiten zur Wissenschaftsberichterstattung sehen, erklärt der Medienhistoriker F R I T Z H A U S J E L L

er, wenn nicht Medien, soll die ÖffentW lichkeit über die wissenschaftliche Entwicklung informieren? Fritz Hausjell erklärt, warum der Wissenschaftsjournalismus in einer tiefen Krise steckt.

Herr Hausjell, wie steht es um das Verhältnis von Massenmedien und Wissenschaft? Fritz Hausjell: Sowohl Umfang als auch Qualität der Berichterstattung über Wissenschaft weisen viele Defizite und Entwicklungsmöglichkeiten auf. Gerade eine zunehmende Wissenschaftsskepsis bei einem Teil der Gesellschaft verlangt nach stärkerer journalistischer Thematisierung der Bedeutung wissenschaftlicher Zugänge zu den Problemlagen der Gesellschaft. Allerdings handelt es sich bei jenem Teil überwiegend um Menschen, die den klassischen journalistischen Medien den Rücken zugekehrt haben. Man erreicht sie über Wissenschaftsjournalismus gar nicht mehr. Dennoch muss man einem weiteren Erosionsprozess entgegenarbeiten. Menschen, die keine journalistischen Medien mehr nutzen, sind indirekt erreichbar: durch Gespräche und Debatten in alltäglichen Situationen, also am Arbeitsplatz, in der Schule, am Stammtisch und am Würstel-

Fritz Hausjell, stellvertretender Vorstand am Institut für Publizistikund Kommunikationswissenschaft der Universität Wien

„WISSENSCHAFTSJOURNALISMUS BRINGT ZUMEIST WENIGER QUOTE ALS ANDERE THEMENBEREICHE“ und Kebabstand. Dafür brauchen Menschen, die der Wissenschaft und klassischen Medien noch vertrauen, möglichst erstklassigen Wissenschaftsjournalismus als Grundlage. Wie kommt es zu den Qualitätsdefiziten? Hausjell: Wissenschaftsjournalismus bringt zumeist weniger Quote als andere Themenbereiche wie Chronik, Politik und Sport. Da fast alle Medien ihre Inhalte auch digital ausspielen, wissen sie sofort, auf welche Beiträge stark zugegriffen wird. In der vormals analogen Welt brauchten sie aufwendige Befragungen, um zu wissen, was stark rezipiert wurde. Die Quoten ständig vor Augen zu haben, verschärft die tägliche Entscheidung zwischen wirtschaftlichen und publizistischen Zielen.

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Journalistische Medien, die in den letzten 25 Jahren kontinuierlich und zuletzt dramatisch Werbeaufträge verloren haben, reduzieren die Produktion von Inhalten, die personalintensiv sind und selten ein Massenpublikum generieren. Genau in dieser Misere befindet sich der Wissenschaftsjournalismus. Gezielte Förderung von Qualitätsjournalismus könnte gegensteuern. Im Erstentwurf des Medienministeriums hatte man darauf vergessen. In der Überarbeitung ist der Wissenschaftsjournalismus nun zwar berücksichtigt, aber die beschlossenen Größenordnungen sind bei Weitem nicht ausreichend. Spielt Wissenschaft in den Social Media eine Rolle? Hausjell: In Social-Media-Kanälen kursiert auch Wissenschaft: ein Nebeneinander von Filetstücken des Wissenschaftsjournalismus, entweder von journalistischen Medien aufbereitet oder angerissen, um Interessierte ins eigene Medium zu holen, und Filetstücke der Wissenschafts-PR von Universitäten oder Fachhochschulen und andere von Wissenschaftsproduzenten in Umlauf gebrachte Inhalte, die allerdings nicht von wissenschaftsjournalistischer Seite geprüft sind. Darüber hinaus gibt es Propaganda, die sich als Wissenschaft ausgibt, und Fake News, die zumeist bei unseren Ängsten und Hoffnungen andocken. Auch sie kommen immer wieder als „Wissenschaft“ oder „Wissenschaftsjournalismus“ daher. Wie wirken sich soziale auf etablierte Medien aus? Hausjell: Da das Bildungssystem erst sehr spät mit entsprechender Medienkompetenzbildung antwortet und die meisten journalistischen Medien ihr Publikum in der Erweiterung ihrer Medienkompetenz nicht oder zu wenig unterstützt haben, sind Social Media ein relevanter und zumeist illegitimer Konkurrent geworden, der aber nicht das leistet, was Wissenschaftsjournalismus in journalistischen Medien leistet, dort aber nun zunehmend bedroht ist. Wer wird mit etablierter wissenschaftlicher Berichterstattung überhaupt erreicht? Hausjell: Der Großteil des klassischen Wissenschaftsjournalismus spricht ein

