ÖFG 2022

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# 2 / 2022 ÖFG DRITTE MISSION. POLASCHEK. BUNDESLÄNDER Illustration: Georg Feierfeil / www.schorschfeierfeil.com Universitäre Bildungsideale im Wandel? Wissen. Kompetenzen. Bildung. DAS MAGAZIN DER ÖSTERREICHISCHEN FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT

Wir freuen uns, Sie auch mit der 9. Ausgabe des Magazins der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (ÖFG) wieder über die Initiativen und Aktivitäten der ÖFG im Jahr 2022 zu informieren.

Es erwarten Sie u. a. ein Überblick über unsere bildungs- und hochschulpolitischen Initiativen und Einblicke in das Schaffen von drei unserer fünf Arbeitsgemeinschaften (Seite 12–17).

Als Einstimmung präsentieren wir Ihnen wie immer vier Projekte, die mit Hilfe unseres Förderprogramms „Internationale Kommunikation“ verwirklicht werden konnten (Seite 4–5), sowie die Ergebnisse des diesjährigen ÖFG Workshops (Seite 6–11). Er widmete sich dem in Zeiten der Wissenschaftsskepsis überaus relevanten Thema „Die Dritte Mission von Universitäten. Transfer und Wissensaustausch mit der Gesellschaft“. In diesem Rahmen wurden erstmals auch die ÖFG Preise für Wissenschaftsjournalismus verliehen.

Nach zwei Jahren Corona-Pandemie, und nicht zuletzt aufgrund der damit einhergehenden notwendig gewordenen Veränderungen sehr aktuell, beschäftigte sich der diesjährige Wissenschaftstag aus den verschiedensten Blickwinkeln und Disziplinen mit der Frage „Wissen – Kompetenzen – Bildung. Universitäre Bildungsideale im Wandel?“. Der Wandel unserer Gesellschaften in sozialer, politischer und technologischer Hinsicht beeinflusst auch das Bildungsideal

Reinhold Mitterlehner, Präsident der Österreichischen Forschungsgemeinschaft

unserer Universitäten. Bedarf es diesbezüglich einer Anpassung universitärer Strukturen? Was bedeutet die Digitalisierung für den Bildungsauftrag der Hochschulen? Bereitet das Bildungssystem ausreichend auf die komplexen Herausforderungen der Zukunft vor? Diese und weitere Fragen wurden im Rahmen des Österreichischen Wissenschaftstags in Baden bei Wien behandelt. Um Ihnen einen Einblick zu geben, finden Sie in dieser Ausgabe des Magazins eine umfangreiche Nachbearbeitung der spannenden und vielfältigen Beiträge des Wissenschaftstags (ab Seite 24).

Heinrich Schmidinger, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der ÖFG

Medieninhaber und Verleger: Österreichische Forschungsgemeinschaft Berggasse 25/21, 1092 Wien T: +43/1/319 57 70 E: oefg@oefg.at Druck: Wograndl Druck GmbH 7210 Mattersburg

Wie auch in früheren Ausgaben unseres Magazins baten wir Vertreter:innen aller neun Bundesländer sowie den Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Martin Polaschek, zum Interview und befragten sie zu ihren aktuellen Schwerpunkten im Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungsbereich (Seite 18–23).

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre und freuen uns, Sie bei den nächsten Veranstaltungen der ÖFG begrüßen zu dürfen!

2 ÖFG MAGAZIN 2022
ÖFG IST EINE FORSCHUNGS FÖRDERUNGS EINRICHTUNG, GETRAGEN VON BUND UND LÄNDERN
EDITORIAL DIE
Foto: Hans Ringhofer, David Sailer

Fotos: BOKU, Uni Wien, TU Graz/Lunghammer, Uni Wien, Sissy Furgler, Mozarteum, D. Sailer, , B. Mair, privat, H. Kolarik, Vouk, Puch, W. Skokanitsch, beigestellt

DER WISSENSCHAFTLICHE BEIRAT DER ÖFG

Martin Gerzabek, Univ.-Prof. für Ökotoxikologie und Isotopenanwendung, BOKU Wien

Reinhard Heinisch, Univ.-Prof. für Politikwissenschaften, Universität Salzburg

Bernhard Jakoby, Univ.-Prof. für Mikroelektronik, Universität Linz

Harald Kainz, Univ.-Prof. für Siedlungswasserwirtschaft, Rektor TU Graz

Wolfgang Kautek, Univ.-Prof. für Physikalische Chemie, Universität Wien

Magdalena Pöschl, Univ.-Prof. für Staats- und Verwaltungsrecht, Universität Wien

Oswald Panagl, Univ.-Prof. em. für Sprachwissenschaft, Universität Salzburg

Peter Parycek, Univ.-Prof. für E-Governance, Universität für Weiterbildung Krems

Kurt Scharr, Univ.-Prof. für Geschichte, Universität Innsbruck

Eva Schernhammer, Univ.-Prof. für Epidemiologie, Medizinische Universität Wien

Heinrich Schmidinger, Univ.-Prof. für Philosophie, Universität Salzburg, Beiratsvorsitzender

Christiane Spiel, Univ.-Prof. für Bildungspsychologie und Evaluation, Universität Wien

Barbara StelzlMarx, Univ.-Prof. für Geschichte, Universität Graz

Hans Tuppy, Univ.-Prof. em. für Biochemie, Univ. Wien, ehem. Wissenschaftsminister

INHALT

ÖFG–FÖRDERUNG FÜR DEN NACHWUCHS

Vier Jungforscher:innen, die die ÖFG heuer unterstützte 4–5

ÖFG WORKSHOP: „DRITTE MISSION DER UNIVERSITÄTEN“

Die Frühjahrstagung an der Diplomatischen Akademie Wien 6–11

DIE ARGE DER ÖFG

Zu den ARGEs „Kulturelle Dynamiken“, „Internationale Beziehungen“ und „Digitale Transformation“ 12–17

Friederike Wall, Univ.-Prof. für Unternehmensführung, Universität Klagenfurt

Viktoria Weber, Univ.-Prof. für Biochemie, Universität für Weiterbildung Krems

Susanne WeigelinSchwiedrzik, Univ.-Prof. für Sinologie, Universität Wien

INTERVIEW MIT MINISTER MARTIN POLASCHEK

Über seine wesentliche Agenda für das Jahr 2023 18–19

WISSENSCHAFTSFÖRDERUNG IN DEN BUNDESLÄNDERN

Ziele und Schwerpunkte der Wissenschaftspolitik 20–23

DAS MAGAZINTHEMA: WISSEN.KOMPETENZEN. BILDUNG.

UNIVERSITÄRE BILDUNGSIDEALE IM WANDEL?

Beiträge zum Österreichischen Wissenschaftstag 2022 24–39

Bildung im digitalen Zeitalter 26–27

Neue Qualität in Forschung/Lehre 28–29 Wissenschaftsfreiheit bedroht 30–31

Vielfalt des Schulsystems 32–33 Toleranz, Kitt der Gesellschaft 34–35 So viel Rechnen muss sein! 36–37 Zukunftsfähige Lehrkonzepte 38–39

ÖFG MAGAZIN 2022 3
PUBLIKATIONEN 40

Förderung des internationalen Austauschs

Im Rahmen ihres Förderprogramms „Internationale Kommunikation“ unterstützt die ÖFG vielversprechende JUNGE FORSCHER:INNEN bei überstaatlichen Aktivitäten

Der wissenschaftlichen Community eigene Forschungsergebnisse schon in einer frühen Phase der akademischen Laufbahn präsentieren zu können, kann Weichen stellen. Internationaler Austausch schafft eine Basis für Synergien. Das Förderprogramm „Internationale Kommunikation“ der ÖFG unterstützt darum Kongressreisen, Forschungsaufenthalte und -projekte sowie Publikationen, Vorträge und Posterpräsentationen vielversprechender Nachwuchsforscher:innen, deren Institutionen ihnen das nicht ermöglichen können. Von den jährlich knapp 300 ÖFG-Stipendiat:innen stellen wir vier vor.

Juliane Brandes, Professorin für Musiktheorie an der Universität Mozarteum Salzburg

„Musiktheorie hat sich in den letzten zwanzig Jahren gemausert“, sagt Juliane Brandes. „Sie ist alles andere als ein trockenes Fach.“ Die Disziplin biete eine künstlerisch-handwerkliche Grundlage für Kompositionslehre sowie Interpretationspraxis in historischen Stilen und sei stärker wissenschaftlich ausgerichtet als früher. Dies ergebe eine Fülle spannender Themen an der Schnittstelle zwischen Kunst und Forschung. „Und damit einhergehend ein breites Spektrum an Antworten, aber auch an neuen Fragen, sogar zu KI und computergestützten Arbeitsweisen.“

INTERNATIONALE MASSSTÄBE FÜR DIE MUSIKTHEORIE

Die gebürtige Deutsche, die in ihrer Heimatstadt Freiburg Musik und Germanistik als Lehramt sowie in Basel Theorie der Alten Musik/Komposition studiert und 2017 in Freiburg zur Kompositionslehre der Münchner Schule um Ludwig Thuille promoviert hat, ist freischaffende Musikerin und betreibt als Professorin für Musiktheorie mit ihren Studierenden am Salzburger Mozarteum einen YouTube-Kanal.

Eine ÖFG-Förderung hat es ihr nun ermöglicht, die Lebendigkeit ihres Fachs nach außen zu tragen. „Unser zentrales Organ im deutschsprachigen Raum, die Gesellschaft

für Musiktheorie, veranstaltet jedes Jahr einen internationalen Kongress, den immer eine andere Hochschule ausrichtet“, schildert sie. „Diesen Herbst waren wir an der Reihe.“ Für die Organisation war Brandes hauptverantwortlich. „Wir hatten renommierte internationale Forschende zu Gast, innovative flexible Vermittlungsformate und ein tolles Programm.“ Es sei gelungen zu zeigen, dass die Musiktheorie sich künstlerisch, wissenschaftlich, pädagogisch und institutionell stets neu erfinde. „Das Feedback war überwältigend. Ich denke, wir konnten Maßstäbe setzen.“

Sandra Baltic, Produktmanagerin bei AVL nach Promotion an der Montanuniversität Leoben „Um Bauteile so zu gestalten, dass sie statischen und dynamischen Belastungen standhalten, müssen wir genau verstehen, wie sie darauf reagieren“, sagt Sandra Baltic. Die 29-Jährige hat ihr Diplomstudium in angewandter Mechanik in ihrem Heimatland Kroatien und an der BOKU Wien absolviert, 2021 promovierte sie an der Montanuni Leoben in Materialwissenschaften. Parallel dazu arbeitete sie am Forschungszentrum Materials Center Leoben (MCL).

In einem dort angesiedelten Projekt hat sie ein Computersimulationstool zum „virtuellen Prototyping“ von Aluminiumelektrolytkondensatoren, sogenannten E-Caps, entwickelt. Diese sind in der Automobilindustrie weit verbreitet und gewinnen mit der aufkommenden Elektromobilität an Bedeutung. Versagen sie, liegt die Hauptursache im Anstieg der lokalen Temperatur während des Betriebs, der zu erhöhtem Innendruck führt. Der wiederum kann im schlimmsten Fall den Kondensator explodieren lassen. Baltic hat sich eingehend mit Analysemethoden für das Kondensatordesign und dem Schadensmechanismus auseinandergesetzt. „Mein Modell ermöglicht, den Innendruck kontrolliert an einer speziell dafür konstruierten Sollbruchstelle abzulassen, sodass das Bauteil nicht explodiert.“ Die Ergebnisse

SIMULATIONEN UND MATERIALMODELLIERUNGEN IN HAWAII ERKLÄRT

Juliane Brandes, Universität Mozarteum Salzburg Sandra Baltic, Montanuniversität Leoben
4 ÖFG MAGAZIN 2022 Fotos: privat (2), Fotostudio
Jokesch, Fuchs

wurden in renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht.

Im Mai konnte Baltic, die inzwischen beim Mobilitäts-Technologieunternehmen AVL arbeitet, mit einer ÖFG-Förderung zum „Spring Meeting“ der Materials Research Society nach Hawaii reisen, wo sie ihre Simulationen und Materialmodellierungen erklärte. Vor einem kritischen Publikum für die eigene Forschung geradezustehen, habe ihren Mut gestärkt, erzählt sie. „Und das hochkarätige Feedback ist ebenfalls großartig.“

Johann Hafellner, Assistenzprofessor am Institut für Bauphysik, Gebäudetechnik und Hochbau IBPSC der TU Graz

geleitet. Zusammen mit internationalen Forscher:innen arbeitete der Steirer an der Effizienzsteigerung von Wärmepumpen mit Phasenwechselmaterialspeichern. „Um Spitzenlasten abzudecken oder hohen Strompreisen auszuweichen, müssen Wärmepumpen die Energie genau dann bereitstellen können, wenn sie am dringendsten gebraucht wird.“

Zrinka Kolakovi´c, Postdoc am Institut für Slawistik der Universität Klagenfurt „Obwohl slawische Sprachen relativ gut beschrieben sind, gibt es nicht viele empirische Big-Data-Studien zu Faktoren, die die Variation und den Wandel der Sprache beeinflussen“, sagt Zrinka Kolakovic´. Die aus Vinkovci stammende Kroatin hat an der Universität Zagreb Kroatistik und Pädagogik studiert, ihre Dissertation in Slawischer Philologie/Linguistik realisierte sie in einem binationalen Promotionsverfahrens an den Universitäten Regensburg und Zagreb. Seit 2019 ist sie Postdoc-Assistentin an der Universität Klagenfurt.

AN DER EFFIZIENZSTEIGERUNG VON WÄRMEPUMPEN IN BERKELEY GEARBEITET

„Seit ich mit 14 Jahren in der HTL erstmals auf technischem Niveau mit Hochbau in Berührung kam, brenne ich für diesen Bereich“, sagt Johann Hafellner. Er hat an der Technischen Universität (TU) Graz den Master in Bauingenieurswissenschaften sowie das Doktorat in Technischen Wissenschaften absolviert und ist dort seit 2021 Assistenzprofessor. Trotz der Herausforderungen des Sektors empfinde er seine Tätigkeit in erster Linie als Berufung. „Im Baugewerbe gibt es unglaublich viele Möglichkeiten, auf unsere Mitmenschen und die Umwelt positiven Einfluss zu nehmen: in der Lehre durch Aufklärung, in der Forschung durch die Entwicklung neuer, zukunftsweisender Bauweisen, in der Industrie durch den Fokus auf Nachhaltigkeit und in gemeinnützigen Vereinen durch Hilfestellungen bei internationalen Projekten.“ Wobei er am Hochbau besonders dessen allumfassende Sichtweise schätze. „Sie wirkt dem Trend einer einschränkenden Ausbildung und Forschung und somit der Abhängigkeit einzelner Spezialist:innen voneinander entgegen.“

Im Zuge seiner Habilitation hat er zwischen Juli und Oktober einen dreimonatigen, von der ÖFG unterstützten Forschungsaufenthalt am Lawrence Berkeley National Laboratory in den USA verbracht. Die hochangesehene Einrichtung im kalifornischen Berkeley wird von der University of California

„Mich interessieren vor allem Fälle, für die es zwei oder mehrere konkurrierende Ausdrücke gibt, sei es auf morphologischer oder syntaktischer Ebene.“ Sie hat bereits eine beachtliche Zahl an Publikationen, zwei Monografien und ein Lehrwerk verfasst. „Solche Variationen entstehen nicht zufällig, ich möchte die Gesetzmäßigkeiten herausfinden.“ Mit einer ÖFG-Förderung konnte sie im September nach Bochum zum 14. Deutschen Slawistiktag reisen und ihre Studie zu Variation und Gebrauch zweier Formen des weiblichen Pronominalpronomens für die dritte Person Ak-

STUDIE ZU VARIATION UND GEBRAUCH ZWEIER SPRACHFORMEN VORGESTELLT

kusativ in der Einzahl vorstellen, „ju“ und „je“, was „sie“ entspricht. „Im Lauf der Zeit wurde die ,ju‘-Form durch ,je‘ ersetzt, das ursprünglich die Genitivform war. Dieser Wechsel wurde nicht nur durch intrasprachliche Faktoren, sondern auch durch eine politisch motivierte Sprachplanung gesteuert.“ Die Studie ist Teil ihrer Habilitationsschrift. „Darum spielte die Konferenz für meine Weiterqualifizierung als Wissenschaftlerin eine wichtige Rolle. Sie findet nur alle drei bis vier Jahre statt.“

Johann Hafellner, Technische Universität Graz Zrinka Kolakovic, Universität Klagenfurt
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Georg Feierfeil

Workshop zur Dritten Mission von Universitäten

Nicht zuletzt durch die Covid-19-Pandemie sind neben Forschung und Lehre auch die TRANSFER AKTIVITÄTEN heimischer Hochschulen in den Fokus gerückt

Am 8. und 9. April fanden sich rund 85 Gäste zur diesjährigen Tagung in der Diplomatischen Akademie ein. Begrüßt wurden sie von Akademiedirektor Emil Brix sowie vom Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats der ÖFG, Heinrich Schmidinger. Christiane Spiel von der Universität Wien, die gemeinsam mit Martin Gerzabek von der BOKU Wien den Workshop konzipiert hatte (siehe Interview nächste Seite), leitete thematisch ein. Sie wies insbesondere auf die große Wissenschaftsskepsis sowie auf die durch die Pandemie gestiegene Bedeutung der Wissenschaften hin.

