ÖFG 2021

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DAS MAGAZIN DER ÖSTERREICHISCHEN FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT

Modellbildung & Simulation in den Wissenschaften

Illustration: Georg Feierfeil / www.schorschfeierfeil.com

NEUE ARGE. FASSMANN. BUNDESLÄNDER 01_Cover_21_CZIL.indd 1

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ÖFG

MAGA ZIN 2021

EDITORIAL LIEBE LESERINNEN,

Sie mit der 8. Ausgabe W des Magazins der Österreichischen Forschungsgemeinschaft über die Initiatiir freu en un s,

(ÖFG)

ven und Aktivitäten der ÖFG im Jahr 2021 zu informieren, und wünschen Ihnen schon jetzt eine spannende Lektüre!

Reinhold Mitterlehner, Präsident der Österreichischen Forschungsgemeinschaft

Noch immer begleitet von der CoronaPandemie, und nicht zuletzt deshalb sehr aktuell, beschäftigte sich der diesjährige Wissenschaftstag aus den verschiedensten Blickwinkeln und Disziplinen mit dem Thema der „Modellbildung und Simulation in den Wissenschaften“. Können durch Modelle und deren Simulation tatsächlich relevante Ausschnitte aus der Realität erkenntnisleitend nachgebildet werden? Welche Einsichten liefern Simulationen sozialer Prozesse in wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge? Welche Grenzen und Gefahren der Verwendung von Modellen und Simulationen für individuelle und politische Entscheidungen gibt es? Diese und weitere Fragen wurden im Rahmen des Wissenschaftstags behandelt. Um Ihnen einen Einblick zu geben, finden Sie in dieser Ausgabe des Magazins eine umfangreiche Nachbearbeitung der spannenden und vielfältigen Beiträge des Wissenschaftstags (ab Seite 24). Es erwarten Sie überdies Einblicke in das Schaffen unserer jüngst eingerichteten Arbeitsgemeinschaften „Epigenetik“, „Gute wissenschaftliche Praxis im Wandel“

Heinrich Schmidinger, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der ÖFG Medieninhaber und Verleger: Österreichische Forschungsgemeinschaft Berggasse 25/21, 1092 Wien T: +43/1/319 57 70 E: oefg@oefg.at Druck: Bösmüller GesmbH 2000 Stockerau

und „Künstliche Intelligenz und Menschenrechte“ (Seite 12–17), ein Überblick über die Ergebnisse des diesjährigen ÖFG-Workshops zum Thema „Studierende zum Abschluss motivieren“ (Seite 8) sowie in der Rubrik „4 aus 300“ die Präsentation von vier ausgewählten Projekten, die mit Hilfe unseres Förderprogramms „Internationale Kommunikation“ verwirklicht werden konnten (Seite 6). In bewährter Tradition des Magazins baten wir Vertreter*innen aller neun Bundesländer sowie den Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Univ.-Prof. Dr. Heinz Faßmann, zum Interview und befragten sie zu ihren aktuellen Schwerpunkten im Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungsbereich (Seite 18–23). Leider müssen wir Ihnen auch vom überraschenden Ableben unseres langjährigen Beiratsmitglieds Walter Berka berichten. Die ÖFG verlor mit ihm einen renommierten Experten und geschätzten Freund, der seine fachliche und hochschulpolitische Kompetenz der ÖFG stets großzügig zur Verfügung stellte. Die ÖFG wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren (Seite 4). IHR REINHOLD MITTERLEHNER IHR HEINRICH SCHMIDINGER

Foto: Hans Ringhofer, David Sailer

DIE ÖFG IST EINE FORSCHUNGSFÖRDERUNGSEINRICHTUNG, GETRAGEN VON BUND UND LÄNDERN

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Fotos: BOKU, Uni Wien, TU Graz/Lunghammer, Uni Wien, Sissy Furgler, Mozarteum, D. Sailer, , B. Mair, privat, H. Kolarik, Vouk, Puch, W. Skokanitsch, beigestellt

LIEBE LESER!


DER WISSENSCHAFTLICHE BEIR AT DER ÖFG

Fotos: BOKU, Uni Wien, TU Graz/Lunghammer, Uni Wien, Sissy Furgler, Mozarteum, D. Sailer, , B. Mair, privat, H. Kolarik, Vouk, Puch, W. Skokanitsch, beigestellt

Foto: Hans Ringhofer, David Sailer

Ö F G   M A G A Z I N 2 0 2 1    3

Martin Gerzabek,  Univ-Prof. für Ökotoxikologie und Isotopenanwendung, BOKU Wien

Reinhard Heinisch,  Univ.-Prof. für Politikwissenschaften, Universität Salzburg

Bernhard Jakoby, Univ.-Prof. für Mikroelektronik, Universität Linz

Harald Kainz,  Univ.-Prof. für Siedlungswasserwirtschaft, Rektor TU Graz

Wolfgang Kautek, Univ.-Prof. für Physikalische Chemie, Universität Wien

Reinhard Neck*,  Univ.-Prof. für Volkswirtschaftslehre, Universität Klagenfurt

Oswald Panagl, Univ.-Prof. em. für Sprachwissenschaft, Universität Salzburg

Peter Parycek,  Univ.-Prof. für E-Governance, Donau-Universität Krems

Kurt Scharr,**  Univ.-Prof. für Geschichte, Universität Innsbruck

Eva Schernhammer**, Univ.-Prof. für Epidemiologie, Medizinische Universität Wien

Heinrich Schmidinger, Univ.-Prof. für Philosophie, Universität Salzburg, Beiratsvorsitzender

Christiane Spiel, Univ.-Prof. für Bildungspsychologie und Evalua­tion, Universität Wien

Barbara StelzlMarx**, Univ.-Prof. für Geschichte, Universität Graz

Hans Tuppy, Univ.-Prof. em. für Biochemie, Univ. Wien, ehem. Wissenschaftsminister

Friederike Wall,  Univ.-Prof. für Unternehmens­ führung, Universität Klagenfurt

Viktoria Weber, Univ.-Prof. für Biochemie, DonauUniversität Krems

Susanne WeigelinSchwiedrzik,  Univ.-Prof. für Sinologie, Universität Wien *bis 6/21 **ab 6/21

I N H A LT NAC H RU F AU F WA LT E R 4–5 B E R K A

„Künstliche Intelligenz und Menschenrechte“    12–17

ÖFG-FÖR DERUNG FÜR DEN NACHWUCHS

GESPR ÄCH MIT MINISTER HEINZ FASSM A NN

Vier von 300 JungforscherInnen, die die ÖFG heuer unterstützte     6 – 7

STUDIERENDE ZUM ABSCHLUSS MOTIVIEREN

So lautete das Thema des diesjährigen bildungspolitischen Workshops    8 – 1 1

ARGE DER ÖFG

Aus den neuen ARGEs „Epigenetik“, „Gute wissenschaftliche Praxis“ und

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Beiträge zum Österreichischen Wissenschaftstag 2021

Über die Lehren für den tertiären Sektor aus der Corona-Pandemie 18–19

WISSENSCHAFTS­ FÖRDERUNG IN DEN BUNDESLÄNDERN

Ziele und Schwerpunkte der Wissenschaftspolitik

MODELLBILDUNG UND SIMULATION

20–23

Rolle wissenschaftlicher Modelle Komplexitätsforschung Animationsfilme mit Molekülen Körpermodelle im Tanz Die simulierte Gesellschaft Anschaulichere Archäologie Wie Maschinen lernen Den Klimawandel verstehen PUBLIKATIONEN

24–39 26–27 28–29 30–31 32–33 34–35 36 37 38–39 40

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Renommierter Experte, geschätzter Freund Ein Nachruf auf W A LT E R B E R K A , emeritierter Professor für Allgemeine Staatslehre, Verwaltungslehre, Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der ÖFG

HEINRICH SCHMIDINGER

für uns alle unerwartet, obwohl wir uns seit der letzten Beiratssitzung am 28. Januar, an der er online teilgenommen hatte, Sorgen machen mussten. Denn danach riss der Kontakt zu ihm ab. Jetzt sind wir bestürzt, weil wir in Walter Berka einen Kollegen und Freund verloren, den wir nicht nur geschätzt, sondern alle sehr gemocht haben. Dankbar erinnern wir uns an die Begegnungen mit ihm, die immer erfreulich verliefen, hatte er doch die Gabe, in den Gesprächen, die wir mit ihm führten, ein Klima sowohl der Sachlichkeit als auch der Verbindlichkeit und gegenseitiger Wertschätzung zu verbreiten. Mit ihm konnte man Freund bleiben, selbst wenn man in der Meinung auseinanderging oder andere Interessen verfolgte. Dazu kam seine hohe fachliche sowie hochschulpolitische Kompetenz, die er im Wissenschaftlichen Beirat der ÖFG seit 1999 und von 2004 bis 2007 auch als dessen Vorsitzender einbrachte. Als Rechtswissenschaftler und seit 1994 Professor für Allgemeine Staatslehre, Verwaltungslehre, Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht an der Universität Salzburg sowie VIELE HOCHSCHULPOLITISCHE STELLUNG­ NAHMEN DER ÖFG WAREN DURCH IHN GEPRÄGT Autor anerkannter Standardwerke stellte Walter Berka der ÖFG seine fachliche Expertise, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde, auch durch die wirkliche Mitgliedschaft an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, zur Verfügung. Das hinderte ihn nicht daran, interdisziplinär zu denken und inhaltliche Anregungen zu geben, von de-