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SABINE EDITH BRAUN

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überwiegend gut gebildetes Publikum an. Wissenschaftliche Erkenntnisse komplexitätsreduziert journalistisch so zu vermitteln, dass Absolvent:innen von Hauptschulen sie problemlos verstehen, ist eine große Herausforderung. Die Boulevardmedien des Landes haben in der Sparte bisher nicht geglänzt.

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Foto: Alek Kawa

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Kann man die nicht Erreichbaren mit Formaten wie „Science Busters“ oder via Social Media erreichen? Hausjell: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat mit seinem Programmauftrag die Verpflichtung, wissenschaftliche Erkenntnisse für die gesamte Bevölkerung zugänglich zu machen. Humor erscheint praktikabel als Hebel, um Interesse zu generieren. For-

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Fritz Hausjell: „Die Quoten ständig vor Augen zu haben, verschärft die tägliche Entscheidung zwischen wirtschaftlichen und publizistischen Zielen“

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mate wie „Science Busters“ und „Fake oder Fakt? “ sind gelungene Beispiele, auch wenn man einwenden kann, dass hier sehr stark auf die Naturwissenschaften fokussiert wird. Geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer böten gerade in Zeiten der politischen Wiederbelebung von Mythen, Verschwörungen und Dogmen ein gesellschaftspolitisch gewichtiges Feld. In Social-Media-Kanälen sorgen Algorithmen stur dafür, das bisher genutzte Themenmenü auszuspielen, in dem Wissenschaft praktisch nicht vorkommt. Der Vorteil klassischer Medien liegt darin, dass wissenschaftliche Erkenntnisse auch auf Politik- und Wirtschaftsseiten insbesondere bei Auszeichnungen oder bei Streitthemen wahrgenommen werden können.

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Wissenschaft einfach ignorieren? Politik hat Wissenschaft gern, wenn sie der eigenen Ideologie entsprechende Ergebnisse bringt. Sonst weniger, erklärt Politikberater T H O M A S H O F E R

eim letzten „Eurobarometer“ zum Thema Wissenschaft 2021 positionierten sich die österreichischen Befragten am unteren Ende einer Skala bei der Einschätzung von positiven und negativen Eigenschaften, die sie Forschenden zuordnen sollten. Diese seien für 31 Prozent der österreichischen Befragten „arrogant“ (EU-27: 28 Prozent), für 33 Prozent „engstirnig“ (EU-27: 23 Prozent) und für 19 Prozent „unmoralisch“ (EU-27: 16 Prozent) Woher kommt diese schlechte Bewertung? Der Politikberater Thomas Hofer erklärt es so: „Sehr verallgemeinernd kann man sagen, dass Wissenschaft von Parteien dann geschätzt wird, wenn sie die eigene Position vermeintlich untermauert. Gibt es einen potenziellen Konflikt, stehen wissenschaftliche Erkenntnisse dem entgegen, wie man sich positionieren will, kommt Wissenschaft dann schnell unter Druck und wird auf die politische Bühne gezerrt. Das haben wir bei Covid gesehen, wo Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehr stark auch zu Zielscheiben wurden.“ Warum tut sich die österreichische Politik mit der Wissenschaft so schwer? „Wir haben nicht nur in Österreich mittlerweile das Problem, dass politische Vermittlung immer emotionaler wird. Zahlen, Daten und Fakten werden in so einem Umfeld an den Rand gedrängt. Den Extremfall dieser Entwicklung erleben wir aktuell in den Vereinigten Staaten, wo etwa Ex-Präsident Donald Trump völlig faktenbefreit ‚argumentieren‘ kann und trotzdem einen nicht geringen Teil der Bevölkerung hinter sich weiß. Emotionen mit Fakten zu kontern ist immer schwer. Vielleicht auch deshalb gehen manche in der Wissenschaft auch diesen Weg und werden selbst zu Aktivistinnen und Aktivisten, um auf ihre Erkenntnisse gemäß der geltenden Medienlogik hinzuweisen. Im Umkehr-