Isabel Roessler vom Centrum für Hochschulentwicklung Gütersloh strich in ihrem Beitrag die zunehmende Bedeutung der Dritten Mission hervor: Forschung und Lehre alleine würden nicht mehr ausreichen, Hochschulen seien zudem aufgerufen, sich für neue Zielgruppen zu öffnen und sich aktiv an der Bearbeitung globaler Herausforderungen zu beteiligen. David Budtz-Pedersen von der Aalborg Universität Kopenhagen arbeitete in seinem Vortrag zentrale Herausforderungen der Globalgesellschaft für die Dritte Mission heraus. Um diese entsprechend zu fördern, müssten Aktivitäten zur Dritten Mission auch entsprechend erfasst und honoriert werden.

Der zweite Teil am ersten Tag stand im Zeichen der vielfältigen Aktivitäten österreichischer Hochschulen und ihrer Herausforderungen im Bereich der Dritten Mission. Den Anfang machten die nicht spezialisierten Universitäten: Ronald Maier, Vizerektor Digitalisierung und Wissenstransfer der

Universität Wien, Tilmann Märk, Rektor der Universität Innsbruck, Martina Merz, Vizerektorin für Forschung der Universität Klagenfurt, und Peter Riedler, Rektor der Universität Graz. Für die spezialisierten Universitäten präsentierten: Brigitte Hütter, Rektorin der Kunstuniversität Linz, Harald Kainz, Rektor der TU Graz, Michaela Fritz, Vizerektorin für Forschung und Innovation der MedUni Wien, und Margarethe Rammerstorfer, Vizerektorin für Lehre und Studierende der WU Wien.

Tag zwei des Workshops startete mit einer facettenreichen Diskussion: Am Podium debattierten Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung, Elmar Pichl, Sektionsleiter Hochschulen am Wissenschaftsministerium, Ulrike Prommer, Präsidentin der FH-Konferenz, Eva SchulevSteindl, Rektorin der BOKU Wien, und Sabine Seidler, Rektorin der TU Wien.

Im Anschluss widmete sich Friederike Hendriks von der TU Braunschweig dem gesellschaftlichen Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnis: Es brauche Sachwissen, um die Plausibilität von Behauptungen überprüfen zu können, genauso wie Wissen um die Funktionsweise des Wissenschaftssystems in der Gesellschaft. Zum Ausklang des Workshops wurde der ÖFG-Preis für Wissenschaftsjournalismus in vier Kategorien verliehen. Basierend auf den Beiträgen und Diskussionen der beiden Tage hat die ÖFG ein Positionspapier erarbeitet. Es enthält eine Reihe von Empfehlungen, die sich an politische Entscheidungsträger:innen, Hochschulen und Wissenschaftler:innen richten. Hier finden Sie das Dokument zum Nachlesen: www.oefg.at/third_mission

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Illustration:

Vergesst jetzt nicht auf die Dritte Mission!

Die Wissenschaftsskepsis ist in Österreich besonders groß. Sehen Sie einen Zusammenhang mit der oft stiefmütterlich behandelten Dritten Mission der Hochschulen?

Martin H. Gerzabek: Wie beim Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 ist die Wissenschaft in Österreich auch während der Covid­19­Krise ihrer Verpflichtung, zu Fragen in der Öffentlichkeit Stellung zu nehmen, gut nachgekommen. Tatsächlich war sie in der Covid­Krise öffentlich so präsent wie schon lange nicht. Das hat auch die Wissenschaftsfeindlichkeit stärker sichtbar gemacht. Das Problem ist zu einem guten Teil der Umgang der Politik mit Wissenschaft und Wissenschaftler:innen. Oft fehlten klare Zielvorgaben der Politik, auf die sich die Aussagen der Wissenschaft beziehen konnten. Zudem wurden Aussagen einzelner ausgewählter Wissenschaftler:innen, manchmal aus dem Zusammenhang gerissen, dazu benutzt, vorgefasste politische Entscheidungen zu unterstützen. Das hat sicherlich dem Bild der Wissenschaft in der Gesellschaft nicht gutgetan. Die Geschehnisse rund um die Pandemie haben deutlich werden lassen, dass eine stärkere Präsenz der Wissenschaft in der Öffentlichkeit die Wissenschaftsskepsis der Gesellschaft nicht notwendigerweise vermindert.

Martin H. Gerzabek, stellvertretender Leiter des Instituts für Bodenforschung (IBF) an der BOKU Wien

Spiel: Einerseits wollten wir die Relevanz des Themas verdeutlichen. Andererseits wollten wir so den unterschiedlichen Hochschulen die Möglichkeit bieten zu zeigen, was sie bereits umsetzen, und damit auch den Austausch zwischen ihnen fördern. Da Universitäten von der öffentlichen Hand finanziert werden, sollten sie auch bereit sein, gesellschaftliche Entwicklungen mitzugestalten und Verantwortung dafür zu übernehmen.

Gerzabek: Die Universitäten genießen ein hohes Maß an Freiheit und erhalten signifikante Budgets von der öffentlichen Hand. Aus beiden Aspekten ergibt sich zwingend die Verpflichtung, sich zu gesellschaftlichen Themen zu Wort zu melden und einen Beitrag zur Lösung der enormen Probleme der Gegenwart zu leisten. Mit der Tagung wollten wir nicht nur darauf aufmerksam machen, sondern auch Lösungswege diskutieren, die zu einem höheren Engagement der Hochschulen in der Gesellschaft führen können.

Lässt sich die Dritte Mission überhaupt von Forschung und Lehre abgrenzen?

Spiel: Das ist weder möglich noch wünschenswert. Die Transferaktivitäten der Hochschulen dürfen nicht von Forschung und Lehre abgegrenzt werden. Denn Transferaktivitäten sollen auf Forschung – und zwar der eigenen – basieren. Im Bereich der Lehre gilt es, die Studierenden im Rahmen entsprechender Lehrveranstaltungen auf Transferaktivitäten und die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung vorzubereiten.

Christiane Spiel: Sicherlich gibt es einen Zusammenhang zwischen Wissenschaftsfeindlichkeit und dem Stellenwert der Dritten Mission der Hochschulen. Aber für die Wissenschaftsfeindlichkeit gibt es vielfältige Gründe. So haben wir in Österreich nur sehr eingeschränkt wissenschaftsbasierte politische Entscheidungen. Wenn schon die Politik die Wissenschaft nicht ernst nimmt, warum sollten es die Bürger:innen tun?

Warum haben Sie die Dritte Mission in den Mittelpunkt des diesjährigen bildungspolitischen Workshops gestellt?

Gerzabek: Die Gestaltung der Curricula, die es den Absolvent:innen ermöglichen sollen, wichtige gesellschaftliche Funktionen zu übernehmen, sind sicher bereits selbst ein Beitrag zur Dritten Mission. Die Weiterbildung, also der universitäre Beitrag zum lebensbegleitenden Lernen, würde ich darum als zentralen Teil der Dritten Mission ansehen. An der Schnittstelle zur Dritten Mission sehe ich ebenso Citizen­Science­Ansätze, genau wie transdisziplinäre Forschungsvorhaben, also Projekte, in denen die Gesellschaft in Form der Betroffenen nicht nur in die Forschungsfrage, sondern auch in

„WIR HABEN
BASIERTE
NUR WENIG WISSENSCHAFTS
POLITISCHE ENTSCHEIDUNGEN“
8 ÖFG MAGAZIN 2022 Fotos: BOKU,
Die Bedeutung der Dritten Mission der Universitäten in den aktuellen Krisen erklären CHRISTIANE SPIEL und MARTIN H. GERZABEK, Initiator:innen des Workshops
Nini Tschavoll

die Forschung selbst einbezogen wird. Beschäftigt sich die Wissenschaft mit Problemen der Gesellschaft und kommuniziert sie dazu, werden die Forschungsfragen selbst geschärft. Somit profitiert die Wissenschaft von der engen Wechselwirkung mit der Gesellschaft. Ohne Forschung und Lehre auf hohem Niveau können die Universitäten ihre Aufgaben in Rahmen der Dritten Mission sicher nicht erfüllen.

Hat die Tagung zum Thema Dritte Mission der Hochschulen Ihre Perspektive auf die Thematik verändert?

Spiel: Sie hat mich in meiner Überzeugung von der Bedeutung der Dritten Mission noch bestärkt. Erfreulicherweise zeigten die Präsentationen aller Hochschulen, dass ihnen die Notwendigkeit und Relevanz der Dritten Mission bewusst ist und sie auch bereits entsprechende Aktivitäten setzen. Was in einigen Bereichen noch ausgebaut werden könnte, wäre die Entwicklung eines hochschulspezifischen Profils der Dritten Mission, das sowohl die Disziplinen als auch das gesellschaftliche und wirtschaftliche Umfeld berücksichtigt. Auch die Sichtbarkeit der Leistungen und Ergebnisse von Aktivitäten im Bereich der Dritten Mission könnte noch erhöht werden: Das würde auch mit dazu beitragen, der Wissenschaftsfeindlichkeit entgegenzuwirken.

Christiane Spiel, Professorin für Bildungspsychologie und Evaluation an der Universität Wien

Wie lassen sich in der aktuellen, auch in finanzieller Hinsicht schwierigen Situation der Hochschulen die Rahmenbedingungen der Dritten Mission verbessern?

Gerzabek: Im Rahmen der Tagung zur Dritten Mission in Baden wurde es tatsächlich sehr transparent, dass die Anerkennung der Leistungen von Wissenschaftler:innen im Rahmen von Aktivitäten der Dritten Mission den wesentlichen Schlüssel darstellt. Fehlt diese Anerkennung – gerade auch im Rahmen der wissenschaftlichen Karriere –, sind die Leistungen also offenbar „nichts wert“, leidet das Engagement der Wissenschaftler:innen dann verständlicherweise. Die verstärkte Aufnahme von Leistungen im Rahmen der Dritten Mission in Habilitations­ und Berufungsverfahren ist dabei ein wichtiger Faktor. Die derzeitige Budgetsituation der Universitäten, die sich seit der Tagung im April 2022 deutlich verändert hat, wird mit Sicherheit zu personeller Ressourcenknappheit führen. Die Lehre ist zu leisten und sicherzustellen. Das bedeutet dann aber auch, dass notgedrungen die Aktivitäten bei der Dritten Mission leiden werden. Daher ist es unumgänglich, die budgetäre Situation der Universitäten zu verbessern, damit sie ihrer wichtigen Rolle gerecht werden können.

Gerzabek: Es war beeindruckend zu sehen, dass es sehr ernsthafte Bemühungen gibt, die Dritte Mission als eine wesentliche Aufgabe der Institutionen zu stärken. Ein Beispiel ist die 2012 gegründete „Allianz Nachhaltiger Universitäten“, die 19 österreichische Unternehmen umfasst. Die Allianz bringt sich im Projekt UniNEtZ aktiv in die Umsetzung der Sustainable Development Goals ein. Einzelne Universitäten haben dabei den Lead für bestimmte SDGs übernommen und koordinieren die Aktivitäten österreichweit. Ein gutes Beispiel für strategisch durchgeführte Aktivitäten im Rahmen der Dritten Mission.

Spiel: Besonders wichtig wird es sein, entsprechende Aktivitäten sowohl von Universitäten als auch von einzelnen Personen mehr wertzuschätzen und besser zu unterstützen. Hier kommt dem Wissenschaftsministerium eine zentrale Rolle zu. Aber die Universitäten sollten sich auch bewusst sein, dass Investitionen in die Dritte Mission nicht nur der Gesellschaft, sondern auch ihnen nützen. Gerade und insbesondere in Zeiten so großer Herausforderungen, wie wir sie derzeit haben. Denn der Austausch mit Akteur:innen aus Gesellschaft und Wirtschaft erleichtert die Identifikation relevanter Fragestellungen und Probleme, die nur in Interaktion zwischen Praxis und Wissenschaft bearbeitet werden können. Außerdem schafft es für Hochschulen die Möglichkeit, damit neue Geldquellen zu erschließen, was gerade in Zeiten drohender Budgetkürzungen sehr hilfreich ist.

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„WISSENSCHAFT PROFITIERT VON ENGER WECHSELWIRKUNG MIT DER GESELLSCHAFT“

Die Dritte Mission ist keine Einbahn

Es werde gerade schwieriger, mit Menschen in einen Dialog zu treten, sagt BRIGITTE HÜTTER, Rektorin der Kunstuniversität Linz

WERNER STURMBERGER

Frau Hütter, stellen sich Fragen der Dritten Mission für eine Kunstuniversität anders als für allgemeine, technische oder medizinische Universitäten?

Brigitte Hütter: Wir haben uns vier Schwerpunkte gesetzt. Erstens: Kunst zeitgenössisch und zukünftig. Das umfasst mit künstlerischen Mitteln thematisierte Dimensionen des Zukünftigen genauso wie die partizipativen Prozesse, die zu dieser Kunst führen. Zweitens: postdigitale Kulturen. Damit meinen wir die Phänomene der Digitalisierung und den Umgang mit digitalen Technologien in der Gesellschaft und an unserem Haus. Drittens: nachhaltige und kritische Gestaltung. Das meint Gestaltung und Design als eigene Wissenskultur, die per se wirtschafts­ und anwendungsnah, aber eben auch kritisch Produktionsprozesse hinterfragend und nachhaltig ausgerichtet ist. Viertens: transformative Forschung und Bildung. Das bedeutet frühkindliche Bildung, Erwachsenenbildung und auch, die Ausbildung von Pädagog:innen sowie kulturwissenschaftliche Forschung im Austausch mit der Gesellschaft zu betreiben. Aktivitäten, die gemeinhin unter Dritte Mission fallen, laufen an unserem Hause und auch an vergleichbaren Häusern nicht losgelöst von der Entwicklung und Erschließung der Künste (EEK), Forschung und Lehre.

Was bedeutet für Sie Dritte Mission?

Hütter: Wir begreifen die Dritte Mission nicht als einseitigen und eindimensionalen Wissenstransfer, bei dem man vorgefertigte Ergebnisse präsentiert. Uns ist es ein großes Anliegen, dass dieser Austausch organisch passiert und lebendig ist. Es geht um die Interaktion mit der Gesellschaft und darum, gesellschaftliche Gegebenheiten aufzugreifen und in Forschung, EEK und Lehre zu thematisieren und so an die Universitäten zurückzubringen. In unserem Fall bedeutet das, diese in künstlerischen Projekten,

gestalterischen Ansätzen oder auch praxisbezogenen Anwendungen zur Diskussion zu stellen. Das begreifen wir als Teil des gesellschaftlichen Auftrags und der gesellschaftlichen Verantwortung von Hochschulen. Dieser Aspekt macht für mich die Dritte Mission im Kern aus. Unsere Lehrenden und Studierenden leben das in ihrem alltäglichen Tun, auch wenn sie selbst das nicht mit diesem Begriff beschreiben würden.

Wie wirken sich die multiplen Krisen auf diese Aktivitäten aus?

Hütter: Die Krisen, mit denen wir aktuell konfrontiert sind, also der Krieg und seine Folgen, die Klimakatastrophe und natürlich die Pandemie und die sozialen Probleme dahinter, treffen Künstler:innen und unsere Studierenden hart. Ein künstlerisches Studium ist keines, das man allein mit Distanzlehre bestreiten kann. Mit großem Einsatz haben wir dafür gesorgt, dass die Studios, Labors, Ateliers und Werkstätten an der Universität vor Ort genutzt werden können. Aktuell stehen wir in Bezug auf die Dritte Mission vor der Herausforderung, dass die Menschen nur schwer erreichbar sind. Das liegt einerseits sicherlich an der Wissenschaftsskepsis, die während der Pandemie deutlich wurde. Es ist aber auch so, dass viele Menschen gerade nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen. Es ist dann verständlicherweise schwierig, ihnen mit Kultur, Ausstellungen, Performances, Konzerten oder anderen Initiativen zu kommen. Die multiplen Schwierigkeiten erschweren es, Menschen für Debatten und Diskurse zu begeistern und sich gemeinsam auf neues, unbekanntes Terrain zu begeben. Diese Form der Auseinandersetzung ist gerade nicht so einfach, weil die persönlichen und gesamtgesellschaftlichen Problemlagen Menschen in ihren privaten Bereich zurückdrängen.

Wie sehr ist die Kunstuniversität Linz von der Teuerung betroffen?