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nen alle vertretenen Disziplinen profitieren konnten. Etliche der alljährlichen ÖFG-Veranstaltungen bis hin zum Wissenschaftstag trugen seine Handschrift und waren wesentlich von ihm inspiriert. Gleiches gilt für einige Arbeitsgemeinschaften, die er initiierte oder engagiert und kritisch begleitete. Dazu kam Walter Berkas ausgeprägte hochschulpolitische Kompetenz, die nicht nur von der ÖFG, sondern auch vom Österreichischen Wissenschaftsrat, vom Österreichischen Universitätenkuratorium, von der Österreichischen Juristenkommission

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Foto: Martin Hasenöhrl

ie Österreichische ForschungsgemeinD schaft trauert um Walter Berka, der am 15. Juli des Jahres gestorben ist. Sein Tod kam


Foto: Martin Hasenöhrl

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sowie von verschiedenen Bundesministerien in Anspruch genommen wurde. Seine Kompetenz stellte er bereits zwischen 1998 und 2003 unter Beweis, als er, allseits anerkannt, Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in Salzburg war. In der Folge brachte er sie in den zahlreichen Gremien und Kommissionen, in die er gerufen und gebeten wurde, ein  – ganz besonders in unserem Wissenschaftlichen Beirat. Viele der hochschulpolitischen Stellungnahmen der ÖFG waren durch seine Beiträge und Empfehlungen geprägt. Die hohe Reputation, die er auch in

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Walter Berka (1948–2021)

dieser Hinsicht genoss, blieb ihm über seine Emeritierung 2016 hinaus erhalten. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatten wir im Wissenschaftlichen Beirat darauf gesetzt, dass Walter Berka diesem noch mehrere Perioden angehören würde. Auch daran lässt sich ermessen, wie tief wir den Verlust empfinden, der durch seinen Tod eingetreten ist. Umso dankbarer sind wir für alles, was wir an ihm und durch ihn über so viele Jahre gehabt haben. Die Österreichische Forschungsgemeinschaft wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

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Auf internationalem Parkett Auch heuer wieder konnten N A C H W U C H S TA L E N T E in Wissenschaft und Forschung beim Sammeln internationaler Erfahrung von der ÖFG unterstützt werden USCHI SORZ

er wissenschaftlichen Community eigeD   ne Forschungsergebnisse schon in einer frühen Phase der akademischen Laufbahn

Corinna Deck, 29, Universität Wien/ Christian Doppler Labor „Süß ist nicht gleich süß“, sagt Corinna Deck. „Wie wir es empfinden, hat nicht nur mit der Süße selbst, sondern auch mit Nebengeschmäckern, Geruch, Temperatur und Mundgefühl zu tun.“ Die sensorische Analyse erfasst solche Aspekte. „Sensorik hat mich schon während des Masterstudiums fasziniert“, erzählt die Ernährungswissenschaftlerin. Für ihre Dissertation am Christian Doppler Labor für Geschmacksforschung am Wiener Institut für Physiologische Chemie befasst sie sich mit dem geschmacklichen Profil alternativer Süßungsmittel und ihrer Wirkung auf den Stoffwechsel. In Zeiten ra-

Corinna Deck, Universität Wien/ Christian Doppler Labor

Ercan Sönmez, Universität Klagenfurt

„ERFORSCHUNG DES GESCHMACKLICHEN P R O F I L S A LT E R N AT I V E R S Ü S S U N G S M I T T E L “ santer Zunahme von Übergewicht und Adipositas sind diese eine Möglichkeit zur Kalorienreduktion. Deck ist Teil eines Teams unter der Leitung von Barbara Lieder. „Es ist noch nicht ganz geklärt, welchen Einfluss die Struktur dieser Stoffe, deren Interaktion mit dem Süßrezeptor auf der Zunge und unterschiedliche Wahrnehmungsmechanismen haben. Dies möchten wir herausfinden.“ So trinken Proband*innen etwa in Wasser gelöste Süßungsmittel wie Zucker, Zuckeralkohole, natürliche und synthetische Süßstoffe oder süße Proteine, spülen dann den Mund mit ei-

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Ercan Sönmez, 32, Universität Klagenfurt „Das Kleine-Welt-Phänomen hat mich immer fasziniert“, erzählt Ercan Sönmez und verweist auf die berühmte Hypothese des US-Psychologen Stanley Milgram, die besagt, dass jeder Mensch auf der Welt mit jedem beliebigen anderen über eine Abfolge von etwa sechs persönlichen Beziehungen verbunden ist. Dass man so etwas außerdem in Modellen mathematisch nachweisen kann, finde er spannend. Sönmez hat in Mannheim, München und Düsseldorf Mathematik studiert und ist nun Postdoc am Institut für Statistik der Uni Klagenfurt. Sein Forschungsfokus sind die zur Modellierung realer sozialer Netzwerke notwendigen mathematischen Strukturen. Doch anders als in Milgrams Theorie, wo eine Reihe von Bekanntschaften eine Kette formt, hat er gemeinsam mit einem französischen Kollegen die direkte Verbindung zwischen einander Unbekannten untersucht. Wie hängen die Wahrscheinlichkeit einer Begegnung und die räumliche Distanz – wie voneinander entfernte Wohnorte – zusammen? Die Mathematik dahinter nennt man Zufallsgraphen. „Das sind Modelle von Netz-

„ZUR MODELLIERUNG SOZIALER NETZWERKE N O T W E N D I G E M AT H E M AT I S C H E S T R U K T U R E N “ werken aller Art“, erklärt der Forscher. „Das Neue an unserem Ansatz ist, dass wir sie mit der sogenannten Extremwerttheorie kombiniert haben.“ Auf dieser Basis könne man Netzwerke wie Facebook oder Instagram

Fotos: Privat (3), Riccio (1)

präsentieren zu können, kann Weichen stellen. Internationaler Austausch und Vernetzung schaffen eine Basis für Synergien. Das Förderprogramm „Internationale Kommunikation“ der ÖFG unterstützt darum Kongressreisen, Forschungsaufenthalte und -projekte sowie Publikationen, Vorträge und Posterpräsentationen vielversprechender Nachwuchs­ forscher*innen, deren Institutionen ihnen das selbst nicht ermöglichen können. Von den jährlich knapp 300 ÖFG-Stipendiat*innen stellen wir hier vier vor.

ner Testlösung und geben den Speichel in ein Gefäß. „Dieser bestimmt das Mundgefühl, darum sehen wir uns seine Eigenschaften und sein Fließverhalten genau an.“ Mit dem ÖFGReisezuschuss konnte Deck im September die Ergebnisse von vier ausgewählten Süßungsmitteln in Form einer Posterpräsentation bei der 31. Konferenz der ECRO (European Chemoreception Research Organization) in Portugal vortragen. „Es war toll, hier für mein Forschungsfeld wichtige Referate zu hören und meinen Teil zum Austausch beizutragen.“

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ebenso beschreiben wie etwa die Übertragung von Viren. Und beispielsweise die Frage beantworten, wie groß die örtliche Entfernung sein kann, bis zwei Menschen irgendwann doch aufeinandertreffen und es zu einer Ansteckung aus nächster Nähe kommt. Ein ÖFG-geförderter Aufenthalt bei seinem Kooperationspartner an der Université de Bourgogne in Dijon hat das Projekt entscheidend vorangebracht. Elisabeth Reisinger, 33, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien „King of Swing“ nannte man den Jazz-Klarinettisten und Bandleader Benny Goodman in den 1930er- und 1940er-Jahren, seine Beziehung zur klassischen Musik ist weniger bekannt. Dabei spielte er durchaus auch Werke von Brahms oder Mozart, zeitgenössische Komponisten wie Béla Bartók und Paul Hindemith schrieben für ihn. „Diese Aktivitäten, die die Forschung bisher nur am Rande thematisiert hat, waren mehr als nur ein Ausflug in ein anderes Genre“, sagt Elisabeth Reisinger. „Sie sind als inhärenter Teil seiner Persönlichkeit zu begreifen.“ Die Niederösterreicherin, die 2016 in Musikwissenschaft promoviert hat und Senior Postdoc an der Musikuni ist, spielt selbst Klarinette. „Das Klarinettenkonzert von Aaron

als Poster präsentieren. „Das Format hierfür war als ,Poster Slam‘ angelegt, was zu einem lebhaften Austausch führte. So kam ich ­direkt mit den anderen Redner*innen ins Gespräch.“ Julia Woitischek, 31,

TU Graz/Imperial College London

Elisabeth Reisinger, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien

Julia Woitischek, TU Graz/Imperial College London

Fotos: Privat (3), Riccio (1)