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Thomas Hofer, Politikberater, Fellow am deutschen Institut für Medien- und Kommunikationspolitik in Berlin

Gibt es überhaupt wissenschaftliche Themen, die von der Politik in adäquater Weise aufgegriffen werden? „Die Wissenschaft wie ja auch zuletzt die Justiz wurden immer weiter auf das politische Spielfeld gezerrt“, sagt Hofer. Analog würde den Akteur:innen auch in Zukunft wohl schneller eine politische Motivation unterstellt: „Es war bei Covid so, dass Virologinnen oder Epidemiologen als Teil einer Verschwörung gezeichnet wurden. Damit muss Wissenschaft umgehen können. Sie muss aber in ihrer Kommunikation auch klar bleiben. In der Wissenschaft ist es eben selten so, dass es, wie in der Politik oft propagiert, absolute und für alle Zeiten feststehende Weisheiten gibt. Man gibt seriös Auskunft über den Forschungsstand und benennt auch das, was man noch nicht weiß. Das ist der seriöse Zugang der Wissenschaft. In der Politik dominieren die einfachen Lösungen, jedenfalls in der Kommunikation. Die Realität hält damit ohnehin nicht Schritt.“ Was dann auf politischer Seite für den Aha-Effekt sorge: „Politisch Handelnde sind oft baff, erstaunt oder verärgert, wenn sie in der wissenschaftlichen Politikberatung als Entscheidungsgrundlage von der Wissenschaft eben nicht die drei Bullet-Points bekommen, die sie zum Verkauf brauchen,

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schluss verstärkt das dann auch wieder die Attacken auf sie. Das können wir beim Thema Klimapolitik verstärkt sehen.“ Am Klimathema zeigt sich also, dass ein wissenschaftliches Thema zum Politikum werden kann. Aber wo genau liegt der Punkt, wo es kippt? „Generell ist es natürlich auch so, dass Themen umso umstrittener sind und emotionaler abgehandelt werden, je wesentlicher sie für eine Wahlentscheidung wichtiger politischer Zielgruppen sind“, sagt Hofer. „Das Thema Migration etwa beherrschte den Wahlkampf 2017. Und da ist klar, dass das ein Politikum ist. Ähnlich war es mit dem Klimathema 2019 bei der Wahl. Und wie verpolitisiert das Sachthema Covid wurde, haben wir ab dem Frühjahr 2020 alle gesehen.“

Foto: Alek Kawka

SABINE EDITH BRAUN


Illustration: Georg Feierfeil

Foto: Alek Kawka

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sondern komplexere Entscheidungsgrundlagen.“ Liegt die Lösung darin, mehr Personen aus der Forschung in politische Verantwortung zu bringen? Oder schadet das dem wissenschaftlichen Blick? „Es ist nicht so, dass sich Wissenschaftler:innen als politische Akteure über die politische Logik hinwegsetzen können. Sie ist sehr dominant. Und viele versuchen den Wechsel ja auch nicht. Heinz Faßmann war etwa einer, der versucht hat, seinen beruflichen Charakter beizubehalten. Aber mit denselben Prinzipien zu arbeiten wie in der Wissenschaft, geht

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Thomas Hofer: „Politisch Handelnde sind oft baff, erstaunt oder verärgert, wenn sie in der wissenschaftlichen Politikberatung als Entscheidungsgrundlage von der Wissenschaft eben nicht die drei Bullet-Points bekommen, die sie zum Verkauf brauchen“

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sich in der Politik schwer aus.“ Der Politikberater fände es wichtig, die Politik wieder ein Stück weit zu versachlichen, auch als Grundlage, um wissenschaftliche Neugier in der Bevölkerung zu erzeugen: „Man müsste ein Stück weit über den eigenen Schatten springen und die Spirale der Emotionalisierung durchbrechen. Das ist leichter gesagt als getan. Trotzdem muss man der Entwicklung gegensteuern. Denn das Ziel kann ja nicht sein, wissenschaftliche Erkenntnisse einfach zu ignorieren, wenn man sie für nicht opportun oder kommunizierbar hält.“