Hütter: Wir wissen, dass gerade an allen Ecken und Enden Mittel fehlen und auch immer mehr Menschen akut von Armut betroffen sind. Wir sind es als kleine Universität mit kleiner Personaldecke gewohnt, effizient zu arbeiten. Aber auch für uns ist irgendwann

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„DER AUSTAUSCH SOLL ORGANISCH PASSIEREN UND LEBENDIG SEIN“
Foto: Gerhard Gruber
Brigitte Hütter, Rektorin der Kunstuniversität Linz

das Ende der Fahnenstange erreicht. Wir sind an den Grenzen der Belastbarkeit angekommen und benötigen dringend mehr Budget, um Lehre, Kunst und Forschung hochwertig fortführen zu können. Unsere Universität ist regional, aber auch international bestens vernetzt, arbeitet zum Beispiel eng mit der Ars Electronica zusammen, betreibt das weltweit sichtbare Valie­Export­Center, ein Labor für Kreative Robotik oder den internationalen Studiengang Fashion and Technology, um nur einige zu nennen. Unsere Aktivitäten in Kunst, Gestaltung und Wissenschaft sind wichtig für unsere Studierenden und Lehrenden, aber vor allem für unsere Gesellschaft. Selbst wenn das jetzt hochtrabend klingt: Wir machen uns für den Stellenwert von Kunst und Kultur in diesem Land stark.

Die Kunstuniversität Linz will sich als ein Ort des unbeschränkten und visionären Denkens sowie als kritische Experimentierzone künstlerisch, gestalterisch und forschend profilieren

Das heißt, man müsste eher versuchen, diese Aktivitäten zu fördern und nicht budgetbedingt zurechtzustutzen, um die Menschen erreichen zu können?

Hütter: Genau so ist es. Das können wir uns aktuell aber nicht leisten. Das heißt aber nicht, dass wir resignieren. Der Universitätsbetrieb läuft nach wie vor auf Hochtouren. Wir sind in der glücklichen Situation, dass Studierende und Lehrende so intrinsisch motiviert sind und mit unglaublich großem Engagement an unsere Dritte­MissionAktivitäten herangehen. Wir entwickeln weiterhin Projekte, um aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen in unterschiedlichen Formen bearbeiten zu können, und kämpfen dafür, all das nicht mit budgetbedingten Vollbremsungen zerstören zu müssen.

Foto: Mark Sengstbratl ÖFG MAGAZIN 2022 11

ARGE Kulturelle Dynamiken

Die Leiterin der ARGE Kulturelle Dynamiken, SABINE COELSCH-FOISNER, über die Entwicklung ihrer ARGE und deren Status quo

Die Arbeitsgemeinschaft Kulturelle Dynamiken beschäftigt sich mit der Erforschung von Prozessen der Formation und Transformation, die die gegenwärtige Kultur und unser Kulturverständnis prägen. Siezeichnet sich durch ihre Inter- bzw. Transdisziplinarität aus. Das Ziel der ARGE Kulturelle Dynamiken ist es, kulturelle Entwicklungen und Prozesse und ihre Zusammenhänge zu verstehen.

Frau Coelsch-Foisner, seit wann besteht Ihre ARGE und wodurch zeichnet sie sich aus?

Sabine Coelsch-Foisner: Die ARGE besteht nun seit fast zehn Jahren. In diesem Jahrzehnt hat sich enorm viel getan. Die „Kulturellen Dynamiken“ stellen Ordnungskategorien dar, mit denen wir Phänomene verstehen und einordnen können. Auch können wir uns selber in der Gegenwart und der Geschichte verorten. Es sind keine abgeschlossenen Kategorien. So lautet unser Zugang, ein Ansatz, den wir definiert haben.

Wie ist die ARGE entstanden, woher kam die Idee?

Coelsch-Foisner: Die Idee, solch eine ARGE zu gründen, kam mir bei einem Wissenschaftstag der ÖFG. Wir hatten noch nie eine übergeordnete kulturwissenschaftliche ARGE. Es war mir immer wichtig, Disziplinen sehr breit zu stecken, und das ist uns mit dieser ARGE wirklich gelungen. Die letzten zehn Jahre waren gelebte Inter- und Transdisziplinarität. Es gab Jahrestagungen in Wien und Habilitationsforen an unterschiedlichen Universitätsstandorten mit deren jeweiligen Schwerpunkten. Dann gibt es noch das internationale PhD-Forum, die Easter School. Die ARGE ist ein großer Gewinn für alle, vor allem dadurch, dass Ideen entstanden sind, die von den unterschiedlichen Mitgliedern und Teilnehmer:innen weitergetragen werden.

Wie haben sich diese Ordnungskategorien über die Jahre entwickelt? Blieben sie konstant oder gab es Veränderungen?

Coelsch-Foisner: Die Gewichtung der Kategorien änderte sich. Durch historische Ereignisse werden sie angeschoben und gewinnen

Sabine CoelschFoisner, Professorin für Englische Literaturwissenschaft und Kulturtheorie an der Universität Salzburg

auf diese Weise eine Brisanz, die sie vorher nicht hatten. Die erforschten Dynamiken sind also nicht etwas, das sich erst in den letzten zehn Jahren ereignet hat, sondern es sind zum Teil solche, die ganz weit zurückgehen wie beispielsweise die Visualisierung, also Bestrebungen, die Welt und das Wissen darüber in Bildern zu fassen. Im Mittelalter und in der Frühmoderne änderten optische Theorien die Weltsicht, heute liefert KI ein neues Wirklichkeitsverständnis. Der digitale Schub angesichts der Pandemie hat neue Dimensionen der Visualisierung ausgelöst.

Wer sind die Mitwirkenden dieser ARGE?

Coelsch-Foisner: Die ARGE besteht aus einer fixen Gruppe an Mitgliedern, die gemeinsam sieben wesentliche kulturelle Prozesse behandeln. Zu Beginn suchte ich an österreichischen Universitäten Kolleg:innen aus. Das waren ein Philosoph, eine Literaturwissenschaftlerin, eine Medizinhistorikerin, ein Ethnologe und ein Theologe. Mit über achtzig Referent:innen wurde jedes Jahr ein neues Thema eröffnet. Die bereits behandelten wurden dabei immer mitgetragen.

Somit sind die Themenbereiche der ARGE sehr vielfältig?

Coelsch-Foisner: Ja, und das hat den Vorteil,

dass Ansätze und Gegenstandsbereiche aus den verschiedensten Disziplinen eingebaut werden können. Das Neue entsteht dadurch, dass Menschen Dinge verbinden. Da ist Kreativität gefragt. Solch eine ARGE fördert das Verständnis über sehr komplexe Inhalte. Besonders spannend ist es, wenn Konzepte unterschiedlich aufgefasst werden, weil jeder aus einer anderen Disziplin kommt.

Wie hat sich die ARGE über die Jahre entwickelt?

Coelsch-Foisner: Im ersten Jahr gab es einige sehr fruchtbare Konzepte. Beispielsweise den Begriff der „Semiophoren“. Er wurde von Krzysztof Pomian, einem Museums- und Sammlungsforscher im Musée de l’Europe in

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Fotos: Visionas, unsplash
„SEMIOPHORISCH“ IST DAS ZENTRALE KONZEPT ZUM VERSTÄNDNIS VON THEATER

Brüssel, das schon länger nicht mehr besteht, geprägt. Semiophoren sind ausgestellte Gegenstände, die als solche eine neue Bedeutung erlangen. Sie werden vom Gebrauchsprozess ausgeschlossen, dekontextualisiert und als Semiophoren rekontextualisiert. Sie haben eine Vermittlerrolle zwischen etwas Vergangenem oder räumlich Fernem und dem Hier und Jetzt. Für mich ist das Semiphorische das zentrale Konzept, um das Theater im Sinne der Produktionsforschung zu verstehen. Es wurde Teil meines Modells der kulturellen Produktionsforschung. Denn auf der Bühne ist alles semiophorisch, die Schauspielerin, die jemand anderen verkörpert,

Auf der Bühne ist alles semiophorisch, wie die Schauspielerin, die jemand anderen verkörpert

oder ein Sessel, der ein Schiffswrack oder die Alpen darstellt.

Was ist der Ausgangspunkt solcher Konzepte, wie kommen sie zustande?

Coelsch-Foisner: Ein Konzept wird aus einer Wissenschaftsdisziplin vorgestellt, oft beiläufig, und wenn ein Forum damit nicht vertraut ist, kann ein Funke überspringen und es in einer anderen Disziplin zu einer neuen Theoriebildung führen – so wird es transdisziplinär. Das funktioniert nicht mit schon sehr scharf definierten Konzepten. Ein weiterer Begriff ist die „vermittelte Zeugenschaft“. Diesen hat Gabi Dolff-

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Bonekämper von der TU Berlin im Rahmen der Memoralisierung im Zuge ihrer Arbeit zu einer Ausstellung über verfolgte Juden vorgestellt. Durch ein Erinnerungsprojekt wurden Passant:innen zu vermittelten Zeugen. Solche Arbeiten haben transdisziplinäres Potenzial. Einerseits wirkt der Begriff der Zeugenschaft dem Vertrautheitsschwund mit der Vergangenheit entgegen, andererseits unterstreicht er die Notwendigkeit sensorischer Vermittlung.

Inwieweit ist es möglich, aktuelle Geschehnisse in solche Konzepte miteinzubeziehen? Coelsch-Foisner: Das ist sehr gut möglich. Beispielsweise habe ich über Theater und Extremismus gearbeitet, über „staging terror“. Terrorakte werden immer wieder in Opernregien behandelt, wie zum Beispiel in Peter Sellars’ „La clemenza di Tito“ bei den Salzburger Festspielen 2017. Ich habe diese Forschungsarbeit bei einer sozialwissenschaftlichen Tagung im letzten Juli vorgestellt. Tatsächlich kam dann jemand zu mir und erzählte über seine Arbeit über die Inszenierung von Terrorismus. Das war der Leiter des Interdisziplinären Instituts für Konfliktund Gewaltforschung in Bielefeld. Solche Querschnittmaterie ist sehr spannend. Ein weiteres Konzept war „Abfall“ (Waste) und die Idee, dass man „Waste“ kulturell denken muss: als „Cultural Detritus“ – ein radikales Umdenken. Wir Menschen definieren, was Abfall ist und was nicht, der Waste-Gedanke steckt also immer schon in der Materie. Archive veranschaulichen das, weil der Wert des darin enthaltenen Materials in dem liegt, was wir daraus machen. Aus diesem Ansatz entwickelten wir mit zehn Universitäten und Institutionen ein Projekt. Es wurde vom FWF nicht zur Begutachtung ausgeschickt, weil eine der Kuratorinnen keine zwei Peer-reviewed-Journalartikel hatte. Das hat uns sehr enttäuscht.

Sind solche Journale in der Kulturwissenschaft überhaupt der passende Maßstab?

Coelsch-Foisner: Das gilt es zu diskutieren, vor allem bei interdisziplinären Forschungsvorhaben. Unterschiedliche Disziplinen haben unterschiedliche Maßstäbe für Exzellenz sowie unterschiedliche Publikationsformate. Da kann es beispielsweise mehr darauf ankommen, wenn man etwas kuratiert, wie viele Menschen man nachhaltig erreicht hat – Stichwort „Dritte Mission“. Die Peer-reviewed-Journalartikel sagen da wenig aus. Es ist so wichtig, Interdisziplinarität zu fördern, nur leider werden dann oft Bewertungen gesetzt, die einer Inter- oder Trans-

disziplinarität im Wege stehen. Oft fehlen Personen, die damit Erfahrung haben.

Welches Konzept oder welcher Ansatz ist für Sie persönlich besonders wichtig?

Coelsch-Foisner: Ich verbinde gern Kunst und Wissenschaft, auch in meiner Forschung zu Theater und Oper. Ich habe beim OLH-Journal in London, einer der führenden Open-Access-Plattformen für kulturwissenschaftliche Forschung, drei Special Collections gegründet. Die erste heißt „Puppets for Action“. Da geht es um Marionetten- und Dingtheater und wie Materielles und unser Körper über Theater mit Objekten neu gedacht werden können. Die zweite heißt „Production Contexts“ und gründet auf meinem Modell zur kulturellen Produktionsforschung. Hier wird neben der semiophorischen Ebene, also dem, was ich auf der Bühne sehe, die genetische Ebene, wie Kostümskizzen oder Inspirationsquellen, d. h. alles, was zur Produktion führt, und das Paratheatrale, also das gesamte Umfeld einer Produktion, beforscht. Schließlich die dritte, „Archival Practices“, die sich der Archivpraxis und den Archivalien widmet. Ich habe selbst über fast zehn Jahre ein aufwendiges DH-Projekt über theatrale Produktionen entwickelt. Anders als in anderen Ländern entstehen an unseren Theatern immer neue Produktionen. Das ist ein enormer Aufwand, aber diese Produktionen werden meist nicht weitergegeben. So habe ich begonnen, künstlerische Materialien wie Bühnen- und Kostümbilder, Regiebücher, Partituren etc. von Künstler:innen aus erster Hand zu sammeln, zu digitalisieren und zu kuratieren. Darauf setze ich meine Energien, weil diese Datenbank namens

ICH SAMMLE KÜNSTLERISCHE MATERIALIEN IN DER DATENBANK

„S.C. CORE: Theatre | Opera | Festival“ einerseits das kulturelle Erbe sichert, andererseits einen enormen Beitrag für die Forschung darstellt. Mit ihr können Produktionen unterschiedlicher Gattungen von verschiedenen Kultureinrichtungen verglichen, künstlerische Werdegänge verfolgt und kreative Prozesse nachvollzogen werden. In der Form ist das neu.

Was macht für Sie die Kulturwissenschaften besonders?

Coelsch-Foisner: Die Kulturwissenschaft ist eine Orientierungswissenschaft und in der Lage, Gewissheiten aufzubrechen. Denn oft ist es so, dass wir nicht die Wirklichkeit sehen, sondern nur unseren Zugang dazu.

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Auch ermöglicht sie Verbindungen zwischen Disziplinen herzustellen und Zusammenhänge zu erkennen. So ist etwa die Bedeutung des kulturellen Stimulus, der ständigen Konfrontation mit Neuem, für gesundes Altern längst erkannt. „Gehen Sie ins Theater“, riet ein Alzheimer-Forscher vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen dem Publikum bei einer meiner ThirdMission-Veranstaltungen.

Wie hat sich die gegenwärtige Pandemie auf das Theater ausgewirkt?

Coelsch-Foisner: Eine Katastrophe für das Theater – das als Modell für alles Analoge

Sammlung des Salzburger Marionettentheaters. Das Foto stammt aus der ThirdMission­Reihe „Atelier Gespräche“ und ist auch das Sujetbild der Open Collection: Production Archives Puppets for Action beim OLH Journal London

dienen kann. Vor der Pandemie hatten wir regelmäßig „Think tanks“, doch eine Ideenentwicklung ist online sehr schwierig. Wenn wir uns digital treffen, ist das Gesichtsfeld eingeschränkt, das schränkt auch das Denken ein. Es fehlt die Spontanität, dies belegen mittlerweile wissenschaftliche Studien. Es fehlen auch die feinen Signale, etwa wie wir bemerken, wenn jemand etwas sagen will und dergleichen. Das Positive daran ist nun, dass wir aus diesem Manko Kapital schlagen können. Wir können das, was wir brauchen, um kreativ zu sein, gezielt umsetzen – in der Forschung und auch in der Lehre.

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Foto: Brigitte Haid

ARGE Internationale Beziehungen

Die ARGE will ÖSTERREICHISCHE AUSSENPOLITIK IN DER ÖFFENTLICHEN WAHRNEHMUNG verankern, und dazu soll ein neues Handbuch helfen

Völkerrecht, Europarecht, Kommunikationswissenschaft, Geschichte, Area Studies, Ökonomie, Politikwissenschaft – aus diesen Forschungsrichtungen stammen jene fünfzehn Personen, die in der Arbeitsgemeinschaft (ARGE) „Internationale Beziehungen“ mitwirken. Ihr Leiter Markus Kornprobst ist an der Diplomatischen Akademie für den Fachbereich „Internationale Beziehungen“ verantwortlich. Damit ist die wichtigste Eigenschaft der ARGE evident: Interdisziplinarität.

Dementsprechend gibt es auch keinen physischen Ort, an dem gearbeitet wird. Die Expertise der ARGE ist auf unterschiedliche Forschungszentren verteilt: auf die Universitäten Wien, Graz, Salzburg und Innsbruck, das OIIP, die ÖAW, die Webster University und andere – sowie die Diplomatische Akademie.

Zentrales Thema der 2020 gegründeten ARGE ist der „friedliche Wandel“: „In den letzten zehn Jahren hat es eine Renaissance von Studien zu diesem Thema gegeben“, sagt Markus Kornprobst. Dies liege unter anderem auch daran, dass die Hegemonie der USA schwindet und nun neue Player wie etwa China ihre Führungsansprüche stellen.

Die Arbeit der Arbeitsgemeinschaft verläuft in drei Phasen. Zuerst geht es um funktionale und regionale Unterschiede in der Weltordnung: Wie sie aufkommen und wie sie zueinander in Beziehung stehen.