„KLASSISCHE KOMPOSITIONEN FÜR DEN JAZZMUSIKER BENNY GOODMAN“ Copland mag ich besonders gern“, erzählt sie. „Je öfter es vor mir auf dem Notenständer lag, desto mehr interessierte mich, was es mit der dort zu lesenden Widmung ,For Benny Goodman‘ auf sich hatte.“ Dem ging sie als Postdoc-Fellow an der US-Universität Harvard auf den Grund. Im Zuge ihres Projekts „Classical Compositions Comissioned by Benny Goodman“ entdeckte sie „vielschichtige, teils überraschende Zusammenhänge, etwa hinsichtlich künstlerischer Identitäten und Selbstkonzepte oder Machtstrukturen im Sozial- und Wirtschaftssystem Musik“. Mit einer ÖFG-Förderung konnte sie im Oktober der Einladung der Deutschen Gesellschaft für Musikforschung nachkommen und ihre Ergebnisse auf deren XVII. Kongress

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„Kupfer ist entscheidend für die Energiewende“, sagt die Kärntnerin, die an der TU Graz Erdwissenschaften studiert und heuer in England an der Universität von Cambridge in diesem Fach promoviert hat. „Es ist eine Schlüsselkomponente für die Batterietechnologie und damit eine kohlenstoffarme Zukunft. Deshalb ist es von grundlegender Bedeutung, die Entstehung von Kupferlagerstätten in Sedimenten zu verstehen.“ Ein Elektroauto etwa kann laut Copper Development Association sechzig bis achtzig Kilo Kupfer enthalten. Und mit steigender Batteriekapazität wird mehr Kupfer gebraucht werden. „Ich wollte an einem Forschungsprojekt mitarbeiten, das einen Bezug zur Industrie hat“, unterstreicht Woitischek. Mit einer ÖFG-Förderung konnte sie drei Monate als Visiting Research Fellow des Imperial College London am Projekt CuBES (Copper Basin Exploration Science) mitarbeiten, das untersucht, wie Kupfer in sedimentgebundenen Lagerstätten in Bolivien, Argentinien und Zentralafrika durch die Strömung von Fluiden – also Gasen oder Flüssigkeiten – durch Trägerschichten mobilisiert wird. „Die Gruppe rund um Matthew Jackson hat Pionierarbeit bei der Entwicklung neuer experimenteller Methoden zur Messung der

„KUPFER IN SEDIMENTGEBUNDENEN LAGERS TÄT T E N D U R C H F L U I D E M O B I L I S I E R T “ petrophysikalischen Eigenschaften von Gesteinen geleistet und unser Verständnis dort stattfindender Fluidbewegungen enorm verbessert“, so die Erdwissenschaftlerin. Nicht zuletzt sei dies eine Grundlage, um Kupferlagerstätten von wirtschaftlicher Bedeutung schneller zu erkennen. An dem Thema wird sie weiterforschen, denn aus ihrem Londoner Forschungsaufenthalt ergab sich nun eine fixe Research-Associate-Stelle am Imperial College.

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Fotos: NIni Tschavoll, A. Schmid, Andrea Reischer, IHS/Carl A. Nilsson

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Wie schafft man mehr Studienabschlüsse? Dieser Frage widmete sich der diesjährige B I L D U N G S P O L I T I S C H E W O R K S H O P „Studierende zum Abschluss motivieren“ aus unterschiedlichen Perspektiven WERNER STURMBERGER

Fotos: NIni Tschavoll, A. Schmid, Andrea Reischer, IHS/Carl A. Nilsson

sterreich weist im internationalen VerÖ gleich hohe Dropout-Raten und überlange Studienzeiten an Universitäten auf.

Mit Blick darauf, dass es international relativ viele Studien zu Dropouts gibt, während der Studienabschluss als Problemfeld deutlich weniger beforscht ist, widmete sich der Workshop der Österreichischen Forschungsgemeinschaft dem Thema „Studierende zum Abschluss motivieren“, erläutert Christiane Spiel, Bildungsforscherin an der Universität Wien und Initiatorin der Tagung. Diese fand pandemiebedingt nicht wie gewohnt in Baden, sondern online statt, was dem Interesse aber keinen Abbruch tat. An die hundert Teilnehmer*innen verfolgten die Veranstaltung, die von Heinrich Schmidinger, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der ÖFG, eingeleitet wurde. Martin Unger vom IHS Wien gab mit seinem Vortrag „Studierende in Österreich: Wer hat Pro­bleme abzuschließen?“ einen Einblick in die Ergebnisse der aktuellen Studierendensozialerhebung. Er zeigte, wie sich, statistisch betrachtet, demografische Merkmale wie das Alter bei Studienbeginn, Geschlecht, Bildungsstand der Eltern, abgeschlossener Schultyp, erster oder zweiter Bildungsweg auf den Studienerfolg auswirken. Dabei würden diese Zusammenhänge sich nicht einheitlich gestalten, sondern je nach Studienrichtung variieren. Barbara Schober von der Universität Wien widmete ihren Vortrag „Selbstreguliertes Lernen und Arbeiten im Studium – Voraussetzungen für einen erfolgreichen Abschluss?“ der Rolle von Kompetenzen zur Selbstregulation beim Studienerfolg. Sie verdeutlichte die Bedeutung von selbstreguliertem Lernen (SRL) als Schlüsselkompetenz für den Studienabschluss (Selbststudium, Prüfungsvorbereitung und das Verfassen von Abschlussarbeiten) und erfolgreiches lebenslanges Lernen. Eine systematische und nachhaltige Entwicklung von SRL in Schule und Hochschule sei daher von hoher Relevanz, allerdings auch herausfordernd. Jede Förderung müsse daher spezifisch erfolgen und die komplexe Struktur von SRL berücksichtigen. Es sei wichtig, verstärkt Forschungsprojekte

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Christiane Spiel, Universität Wien

Barbara Schober, Universität Wien

Stefan Oppl, Donau-Universität Krems

zu lancieren, um evidenzbasiert wirksame Förderansätze zur Kompetenzentwicklung zu erarbeiten und Förderprogramme flächendeckend umzusetzen. Zwei weitere Vorträge rückten die Rolle der Universitäten in den Fokus: Wie können diese Rahmenbedingungen für erfolgreiche Studienabschlüsse schaffen und weiterentwickeln? Stefan Oppl von der Donau-Universität Krems erkundete „Potenziale und Herausforderungen in der Gestaltung hochschulischer Informationssysteme zur Förderung von Studienfortschritt und -abschluss“. Er ging dabei der Frage nach, wie Informationssysteme soziale Praxis strukturieren und so Studienabschlüsse begünstigen können. Voraussetzungen dafür seien eine entsprechende Verfügbarkeit, Qualität und Nutzbarkeit von Studienverlaufsdaten. Diese können für eine zielgenaue Identifikation von Unterstützungsbedarf genutzt werden, um Studierende mit bedarfsgerechter Hilfe zum Studien­abschluss zu erreichen. Thomas Ratka von der Donau-Universität Krems ging in seinem Vortrag „Universitäten mit besonderen Bildungsaufträgen und Herausforderungen – Die Donau-Universität Krems“ auf Herausforderungen im Hinblick auf Studier- und Abschließbarkeit für Weiterbildungsstudiengänge ein (Interview S. 10). Die Veranstaltung schloss mit einer Podiumsdiskussion, bei der das Workshopthema aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wurde. Über die Herausforderungen für die Universitäten sprachen Christa Schnabl (Universität Wien), Erich Müller (Universität Salzburg) und Arthur Mettinger (FH Cam-

SELBSTREGULIERTES LERNEN (SRL) ALS KOMPETENZ FÜR JEDEN STUDIENABSCHLUSS

Martin Unger, IHS Wien

pus Wien). Sektionschef Elmar Pichl vertrat die Positionen des Ministeriums, während Elena Sessig (Masterstudierende, Uni Wien) die Perspektive der Studierenden einbrachte. Moderiert wurde die Diskussion von ­Christiane Spiel. Ihr Resüme: „Wir hoffen, dass der Workshop dazu beitragen wird, die Anzahl der ,Aktiven Studierenden‘ anzuheben, wie das als Ziel im Rahmen der Leistungsvereinbarungsperiode zwischen Ministerium und Universitäten vereinbart wurde.“

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Beruf, Familie, Weiterbildung? Und wie! Thomas Ratka von der Donau-Universität Krems erläutert die Bedeutung der Studierbarkeit für W E I T E R B I L D U N G S S T U D I E N G Ä N G E und deren Zukunft