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Wissensfragen sind Wertefragen Die Politikwissenschaftlerin A L I C E V A D R O T zeigt anhand eines internationalen Beispiels, wo wissenschaftspolitische Konfliktlinien verlaufe IN TERVIEW: BARBARA FREITAG

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Wie ist das im Weltbiodiversitätsrat verlaufen? Vadrot: Die Kritik an rein ökonomisch quantifizierter Vorstellung von Biodiversität hat dort dazu geführt, dass man auch indigene und lokale Konzepte und Wissensformen in die Berichte integriert hat. Darüber hinaus wurden auch Forscher:innen aus dem Globalen Süden stärker beteiligt. Außerdem hat man auch andere Felder wie Kultur- und Sozialwissenschaften eingebunden. Es ist daraus eine Tendenz geworden, auch nicht wissenschaftlichem Wissen eine stärkere Rolle zu geben. „ES GING DARUM, AUCH NICHT WISSENSCHAFTLICHEM WISSEN EINE S TÄ R K E R E R O L L E Z U G E B E N “ Wer hat das reklamiert? Vadrot: Vor allem die Länder des Globalen Südens, allen voran Bolivien und viele afrikanische Staaten. Sie argumentieren damit, in der wissenschaftlichen Debatte mangels bestimmter Ressourcen zur Durchführung wissenschaftlicher Forschungen benachteiligt zu sein, jedoch dennoch über eine andere Art von relevantem Wissen zu verfügen, das genauso zur Sprache kommen sollte. Durch diese Praxis wurde auch hinterfragt, wer nun die Expert:innen sind. Gerade findet eine Transformation dessen statt, was legitimes Wissen ist und wer dieses auf der internationalen Bühne repräsentieren soll. Dagegen opponiert haben u. a. die USA, die

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Ausführlich untersucht haben Sie etwa den Weltbiodiversitätsrat, ein zwischenstaatliches Gremium zur wissenschaftlichen Politikberatung. Wieso? Vadrot: Weil dieser Wissenschaft und Politik auf eine besondere Weise verschränkt, denn er wurde vor dem Hintergrund des Weltklimarats, der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), kreiert. Ähnlich wie dieser stellt er ein institutionalisiertes Prozedere bereit, wodurch globale Sachstandsberichte zwischenstaatlich ausgehandelt und verabschiedet werden. Die Berichte werden von den Regierungen in einem komplexen diplomatischen Prozess unter Anwendung des Konsensprinzips Zeile für Zeile verhandelt. Dabei kommt es immer wieder zu Konflikten um Formulierungen, Fakten und Zahlen. Durch meine ethnografische Forschung im Verhandlungsraum kann ich diese Konfliktlinien nachzeichnen und zeigen, wie sie verändern, welches wissenschaftliche Wissen als legitim und relevant angesehen wird und welches nicht. Am Beginn meiner Forschung zum Weltbiodiversitätsrat stand die Frage, ob es ausreicht, Biodiversität ökonomisch abzubilden, oder ob auch alternative Werte der Natur berücksichtigt werden sollen. Es geht um Wertvorstellungen verbunden mit der Frage, welches Wissen relevant ist. Welche Werte hat etwa die Natur, sind das intrinsische Werte, also die Natur als Wert an sich, oder hat sie einen instrumentellen Wert und ist nur eine Ressource?

Alice Vadrot, Assoziierte Professorin für Internationale Beziehungen und Umwelt an der Universität Wien

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Frau Vadrot, wie können wir das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik verstehen? Alice Vadrot: Wenn man Konflikte und Dynamiken verstehen möchte, muss man sich auch das jeweilige Wissenschaftsfeld ansehen. In meiner Tätigkeit als Politikwissenschaftlerin analysiere ich, wie Wissenschaft politisiert oder strategisch genutzt wird, aber auch als Akteurin auftritt. Andererseits schaue ich mir auch an, wie sich das Wissenschaftsfeld entwickelt und wie es beeinflusst wird durch politische Entscheidungen und das Interesse von Staaten.