In der zweiten Phase, dem Schwerpunkt, geht es um Mechanismen der Veränderung: Wie wird Handeln durch strukturelle Rahmenbedingungen beeinflusst, und wie beeinflusst Handeln diese Rahmenbedingungen? Und wo leiten die handelnden Personen ihre Entscheidungen her? Hier spielt die Wechselbeziehung von Kommunikation und politischen Entscheidungen eine wichtige Rolle.

In der dritten und abschließenden Phase liegt der Fokus einerseits mit der Rüstungskontrolle auf einem funktionalen Teil der internationalen Politik sowie andererseits auf der Frage, wodurch und in welche Richtungen sie sich verändert.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Europa als Beispiel eines regionalen Ordnungs-

Kornprobst, Professor für Internationale Beziehungen an der Diplomatischen Akademie Wien

systems: Welche Player, welche Netzwerke sind in diesem Fall für die Beziehungen von Bedeutung?

Die drei Forschungsperioden werden von einer Reihe interner Workshops und Konferenzen mit Außenwirkung sowie einer Lecture-Serie mit Podiumsdiskussion begleitet. Forschende aus der Praxis wie die Kommunikationswissenschaftlerin Gerit Götzenbrucker, der Historiker Michael Gehler, der Politikwissenschaftler Gerhard Mangott oder die Sinologin Susanne WeigelinSchwiedrzik geben hierzu wichtige Einblicke in ihre Forschungstätigkeit.

Eine dieser Veranstaltungen mit Außenwirkung war etwa die kürzlich erfolgte Präsentation des „Handbuchs Außenpolitik Österreichs“ (Springer Verlag), das von Martin Senn, Franz Eder und Markus Kornprobst herausgegeben wurde. Etwa die Hälfte der an der ARGE Beteiligten hat daran mitgeschrieben.

Wie steht es um die österreichische Außenpolitik? In einem Artikel des in Kürze in der österreichischen „Zeitschrift für internationale Beziehungen“ erscheinenden Sonderhefts zur österreichischen Außenpolitik titeln die Herausgeber „Ehrgeizig und apathisch, prinzipientreu und pragmatisch“. „Das bedeutet, dass es viele Teilbereiche der Außenpolitik gibt, wo sie stärker ist, als die Größe des Landes es vermuten lassen würde“, sagt Kornprobst. Ein Beispiel sei die Humanitäre Rüstungskontrolle. Darunter fallen Vereinbarungen zu konventionellen Waffen wie etwa Minen und Streumunition, die als besonders inhuman gelten, da sie Zivilisten gefährden.

DER AUSSENPOLITIK SIND STÄRKER, ALS MAN VERMUTEN WÜRDE“

Da in der österreichischen Öffentlichkeit, so Markus Kornprobst, wenig über Außenpolitik diskutiert werde, wolle man mit dem Anliegen „Außenpolitik“ auch beim Parlament Aufmerksamkeit erregen. Vergleichende Studien stellen der Öffentlichkeitswirksamkeit der hiesigen Außenpolitik zwar kein gutes Zeugnis aus, aber: „Allein sind wir damit nicht.“ Eine Möglichkeit, dem beizukommen, ist Open Access, also digitale Zugänglichkeit

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Foto: Sybil Bitter
„TEILBEREICHE
Markus

von Publikationen. In Kooperation mit der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, der Diplomatischen Akademie Wien, der Universität Innsbruck und dem Land Tirol wird es das „Handbuch Außenpolitik Österreichs“ auch in digitaler Form für jene geben, die sich die 800 Seiten in Printform nicht leisten können oder wollen.

Ein wichtiges Thema der „Internationalen Beziehungen“ ist die Ukraine. Im Sommer fand dazu eine von der Arbeitsgemeinschaft veranstaltete Diskussion um einen „Vienna Peace Plan“ statt. „Hier geht es um die normative, also um die völkerrechtliche Seite“, sagt Markus Kornprobst. Dies werde in Zukunft eine wichtige Rolle spielen, Stichwort internationales Strafrecht. Bei einem solchen

Friedensplan müssten die Kriegsparteien jedenfalls selbst mitmachen – und mitmachen wollen. Aber ein solches Zeitfenster hat sich noch nicht geöffnet. „Solange die Akteure glauben, dass sie auf dem Schlachtfeld gewinnen können, hat es die Diplomatie schwer“, so Kornprobst.

Vor einer Prognose über den Ausgang des Krieges scheut er zurück, aber man könne eine „plausible Szenerie“ überlegen. Eine solche wäre, dass die Kriegsparteien erkennen, dass Diplomatie etwas bringen kann. Fest steht jedoch: „Es wird keinen Friedensschluss von heute auf morgen geben.“ Weitere Veranstaltungen zur Ukraine, vor allem zur Rolle der Vereinten Nationen, sind für 2023 in Planung.

ARGE Digitale Transformation

Die ARGE Digitale Transformation bewertet Chancen und Risiken und erstellt HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN für Sicherheit und Privatsphäre

Unser Thema ist ein gesellschaftliches, aber man muss die technischen Grundlagen verstehen“, sagt Edgar Weippl zur Arbeitsgemeinschaft Digitale Transformation: Safety, Security & Privacy. Der Professor an der Fakultät für Informatik der Universität Wien ist auch im Security-Forschungszentrum SBA Research tätig. „Wenn wir als Gesellschaft beispielsweise digitale Souveränität wollen, stellt sich die Frage, wie viel Infrastruktur wir in Österreich betreiben. Oder ob wir von anderen Staaten abhängig sein wollen, die uns Dienste und Infrastruktur via Unterseekabel anbieten. Der Großteil der Datentransfers geht nicht über Satelliten, sondern über ein paar Unterseekabel, und die können unterbrochen werden.“

Projekte können vernetzt werden. Zum Digitalisierungsschub durch Corona sagt Weippl: „Plötzlich ging viel, was vorher nicht denkbar war, etwa eine Diplomprüfung online. Man hat sich mit Risikoabschätzung befasst, dabei sollte man mit manchen Anforderungen in der digitalen Welt nicht übertreiben.“

Ein Paradebeispiel seien strenge Unterschriftregelungen mit digitaler Signatur, während in der papierbasierten Welt kaum jemand eine Unterschriftenprobe zur Gültigkeitsprüfung heranzieht.

RESILIENZ WIRD SCHON LANGE GESPROCHEN. ABER WAS PASSIERT, WENN DAS INTERNET AUSFÄLLT?“

Digitalisierung dringt tief in Wirtschaftsprozesse und persönliche Lebensbereiche ein. Das erfordert eine interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft. Daher hat man die Security-Community der Universitäten und FHs um Sozial- und Rechtswissenschaften erweitert. In den halbjährlichen Workshops entsteht Input für Forschungsarbeiten,

Mit Blick in die Zukunft mahnt Edgar Weippl, mehr für Resilienz zu tun: „Unser Telefonnetz etwa ist vom Internet abhängig, vor dreißig Jahren war es das noch nicht. Was passiert, wenn das Internet ausfällt?“ Für Lkw-Fahrer, die Güter an Krankenhäuser liefern, habe man Resilienz mit Offline-Navis oder Straßenkarten geschaffen. Aber große Teile der Wirtschaft nutzen aus Effizienzgründen die Cloud. Sie sollten über die Konsequenzen nachdenken.

Die Arbeitsgemeinschaft macht auch auf den Schutz der Privatsphäre aufmerksam, wobei die zunehmende digitale Zentralisierung Verbesserung bringe, das zeige sich bei den Universitäten: „Früher hatten Lehrende eigene Excel-Tabellen auf ihren Rechnern. Heute ist der Speicherort zentral. Das erleichtert das Abfragen von Studierendendaten nach der DSGVO.“

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Foto: Arnold Pöschl
„ÜBER
Edgar Weippl, Professor für Informatik an der Universität Wien

Vertrauen und Kommunikation stärken

Wissenschaftsminister MARTIN POLASCHEK über seine wesentliche Agenda für das Jahr 2023

Herr Minister, die Universitäten klagen über finanzielle Engpässe. Welche Möglichkeiten bestehen, hier Abhilfe zu schaffen? Martin Polaschek: Leider ist es ja so, dass derzeit alle Lebensbereiche von Teuerung und hohen Energiekosten betroffen sind. Deshalb halte ich es für absolut notwendig, dass wir alle zusammenrücken, um gemeinsam gut durch diese Situation zu kommen. Ich habe mich daher auch dafür eingesetzt, dass die Universitäten zusätzliche Mittel über die regulären 12,3 Milliarden Euro hinaus erhalten, die sie bis 2024 über die Leistungsvereinbarungen bekommen haben. Vorgesehen sind nun weitere 650 Millionen Euro für die beiden Jahre 2023, 2024. Dadurch steigt ihr Gesamtbudget für diese Leistungsvereinbarungsperiode auf fast 13 Milliarden Euro, eine wirklich beachtliche Summe. Damit kann die Arbeit der Universitäten im Jahr 2023 jedenfalls gewährleistet werden. Für das Jahr 2024 können aufgrund der volatilen Situation derzeit noch keine seriösen Vorhersagen getroffen werden. Wir werden das im Laufe des nächsten Jahres bewerten und gemeinsam mit den Universitäten an Lösungen arbeiten. Ich sage aber gleich dazu: So oder so müssen auch die Universitäten als verantwortliche, eigenständige Institutionen ihren Beitrag in dieser angespannten Situation leisten. Diese dürfen aus meiner Sicht keinesfalls auf Kosten der Studierenden, der Qualität ihres Studiums und des wissenschaftlichen Nachwuchses gemacht werden.

Sie haben erste Maßnahmen gesetzt, um Wissenschaft und Forschung einen höheren Stellenwert bei der Bevölkerung zu verschaffen. Was wird nun weiter geschehen?

Polaschek: Wir haben einen umfangreichen Zehn-Punkte-Plan zur Stärkung des Wissenschafts- und Demokratievertrauens erarbeitet, der nun Schritt für Schritt umgesetzt wird. Dazu zählt unter anderem eine Ursachenstudie, an der das Institut für Höhere Studien im Auftrag meines Ressorts bereits arbeitet und deren Ergebnisse im Sommer 2023 vorliegen werden. Parallel laufen die Arbeiten an einer umfassenden Datenbank,

eine Suchmaschine, über die sich sämtliche Wissenschafts- und Demokratievermittlungsangebote nach Zielgruppen und nach Region finden lassen. Darüber hinaus entwickeln wir gerade neue Formate, um Schulen und Forschende noch stärker als bisher zusammenzubringen. Wir analysieren außerdem die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften sowie ganz allgemein die Curricula der Hochschulstudien, um die Wissenschafts- und Demokratievermittlung stärker zu verankern. Und wir überlegen auch, wie wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler besser motivieren können, in die Schulen zu gehen. Dazu braucht es etwa auch die stärkere Zusammenarbeit mit Kommunikationsprofis. Ich kann Ihnen versichern, dass das Thema Wissenschafts- und Demokratievertrauen ganz oben auf meiner Agenda für das Jahr 2023 steht.

Die universitäre Lehre ist durch die Digitalisierung im Umbruch. Welche Maßnahmen trifft das Ministerium, um dabei zu unterstützen? Polaschek: Dieser digitale Transformationsprozess der universitären Lehre ist nichts Neues. Er hat schon in den 1990er-Jahren begonnen und wird seither durch das Wissenschaftsressort nach Kräften unterstützt. Dazu zählen insbesondere die kompetitiven Ausschreibungen meines Ressorts, mit der insbesondere institutionenübergreifende Digitalisierungs- und Infrastrukturprojekte vorangetrieben werden. Seit 2019 ist die Digitalisierung außerdem ausgewiesener Schwerpunkt in den Leistungsvereinbarungen der öffentlichen Universitäten – auch in der aktuellen Periode bis 2024. Allerdings – und darauf zielt Ihre Frage wohl ab – hat sich die Digitalisierung der Lehre durch den Ausbruch der Corona-Pandemie und die damit bedingte plötzliche Umstellung auf Distance Learning massiv verstärkt. Daher legen wir seither einen noch stärkeren Fokus darauf. Dazu haben wir insbesondere einen umfassenden Strategieprozess gestartet. Dieser hat mit einer Studie der Universität

„WISSENSCHAFTS- UND DEMOKRATIEVERTRAUEN STEHEN IM JAHR 2023 GANZ OBEN AUF MEINER AGENDA“

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für Weiterbildung Krems über die Entwicklungen innerhalb der ersten beiden CoronaSemester, im Sommersemester 2020 und im Wintersemester 2020/21, begonnen und mündet nun – nach entsprechenden Empfehlungen der Hochschulkonferenz – in eine Digitalisierungsstrategie bis 2030. Dass sie integrierter Bestandteil des neuen Gesamtösterreichischen Universitätsentwicklungsplans ist, zeigt den zentralen Stellenwert für die Weiterentwicklung der Universitäten.

Im europäischen Innovationsranking liegt Österreich an achter Stelle. Gibt es ministerielle Initiativen, die zu einer noch besseren Platzierung führen können?

Polaschek: Das hochattraktive Forschungssystem in Österreich ist der Grund für diese Platzierung in der Gruppe der sogenannten Strong Innovators. Sie belegt, dass der zielorientierte Weg, den Österreich mit der FTI-Strategie 2030 eingeschlagen hat, bereits fruchtet. Dieser Weg zur Erhöhung von Exzellenz und Wirksamkeit in Forschung

Martin Polaschek, Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung

und Innovation wird daher auch im zweiten FTI-Pakt 2024 bis 2026 entsprechend konsequent fortgesetzt – etwa durch die Weiterführung von „excellent=austria“ und die Sicherstellung der Förderinitiative Quantum Austria sowie die Spin-off Fellowships. Außerdem werden zukünftig Forschungsgruppen in der akademischen klinischen Forschung über die Ludwig Boltzmann Gesellschaft gefördert. Mit dem Austrian Micro Data Center konnten neue Möglichkeiten für die datenbasierte Forschung geschaffen werden. Die Kooperation über Ländergrenzen hinweg ist dabei essenziell, wobei dem Europäischen Forschungsraum eine zentrale Rolle zukommt. Sie sehen: Das Forschungssystem soll auch zukünftig viele wissenschaftliche Entdeckungsreisen ermöglichen. Um dies nachhaltig zu sichern, ist es mir ein Herzensanliegen, die Menschen auf diese – vielleicht weltbewegenden – Entdeckungsreisen mitzunehmen und das Vertrauen in die Forscherinnen und Forscher zu stärken.

Foto: Andy Wenzel ÖFG MAGAZIN 2022 19

Formen der Wissenschaftsförderung

Wie jedes Jahr präsentieren hier die österreichischen BUNDESLÄNDER ihre Fördermaßnahmen zu Wissenschaft und Forschung

Wien: Grundlagenforschung und Wissenschaftsvermittlung

Die Wiener Fortschrittskoalition hat sich das Ziel gesetzt, Wissenschaft noch stärker als Teil der Gesellschaft zu etablieren und die Wissenschaftskommunikation auszubauen.

Mit den im Jahr 2022 vorgestellten Calls zur Wissenschaftsvermittlung in den Wiener Bezirken (zweijährig mit einem Volumen von 1,1 Millionen Euro) und zur Stärkung demokratischer Institutionen (einjährig mit einem Volumen von 600.000 Euro) konnte in diesem Bereich weitere Dynamik ausgelöst werden.

Die im Jahr 2021 von Ulrike Felt erstellte Studie „Die Stadt als Wissensraum“ über den Status quo der Wissenschaftsvermittlung in Wien bildete die Grundlage für die Auslobung. Diese kommt nach gründlicher

Analyse des Angebots zu konkreten Empfehlungen: Die problemzentrierte, interdisziplinäre und interaktive Auseinandersetzung mit Wissenschaft und Technik, besonders für sozio-ökonomisch schlechter gestellte und wenig bildungsaffine Bevölkerungsgruppen, sollte gestärkt werden. Räumlich nahe, niederschwellige Angebote im gesamten Stadtgebiet könnten die bisherigen Vermittlungsaktivitäten ergänzen. Als Stärke wurde das breite und innovative Angebot im Bereich der MINT-Fächer ausgemacht, das besonders bildungsnahe Schichten gut erreicht.

Eine etablierte Form der breiten Wissensvermittlung stellen die „Wiener Vorlesungen“ dar, die digital und hybrid veranstaltet werden und so allen die Möglichkeit geben, relevante Forschungsergebnisse aus erster Hand zu rezipieren. Ein Höhepunkt war im November 2022 die erste Wiener Vorlesung in New York, bei der im österreichischen Kulturforum zum Thema „Digitaler Humanismus“ von einem exzellent besetzten Podium diskutiert wurde. Ein Workshop mit hochkarätigen Wissenschaftler:innen an der Columbia University folgte der Diskussion. Hier konnten Fragestellungen vertieft und interdisziplinäre Beziehungen gestärkt werden.

Ziel des Forschungsschwerpunkts „Digitaler Humanismus“ ist, den Menschen wieder ins Zentrum zu rücken und Handlungssouveränität im digitalen Raum zu erlangen. Dazu setzt Wien auf die Verbindung von Grundlagenforschung, angewandter Forschung, Kunst, Bildung und der aktiven Vermittlung an die Zivilgesellschaft. Wichtiger Partner ist hier der Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds WWTF.