Herr Ratka, wie hat sich der Stellenwert von Weiterbildung verändert? Thomas Ratka: Der israelische Historiker Yuval Noah Harari fasst das in seinem Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ sehr schön zusammen: In der Vergangenheit haben wir, über die gesamte Lebenszeit gerechnet, die überwiegende Zeit in der Ausbildung verbracht. Für das 21. Jahrhundert soll sich das zugunsten der Weiterbildung umkehren. Insofern denke ich, dass die wissenschaftliche Weiterbildung eine große Zukunft hat. Wir werden zukünftig öfter an die Uni zurückkehren. Wo liegen die Herausforderungen bei Weiterbildungsstudiengängen? Ratka: Unsere Weiterbildungsstudierenden sind knapp vierzig Jahre alt. Da hat man einfach eine andere Lebensrealität als Zwanzigjährige, steht im Berufsleben, hat auch Familie. Damit ergeben sich ganz andere ­ ­Anforderungen an die Studierbarkeit. Wir unterscheiden uns deshalb auch deutlich von klassischen berufsbegleitenden FH-Studiengängen, wo man nach der Arbeit noch für vier Stunden an die FH geht. In einer Managementposition kann man nicht an drei oder vier Tagen der Woche Punkt 17  Uhr alles liegen lassen und gehen. Daher blocken wir an verlängerten Wochenenden und setzen auf durchgängige flexible Hybridlehre. „ICH DENKE, DASS WISSENSCHAFTLICHE WEITERBILDUNG EINE GROSSE Z U K U N F T H AT “ Ein Punkt ist noch wichtig: Bei Weiterbildungsstudien findet der Wissenstransfer nicht nur von den Vortragenden zu den Studierenden statt, sondern auch zwischen den berufserfahrenen Studierenden, ja sogar von den Studierenden zu den Lehrenden. Die didaktische Begleitung dieses Lernprozesses ist eine ­Herausforderung, daher ist wissenschaftliche Weiterbildung aus meiner Sicht das Hochreck der universitären Lehre. Welche Lernkonzepte eignen sich für Weiterbildungsstudiengänge?

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Ratka: Wir setzen auf Blended Learning, um flexible Lehrveranstaltungen anbieten zu können. Wir achten darauf, dass man, wenn man an den Campus kommt, dort gemeinsam an Fallstudien oder Projekten arbeiten kann. Die frontale Wissensvermittlung wird ins Internet verlagert. Unser Ziel ist die „­Hyflex-Lehre“, also hybride Flexibilität. Nahezu jeder Vortrag findet auch hybrid statt. Die Studierenden haben nahezu durchgehend die Wahl, ob sie an die Uni kommen oder der Vorlesung von fern folgen. Gerade für Studierende mit Kinderbetreuungspflichten ist das eine Erleichterung. Die Vorlesungen werden zudem bei Bedarf mitgeschnitten und sind so über das gesamte Semester hinweg verfügbar. Beruf – Familie – Lernen: Wie gehen Studierende mit dieser Dreifachbelastung um? Ratka: Ein Weiterbildungsstudium über zwei Jahre ist eine zusätzliche Belastung. Viele unserer Studierenden erleben die Zeit an der Universität aber auch als Auszeit vom Berufsalltag. Ich habe schon häufig gehört, dass sie nach einem längeren Block entspannter nach Hause fahren, als sie an die Uni gekommen sind. In manchen Fällen ist es auch so, dass das Studium die Work-Life-Balance wiederherstellt. Es eröffnet die Möglichkeit, die eigene berufliche Tätigkeit durch die Einnahme einer wissenschaftlichen Perspektive zu reflektieren und so deren Sinn neu zu erschließen. Welchen Einfluss hat die UG-Novelle 2021 und die darin enthaltene Angleichung an Bologna auf das Studium? Ratka: Der Weiterbildungsmaster wird nun als gleichwertig mit Mastern aus Regelstudien anerkannt, aber dafür ist ein abgeschlossenes Bachelorstudium Voraussetzung. Dazu wurde das Format des „Weiterbildungsbachelor“ geschaffen. Man hat auch die Möglichkeit, sich 60, in manchen Fällen sogar 90  ECTS-Punkte an non-formal erworbenen Lernergebnissen anrechnen zu lassen. Dieser Bachelor ist Bologna-äquivalent und ermöglicht die freie Wahl eines Masterstudiums, gleich ob Weiterbildungsmaster oder „Regelmaster“. Ich glaube, das ist für die Durchlässigkeit der Studiengänge sehr wichtig.

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Zudem bedeutet das nun auch, dass alle akademischen Abschlüsse gleichgestellt sind. Ich bin mir sicher, dass die WeiterbildungsBachelor-Studiengänge sehr attraktiv werden. Für die Universitäten heißt das jetzt, entsprechende Angebote zu entwickeln. Das muss man planen, weshalb ich mit den ersten Bakkalaureaten nicht vor 2023 rechne. Wie wird sich Weiterbildung weiter verändern? Ratka: Zukünftig werden wir sicherlich öfter an die Universität zurückkehren, dafür aber kürzer – vielleicht nur wenige Wochen. Micro-Credentials, Pakete mit drei bis sieben ECTS-Punkten, spielen auch in den Plänen der EU eine wichtige Rolle. Damit wird es möglich, sein Wissen upzudaten und ein Zertifikat zu erwerben, das bezeugt, dass

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Thomas Ratka, Vizerektor für Lehre und wissenschaftliche Weiterbildung, Leiter des Departments für Rechtswissenschaften und Internationale Beziehungen, DonauUniversität Krems

ich das auch auf wissenschaftlichem Niveau beherrsche. Kompetenzen und nicht Titel werden an Bedeutung gewinnen. Gleichzeitig soll man einen Teil seines Studiums mit solchen Micro-Credentials erwerben können. Das bringt natürlich eine viel stärkere inhaltliche Flexibilisierung mit sich. Es wird möglich sein, solche Credentials im Rahmen eines Curriculums an unterschiedlichen Universitäten zu erwerben. Das wird auch die Mobilität der Studierenden erhöhen. Nicht zwei Semester an einem Ort, sondern zwei Semester an mehreren Unis hintereinander. „Go-Abroad-Digital“, also per Online-Lehre an Universitäten im Ausland Kurse zu absolvieren, wird dadurch attraktiver werden.

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ARGE Epigenetik Eine der Jüngeren der ÖFG-Arbeitsgemeinschaften erläuterte ihre Z I E L E A R B E I T S W E I S E bei einem Workshop BRUNO JASCHKE

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Gerda Egger, Professorin für Epigenetik, MedUni Wien, Leiterin der ARGE

Alexandra Lusser, Professorin für Molekularbiologie, Universität Innsbruck, Stv. Leiterin der ARGE

Ursprung von Zellen, aber auch von Krankheiten erlauben. Dies dient der Diagnostik von Er­ krankungen, insbesondere von Tumorerkran­kungen. Zur „Epigenetik am Weg zur klinischen Anwendung“ sprach Martin Widschwendter, Leiter des EUTOPS Instituts an der Universität Innsbruck. Er beschäftigt sich mit DNA-Methylierungsmarkern zur Früherkennung von gynäkologischen Tumoren. Alle diese Tumore (Brustkrebs, Ovarialkarzinom, Endometrium-Karzinom) sind hormonabhängig und durchlaufen ähnliche epigenetische Veränderungen. Derzeit arbeitet Widschwendter an der Entwicklung eines klinischen Tests für Routineuntersuchungen bei Frauen. Stefan Kubicek forscht im Umfeld „chemical biology“. Er stellte verschiedene Pharmazeutika vor, die epigenetische Enzyme hemmen können. Bisher sind erst wenige dieser Arzneimittel für die Behandlung von Krebserkrankungen zugelassen, außerdem dauerte ihre Entwicklung bisher sehr lange. Kubicek leitet eine Screeningplattform, die anhand von roboterunterstützten Technologien bis zu 90.000 chemische Substanzen testen kann und zur Identifizierung neuer therapeutischer Arzneimittel beitragen soll. Wieweit der Lebensstil, ­ insbesondere Ernährung und sportliche (In-)Aktivität,

GEMEINSCHAFTLICHE FORSCHUNGSPROJEKTE, BETEILIGUNG VON BÜRGER*INNEN epigenetische Prozesse und das Altern ­beeinflussen kann, analysierte Barbara Wessner, Dozentin vom Zentrum für Sportwissenschaft und Universitätssport an der Universität Wien. Sie führte dabei das Beispiel des Hungerwinters in den Niederlanden während der Kriegsjahre 1944/45 an, in dessen Folge wissenschaftliche Studien an der Bevölkerung die Auswirkungen der Unterernährung auf die unmittelbaren und späteren Nachkommen untersuchten. Wess­ner zeigte auch, wie die Ernährung auf die Methylierung, das Außerkraftsetzen von Genen, wirken kann und wie sich das körperliche Aktivitätsniveau von Müttern in ihren Kindern widerspiegelt. Inwiefern Umweltrisiken wie Chemikalien epigenetische ­Prozesse