Wird Biodiversität in der Wissenschaft nicht auch unterschiedlich verstanden? Vadrot: Vor allem in der Frage, wie sie zu messen wäre. So haben wir etwa auch in Österreich bei Weitem kein perfektes Biodiversitätsmonitoring, aber gleichzeitig soll der Weltbiodiversitätsrat auf Grundlage existierender Erkenntnisse internationale Politik anleiten. Hier zeigt sich ein generelles Spannungsfeld, dass nämlich in der Wissenschaft der Dissens zwar ein Motor für Erkenntnis ist, aber sobald innerwissenschaftliche Konflikte nach außen in den öffentlich-politischen Raum geraten, wird Wissenschaft schnell politisiert. Da kann auch eine gewisse Wissenschaftsskepsis das Resultat sein. Das ist ein zentrales Problem.


Illustration: Georg Feierfeil

Foto: Alek Kawka

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in den Verhandlungen ein sehr traditionelles Verständnis von Wissenschaft zeigen, auch aus politischen Gründen. Ein Beispiel: In einem der ersten Berichte des Biodiversitätsrates ging es um die Rolle der Insektenbestäubung im Kontext der globalen Nahrungsmittelproduktion. Der Bericht enthielt Kapitel über den ökonomischen und nicht ökonomischen Wert, was vor allem Bolivien eingefordert hatte. In einem Kapitel wurde der Begriff „biokulturelle Vielfalt“ hineingenommen, um auf das unterschiedliche Verhältnis von Gesellschaften zur Natur hinzuweisen. Die USA verweigerten die Zustimmung und es entstand ein Konflikt, der diesen Bericht fast zu Fall gebracht hat. Die USA argumentierten damit, dass der Begriff

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Alice Vadrot: „Sobald innerwissenschaftliche Konflikte nach außen in den öffentlichpolitischen Raum geraten, wird Wissenschaft schnell politisiert. Da kann auch eine gewisse Wissenschaftsskepsis das Resultat sein. Das ist ein zentrales Problem“

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unwissenschaftlich sei. Wir konnten aber zeigen, dass es auch darum ging, indigenen Bevölkerungen keine Argumente für die Einforderung von Rechten zu ermöglichen. Ich denke, dass alle politischen Prozesse wissens- und datenabhängig sind. Jedoch sind Wissensfragen immer auch Wertefragen und Wissenskonflikte auch Wertkonflikte. Es müsste eine explizitere Debatte geben, wie wir sichere Räume schaffen, damit evidenzbasiertes Wissen möglich ist. Wenn es unterschiedliche Daten und unterschiedliche Interpretationen von Daten und Fakten gibt, muss man verhindern, dass es schnell zur Politisierung kommt oder Wissenschaft instrumentalisiert wird. Es braucht neue Räume, Institutionen und Prozesse .

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Publikationen der ÖFG Eine Auswahl N E U E R E R B Ü C H E R im Umfeld der Forschungsgemeinschaft Band 24 der Reihe des Österreichischen Wissenschaftstages: Modellbildung und Simulation in den Wissenschaften. Hrsg. Wolfgang Kautek, Heinrich Schmidinger, Friederike Wall. 2022, Böhlau Verlag, 176 Seiten

Der Österreichische Wissenschaftstag hatte 2021 „Modellbildung und Simulation in den Wissenschaften“ zum Thema. Modelle als vereinfachte Abbilder realer Zusammenhänge und Entwicklungen dienen, wenn sie mithilfe der Mathematik formuliert werden, oft in Simulationen der Darstellung möglicher Entwicklungen der untersuchten Realobjekte. Dementsprechend sind Modellbildung und Simulation auch Gegenstände komplexer Diskurse und werfen eine Vielzahl an Fragen auf, die sich gerade aktuell zur Covid-19-Pandemie stellen. Im Rahmen der Beiträge im 24. Band der Reihe „Wissenschaft – Bildung– Politik“ werden diese Fragen interdisziplinär diskutiert. Band 23 der Reihe des Österreichischen Wissenschaftstages: Wissenschaft und Aberglaube. Hrsg. Christiane Spiel, Reinhard Neck. 2020, Böhlau, 176 Seiten