Niederösterreich: Grundstein für eine umfassende Grundlagenforschung Wir sind in Niederösterreich auf einem guten Weg, dank unserer Schwerpunktsetzung auf Wissenschaft, Forschung und Technologie. Sehr oft werden Erkenntnisse der Wissenschaft zu Produkten sowie Forscher:innen zu Unternehmer:innen. Damit wird das Potenzial von Forschung und Entwicklung in Niederösterreich für die Wirtschaft und damit für die Allgemeinheit nutzbar.

Niederösterreich hat es geschafft, eine starke Wissenschaftsachse aufzubauen, die von Wieselburg, St. Pölten, Krems, Tulln und Klosterneuburg bis nach Wiener Neustadt zum Krebsforschungszentrum MedAustron reicht. Das Bundesland Niederösterreich ist mittlerweile eine beliebte Anlaufstelle für Studierende und Wissenschaftler:innen

EINE BELIEBTE ANLAUFSTELLE FÜR STUDIERENDE UND WISSENSCHAFTLER:INNEN

aus der ganzen Welt. Heute forschen über 2.000 Wissenschaftler:innen und 7.000 Studierende an über 200 Forschungseinrichtungen, Technopolen, Universitäten und Fachhochschulen. Bestes Beispiel dafür ist das Institute of Science and Technology Austria, kurz IST Austria, in Klosterneuburg. Die langfristige Finanzierungszusage von Bund und Land ermöglicht, das Institut auf etwa 150 Forschungsgruppen mit 1.000 Wissenschaftler:innen auszubauen. Mit dieser einzigartigen Forschungseinrichtung wurde der Grundstein für eine umfassende Grundlagenforschung gelegt, die in Niederösterreich beheimatet ist und auf die ich als Landeshauptfrau besonders stolz bin.

WISSENSCHAFT NOCH STÄRKER ALS TEIL DER GESELLSCHAFT ETABLIEREN
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Veronica Kaup-Hasler, Stadträtin für Kultur und Wissenschaft in Wien Johanna Mikl-Leitner, Landeshauptfrau von Niederösterreich Fotos: Christian Jobst, Katarina Soskic

Dass sich Niederösterreich so hervorragend entwickelt und österreichweit bei Kaufkraft, Einkommen, Beschäftigung und Produktivität ganz weit vorne liegt, ist auch auf die erfolgreichen Bildungs-, Wissenschaftsund Forschungseinrichtungen im Land zurückzuführen. Jeder Euro, der in diesen Bereich investiert wird, ist eine Investition in die Zukunft unseres Landes. In diesem Sinne wünsche ich unseren Forschungs-, Wissenschafts- und Bildungseinrichtungen für die Zukunft eine gute Entwicklung, damit die großen Humanressourcen unseres Landes auch genutzt werden.

der Wirtschafts- und Forschungsstrategie #upperVISION2030 verknüpft ist, wird an Lösungen gearbeitet.

Forschung & Entwicklung sind der Turbo der Innovationskraft des Standorts. Das Vorjahr brachte mit einem Plus von fast zwanzig Prozent einen neuen Rekord beim Abholen von Fördergeldern des Bundes. Spitzenforschungszentren mit Hauptsitz in Oberösterreich konnten sich auch heuer wieder im bundesweiten harten Förderwettbewerb erfolgreich durchsetzen.

Ein großes Anliegen ist es uns auch, die Themen Bildung, Wissenschaft und Forschung noch stärker in der Gesellschaft zu verankern, indem wir so früh wie möglich mit der Bewusstseinsbildung dafür beginnen und bei den Kindern und Jugendlichen entsprechende Begeisterung entfachen. Dass wir dabei auf einem guten Weg sind, zeigen die Besucher:innenzahlen bei der „Langen Nacht der Forschung“, bei der jährlichen Wissenschaftsgala in Grafenegg oder beim Forschungsfest im Palais Niederösterreich.

EINE NEUE TECHNISCHE UNIVERSITÄT FÜR DIGITALISIERUNG IN OBERÖSTERREICH

Oberösterreich ist bei der Digitalisierung gut aufgestellt und will die Transformation aktiv mitgestalten. So wurde ein Leitprojekt für die nächste Stufe der Digitalisierung im Maschinen- und Anlagenbau gestartet. Auch die neue Universität für Digitalisierung in Oberösterreich, das Institute of Digital Sciences Austria (IDSA), wird zusätzliche Impulse bringen.

Steiermark: ist und bleibt das innovativste Bundesland Österreichs

Oberösterreich: Vorreiter bei klimafitter Industrie werden

Der Klimawandel und die Gestaltung der Energiewende sind große Herausforderungen. Zugleich beschleunigen sie aber auch den nachhaltigen Wandel und sind wesentliche Hebel für den Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit des Innovationsstandorts Oberösterreich. Unser klares Ziel: Oberösterreich soll Vorreiter bei klimafitter Industrie sein.

Unser Bundesland soll sich bis 2030 als Modellregion für Kunststoff-Kreislaufwirtschaft etablieren. Der Weg dorthin wurde von Expert:innen aus Wirtschaft und Wissenschaft erarbeitet und ist mit einer klaren Vision ausgestattet: Bis zum Ende des Jahrzehnts soll der Inhalt des Gelben Sacks zu hundert Prozent kreislauffähig werden. In den Themenfeldern der Roadmap, die mit

Die Steiermark verfügt über ein herausragendes Ökosystem rund um Fachhochschulen, Universitäten, Forschungsinstitutionen und forschungsintensive Unternehmen. Insbesondere aufgrund des guten Zusammenwirkens zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und öffentlicher Hand konnten wir bei der letzten Erhebung der Statistik Austria

EIN VORREITER IN DER ENTWICKLUNG GRÜNER TECHNOLOGIEN

eine Forschungs- und Entwicklungsquote von 5,15 Prozent erreichen. Damit sind und bleiben wir das innovativste Bundesland Österreichs und genießen auch international einen exzellenten Ruf als Forschungsland.

Barbara EibingerMiedl, Landesrätin für Wissenschaft und Forschung in der Steiermark

Ich bin davon überzeugt, dass Forschung und Entwicklung der Schlüssel sind, um die großen Herausforderungen unserer Zeit wie den Klimawandel zu meistern. Seit vielen Jahren sind steirische Unternehmen und Forschungseinrichtungen beispielsweise Vorreiter in der Entwicklung grüner Tech-

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Markus Achleitner, Landesrat für Wirtschaft und Forschung in Oberösterreich Fotos: Hermann Wakolbinger, Isiwal

nologien und können damit auch international reüssieren.

Als Wissenschafts- und Forschungslandesrätin ist es mir ein zentrales Anliegen, durch entsprechende Investitionen in den F&E-Bereich unsere Top-Position zu festigen und den Erfolgsweg als angesehenes Forschungsland fortzusetzen.

Kärnten: Der größte Forschungsreinraum Österreichs

Das Highlight des Kärntner Forschungsjahrs 2022 war die Eröffnung des größten Forschungsreinraums Österreichs am High

NEUE LEHR- UND LERNFORMEN ENTWICKELN UND ERPROBEN

Tech Campus Villach. Auf 1.100 Quadratmetern werden hier die Silicon Austria Labs gemeinsam mit Partner:innen angewandte Forschung auf dem Gebiet der photonischen Systeme und „More than Moore“-Mikrosystem-Technologien bis zur Kleinserienfertigung betreiben. Das Commitment aller Partner:innen zum weiteren Ausbau der Silicon Austria Labs zu einem führenden Player in der außeruniversitären Forschung in Europa ist ungebrochen.

Das Land Kärnten setzt auf zwei Säulen: Innovation und Kooperation. So auch im Bereich der Forschung. Die Silicon Austria Labs sind nur ein Beispiel, weitere sind das Holzforschungszentrum Wood K plus, die Lakeside Labs, das Robotics-Institut der Joanneum Research in Klagenfurt, das Fraunhofer-Innovationszentrum KI4LIFE, der 5G Playground und der Lakeside Science und Technology Park mit Europas größter Indoor-Drohnenhalle. Mit unseren Beteiligungen an bundeslandübergreifenden Clustern und Digital Innovation Hubs stellen wir allen Forschenden in Kärnten Innovationsund Kooperationsnetzwerke zur Verfügung, die gleichzeitig die großen Stärkefelder Kärntens abbilden: elektronikbasierte Systeme, Informationstechnologie, Smart Materials, grüne Technologien und Innovationen im Bereich der Kreislaufwirtschaft.

Einen großen Fokus legt das Land Kärnten auf die (Aus-)Bildung des Forschergeists schon bei den Jüngsten. Im Educational Lab versammeln sich Organisationen, Initiativen und Projekte, die neue Lehr- und Lernformen in den Bereichen MINT, Forschung und Entwicklung, Entrepreneurship sowie Internationalität entwickeln, erproben und äußerst erfolgreich umsetzen.

Gaby Schaunig, Landeshauptmannstellvertreterin und Technologiereferentin in Kärnten

Salzburg: Interdisziplinäre Zusammenarbeit als große Chance

Das Jahr 2022 stand im Zeichen des 400-JahrJubiläums der Paris Lodron Universität Salzburg (PLUS). Es war ein feierlicher Anlass, um auf die Vergangenheit und Geschichte des Wissenschaftsstandorts Salzburg zu blicken. Unsere Verantwortung ist die Gestaltung der Zukunft, und so wurden große Projekte gemeinsam umgesetzt. Zoe Lefkofridi konnte einen mit drei Millionen Euro dotierten EUForschungsauftrag aus dem Programm Horizon Europe einwerben. Dabei wird das Problem „Backlash“ bei der Gleichstellung der Geschlechter untersucht. Gemeint sind damit Rückschritte bei Frauenrechten, wie sie in Ungarn oder Polen bereits sichtbar sind, und deren Auswirkungen auf die Demokratien der EU

Mit dem Wissenschaftsbudget des Landes Salzburg wurden auch heuer wieder Forschungsvorhaben und -infrastruktur finanziert. Es gilt die Vorteile des eher kleinen, aber vielfältigen Wissenschaftsstandorts zu nutzen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist eine große Chance des Wissenschafts- und Forschungsstandorts Salzburg mit seinen sechs Universitäten und Hochschulen, der Landesforschungsgesellschaft Salzburg Research und dem Uniklinikum. Mit Qualität, einem klaren Profil durch Spezialisierung und Fokussierung auf Nischenbereiche, in denen wir eine führende Rolle spielen, verschaffen wir uns einen Wettbewerbsvorteil. Darüber hinaus liegt Salzburg auch inmitten einer großen Forschungsregion der EU, das für Kooperationen bestens geeignet ist. Um diese erfolgreiche Fokussierung fortzusetzen, wurde die Wissenschafts- und Innovationsstrategie Salzburg 2025 überarbeitet, die nun als WISS 2030 die Leitlinien für die Entwicklung des Innovationsstandortes Salzburg festlegt.

PROBLEM „BACKLASH“ BEI DER GLEICHSTELLUNG DER GESCHLECHTER UNTERSUCHEN

Leonhard Schneemann, Landesrat für Forschungsangelegenheiten und Digitalisierung im Burgenland

Burgenland: Unser Ziel – die Erhöhung der Forschungsquote

Das Burgenland hat im Bereich Forschung und Entwicklung in den letzten Jahren einen deutlichen Aufholprozess gestartet. Immerhin nimmt die Forschung als integraler Bestandteil des Zukunftsplans Burgenland einen besonderen Stellenwert ein. Mit gezielten Maßnahmen und Initiativen treiben

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Fortsetzung von Seite 21 Fotos: Rauchenwald, beigestellt, Stefan Wiesinger
Andrea Klambauer, Landesrätin u. a. für Wissenschaft in Salzburg

INNOVATIONEN, UM ARBEITSPLÄTZE IN DER REGION NACHHALTIG ZU SICHERN

wir die Entwicklung des Wirtschafts- und Forschungsstandortes Burgenland voran und arbeiten hart an der Etablierung als Innovationsstandort. Unser klar definiertes Ziel: die Erhöhung der Forschungsquote. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es eines Schulterschlusses zwischen Wirtschaft und Politik. Einer davon ist die Start-up- und Gründer:innen-Initiative SÜDHUB in Güssing. Eine Reihe innovativer Start-ups startet aufgrund der Initiative gerade durch. Erst heuer haben wir mit der Eröffnung des Lowergetikums und des Informatikums weitere Meilensteine gesetzt. Zudem trägt die Installation eines Forschungsbeauftragten im Burgenland – er führt Synergien in wirtschafts- und arbeitsmarkt-, aber auch in bildungspolitischer Hinsicht herbei – erste Früchte. Insgesamt wird laufend in die Forschungsinfrastruktur investiert. Achzig Millionen Euro fließen jährlich im Burgenland in Forschung und Entwicklung. Das ist seit dem EU-Beitritt eine Verzehnfachung.

Gerade in Zeiten der wirtschaftlichen Unsicherheit sind Innovationen wichtig, um die Arbeitsplätze in der Region nachhaltig zu sichern.

Vorarlberg: FH Vorarlberg mit sechs Hochschulen im Regional University Network

Die zentrale Forschungseinrichtung mit fünf Forschungszentren in Vorarlberg ist die Fachhochschule, die zu den forschungsstärksten Österreichs gehört. Angewandte Forschung und Entwicklung erfolgt vor allem in Zusammenarbeit mit regionalen Unternehmen und Organisationen sowie mit internationalen wissenschaftlichen Kooperationspartnern. 2022 wurde mit der regionalen Wirtschaft eine neue Stiftungsprofessur für die digitale Transformation auf den Weg gebracht. Das Forschungsvolumen der FHV betrug im Jahr 2021 rund 3,2 Millionen Euro, wobei rund siebzig Prozent aus Drittmitteln finanziert worden sind.

Die FH Vorarlberg hat mit sechs Hochschulen in Irland, Portugal, den Niederlanden, Ungarn und Finnland das Regional University Network RUN gegründet. Diese Initiative ist eine neue Form der Zusammen-

arbeit und stärkt den Fachhochschulstandort in Vorarlberg.

Weitere wichtige Bausteine sind das Institut für Textilchemie und -physik der Universität Innsbruck in Dornbirn sowie das Institut für vaskuläre Medizin VIVIT im Bereich der Herz- und Gefäßkrankheiten sowie der Arbeitskreis Sozialmedizin im Bereich Public Health. Die Kooperation mit der Hochschule St. Gallen (HSG), welche die Gründung eines HSG-Informatikinstituts in Dornbirn umfasst, und das gemeinsame Forschungs-Joint-Venture mit dem Austrian Institute of Technology (AIT) runden das Forschungsangebot ab. Dies bietet jungen Wissenschaftler:innen hervorragende Möglichkeiten, an innovativen und zukunftsträchtigen Forschungsfeldern zu arbeiten.

Tirol: bei Pharma­ und Medizintechnik im europäischen Spitzenfeld

Tirol ist ein erfolgreicher Forschungs- und Innovationsstandort und soll es auch langfristig bleiben. Deshalb wird die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Wissenschaft forciert. Schließlich ist Innovation auch ein wichtiger Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts und für die Sicherung von Arbeitsplätzen.

Ein Schwerpunkt ist der Bereich Life Sciences. Tirol liegt hier bei Beschäftigungsstand, bei Pharma- und Medizintechnik, bei Wertschöpfung sowie Patenten im europäischen Spitzenfeld. Darüber hinaus blicken wir mit Stolz auf insgesamt acht Universitäten und Fachhochschulen, die auf allerhöchstem Niveau Forschung betreiben.

Das Land Tirol hat dieses Jahr die Forschungs- und Wissenschaftsagentur Tirol GmbH gegründet. Ziel ist, die Synergien der Tiroler Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen zu nutzen und dabei die Vernetzung und Koordination der Einrichtungen im Fokus zu haben. Auch soll der Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis, also Unternehmen, verstärkt werden. Die Agentur dient als Knotenpunkt für die Vernetzung in Bildung und Forschung und soll die Wertschöpfung im Land halten.

Das zentrale Handlungsfeld dieser Aktivitäten ist, Tirol bis 2030 als Forschungsund Wissenschaftsstandort strategisch weiterzuentwickeln und die gezielte Koordination der regionalen Forschungsaktivitäten voranzutreiben.

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Cornelia Hagele, Landesrätin für Wissenschaft, Forschung, Gesundheit, Pflege und Bildung in Tirol Fotos: Granada, lisamathis.at, Birgit Pichler Barbara Schöbi-Fink, Landesstatthalterin in Vorarlberg
DIE FORSCHUNGS- UND WISSENSCHAFTSAGENTUR TIROL GMBH GEGRÜNDET
MIT DER HOCHSCHULE ST. GALLEN EIN INFORMATIKINSTITUT GEGRÜNDET

Wissen. Kompetenzen. Bildung.

Universitäre Bildungsideale im Wandel?