Fotos: MedUni Wien/Houdek (2) , MUI/FotoRuth

ls Vermittler der Vergangenheit einer Zelle mit ihrer Zukunft versteht der Bioinformatiker und Genomforscher ­Christoph Bock die Epigenetik. Die noch relativ junge Wissenschaft beschreibt erbliche Veränderungen in der Genexpression, die nicht durch Veränderungen in der DNA-­ Sequenz bedingt sind. Vereinfacht formuliert, könnte man Epigenetik als Bindeglied zwischen genetischer Disposition und Umwelteinflüssen sehen. Die Epigenetik ist ein Forschungsbereich mit vielen Facetten. Sie berücksichtigt und verarbeitet Erkenntnisse von Lebenswissenschaften, Chemie, Informatik und Ingenieurwissenschaften sowie aus dem Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften. Ziel ist zu erklären, wie Umwelteinflüsse, individuelle und gesellschaftlich gelernte bzw. erwünschte Verhaltensweisen die Genexpression langfristig und möglicherweise über Generationen hinweg beeinflussen können. Daher hat sich die ARGE Epigenetik, eine der jüngeren der Arbeitsgemeinschaften der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, dem interdisziplinären und standortübergreifenden Dialog verschrieben. Die Vernetzung verschiedener Forschungsfelder, gemeinschaftliche Forschungsprojekte, die Verbesserung der universitären Lehre und die Beteiligung von Bürger*innen in der Wissenschaft sind ihre Ziele. Publik machen will sie diese vornehmlich über Workshops und Symposien. Eine Art Kick-off der ARGE fand im Van Swieten-Saal der MedUni Wien als Workshop Epigenetik statt. Rektor Markus Müller und das Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der ÖFG Wolfgang Kautek erläuterten einleitend die Anliegen der ARGE. Ihre Leiterin Gerda Egger, Epigenetikerin an der MedUni Wien, führte zusammen mit ihrer Stellvertreterin, der Innsbrucker Molekularbiologin Alexandra Lusser, durch das Programm. Es stand zunächst im Zeichen medizinischer Aspekte. Christoph Bock, der Technologien und Analysemethoden für epigenetische Analysen entwickelt hat, zeigte Studien, in denen epigenetische Analysen von Einzelzellen einen Rückschluss auf den

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Fotos: MedUni Wien/Houdek (2) , MUI/FotoRuth

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a­uslösen, referierte Michael Eckerstorfer vom Umweltbundesamt Wien. Er erläuterte, dass Chemikalien Einfluss auf das Epigenom nehmen und damit epigenetische Vorgänge beeinflussen können. Substanzen mit endoktriner Wirkung können epigenetische Regulationssysteme beeinflussen. Dazu konstatierte er Defizite in der Risikoabschätzung. Mit ethischen Herausforderungen für die Epigenetik setzte sich Gabriele Werner-Felmayer vom Institut für Biologische Chemie der Medizinischen Universität Innsbruck auseinander: Gibt es eine epigenetische Verantwortung gegenüber späteren Generationen? Wie sind epigenetische Daten sinnvoll zu nutzen? Wie kann missbräuchliche, etwa diskriminierende Verwendung, wie sie süd-

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Van Swieten-Saal der MedUni Wien, Ort des Kick-offs der ARGE Epigenetik

ostasiatische Staaten praktizieren, verhindert werden? Wie wird Zugangsgerechtigkeit sichergestellt? Wie Epigenetik in der wissenschaftlichen Kommunikation vermittelt und forciert werden kann, darüber sprach Brigitte Gschmeidler, Geschäftsführerin von Open ­ Science. Der Verein hat die Vermittlung und die Befähigung zur Meinungsbildung über lebenswissenschaftliche Themen zum Ziel. Gschmeidler hat sich nach einem Studium der Mikrobiologie und Genetik auf wissenschaftliche Kommunikation spezialisiert. Der Verein betreibt ein molekularbiologisches Mitmachlabor am Vienna Bio Center, geht an Schulen und erstellt Gastbeiträge auf ausgesuchten wissenschaftlichen Plattformen.

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ARGE Gute wissenschaftliche Praxis Sie bemüht sich um das P I C K E R L der Wissenschaften SABINE EDITH BRAUN

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Markus Haslinger, Professor für Informatikrecht an der TU Wien und Leiter der ARGE „Gute wissenschaftliche Praxis“

Stefan Weber, Plagiatsprüfer, stellvertretender Leiter der ARGE

Das sei es aber nicht, worauf die ARGE abziele, sagt Markus Haslinger. „Unsere ­Philosophie ist systemisch, also ganzheitlich, vorwärtsschauend und salutogenetisch.“ Das Gegenteil einer salutogenetischen, also gesundheitsorientierten Betrachtung wäre die pathogenetische, also krankheitsorientierte. Etwa der Fokus auf die Entstehung eines Plagiats. Markus Haslinger: „Es gibt Menschen, die Abkürzungen suchen. Dabei kommen Trigger-Reize ins Spiel: Wie hoch ist das Risiko, dass ich auffliege? Was wäre die Sanktion? In der ARGE wollen wir salutogenetisch arbeiten, also die Bedingungen erforschen, unter denen Autor*innen das Beste aus sich herausholen können.“ Dafür wäre es nötig, die Zitierregeln schon früh zu erlernen. „Bei der Informa­ tionsbeschaffung in der Unterstufe wird erst gegoogelt und dann zusammengestoppelt“, sagt Stefan Weber. Das liege auch an den Lehrbüchern: „Man lernt zuerst, dass man Informationen sammeln soll, aber die Spielregeln, wie man sammelt, stehen erst in den Lehrbüchern späterer Klassen.“ Deshalb wurde 2014/15 die Vorwissenschaftliche Arbeit (VWA) als eine Säule der Matura verpflichtend. „Die Regeln hierfür sind genauso streng wie an den Universitäten“, sagt Weber. Auch wenn prominente Plagiatsfälle eine Veränderung des Systems angestoßen

„GWP BEGINNT BEI DER TITELFINDUNG UND E R S T R E C K T S I C H B I S Z U R P U B L I K AT I O N “ haben dürften, sei die ARGE keinesfalls ins­ titutionalisierte Plagiatsjagd, versichert Weber. „Wir sind interdisziplinär, den gesamten Hochschulsektor betreffend, streben Geschlechterbalance an und zielen auf standortübergreifenden, permanenten Fachdialog“, ergänzt Markus Haslinger. Eine ARGE der ÖFG wird auf Vorschlag des Wissenschafltichen Beirats durch das Präsidium der ÖFG genehmigt. Wie es in diesem Fall dazu kam, erzählt Markus Haslinger: „Mein Dekan bat mich, eine Abschlussarbeit darauf hin anzusehen, ob es sich um ein Plagiat handelt.“ Gemeinsam mit einer Diplomandin analysierte er die betreffenden Tools, Prozesse und Workflows. Stefan Weber war einer der von der Diplomandin befragten

Foto: privat, Joachim Bergauer (2)

ie Liste prominenter Plagiatsfälle wächst kontinuierlich. Um mehr Bewusstsein für das Thema zu schaffen, hat die ÖFG eine ARGE eingerichtet. TU-WienProfessor Markus Haslinger und der als Plagiatsprüfer tätige Privatdozent Stefan Weber leiten sie unter dem Titel „Gute wissenschaftliche Praxis im Wandel“. 32 Personen aus zahlreichen Fachrichtungen und Ins­ titutionen im tertiären Sektor gehören dem Projekt an. Was ist „gute wissenschaftliche Praxis“ (GWP) überhaupt? Nur das Aufspüren von „vergessenen“ Textbelegen oder doch mehr? „Man denkt bei diesem Thema immer an Abschlussarbeiten, aber der Bereich der Forschung fehlt zur Gänze“, sagt Markus Haslinger. Es geht also um Standards und Regularien für den gesamten Forschungs- und Wissenschaftsbereich. „Bei Befragungen sagen die meisten, GWP bedeute, nicht zu plagiieren, aber das ist nur ein Aspekt“, ergänzt Stefan Weber. Die beiden unterscheiden vier Bereiche: Erstens gute Autorschaftspraxis, was bedeutet, dass jemand selbst und nicht etwa ein Familienmitglied die Abschlussarbeit schreibt. Zweitens gute Zitierpraxis, also die Vermeidung von Zitierfehlern und Plagiaten. Drittens gute empirische Praxis, also die Qualitätssicherung von Forschungsdaten: Sie müssen nicht nur richtig interpretiert, sondern es muss auch geklärt werden, was damit passiert. Wer hat darauf Zugriff und wann? Der vierte Bereich umfasst gute Publikationspraxis: Von der öffentlichen Hand bezahlte Studien sollen auch veröffentlicht werden. „GWP beginnt bei der Titelfindung und erstreckt sich bis zur Publikation – sie ist das ‚Pickerl‘ der Wissenschaft“, fasst Stefan Weber zusammen. Während es die Kfz-Prüfplakette seit fast einem halben Jahrhundert gibt, ist GWP erst seit den späten 1990er-Jahren ein Thema, ausgelöst durch einen Fälschungsskandal in der deutschen Krebsforschung. In der Folge verfasste ein deutscher Strafrechtler eine Taxonomie wissenschaftlichen Fehlverhaltens mit den drei Hauptbereichen Fabrication (Erfindung), Falsification (Fälschung) und Plagiarism (Diebstahl geistigen Eigentums).