Die Beiträge des Österreichischen Wissenschaftstags 2019 setzten sich mit dem Thema des Aberglaubens und mit der damit verbundenen Wissenschaftsfeindlichkeit in interdisziplinärer Weise auseinander. Sie versuchen sich u. a. der Beantwortung folgender Fragen anzunähern: In welchem Verhältnis stehen Wissenschaft und Pseudowissenschaft? Hängen Aberglaube und Überleben zusammen? Wie entsteht Aberglaube und wie wird dieser aufrechterhalten? Wo verlaufen die Grenzen der Wissenschaft?

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Kulturelle Dynamiken/ Cultural Dynamics – Visualisierung. Hrsg. Sabine Coelsch-Foisner und Christopher Herzog. 2020, Universitätsverlag Winter, 296 Seiten

Kritisches Handbuch der österreichischen Politik: Verfassung, Institutionen, Verwaltung, Verbände. Hrsg. Reinhard Heinisch. 2020, Böhlau Verlag, 334 Seiten

Der Band setzt die Bilderflut wissenschaftlicher Evidenzkulturen in Bezug zur Suche nach der Sinnlichkeit und suggestiven Kraft von Bildern. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die Zusammenhänge von eikon und episteme in wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung. Im Mittelpunkt der Beiträge stehen Dynamiken des Herstellens und Wahrnehmens von Bildern und deren Rolle für Wissensproduktion, -dokumentation und -transfer. Zehn Fallbeispiele aus unterschiedlichen Fachgebieten beleuchten das Spannungsfeld von Ästhetik und Epistemik. Im Lichte aktueller Anwendungen hinterfragt der Band die wechselseitige Abhängigkeit von analogen und virtuellen Bildern, die an der Schwelle zu einer Neubewertung von Taktilität im Zeichen der CoronaKrise 2020 besondere Brisanz erfährt.

Wie funktioniert das politische System in Österreich? Warum hat es in den letzten Jahren an Vertrauen eingebüßt? Antworten auf Fragen wie diese zu finden gestaltet sich oft schwierig. Die rechtlichen Grundlagen gelten als schwer verständlich. Und viele politische Weichen werden in informellen Räumen gestellt. Das politische System gleicht einem Rätsel. „Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie“ möchte hier Antworten geben, wissenschaftlich fundiert, aber allgemein verständlich. Es beleuchtet das Regelwerk der Bundesverfassung, die Institutionen des demokratischen Prozesses und die politischen Funktionsweisen der Verwaltung. Vor allem zeigt es Theorie und Wirklichkeit des österreichischen Parteienstaates auf und benennt Reformmöglichkeiten.

Kulturelle Dynamiken/ Cultural Dynamics – For Sale! Kommodifizierung in der Gegenwartskultur. Hrsg. Sabine CoelschFoisner, Christopher Herzog. 2021, Universitätsverlag Winter, 195 Seiten

„For Sale! Kommodifizierung in der Gegenwartskultur“ ist ein Forschungsdokument in einem Wandel, der die Frage aufwirft, ob der Neoliberalismus erneut Resilienz beweisen wird. Der Band befragt, welche ethischen, kulturpolitischen, soziologischen und ästhetischen Perspektiven sich mit dem Verkauf materieller und immaterieller Güter verknüpfen sowie welche Kulturdebatten sich um Finanzkapitalismus und Neoliberalismus im 20. und 21. Jahrhundert entzünden.

Handbuch Außenpolitik Österreichs. Hrsg. Martin Senn, Franz Eder, Markus Kornprobst. 2023, Springer Verlag, 793 Seiten

Dieses Handbuch bietet eine umfassende Analyse der Außenpolitik Österreichs in der Zweiten Republik. Es behandelt die Rahmenbedingungen, Akteure und Prozesse der Außenpolitik und erschließt deren Wesen und Wirkung in verschiedenen Politikbereichen sowie gegenüber Ländern, Regionen und internationalen Organisationen. Das Handbuch ist ein Referenzwerk für die Forschung, ein Einführungswerk für die Lehre und ein Nachschlagewerk für die Praxis in Politik, Verwaltung und Gesellschaft.

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