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2022
ÖSTERREICHISCHER WISSENSCHAFTSTAG
ILLUSTRATIONEN: GEORG FEIERFEIL

Souveränität entwickeln

Das sei die Hauptaufgabe der Bildung im digitalen Zeitalter, erklärt MANFRED PRENZEL, Bildungsforscher an der Universität Wien

NATHALIE JASMIN KOCH

Das Bildungssystem sieht sich mit der Herausforderung konfrontiert, junge Menschen auf eine digitalisierte Welt vorzubereiten. Das berufliche wie soziale Leben ist zunehmend von technologischen Wandlungsprozessen geprägt. Auch für das Bildungssystem bedeuten diese Entwicklungen, dem digitalen Zeitalter gerecht werden zu müssen. Faktenwissen verliert dabei an Bedeutung, andere Kompetenzen werden wichtiger.

Bedarf es vor diesem Hintergrund einer Reform der universitären Strukturen? Manfred Prenzel, Bildungsforscher und derzeit Dozent am Institut für Lehrer:innenbildung der Universität Wien, sieht die Hochschulen in der Verantwortung, auf die Digitalisierung zu reagieren: „Wir müssen die Studierenden darauf vorbereiten, digital souverän in der Wissenschaft oder im Berufsleben zu handeln, Technologien zu nutzen und diese oder ihre Anwendungen auch verantwortungsbewusst weiterzuentwickeln.“

In den Pandemiejahren wurden viele Lehrveranstaltungen in virtuelle Räume verlegt. Dabei zeigte sich, dass der soziale Aspekt eine unabdingbare Dimension der Hochschullehre ist und sich nicht verlustfrei ins Digitale übersetzen lässt. Insofern wird auch das Hochschulsystem der Zukunft eher nicht auf Begegnungsräume in der physischen Welt verzichten können. Der per­

Manfred Prenzel, Professor für „Empirische Bildungsforschung mit Bezug zur Lehrer:innenbildung“ , Universität Wien

da mit mehreren Studierenden in einem Team arbeitet. Auch dabei gibt es soziale Kooperationsformen, doch eine Voraussetzung für gute Kooperation ist das Kennenlernen der jeweiligen Menschen, das gemeinsame Sammeln von Erfahrungen in einer echten sozialen Umgebung. Daher sind soziale Lernformen auch für die Universität nach wie vor hochgradig wichtig.“

Digitale Technologien können dazu beitragen, den Hochschulalltag in vielen Punkten einfacher und flexibler zu gestalten. Die Etablierung von Lernplattformen und digitalen Bibliotheken ermöglicht es den Studierenden, Wissensinhalte jederzeit und überall abzurufen. Zudem könnte der digitale Lernraum als Werkzeug dienen, um individuell zugeschnittene Lernstrategien zu entwickeln.

Nutzungsmuster auf digitalen Lernplattformen könnten ausgewertet werden, um den Studierenden ein gezieltes Feedback zu ihren Arbeitsstrategien zu geben. „Das klingt ein bisschen wie Zukunftsmusik. Aber Studierende, die Gefahr laufen, den Anschluss zu verlieren, könnten zum Beispiel durch ein digital unterstütztes System erkannt und dann persönlich kontaktiert werden. Somit könnte ein Stützsystem für bestimmte Studierende bereitgestellt werden. Das hat allerdings auch datenschutzrechtliche Probleme, die man bedenken muss.“

sönliche Austausch unter Studierenden und Lehrenden ist essenziell für das Erlernen bestimmter Kompetenzen.

„Wir lösen selten allein Probleme. Wenn wir mit komplexen Problemen konfrontiert werden, müssen wir das in einem Team angehen. Wir brauchen also kooperative Zugänge, Teamfähigkeit sowie das Know­how, die eigene fachliche Perspektive in einen interdisziplinären Zusammenhang einzubringen und sie transdisziplinär anzuwenden. Ich bin sicher, dass man das nicht in einem individuellen Studium zu Hause über einen Monitor entwickeln kann, selbst wenn man

Allmählich wird die Bereitstellung von Vorlesungen als online abrufbare Videos den linearen Stundenplan ablösen. Diese eröffnen Möglichkeiten, das Studium zeitlich flexibel zu planen und auf Einzelbedürfnisse abzustimmen. Daraus ergeben sich neue Anforderungen an universitäre Infrastrukturen. „Wir brauchen andere Raumkonzepte, weil sich die Studiensituation verändert. Große Hörsäle werden wohl weniger bedeutungsvoll, weil sich herkömmliche Vorlesungen überholt haben. Die vorgetragenen Wissensbestände sind nun zeitlich flexibel digital zugänglich. Wir haben dabei das Problem, dass Studierende, die in einer Präsenzveranstaltung sind und sich danach in einer Onlineveranstaltung einfinden müssen, nicht wissen, von wo aus sie teilnehmen können. Cafés eignen sich nicht dafür. Sehr große Veranstaltungsräume sind auch nicht

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Foto: Faces by Frank
„MIT PROBLEMEN KONFRONTIERT, MÜSSEN WIR DAS IM TEAM ANGEHEN“

passend, stattdessen brauchen wir Räume für Kleingruppen und für individuelles Arbeiten. Räumlichkeiten, in denen man ungestört auch an Onlinekonferenzen teilnehmen kann. So wird sich die universitäre Architektur zukünftig an diese Prozesse anpassen müssen.“

Die Debatte um die Digitalisierung im Bildungssystem wird gelegentlich von einer gewissen Skepsis begleitet. Wie viel Raum gestehen wir digitalen Prozessen zu und inwiefern läuft das Bildungssystem Gefahr, von Technologie dominiert zu werden? „Die analoge Bildungswelt wird durch die Digitalisierung nicht obsolet. Der interessante Punkt ist, wie es die analoge Welt schafft,

„Analoge Bildung wird durch die Digitalisierung nicht obsolet. Interessant ist, wie es die analoge Welt schafft, sich die digitale zu eigen zu machen und darauf zu achten, selbst das wesentliche Bezugssystem zu bleiben“

sich die digitale zu eigen zu machen und deren Möglichkeiten zu nutzen, gleichzeitig aber darauf achtet, selbst das wesentliche Bezugssystem zu bleiben. Was wir auch im Studium noch mehr pflegen müssen, ist ein Bewusstwerden: Was ist wichtig für meine Ziele, für mich selbst als verantwortungsbewussten Menschen? Wo nutze ich Technologien und verhindere, dass ich von diesen Technologien abhängig oder auch gesteuert werde?

Diese wichtige Aufgabe für Einzelpersonen kann die Universität durch die Art, wie sie lehrt, unterstützen. Sie kann dazu beitragen, dass sich diese Souveränität entwickelt, oder sie verhindern.“

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Neue Qualität in Forschung und Lehre

Dies erhofft sich SABINE SEIDLER, Präsidentin der Österreichischen Universitätenkonferenz, durch die Digitalisierung

CLAUDIA STIEGLECKER

Am 11. März 2020 informierte die österreichische Bundesregierung die Bevölkerung, dass im Zuge der sich ausbreitenden Coronavirus-Pandemie der Unterricht an den Universitäten und Fachhochschulen von Präsenz- auf Fernlehre umgestellt wird. Nur wenige Tage danach befand sich Österreich im Lockdown, es galten Ausgangsbeschränkungen und Homeoffice-Empfehlungen. Für Österreichs Studierende und Lehrende wurde damit mehr oder weniger über Nacht der Alltag komplett anders: Gelehrt, gelernt, geprüft und geforscht wurde virtuell, persönlichen Kontakt abseits der digitalen Kanäle gab es anfangs so gut wie gar nicht.

Dieser „disruptive Einschnitt“ habe in weiterer Folge einen Digitalisierungsschub ausgelöst, der „in dieser Intensität und Geschwindigkeit ohne Pandemie niemals stattgefunden hätte“, erklärt Sabine Seidler, Rektorin der Technischen Universität Wien und Präsidentin der Österreichischen Universitätenkonferenz. Der von außen kommende Druck, etwas verändern zu müssen, hat die Hochschulen plötzlich in Handlungsmodus versetzt: „Die Pandemie ist diesfalls einzigartig für die Universitäten, die sich normalerweise stark an tradierten Vorgangsweisen orientieren. Das hat den Vorteil von Kontinuität und den Nachteil, dass sich neue Dinge schwerer durchsetzen.“

Ab Mitte April 2020 öffneten die Universitäten wieder stufenweise ihre Türen. An der TU Wien kehren zuerst die Forscher:innen schrittweise in die Labors zurück. Ab Mai fanden dann auch wieder Laborübungen in Präsenz statt, während andere Lehrveranstaltungen weiterhin in Distanz abgehalten wurden. Bis heute hat sich die Situation noch nicht normalisiert. Die vergangenen zweieinhalb Jahre haben sowohl die Studierenden als auch die Lehrenden verändert.

Obwohl Lehre und Forschung momentan wieder in Präsenz möglich sind, solle man nicht in alte Muster zurückfallen und einfach weitermachen wie vorher, meint Seidler:

„Viele Dinge müssen reflektiert und neu gedacht werden. Es gilt, das Beste aus beiden Welten in die Zukunft mitzunehmen.“ Geht es nach ihr, gehören zum Beispiel übervolle Hörsäle der Vergangenheit an: „Der Einsatz digitaler Instrumente kann hier Lehre ohne qualitativen Verlust ermöglichen.“ Anders sieht es bei Inhalten aus, die eine Interaktion zwischen Studierenden und Lehrenden erfordern, wie etwa in der Kunst: „Das funktioniert virtuell nicht.“

Als eine der größten Herausforderungen im Rahmen der digitalen Lehre hat sich das Abhalten von Prüfungen erwiesen – nicht nur die Frage, wie man Schummeln unterbinden kann, ist dabei ein großes Thema. „Der virtuelle Raum verlangt nach einer anderen Form des Prüfens, die Inhalte müssen anders aufbereitet werden. Das ist ein längerer Prozess und muss sich entwickeln“, sagt Seidler. Rückblickend zeigt sich interessanterweise, dass im ersten Coronajahr mehr Prüfungen als in der Zeit davor durchgeführt wurden: „Schlussendlich darf man aber auch nicht vergessen, dass die Universität nicht nur aus Lehrveranstaltungen und Prüfungen besteht, sondern für die Studierenden auch einen wichtigen sozialen Raum darstellt.“

Den Lehrenden hat der durch die Pandemie ausgelöste Handlungsdruck generell viel abverlangt: „Das bedeutete sehr viel Arbeit, die mit großem Engagement und viel Kreativität gemeistert wurde.“ Gelitten habe die Forschungsarbeit: Promotionszeiten hätten sich ausgedehnt, laufende Projekte seien kostenneutral verlängert worden. Den Grund hierfür sieht Seidler in mangelndem intellektuellen Austausch: „Forschung ist kreative Arbeit. Es werden Ideen entwickelt und diskutiert, und dazu ist persönlicher Kontakt nötig, denn Menschen agieren auch mit dem Körper“, betont sie. „Dieser intellektuelle Mehrwert ist virtuell nicht reproduzierbar.“

Für die Zukunft sieht Sabine Seidler hier einen Mix an Formaten, die die Menschen länger zu Hause lassen. „Routinedinge wie Projektberichte oder Projektmeetings in der Forschung lassen sich gut virtuell durchführen, da ist es nicht unbedingt notwendig, irgendwohin zu reisen“, sagt sie. „Dagegen werden Diskussionen, die Kreativität benötigen, auch künftig in Präsenz stattfinden, damit

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Foto: Raimund Appel
Sabine Seidler, Rektorin der Technischen Universität Wien
GIBT
„ES
VIELE IDEEN, WIR SIND WEIT ENTFERNT VOM GEMÜTLICHEN TROTT“

sich kreative Räume bilden können.“ Grundsätzlich wünscht sie sich, dass mit dem Digitalisierungsschub eine neue Qualität in Forschung und Lehre geschaffen werden kann: „Universitäten können hier gezielt Anreize setzen, Weiterbildungen anbieten, Lehrveranstaltungen neu denken.“ Zu bedenken sei dabei auch, dass verschiedene Fachgebiete unterschiedliche Affinität zu Medien und Computern haben: „Wichtig ist, dass sich alle Beteiligten wohlfühlen und eine Umgestaltung auch wollen. Sonst kann das für alle Seiten schnell frustrierend werden.“

Veränderungen an den Universitäten waren in der Vergangenheit eher mit Weiterentwicklung gleichzusetzen: „Ideen wurden dis-

„Aushandlungsprozesse sind durch den von der Pandemie ausgelösten Handlungsmodus ein Stück weit verloren gegangen. Wir müssen nicht nur wieder zu unserer Diskussionskultur zurückfinden, sondern diese auch weiterentwickeln“

kutiert, neue Überlegungen flossen ein, und häufig kam es so zu einer Lösung, die besser war als die ursprüngliche Idee.“ Diese Aushandlungsprozesse seien durch den von der Pandemie ausgelösten Handlungsmodus ein Stück weit verloren gegangen, sagt Seidler: „Wir müssen nicht nur wieder zu unserer Diskussionskultur zurückfinden, sondern diese auch weiterentwickeln.“ Was die Umgestaltung des Universitätsbetriebs angeht, sieht Seidler die Hochschulen momentan noch in einer dynamischen Phase: „Es gibt sehr viele Ideen, wir sind noch weit entfernt von einem ‚gemütlichen Trott‘. Der Schwung, der darin steckt, ist schön und macht das Ganze sehr spannend.“

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Georg Feierfeil

Meine Wahrheit gegen deine

Die Philosophin MARIA-SIBYLLA LOTTER von der Ruhr Universität Bochum sieht die Freiheit der Wissenschaft bedroht

BRUNO JASCHKE

Maria-Sibylla Lotter, Geschäftsführende Direktorin für das Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum, hält einen Lehrstuhl für Ethik und Ästhetik mit besonderer Berücksichtigung der Philosophie der Neuzeit. Sie beobachtet wie andere seit einem Jahrzehnt eine Veränderung bei den westlichen Universitäten, die das Selbstverständnis als Wissenschaftler:in betrifft: Man versteht die akademische Tätigkeit als ein Instrument, um mehr Gerechtigkeit in die Welt zu bringen. Diese Entwicklung habe Auswirkungen auf die freie Debatte und die Wissenschaftsfreiheit.

Im angelsächsischen Raum ist dieser Prozess seit Längerem im Gang. So forderte 2014 eine Studentin in einem Beitrag für das Campusmagazin The Harvard Crimson „akademische Gerechtigkeit“ statt „akademischer Freiheit“: Wenn eine akademische Gemeinschaft feststellt, dass Forschung stattfindet, die in irgendeiner Weise Unterdrückung fördert, dann sollte diese Forschung nicht weiter durchgeführt werden. Als Beispiel nannte sie die Intelligenzforschung.

Für Begriffe wie „Gerechtigkeit“ und „Unterdrückung“ gilt allerdings, dass man das eine anstrebt und das andere vermeiden möchte, aber auch jede und jeder eine andere Vorstellung davon hat. Als Unterdrücker gilt letztlich derjenige, der eine andere Sicht der Dinge vertritt. Beispielsweise wurde letztes

Jahr in der deutschen Fachgesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft gefordert, einen von den Herausgebern positiv begutachteten Artikel nicht zu publizieren, der sich kritisch und polemisch gegen das Gendern aussprach. Rund 400 Mitglieder unterzeichneten diesen Aufruf.

Wenn in einem Fach nicht mehr kontrovers diskutiert werden kann und die Forschung keine Ergebnisse mehr haben darf, die dem jeweiligen Wunschdenken nicht entsprechen, handelt es sich nicht mehr um Wissenschaft. Oder anders formuliert: Wissenschaft zielt auf Wahrheit bzw. die sich in

der methodischen Prüfung und Hinterfragung jeweils am besten bewährten Hypothesen, nicht auf die jeweiligen Vorstellungen von Gerechtigkeit. Wie konnte das Ideal für so viele Akademiker:innen zweitrangig werden?

Ausgehend von dem französischen Denker Michel Foucault, der wiederum an Nietzsche anknüpft, laufen hier mehrere intellektuelle Entwicklungen zusammen. Nietzsche fragte: Was ist der Nutzen der Wahrheit selbst? Welche Machtinteressen verbinden wir mit der Suche nach der Wahrheit? Foucault griff das auf und betrachtete die Formen des Wissens und der Diskurse als Machttechniken. Wenn die Wahrheitssuche aber auf eine der vielen Weisen reduziert wird, Macht auszuüben, führt das zwangsläufig zur Entzauberung der Wissenschaft als Abenteuer der Ideen und der Entdeckungen.

Wer davon ausgeht, dass es Wahrheit gar nicht gibt, sondern die Unterscheidung von Wahrem und Falschem, von Bewiesenem und Unbewiesenem nur dazu dient, den Einfluss bestimmter Gruppen zu erhalten und andere auszuschließen, wird schwerlich einen Grund erkennen können, die eigenen Vorstellungen vom Gerechten und Ungerechten einer wissenschaftlichen Prüfung zu unterwerfen. Die Radikalisierung der Wahrheitsfrage schlägt so in einen unkritischen Dogmatismus um. Das gilt nicht für Foucault selbst, der die Frage nach der Wahrheit sehr ernst nahm, wie seine letzten Vorlesungen zeigen, sondern für einige der von ihm angeregten kulturwissenschaftlichen Diskussionen, die in sich kreisen und ihre Ideen nicht mehr der Kritik von Andersdenkenden aussetzen.