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Foto: privat, Joachim Bergauer (2)

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Expert*innen. 2020 richtete dann der Beirat die ARGE GWP ein. „Markus Haslinger war der Erste, der aus einer Institution gekommen ist und dieses Thema nicht als Bedrohung empfunden hat“, sagt Stefan Weber. Hier habe es in den letzten 15 Jahren einen Kulturwandel gegeben. Die Universität Wien publiziert Plagiatsfälle sogar im Sinne der Qualitätssicherung. Das Ganze ist eine dynamische Angelegenheit: Im Universitätsgesetz gibt es seit Oktober 2021 verschärfte Strafbestimmungen für Ghostwriting. Warum wird etwas, das kompliziert klingt, als bedeutsam erachtet, während vielen etwas, das auf das Wichtigste herunter-

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Plagiatsprüfung Wissenschaftliche Werke werden einer genauen Untersuchung unterzogen

gebrochen ist, als platt erscheint? Markus Haslinger nennt Schwurbelsprache „LatteMacchiato-Science“: wenig Content, aber viel Schaum. „Ich stehe mehr auf ‚EspressoScience‘: komplexe Dinge einfach zu erklären!“ GWP ist noch kein etabliertes Forschungsfeld, auch Literatur gibt es kaum. „Allerdings stehen in der aktuellen ‚Zeitschrift für Hochschulrecht‘ (zfhr) gleich drei Aufsätze zum Thema“, sagt Stefan Weber, „das ist ein Ansatz! Denn betroffen sind alle: Rechtswissenschaften, Philosophie, Archäologie bis Mathematik – keiner kann sagen, ‚es betrifft uns nicht‘ bzw. ‚es ist uns wurscht‘.“

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ARGE KI und Menschenrechte Rechtswissenschaftlerin Iris Eisenberger über K Ü N S T L I C H E

INTELLIGENZ

BRUNO JASCHKE

Gibt es Beispiele oder wenigstens Indizien, dass KI die Menschenrechtssituation irgendwo verbessert hätte? Eisenberger: Mir sind solche Beispiele nicht bekannt. Sehr wohl aber haben unterschiedliche Anwendungen wichtige menschenrechtliche Diskurse ausgelöst. Der saudiarabische Roboter Sophia etwa hat mehr Rechte als manche Frauen. Damit wurde auf die menschenrechtliche Situation von Frauen in Saudi-Arabien aufmerksam gemacht. Anwendungen wie Predictive Policing oder Sentencing Decision Support Systems haben systemischen Rassismus in der Polizeiarbeit und der Justiz sichtbar gemacht. Diese Themenstellungen werden heute in der Wissenschaft unter den Schlagworten Fairness, Bias oder Diskriminierung diskutiert. Das ist wichtig und wird sich in Folge hoffentlich auch indirekt auf die Menschenrechtssituation auswirken. KI kann bei der Diagnostik und Behandlung von Krankheiten helfen, auch bei der Pflege, aber wie wahrscheinlich ist es, dass diese Vorteile ohne politischen Willen nicht nur den Wohlhabenden zur Verfügung stehen werden? Eisenberger: Das Ärztegesetz sieht vor, dass Behandlungen nach dem Stand der Wissenschaft vorzunehmen sind. Dies kann auch die Nutzung von KI betreffen, etwa in der Diagnostik. Insoweit kann es eine gesetzliche Verpflichtung geben, allen Patient*innen diese Möglichkeit zukommen zu lassen, je-

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denfalls dann, wenn dies der einzig Legeartis-Behandlungsansatz ist. Speziell in der Krebsdiagnostik kann KI entlasten und Prozesse beschleunigen, mitunter auch schwer erreichbare Bevölkerungsgruppen miteinbeziehen. In welche Forschungsbereiche Gelder fließen und welche Krankheiten beforscht werden, ist aber eine ( forschungs-) politische Entscheidung. Im Bereich der Pflege ist die menschliche Betreuung eine knappe Ressource. Hier stellt sich die Frage, welche strukturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen es braucht, damit KI system­entlastend eingesetzt werden kann. Weit mehr als die Hälfte der Menschen ­ lebt unter problematischen Herrschaftssystemen. Ist KI nicht ein geradezu ideales Instrument zu weiterer Unterdrückung und Kontrolle der Bevölkerung? Eisenberger: Daten sammeln, verarbeiten und analysieren kann jedem autoritären Regime helfen, seine Strukturen zu stärken. KI kann Muster sehr gut erkennen. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, PA R T I Z I PAT I O N D E R B Ü R G E R * I N N E N V O N DER KI-IDEE BIS ZU IHRER ANWENDUNG dass ein technologisches System, das abweichendes Verhalten besonders gut erkennt, für autoritäre Systeme nutzbar gemacht werden kann. Mit facial-recognition-Systemen lassen sich Gesellschaften besonders gut überwachen. Die Frage ist also, wie man den Ausbau von Überwachung verhindern kann, und welche rechtsstaatlichen Sicherungen es beim Zusammenführen von Informationen braucht. Beim Export der Technologien ist darüber nachzudenken, Kontrollen einzuführen vergleichbar mit Waffenexporten. Vielleicht brauchen wir aber auch an der einen oder anderen Stelle eine Kontrolle ­ beim Technologieexport. Was kann der Westen einem Staat wie China mit seinen KI-basierten Überwachungssystemen entgegensetzen? Eisenberger: Auch europäische Staaten setzen sehr problematische Überwachungstechnologien ein. Selbst wenn wir hier glaubwürdig als Vorbild gelten könnten, sehe ich

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Foto: Astrid Eckert

Frau Eisenberger, kann künstliche Intelligenz zum Schutz von Menschenrechten beitragen? Iris Eisenberger: Ich glaube nicht, dass KI die Menschenrechtssituation in einzelnen Ländern allgemein verbessern kann. Es gibt jedoch Kontexte, in denen sie helfen kann, den Menschenrechtsschutz zu effektuieren: etwa Algorithmen, die Kommunikationsfreiheit sichern, indem sie destruktive Bots in Social Media automatisch blocken, oder Machine-Learning-trainierte Systeme, die Ernteerträge vorhersagen und Hungersnöten vorbeugen könnten. Sie würden einen Beitrag zur Gewährleistung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit leisten.


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Foto: Astrid Eckert

praktisch wenig Möglichkeiten, China etwas entgegenzusetzen. Die ökonomische Über­ legenheit macht wirtschaftliche Sanktionen weitgehend unmöglich. Die Herausforde­ rung ist aber mittlerweile eine ganz andere. Wie können wir nämlich verhindern, dass problematische Teile des digitalen Öko­ systems Chinas – wie die Diskussionen um TikTok zeigen – nach Europa importiert ­werden? Was sind die bislang krassesten Beispiele für den Missbrauch von KI als Unterdrückungsinstrument? Eisenberger: Besonders problematisch er­ scheinen mir die vordergründig unspektaku­ lären und unsichtbaren Alltagsdiskriminie­

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Iris Eisenberger, Professorin für Öffentliches Recht und Europäisches Wirtschaftsrecht, Universität Graz, Leiterin der ARGE „Künstliche Intelligenz und Menschenrechte“

rungen, beispielsweise beim Job-­Recruiting oder beim Credit-Scoring. AMAS, das AMS Arbeitsmarktchancen-Assistenzsystem, ist ein gutes Beispiel für systembedingtes, unsichtbares Diskriminierungspotenzial. Zugleich ist es ein gutes Beispiel für einen breiten gesellschaftlichen und juristischen Diskurs – ermöglicht durch einschlägige For­ schung und gerichtliche Entscheidungen. So sollte es bei allen neuen Technologien sein: ein breiter wissenschaftlicher, gesellschaft­ licher und politischer Diskurs entlang der gesamten Entwicklungskette, also Partizi­ pation von der Idee bis zur Anwendung und nicht erst, wenn die Technologie in unserer Gesellschaft verankert und aus dieser nicht mehr wegzudenken ist.

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Hoffnungsträgerin Wissenschaft Wissenschaftsminister H E I N Z F A S S M A N N über Erfahrungen aus der Coronapandemie und die Leistungen der Wissenschaften im Klimawandel

Herr Minister, was ist die wichtigste Erfahrung, die Sie im Zusammenhang mit Bildung und Wissenschaft in der Pandemie gemacht haben? Heinz Faßmann: Es gab und gibt eine Vielzahl von Erfahrungen, von weniger guten, aber auch erfreulichen, die wir alle im Laufe der Pandemie machen mussten. Die wichtigste Erkenntnis für mich war, welche bedeutende Rolle die Schule für Kinder und Jugendliche spielt – und zwar nicht nur für die Wissensvermittlung, das war mir selbstverständlich vorher auch schon klar, sondern auch als Ort des sozialen Erlebens. Dass es für die Kinder und auch noch für die Jugendlichen so wichtig ist, eine Sinn- und Tagesstruktur zu bekommen, das haben wir erst in den Lockdowns in vollem Umfang erfahren. Die Auswirkungen der Schulschließungen waren in jeder Hinsicht enorm, deshalb gilt es sie in Zukunft zu vermeiden. Welche Maßnahmen sind zu treffen, damit in ähnlichen Situationen bestmöglich reagiert werden kann? Faßmann: Wir haben unsere Sicherheitsmaßnahmen für die Schulen laufend ausgebaut und weiterentwickelt. Seit diesem Schuljahr führen alle Schülerinnen und Schüler mindestens einmal in der Woche einen PCR-Test durch, ein zweiter soll nun hinzukommen. Unser Stufenplan orientiert sich an Inzidenzen und Intensiv-Auslastung. Wir haben uns bereits im Sommer darauf vorbereitet, dass die Schulen auch bei höheren ­Inzidenzen offenbleiben können. Wie beurteilen Sie die Stellung der Wissenschaft in der österreichischen Gesellschaft nach Jahren der Pandemie? Faßmann: Ambivalent. Die Wissenschaft hat im Laufe der Pandemie einen Prestigegewinn erfahren. Noch nie sind so viele unterschiedliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um ihre Einschätzung gefragt und auch gehört worden. Und wer hätte gedacht, dass in so kurzer Zeit ein Impfstoff verfügbar ist? Auf der anderen Seite steht ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung, der sich seine eigene Welt konstruiert und