Zu dieser Entwicklung kam seit den 1980er-Jahren auch noch die von französischen Sprachtheoretikern inspirierte Neigung hinzu, der Sprache eine exorbitante, nahezu magische Macht für die sozialen Verhältnisse zuzuschreiben, während die ökonomischen Wurzeln ungleicher sozialer Verhältnisse aus dem Blick gerieten.

In den angelsächsischen Diskussionen über Hatespeech und Microaggressions richtet sich die Aufmerksamkeit besonders auf die „verletzende Rede“. Unter Hatespeech und Microaggressions werden nicht persönliche Beleidigungen verstanden, sondern

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Foto: Alek Kawka
Maria-Sibylla Lotter, Direktorin für das Institut für Philosophie der RuhrUniversität Bochum EINE FREIE DEBATTE UNTER ANDERSDENKENDEN IST UNERLÄSSLICH

Äußerungen, die von nicht privilegierten Gruppen als sozial marginalisierend, diskriminierend und ausgrenzend interpretiert werden könnten. Die dieser Debatte entspringende, mit Blick auf grobschlächtige Verhaltensweisen durchaus wohltuende Sensibilisierung für die subtilen Formen von Demütigung hat sich ambivalent auf das Debattenklima ausgewirkt. Immer wieder wird argumentiert, dass man bestimmte Debatten gar nicht führen dürfe, weil sich bestimmte Gruppen dann diskriminiert, an den Rand gedrängt, benachteiligt fühlen könnten.

Man erweist jedoch gerade dem Anliegen der Gerechtigkeit einen Bärendienst, wenn man ihm in der Wissenschaft Vorrang vor der

Man erweist dem Anliegen der Gerechtigkeit einen Bärendienst, wenn man ihm in der Wissenschaft Vorrang vor der Suche nach der Wahrheit einräumt

Suche nach der Wahrheit einräumt – wozu eine freie Debatte unter Andersdenkenden unerlässlich ist. Wie der Aktivist für die Rechte von Homosexuellen Jonathan Rauch immer wieder hervorhebt, ist ein rational begründeter Hass – Hass, der falschen Annahmen über die Wirklichkeit entspringt – in der Gesellschaft viel verbreiteter und gefährlicher als ein grundloser Hass. Wer fälschlicherweise annimmt, dass Schwule eine Gefahr für Kinder darstellen, wird sie auch dann fürchten, wenn eine Toleranzpolitik verordnet wird. In all solchen Fällen sind wir auf eine Sozialwissenschaft angewiesen, die über genügend Ansehen verfügt, um solche Vorurteile auszuräumen.

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Illusration: Georg Feierfeil

Was brauchen wir wirklich?

Der Bildungsexperte MICHAEL BRUNEFORTH fordert, die Vielfalt des heimischen Schulsystems zu bewahren, besser zu verstehen und zu nutzen

Was sind die Ziele von Schule? An diese Frage knüpft Michael Bruneforth, Leiter der Abteilung für Wissenschaftliche Services und Forschungsunterstützung am Institut des Bundes für Qualitätssicherung im österreichischen Schulwesen, seine Betrachtungen zum Thema „Bildung und Mobilität“ an: Mobilität zwischen den sozialen Klassen – also Aufstieg durch Bildung – und Mobilität im Schulwesen. Für beide Bereiche fordert er: „Wir müssen uns gemeinsam überlegen, welche Ziele wir als Gesellschaft verfolgen. Welche Qualifikationen brauchen wir für den Arbeitsmarkt und was ist der richtige Mix an Abschlüssen und Qualifikationen, den wir aus dem jetzigen Schulwesen erhalten?“

Gegenwärtig sei Bildung und die Frage nach der sozialen Mobilität sehr eng mit dem Gedanken an den gesellschaftlichen Aufstieg verbunden. „Wer oben ist, will oben bleiben, und wer nicht oben ist, der will den Aufstieg.“ Diese Perspektive von Bildungsaufstieg sei allerdings, so der Statistiker, zu linear und hierarchisch gedacht: „Die Universität steht über der AHS-Matura, diese wiederum über der Lehre und die Lehre über dem Pflichtschulabschluss – das ist die gegenwärtige Wahrnehmung.“

Michael Bruneforth, Senior Education Consultant am Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens

mit verschiedenen Ausbildungswegen und Qualifikationen gleichwertig gelten, reicht dieser Blick auf das Bildungssystem nicht mehr.“

Das steigende Bildungsniveau und die sich ändernde Berufsstruktur der Eltern haben einen starken Einfluss auf die Bildungs- und Berufsentscheidungen der Jugendlichen. Der Anteil mit Lehrabschluss ist um fast zwanzig Prozent gesunken, während mehr als die Hälfte einer Kohorte ein Hochschulstudium beginnt. Bei Frauen liegt der Anteil bei knapp über sechzig Prozent. Die Ausbildungsentscheidungen sind stark von sozialen Wahrnehmungen über mögliche Berufe und Lebensentwürfe bestimmt, die jedoch laut Bruneforth längst überholt seien. „Wir sollten uns fragen, ob diese Wahrnehmungen tatsächlich mit den realen Bedürfnissen der Gesellschaft und dem Arbeitsmarkt übereinstimmen, und ob sich bestimmte Bildungsinvestitionen für die junge Generation auszahlen.“

Das österreichische Bildungssystem biete mit BHS, AHS und dem reichen Angebot der beruflichen Bildung einen vielfältigen Qualifikationsmix, der auch gesellschaftlich von hoher Bedeutung ist. Stichwort: Fachkräftemangel. „Aber statt uns zu fragen, was wir mit dem System erreichen wollen, diskutieren wir stets über den besten Ausbildungsweg für unsere Kinder mit dem höchsten sozialen Status.“

ÜBER FÜNFZIG PROZENT ALLER MATURANT:INNEN KOMMEN VON DEN BHS

Daraus ergibt sich ein Problem: Die Zahl der Hochschulabsolvent:innen steigt rasant an. „Mittlerweile haben wir ein derart hohes Bildungsniveau erreicht, dass aus dieser hierarchischen Perspektive Akademiker:innen nicht weiter aufsteigen, sondern nur mehr absteigen können“, erklärt er. Das bedeute entweder, die totale „Akademisierung“ ist das Ideal der Gesellschaft, oder man müsse auch den Abstieg als Teil des Systems akzeptieren.

Ein Thema, über das nicht gern gesprochen wird. „Im Umkehrschluss heißt das nämlich: Wenn Kinder aufsteigen, müssen andere absteigen. Nur so bleibt das System in Balance. Gehen wir aber von einem Idealzustand der Gesellschaft aus, wo Menschen

Wie schafft man es, dass nicht allein der Universitätsabschluss als der bestpassende Abschluss angesehen wird? Bruneforth sieht eine Möglichkeit darin, die Wahrnehmung des Schulwesens zu stärken: „Wir haben ein Schulsystem, das viele Ausbildungswege bietet. Die öffentliche Diskussion konzentriert sich allerdings stark auf die AHS.“

Dabei zeigen Statistiken, dass über die Hälfte der Maturant:innen in Österreich die Hochschulreife an Berufsbildenden Höheren Schulen (BHS) ablegt. Über fünfzig Prozent dieser Absolvent:innen gehen an die Universität.

„Schulische Verläufe werden durchaus genutzt – auch weiter zur Hochschule. Das bringt uns als Gesellschaft einen besonderen Mix an Menschen mit unterschiedlichem Erfahrungsschatz, den es zu nutzen gilt.“

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Foto: privat

Ein weiterer interessanter Aspekt: 46,2 Prozent der Personen mit Hochschulberechtigung sind den Weg zur Universität über die Mittelschule gegangen und nicht über die Allgemeinbildende Höhere Schule. „Diese unterschiedlichen Wege machen den Kern unseres Bildungssystems aus und werden von fast jedem zweiten Maturanten bzw. jeder zweiten Maturantin beschritten. Die Curricula der Allgemeinbildenden Höheren Schule und der Mittelschule sind ident, weil wir wollen, dass diese Wege weiterhin offen sind und genutzt werden.“

Doch über das Potenzial dieser Durchlässigkeit spreche man selten: „Die gegenwärtige Diskussion beschränkt sich mehr

„Die Diskussion beschränkt sich mehr auf die Sorge der Eltern, wie sie das Kind in die AHS bekommen. Ein sehr verengter Blick auf das System, der die Vielfalt zunehmend gefährdet“

auf die Sorge der Eltern, wie sie das Kind in die AHS bekommen. Ein sehr verengter Blick auf das System, der die Vielfalt zunehmend gefährdet“, gibt Bruneforth zu bedenken. Er hält es außerdem für ein Missverständnis, zu sagen, die Durchlässigkeit des Bildungssystems werde nur genutzt, um nach der Mittelschule noch höhere Abschlüsse zu erreichen. „Das ist kein System der Durchlässigkeit im Sinne der Kurskorrektur, sondern ein System der vielfältigen Wege.“ Jetzt gilt es, die richtigen Fragen zu stellen: Warum haben wir diese Wege? Welche Vorteile bringt dieses System? Und welche Abschlüsse und Qualifikationen brauchen wir, um unsere gesellschaftlichen Visionen zu erreichen?

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Georg Feierfeil

Toleranz ist der Kitt unserer Gesellschaft

Diese These zum gesellschaftlichen Zusammenhalt vertritt STEFFEN KAILITZ vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden

Herr Kailitz, was bedeutet „gesellschaftlicher Zusammenhalt“?

Steffen Kailitz: Das Konzept „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ zu bestimmen gleicht dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln. In der Forschung wird zu Recht beklagt, dass viele und oft unverbundene Ansätze zum Zusammenhalt vorliegen.

Ist der gesellschaftliche Zusammenhalt so wichtig?

Kailitz: Selbstverständlich ist ein gewisser Zusammenhalt wichtig. Es erscheint mir aber als Problem, dass in den Debatten so getan wird, als sei das ein Gut an sich, von dem eine Gesellschaft nie genug haben könne. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist bei näherer Betrachtung kein Wert an sich, da auch Diktaturen nach ihm streben und von ihm zehren. Es kommt also entscheidend darauf an, auf welchen Werten der gesellschaftliche Zusammenhalt aufgebaut wird.

Was passiert, wenn zu wenig da ist?

Kailitz: Wenn eine Gesellschaft keinen Zusammenhalt hat, zerfällt sie. Als Beispiel ließe sich vielleicht das ehemalige Jugoslawien aufführen.

Steffen Kailitz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am HannahArendt-Institut an der TU Dresden

insbesondere in Folge der Fluchtkrise 2015. Dies beobachten wir in Deutschland, Österreich, den USA und anderen Demokratien.

Sie sagen, dass Toleranz so etwas wie der Kitt einer freien Gesellschaft sei. Warum?

Kailitz: Toleranz gegenüber anderen und ihren Werten ist eine Grundanforderung an Menschen in modernen pluralistisch-demokratischen Gesellschaften. Wenn es einen Kitt gibt, der sie zusammenhält, ist es die Toleranz. Sie bedeutet nicht Indifferenz, sondern setzt eine aktive Vertretung der eigenen Werte im Konflikt mit abgelehnten Werten voraus, denen aber nicht die Existenzberechtigung abgesprochen wird. Ein typisches Beispiel ist Toleranz von Anhänger:innen verschiedener Religionen in einer Gesellschaft, obgleich sie gegenseitig ihre religiösen Ansichten für grundfalsch halten. Die Grenzen überschreitet dabei, wer selbst mit seinen Ansichten toleriert werden will, ohne die Ansichten anderer zu tolerieren. Toleranz erfordert also eine Wechselseitigkeit der Toleranz.

Ist Toleranz ein Wert an sich?

Kailitz: Sie ist ein entscheidender Grundwert einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft. Wenn ich gegen Demokratie und Pluralismus bin und wie die Nationalsozialisten oder Kommunisten glaube, das absolut Richtige und Wahre zu kennen, dem alle nur folgen müssen, dann bin ich auch gegen jede Toleranz gegenüber Andersdenkenden.

Worin sehen Sie die größten Gefährdungen in Österreich und Deutschland?

Kailitz: Eine grundlegende Konfliktlinie verläuft entlang der Frage, wie homogen eine Gesellschaft sein muss, um Zusammenhalt zu gewährleisten. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel benannte die Pole dieser Konfliktlinie als Kommunitarismus und Kosmopolitismus. Während ein Lager den Gedanken der Homogenität in den Vordergrund rückt und sich implizit stärker am Begriff der Gemeinschaft als der Gesellschaft orientiert, betont das andere Lager stärker Vielfalt und Pluralität als Grundmerkmal einer demokratischen Gesellschaft. In der gesellschaftlichen Debatte werden die Positionen immer stärker zugespitzt, sodass sie unvereinbar scheinen und politische Lager polar trennen,

Warum ist eine pluralistische Gesellschaft überhaupt erstrebenswert?

Kailitz: Churchill hat gesagt: „Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.“ Dasselbe lässt sich zur pluralistischen Gesellschaft sagen. Sie ist die schlechteste Organisationsform der Gesellschaft, ausgenommen alle anderen. Pluralismus ist sehr anstrengend. Ständig wird der Einzelne mit Meinungen konfrontiert, die er für grundfalsch, wenn nicht sogar für schädlich für die Gesellschaft hält. Wäre es da nicht viel besser, „falsche“ Meinungen einfach auszuschalten? Tatsächlich ist es eben so, dass es das Wahre und Richtige per se nicht gibt, sondern verschiedene Interessen und Meinungen in der Gesellschaft, die

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Foto: Hannah-Arendt-Institut
TOLERANZ IST EIN GRUNDWERT EINER PLURALISTISCHEN DEMOKRATIE

in Konflikten zu einem Ausgleich gebracht werden müssen.

Gibt es eine Korrelation zwischen Demokratie und Toleranz?

Kailitz: Demokratie bedarf der Toleranz. Wie sollten sonst wie in Deutschland Parteien miteinander koalieren, die wie die FDP und Grünen zentrale politische Ziele des anderen für grundfalsch halten.

Führt eine bessere Bildung zu mehr Demokratie?

Kailitz: Es gibt durchaus einen Zusammenhang zwischen einer positiven Einstellung zur Demokratie und besserer Bildung. Umgekehrt schützt aber eine hohe Bildung eben

„Universitäten tun gut daran, sich für Toleranz zu engagieren. Was wir für grundfalsch und gefährlich für den Fortgang der Gesellschaft halten, darf nicht aus dem Diskurs verbannt werden“

nicht vor autoritären, antidemokratischen Einstellungen.

Was können Universitäten machen?

Kailitz: Sie tun gut daran, sich für Toleranz zu engagieren. Was wir für grundfalsch und gefährlich für den Fortgang der Gesellschaft halten, darf nicht aus dem Diskurs verbannt werden. Umgekehrt dürfen die Vertreter:innen von Positionen, denen die meisten in der Gesellschaft kritisch gegenüberstehen, nicht glauben, dass Toleranz bedeute, dass sie nicht kritisiert und mit Gegenargumenten konfrontiert werden dürften. Es gehört auch zur Toleranz, dass die eigenen Werte nachdrücklich vertreten werden.

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Illusration: Georg Feierfeil

Wie Mathe mehr Freude machen kann

DANIELA SCHUSTER

In Großbritannien 43 Prozent, in den Niederlanden dreißig Prozent. So hoch war nach einer Studie aus 2015 der Anteil jener Berufe an der Bruttowertschöpfung, die direkt oder indirekt mit Mathematik bzw. mathematischen Wissenschaften zusammenhängen. „Für Österreich werden die Zahlen ähnlich aussehen“, sagt Michael Eichmair.

Der Mathematiker sieht dies nicht nur unter volkswirtschaftlichen, sondern auch unter gesellschaftlichen und demokratiepolitischen Gesichtspunkten: „Fast die Hälfte der Studierenden ist für mathematikintensive Fächer eingeschrieben, achtzig Prozent brauchen mehr als basale Kenntnisse für einen erfolgreichen Abschluss.“

Fehlen diese Kenntnisse, ist die Drop­outRate hoch. „Das ist sowohl menschlich in jedem einzelnen Fall als auch volkswirtschaftlich eine Katastrophe“, konstatiert Eichmair.

Mathematik sei zudem die Sprache der Wissenschaft und ihr Verständnis eine Voraussetzung, um sauber erarbeitete Erkenntnisse nachzuvollziehen. „Wenn wir in Zukunft eine Wissensgesellschaft sein wollen, dann werden wir ohne Berührungsängste mit der Mathematik arbeiten müssen. Was passiert, wenn das nicht geschieht und Menschen nicht mehr an die exakte Wissenschaft glauben, sehen wir, wenn am Klimawandel oder der Sinnhaftigkeit von Impfungen gezweifelt wird.“

Das Problem: Mathematik gilt vielen Schüler:innen als Angstfach. Für Nachhilfe werden jährlich über 100 Millionen Euro ausgegeben. Dennoch schnitt allein 2020 ein Viertel der Maturierenden bei der Zentralmatura bzw. der standardisierten kompetenzorientierten Diplom­ oder Reifeprüfung (SRDP) mindestens zwei Grade schlechter ab als im Jahreszeugnis. Ein Ergebnis, das nicht allein der Coronapandemie geschuldet war.