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Statistiken nicht zur Kenntnis nimmt. Die Wissenschaftsskepsis ist in Österreich im Vergleich zu anderen Ländern stark ausgeprägt. Das macht mich nachdenklich. Science gewinnt immer mehr an Bedeutung. Was bedeutet das für die Gesamtentwicklung der Wissenschaft? Faßmann: Die Wissenschaft wurde in der Pandemie zur Grundlage von wichtigen politischen Entscheidungen und hat daher ganz entscheidend an Bedeutung gewonnen. Österreich als Forschungsstandort wird nachhaltig ausgebaut, gerade auch im LifeScience-Bereich, etwa mit MedImpuls. Das bildet sich auch in den Leistungsvereinbarungen sowie in der langfristig gesicherten Finanzierung von Forschungseinrichtungen wie FWF – Der Wissenschaftsfonds, dem IST Austria oder der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ab. Der Klimawandel ist die nächste große Herausforderung. Was kann der tertiäre Sektor in dieser Situation anbieten? Faßmann: Die Universitäten und Hochschulen spielen hier mit ihrer Expertise aus den unterschiedlichen Fachrichtungen eine „DIE WICHTIGSTE ERKENNTNIS WAR, WELCHE BEDEUTENDE ROLLE DIE SCHULE F Ü R K I N D E R U N D J U G E N D L I C H E S P I E LT “ ganz entscheidende Rolle. Die Dokumentation und Analyse des kurz- und langfristigen Klimawandels, die Auswirkungen des Klimawandels auf Vegetation, Tierwelt und die Gesundheit des Menschen, die Entwicklung neuer Produktionsverfahren zur Generierung von alternativen Kraftstoffen und Energieträgern, Forschungen zur Kreislaufwirtschaft, Abfallvermeidung und Energieeffizienz und vieles andere mehr stehen im Mittelpunkt. Es ist faszinierend zu beobachten, mit welchem Engagement und Fachwissen Forscherinnen und Forscher sich diesen neuen Fragen zuwenden. Und das gibt Hoffnung, denn wir brauchen neue Technologien, um die Klimaziele zu erreichen und die Auswirkungen des Klimawandels verträglich zu gestalten.

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Foto: BKA/Andy Wenzel

CHRISTIAN ZILLNER


Foto: BKA/Andy Wenzel

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Heinz Faßmann, Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung

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Wissenschaft in den Bundesländern Die jährlichen Präsentationen der B U N D E S L Ä N D E R über ihre Förderung von Wissenschaft und Forschung SABINE EDITH BRAUN

Veronica Kaup-Hasler, Stadträtin für Kultur und Wissenschaft in Wien

GESELLSCHAFT DURCH DIE FORSCHENDEN S T R AT E G I E N D E R K U N S T M I T G E S TA LT E N

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Niederösterreich: Mit Riesenschritten zum wettbewerbsfähigen Wissenschaftsland Mit Beständigkeit erweitert Niederösterreich seine Forschungs- und Lehrangebote – das Land ist mittlerweile gefragte Anlaufstelle für Studierende und Forschende aus aller Welt. Bestes Beispiel dafür ist das Institute of Science and Technology (IST) Austria in Klosterneuburg, wo erst kürzlich das neue Laborgebäude Sunstone Building am Cam­ pus eröffnet wurde. Die langfristige Finanzie­ rungszusage von Bund und Land für die Jahre 2026 bis 2036 ermöglicht es, das Institut zu einer Größe von etwa 150 Forschungsgrup­ pen mit 1.000 Wissenschaftler*innen auszu­ bauen. Mit dieser einzigartigen Einrichtung wurde der Grundstein für eine umfassende

GRUNDLAGENFORSCHUNG, AUF DIE ICH ALS LANDESHAUPTFRAU STOLZ BIN

Johanna Mikl-Leitner, Landeshauptfrau von Niederösterreich

Grundlagenforschung gelegt, die in Nieder­ österreich beheimatet ist und auf die ich als Landeshauptfrau besonders stolz bin. Das IST Austria ist das Herzstück die­ ses Wandels, aber bei Weitem nicht die einzige Investition in die Zukunft der Men­ schen dieses Landes. Wir haben in den letzten Jahren eine Forschungsachse von Krems über Wiener Neustadt, Wiesel­ burg, Sankt Pölten und Klosterneuburg bis nach Tulln errichtet. Heute forschen über 2.000 Wissenschaftler*innen und 7.000 Studierende an über 200 Forschungsein­ richtungen, Technopolen, Universitäten,

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Fotos: Hermann Wakolbinger, Isiwal

Bildung und der aktiven Vermittlung an die Zivilgesellschaft. Wichtiger Partner ist hier der Wiener Wissenschafts- und Technologie­ fonds WWTF. Innovativ war im Jahr 2021 der Call im Feld der künstlerischen Forschung, den die Stadt Wien erstmals ausgeschrieben hat und der mit einem Gesamtvolumen von 600.000 Euro dotiert war. Die vier geförderten Pro­ jekte sind an den vier Wiener Kunstuniver­ sitäten angesiedelt. Der Call ist damit auch ein wichtiger Schritt zur Erfüllung des Hoch­ schulabkommens der Stadt Wien. Gesellschaft kann durch die forschenden Strategien der Kunst mitgestaltet werden, davon bin ich als Wissenschaftsstadträtin überzeugt. Um auch in Zukunft Förderpro­ gramme in den Bereichen Life Sciences, Big Data zur empirischen Analyse von Gesell­ schaft, IKT und Digitaler Humanismus sowie Umweltsystemforschung auf sichere Beine zu stellen, hat die Stadt Wien eine mehrjähri­ ge Fördervereinbarung mit dem WWTF über 10 Millionen Euro pro Jahr abgeschlossen – das ist eine Steigerung von fast 50 Prozent. Dazu kommen vier Jubiläumsfonds der Stadt Wien im Bereich Wissenschaft, welche in Kooperation mit den Universitäten wie auch der Österreichischen Akademie der Wissen­

schaften aus ihren Kapitalerträgen jährlich exzellente Forschungsprojekte unterstützen können. Initiativen zur Wissenschaftsvermitt­ lung sind der Stadt Wien besonders wichtig. Daher wird die Förderung einer breiten Wis­ sensvermittlung in der ganzen Stadt ausge­ baut. Ein gelungenes Beispiel sind die Wiener Vorlesungen, die digital und hybrid veran­ staltet werden und so allen die Möglichkeit geben, relevante Forschungsergebnisse aus erster Hand und für ein breites Publikum auf­ bereitet zu rezipieren.

Fotos: Christian Jobst, Markus Hintzen

Wien: Starkes Bekenntnis zur Wissenschaft Wissenschaftliches Denken ist heute re­ levanter denn je und die Förderung der Wissenschaftslandschaft ein Gebot der Stunde in einer Zeit, in der irritierende Wis­ senschaftsfeindlichkeit in der Öffentlichkeit Raum greift. Daher bekennt sich die Fort­ schrittskoalition der Stadt Wien ganz klar zu Forschung und Entwicklung. Ein Forschungsschwerpunkt in Wien ist seit längerer Zeit der Digitale Humanismus. Ziel ist es, den Menschen wieder ins Zen­ trum zu rücken und Handlungssouveränität im digitalen Raum zu erlangen. Dazu setzt Wien auf die Verbindung von Grundlagen­ forschung, angewandter Forschung, Kunst,


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­achhochschulen sowie im KrebstherapieF und Forschungszentrum MedAustron in Wiener Neustadt. Wo geforscht wird, entstehen neue Impulse und zukunftsweisende Arbeitsplätze, Forschung und Technologie sind ein unverzichtbarer Motor für die Entwicklung unseres Landes und die Gestaltung unserer Zukunft. Denn dort, wo geforscht wird, ist auch Zukunft zu Hause. Knapp zwei Drittel des Wirtschaftswachstums gehen auf Forschung, technologischen Wandel und Innovation zurück. Dass Niederösterreich bei Kaufkraft, Einkommen und Produktivität weit vorne liegt, ist auch auf die erfolgreichen Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen im Land zurückzuführen. Jeder Euro, der hier investiert wird, ist eine Investition in

Markus Achleitner, Landesrat für Wirtschaft und Forschung in Oberösterreich

KREISLAUFWIRTSCHAFT ALS MOTOR F Ü R I N N O V AT I O N E N

Steiermark: Forschungsland Nummer eins in Österreich Die Steiermark konnte im heurigen Jahr mit einer regionalen Forschungs- und Entwicklungsquote von 5,15   Prozent einen historischen Höchststand erreichen. Damit bleiben wir mit großem Abstand das Innovations- und Forschungsland Nummer eins in Österreich und zählen weiterhin zu den innovativsten Regionen Europas. Diesen Erfolg verdanken wir vor allem der guten Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und öffentlicher Hand.