„Ein Problem war auch der uneingeschränkte und international einzigartige Technologieeinsatz in der Sekundarstufe 2. In Summe ist die Mathematik nicht mehr das Fach, das man an Hochschulen national und auch international darunter versteht“, sagt Eichmair. Elektronische Hilfsmittel könnten den Kompetenzerwerb unterstützen,

Michael Eichmair, Professor an der Universität Wien, schuf das Projekt „MmF“ als außertourliches DritteMission-Projekt

aber eben nicht an die Stelle der eigentlichen mathematischen Kompetenzen treten, die angestrebt werden.

Mathematikkompetenz, die es für den erfolgreichen Hochschulbesuch braucht, mangelt vielen Schulabgänger:innen trotz Reifezeugnis. Daher hat die „Beratungsgruppe Mathematik“, deren Sprecher Michael Eichmair ist, 2020 auf Ersuchen des damaligen Bildungsministers Heinz Faßmann damit begonnen, weisungsfrei an der Entwicklung möglicher Maßnahmen für die Neupositionierung des Mathematikunterrichts zu arbeiten.

In Schritt eins wurden Lehrpläne und SRDP­Matura angepasst. Die Diskrepanz zwischen Abschlussprüfungs­ und Jahreszeugnisnote sank in Folge auf unter zehn Prozent. In Schritt zwei sollen bis 2026/2027 weitere Veränderungen folgen, etwa eine Zweiteilung der Maturaprüfung in einen Teil mit und einen Teil ohne technische Hilfsmittel.

Die Lehrmaterialien müssen für die gesamte Sekundarstufe überarbeitet werden. Basis dafür sind Erkenntnisse aus der „Beratungsgruppe Mathematik“ und aus Eichmairs Third­Mission­Projekt „Mathematik macht Freude“ („MmF“). Darin können Mathematikstudierende vor Eintritt ins Schulwesen bis zu 150 Stunden Lehrerfahrung sammeln – als Mathematik­Coaches in den Projektförderformaten für Schüler:innen und Studienanfänger:innen. Die nötige Lehrund Sozialkompetenz wird in Lehrveranstaltungen vermittelt und zusätzlich werden eigene Unterrichtsmaterialien entwickelt. Letztere sind auch für bereits an Schulen tätige Pädagog:innen für die Unterrichtsgestaltung frei zugänglich. „Jeden Monat werden 32.000 PDFs abgerufen. Zudem stehen inzwischen 1.600 pädagogisch­didaktisch zusammenhängende Videos online“, berichtet Eichmair.

Das Ziel all dieser Bemühungen ist, eine Art von „Mindestanforderungskatalog“ zu erstellen, an dem sich Schulen, Hochschulen, Studienanfänger:innen und schließlich auch die Politik orientieren.

Ein Best­Practice­Beispiel dazu stammt von der Arbeitsgruppe „Cooperation Schule:Hochschule“ („AG cosh“) aus BadenWürttemberg. Für Österreich arbeitet ein

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Der Professor für Globale Analysis und Differentialgeometrie an der Universität Wien MICHAEL EICHMAIR plädiert: So viel Rechnen muss sein!
Foto: Universität Wien

Team um Eichmair an einem entsprechenden Vorschlag. Unter dem Titel „So viel Rechnen muss sein“ fasst dieser Vorschlag Aufgaben zur Orientierung für jede Schulstufe zusammen.

Eichmair betont, dass es beim Katalog der „AG cosh“ um einen Aushandlungsprozess gehe. Er dient Vertreter:innen von Schulen und Hochschulen dazu, auf Augenhöhe ihre Rollen beim Übertritt zu klären. Es dürfe sich nicht wiederholen, dass Entscheidungen hinsichtlich der mathematischen (Aus­) Bildung an Stakeholder:innen vorbei getroffen werden. „Ich appelliere für eine nähere, nachhaltige Zusammenarbeit von Schulen und Hochschulen in Österreich. Es gibt keine

„Ich appelliere für eine nähere, nachhaltige Zusammenarbeit von Schulen und Hochschulen in Österreich. Es gibt keine einfache Lösung und braucht die Anstrengung und Verantwortung aller Beteiligten“

einfache Lösung und braucht die Anstrengung und Verantwortung aller Beteiligten.“

Anders als in Deutschland gibt es in Österreich keine Bildungsstandards für die allgemeine Universitätsreife. „Der in Deutschland viel beachtete Mindestanforderungskatalog der ,AG cosh‘ ist das Ergebnis eines über Jahre geführten Aushandlungsprozesses, in den Schulen und Hochschulen paritätisch eingebunden wurden.“ Das trage auch zu seiner hohen Akzeptanz bei. Eine Besonderheit, die Eichmair gefällt: „Der Katalog nimmt die Hochschulen in die Pflicht, nicht insgeheim von noch mehr mathematischen Vorkenntnissen bei Studienanfänger:innen auszugehen.“

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Illustration: Georg Feierfeil

Lernen nach der Pandemie

Aus individuellen digitalen Innovationen sollen zukunftsfähige Lehrkonzepte entstehen, fordert PETER PARYCEK von der Universität für Weiterbildung Krems

„Covid war ein Innovationstreiber für die Universitäten. Daraus ergibt sich die Frage: Warum haben wir nicht ohne diese externe Störung schon früher und viel aktiver digitale Technologien in der Lehre eingesetzt?“, sagt Peter Parycek.

Er ist Vizerektor für Lehre, Weiterbildung und digitale Transformation an der Universität für Weiterbildung Krems. Der Spezialist für Rechtsinformatik im öffentlichen Sektor hat auch in der Gründungsphase der Universität in Krems vor mehr als zwanzig Jahren mitgewirkt. Im damaligen „Universitätszentrum für Weiterbildung“ wurden Lehre und Forschung mit der steigenden Notwendigkeit des lebenslangen Lernens kontinuierlich weiterentwickelt.

In Krems sammelt man Erkenntnisse aus der Digitalisierung der wissenschaftlichen Lehre, standardisiert diese und stellt sie zur Verfügung.

Die Universität Krems gestaltet ihre Studienpläne neu. Denn die 2021 beschlossene Novelle des Universitätsgesetzes fordert von Studierenden im Weiterbildungsbereich, die einen Master belegen wollen, ein abgeschlossenes Bakkalaureat. Also eine Angleichung an die europäische Bologna-Struktur mit Bachelor, Master und PhD.

Jenes Hilfskonstrukt, das auch Nichtakademiker:innen zu einem Master zugelassen hat, ist damit Geschichte. Die neue Regelung wertet den Master im Weiterbildungsbereich auf. Allerdings habe, so kritisiert Peter Parycek, die Bologna-Struktur auch die Studien insgesamt stark verschult. Die neuen Programme an der Universtität Krems hingegen ermöglichen mehr Individualisierung. Studierende sollen sich auf einer Lernplattform aus einer Kombination von Möglichkeiten ein eigenes Curriculum zusammenstellen können.

„Mit den digitalen Technologien werden wir diverser“, sagt Parycek. „Früher haben wir womöglich Menschen vom Studium ausgeschlossen, die sich klassischen Präsenzunterricht nicht leisten konnten.“ Auf der technologischen Ebene seien die heimischen Universitäten mittlerweile gut aufgestellt. Alle haben Videokonferenzsysteme

Peter Parycek, Vizerektor für Lehre, wissenschaftliche Weiterbildung und digitale Transformation (CDO) an der Universität für Weiterbildung in Krems

angeschafft oder betreiben Open-SourceLösungen.

Auf dieser technologischen Grundlage soll eine digital gestützte Lehre an der Weiterbildungsuniversität Krems entstehen. Ziel sei dabei nicht, eine Fernlehre zu etablieren, wie sie die Fern-Universität Hagen anbietet, die, gemessen an den Studierendenzahlen, größte Universität im deutschsprachigen Raum. Für die Fernlehre sei nur ein kleiner Prozentsatz an Studierenden geeignet, nämlich jene, die eine hohe Lerndisziplin aufbringen.

„Ich bin nicht für entweder Campus oder Onlineselbststudium – die richtige Mischung wird es ausmachen. Aus beiden Welten muss man das Beste nehmen.“

BETREIBEN DIE DIGITALISIERUNG DER LEHRE WEITER, GEMISCHT MIT PRÄSENZ“

Die Möglichkeiten durch die neuen Technologien seien vielfältig: Klassische Frontalvorlesungen könne man laut Parycek online in hoher Qualität durchführen. Alles bis hin zur Mimik der Vortragenden sei über die Kamera besser erkennbar, als wenn jemand in der letzten Reihe eines Hörsaals am Boden sitzt. Assistent:innen könnten währenddessen Umfragen machen und Fragen clustern. Parycek lobt die Effizienz beim interaktiven Onlineunterricht großer Gruppen: „Für Blockveranstaltungen planen wir Learning Stories über den Tag mit Impuls, Interaktion und Diskussion in Breakout-Rooms am Whiteboard, wo Gruppen Ergebnisse erarbeiten. Das ist hochinteraktiv und in einer Qualität, die in physischen Räumen nur mit hohem Ressourcenaufwand möglich ist.“ Auch die Gruppeneinteilung und das Zurückholen in den gemeinsamen Raum seien viel zeitsparender.

Bei Onlineworkshops werde ein Ergebnis in der gesamten Lerngruppe oft in der halben Zeit geschafft, weil alle viel fokussierter seien. Außerdem helfe Virtual Reality beispielsweise einer französischen Universität dabei, Laborressourcen zu sparen, da die Studierenden schon vorab das Labor virtuell kennenlernen und eine Sicherheitsschulung absolvieren können.

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Foto: Walter Skokanitsch

Dennoch sei ein „Metaverse der Universitäten“ nicht der richtige Weg. Man müsse auch die Nachteile sehen: Nicht praxisorientierte Diskussionen würden online ausgeblendet, denn in der Pause sind alle weg. Niemand mache vor dem Bildschirm Small Talk.

„An den Universitäten sollten daher die Lehrenden ihre eigenen Lehrveranstaltungen mit ihren Learnings aus der Pandemie reflektieren. Auch ich habe begonnen, diese Learnings zu sammeln und Standards abzuleiten, denn die digitalen Innovationen in der Pandemie waren ja nicht Top-Down, sondern individuell getrieben.“

Auch der Bildungsauftrag der Hochschulen ändert sich mit der Vielzahl an Krisen wie

Die Politik ist gefordert, im Sinne von PhysikNobelpreisträger Anton Zeilinger Grundlagenforschung mit gewissen Freiräumen zu schaffen, wobei nicht immer ganz klar sein müsse, was herauskommt

Klima, digitale Transformation oder Geopolitik. Die Fragestellungen werden immer komplizierter und voneinander abhängig.

Die Politik ist gefordert, im Sinne von Physik-Nobelpreisträger Anton Zeilinger Grundlagenforschung mit gewissen Freiräumen zu schaffen, wobei nicht immer ganz klar sein müsse, was herauskommt. Und für Antworten auf komplexe Fragen braucht es für Parycek noch mehr: „Wir brauchen interdisziplinäre Forschung und Problem-Based Learning. Die Universitäten sollen einen Beitrag für die Gesellschaft leisten, und das müssen wir alle gemeinsam angehen. Denn die heutigen Probleme sind nicht nur aus einer Perspektive lösbar.“

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Illustration: Georg Feierfeil

Publikationen der ÖFG

Eine Auswahl NEUERER BÜCHER im Umfeld der Forschungsgemeinschaft

Band 24 der Reihe des Österreichischen Wissenschaftstages: Modellbildung und Simulation in den Wissenschaften. Hrsg. Wolfgang Kautek, Heinrich Schmidinger, Friederike Wall. 2022, Böhlau Verlag, 176 Seiten

Der Österreichische Wissenschaftstag hatte 2021 „Modellbildung und Simulation in den Wissenschaften“ zum Thema. Modelle als vereinfachte Abbilder realer Zusammenhänge und Entwicklungen dienen, wenn sie mithilfe der Mathematik formuliert werden, oft in Simulationen der Darstellung möglicher Entwicklungen der untersuchten Realobjekte. Dementsprechend sind Modellbildung und Simulation auch Gegenstände komplexer Diskurse und werfen eine Vielzahl an Fragen auf, die sich gerade aktuell zur Covid-19-Pandemie stellen. Im Rahmen der Beiträge im 24. Band der Reihe „Wissenschaft – Bildung– Politik“ werden diese Fragen interdisziplinär diskutiert.

Band 23 der Reihe des Österreichischen Wissenschaftstages: Wissenschaft und Aberglaube. Hrsg. Christiane Spiel, Reinhard Neck. 2020, Böhlau, 176 Seiten

Die Beiträge des Österreichischen Wissenschaftstags 2019 setzten sich mit dem Thema des Aberglaubens und mit der damit verbundenen Wissenschaftsfeindlichkeit in interdisziplinärer Weise auseinander. Sie versuchen sich u. a. der Beantwortung folgender Fragen anzunähern: In welchem Verhältnis stehen Wissenschaft und Pseudowissenschaft? Hängen Aberglaube und Überleben zusammen? Wie entsteht Aberglaube und wie wird dieser aufrechterhalten? Wo verlaufen die Grenzen der Wissenschaft?

Kulturelle Dynamiken/ Cultural Dynamics –Visualisierung. Hrsg. Sabine Coelsch-Foisner und Christopher Herzog. 2020, Universitätsverlag Winter, 296 Seiten

Der Band setzt die Bilderflut wissenschaftlicher Evidenzkulturen in Bezug zur Suche nach der Sinnlichkeit und suggestiven Kraft von Bildern. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die Zusammenhänge von eikon und episteme in wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung. Im Mittelpunkt der Beiträge stehen Dynamiken des Herstellens und Wahrnehmens von Bildern und deren Rolle für Wissensproduktion, -dokumentation und -transfer. Zehn Fallbeispiele aus unterschiedlichen Fachgebieten beleuchten das Spannungsfeld von Ästhetik und Epistemik. Im Lichte aktueller Anwendungen hinterfragt der Band die wechselseitige Abhängigkeit von analogen und virtuellen Bildern, die an der Schwelle zu einer Neubewertung von Taktilität im Zeichen der CoronaKrise 2020 besondere Brisanz erfährt.

Kulturelle Dynamiken/ Cultural Dynamics – For Sale! Kommodifizierung in der Gegenwartskultur. Hrsg. Sabine CoelschFoisner, Christopher Herzog. 2021, Universitätsverlag Winter, 195 Seiten

„For Sale! Kommodifizierung in der Gegenwartskultur“ ist ein Forschungsdokument in einem Wandel, der die Frage aufwirft, ob der Neoliberalismus erneut Resilienz beweisen wird. Der Band befragt, welche ethischen, kulturpolitischen, soziologischen und ästhetischen Perspektiven sich mit dem Verkauf materieller und immaterieller Güter verknüpfen sowie welche Kulturdebatten sich um Finanzkapitalismus und Neoliberalismus im 20. und 21. Jahrhundert entzünden.

Kritisches Handbuch der österreichischen Politik: Verfassung, Institutionen, Verwaltung, Verbände. Hrsg. Reinhard Heinisch. 2020, Böhlau Verlag, 334 Seiten

Wie funktioniert das politische System in Österreich? Warum hat es in den letzten Jahren an Vertrauen eingebüßt? Antworten auf Fragen wie diese zu finden gestaltet sich oft schwierig. Die rechtlichen Grundlagen gelten als schwer verständlich. Und viele politische Weichen werden in informellen Räumen gestellt. Das politische System gleicht einem Rätsel. „Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie“ möchte hier Antworten geben, wissenschaftlich fundiert, aber allgemein verständlich. Es beleuchtet das Regelwerk der Bundesverfassung, die Institutionen des demokratischen Prozesses und die politischen Funktionsweisen der Verwaltung. Vor allem zeigt es Theorie und Wirklichkeit des österreichischen Parteienstaates auf und benennt Reformmöglichkeiten.

Handbuch Außenpolitik Österreichs. Hrsg. Martin Senn, Franz Eder, Markus Kornprobst. 2023, Springer Verlag, 793 Seiten

Dieses Handbuch bietet eine umfassende Analyse der Außenpolitik Österreichs in der Zweiten Republik. Es behandelt die Rahmenbedingungen, Akteure und Prozesse der Außenpolitik und erschließt deren Wesen und Wirkung in verschiedenen Politikbereichen sowie gegenüber Ländern, Regionen und internationalen Organisationen. Das Handbuch ist ein Referenzwerk für die Forschung, ein Einführungswerk für die Lehre und ein Nachschlagewerk für die Praxis in Politik, Verwaltung und Gesellschaft.

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