Fotos: Hermann Wakolbinger, Isiwal

die Zukunft unseres Landes, die sich mehrfach verzinst. In diesem Sinne wünsche ich unseren Forschungs-, Wissenschafts- und Bildungseinrichtungen für die Zukunft eine gute Entwicklung, damit die großen Humanressourcen unseres Landes auch genutzt werden. Oberösterreich: Die Innovations­ dynamik ist ungebrochen Vom Hightech-Leitbetrieb bis zum innovativen KMU wurde stark auf Forschung & Entwicklung gesetzt. Im Vorjahr floss mehr als ein Fünftel der Forschungsgelder des Bundes an oö. Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Die heimische Forschung unterstützt Unternehmen dabei, Meilensteine in ihrer Innovationsarbeit zu bewältigen und sich für die Herausforderungen der Zukunft zu wappnen. Dazu zählen unter anderem die Themenkreise Digitale Transformation, Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft, welche in der oö. Wirtschafts- und Forschungsstrategie #upperVISION2030 fest verankert sind. Als Ergebnis der regionalen Förderausschreibung Kreislaufwirtschaft fördert das Land OÖ sechs Projekte aus diesem Bereich. Für den Standort Oberöster-

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reich ergibt sich daraus doppelter Nutzen: Kreislaufwirtschaft ist Motor für Innovationen sowie für nachhaltiges Wirtschaften und stärkt so die Wettbewerbsfähigkeit. Zusätzlich wird ein Beitrag zur Erfüllung der Klima- und Umweltziele geleistet. Weiters wurden Förderausschreibungen zu den Themen Digital Health und Digitale Transformation gestartet, welche als Basis für die Weiterentwicklung neuester Technologien Weichensteller für die oberösterreichische Wirtschaft und das Gesundheitswesen darstellen. Mit diesen Initia­ tiven wurden wichtige Schritte gesetzt, um den Innovationsstandort in den Themenbereichen zur Modellregion zu machen und im internationalen Wettbewerb ganz vorne mit dabei zu sein.

75,6 PROZENT DER STEIRISCHEN F&EA U S G A B E N V O N U N T E R N E H M E N G E TÄT I G T

Barbara EibingerMiedl, Landesrätin für Wissenschaft und Forschung in der Steiermark

Insgesamt werden in der Steiermark pro Jahr 2,62  Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung ausgegeben. Die heimischen Unternehmen investieren davon jährlich 1,98 Milliarden, der öffentliche Sektor 638  Millionen Euro. Somit werden 75,6 Prozent der steirischen F&E-Ausgaben von Unternehmen getätigt. Ich bin davon überzeugt, dass Forschung und Entwicklung der Schlüssel für eine positive Zukunft sind. Denn damit sind zusätzliche Wertschöpfung, neue Arbeitsplätze und Fortsetzung nächste Seite

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somit Lebensqualität verbunden. Es ist mir daher ein großes Anliegen, weiterhin gezielt in Forschung und Entwicklung zu investieren, um die hohe Qualität sicherzustellen, unsere Top-Position zu festigen und den Erfolgsweg als international angesehenes ­ Forschungsland fortzusetzen. Gaby Schaunig, Landeshauptmannstellvertreterin und Technologiereferentin in Kärnten

KÄRNTEN IST TEIL DES GREEN TECH CLUSTERS UND DES SILICON ALPS CLUSTERS

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AKADEMISCHE VORREITERROLLE IM ­B E R E I C H D E R D AT E N W I S S E N S C H A F T E N

Andrea Klambauer, Landesrätin u. a. für ­Wissenschaft in Salzburg

Leonhard Schneemann, Landesrat für Forschungsangelegenheiten und Digitalisierung im Burgenland

gesellschaft alle wesentlichen öffentlichen Forschungsakteure im Bundesland. Für die Erforschung innovativer Modelle steuert das Land Salzburg zwei Millionen an Förderung bei, damit wird auch die in der akademischen Welt nicht alltägliche Verbindung der Grundlagen- mit Auftragsforschung ermöglicht. 2021 ist das IDA-Lab in Vollbetrieb gegangen und hat die Erwartungen übererfüllt, indem einerseits junge TopForschende für Salzburg gewonnen werden und andererseits regionale Unternehmen die Potenziale von Datenwissenschaften und künstlicher Intelligenz heben konnten. Burgenland: Mit neuen Forschungsinitiativen zu klugem Wachstum Seit wenigen Monaten hat das Burgenland einen Forschungskoordinator. Der bekannte Physiker Werner Gruber soll als Schnittstelle zwischen Land, Wirtschaftsagentur Burgenland und burgenländischen Unternehmen fungieren und helfen, Forschungsinitiativen im Burgenland zu etablieren und das Land für Betriebsansiedlungen weiter zu attraktivieren. Als Wirtschaftslandesrat habe ich ein klares Ziel: Den Anspruch, in qualitativer Hinsicht die Nummer eins zu werden. Mit der von Gruber bereits etablierten Veranstaltungsreihe „Science Village

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Fotos: Granada, lisamathis.at, Birgit Pichler

wir den österreichweit größten Anstieg der Beschäftigten im Bereich F&E (von 3.766 Beschäftigten im Jahr 2017 auf 4.445 im Jahr 2019) sowie das größte Plus bei Forschungsausgaben (19,7 Prozent). Die Forschungsquote ist auf 3,21 Prozent gestiegen. Der hohe Mitteleinsatz Kärntens zur Kompensation der fehlenden Dichte an bundesseitig finanzierten Hochschuleinrichtungen macht sich also nachhaltig bezahlt. Allein im Corona-Jahr 2021 investieren wir landesseitig rund 20 Millionen Euro im Bereich der außeruniversitären Forschung und Entwicklung. Um für die in Kärnten ansässigen Unternehmen und Betriebe die bestmögliche Ausgangsbasis für F&E zu schaffen, ist Kärnten Teil des Green Tech Clusters, des Silicon Alps Clusters und des Holzkompetenzzentrums Wood K plus. 2021 beteiligten wir uns zudem am hoch innovativen Kunststoffcluster sowie an gleich zwei Digital Innovation Hubs. An Forschungseinrichtungen sind neben den Silicon Austria Labs, die vor einem Großausbau stehen, das Fraunhofer Innovationszentrum „KI4LIFE“ in Kärnten vertreten sowie die Joanneum Research mit den Instituten Robotics und Policies. Zentrale Themenstellungen der Zukunft werden außerdem in den AIRlabs, den Lakeside Labs oder am 5G Playground erforscht. Damit haben wir eine breite Basis geschaffen, die Vernetzung, Austausch und Innovation ermöglicht. Wünschenswert wäre es aber, wenn die Grundlagenforschung und die angewandte Forschung als Ausgleich zur historisch gewachsenen Verteilung von bundesfinanzierten Universitäten durch gezielte Bundesförderungen stärker unterstützt würden.

Fotos: Foto Gleis, beigestellt, Stefan Wiesinger

Kärnten: Größter Anstieg der Beschäftigten im Bereich F&E Die heuer veröffentlichten Daten der Statistik Austria zu Forschungsaktivitäten in den Bundesländern stellen Kärnten ein ausgezeichnetes Zeugnis aus. So verzeichnen

Salzburg: Daten als Gold des 21. Jahrhunderts nützen Mit der digitalen Transformation aller Lebens- und Wirtschaftsbereiche nimmt die Menge an gesammelten Daten drastisch zu. Damit einhergehend werden die Herausforderungen bei der Zusammenführung und natürlich auch der korrekten Interpretation der Daten immer größer. Aktuell führt uns das die Pandemie deutlich vor Augen. Der Standort Salzburg nimmt österreichweit durch das erste Data-Science-Masterstudium und das erste Doktoratskolleg eine akademische Vorreiterrolle im Bereich der Datenwissenschaften ein. Die im Umfeld dieses Masterstudiums gewachsenen Ansätze in anwendungsmotivierter Grundlagenforschung und das interdisziplinäre Netzwerk werden seit Ende 2020 im Intelligent Data Analytics (IDA) Lab Salzburg organisationsübergreifend gebündelt. Mit an Bord sind mit der Universität Salzburg, der FH Salzburg, der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität und der Salzburg Research Forschungs-


Talks“ sollen komplexe wissenschaftliche Inhalte einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Außerdem startete der Bau von zwei EFRE-Investitionsprojekten: Sowohl das „Lowergetikum“ in Pinkafeld als auch das „Digital Security Lab“ in Eisenstadt sind bereits in Bau und werden Anfang des Jahres 2022 fertiggestellt. Darüber hinaus wurde die Wirtschafts­ agentur Burgenland Forschungs- und Innovations GmbH gegründet, um Synergien verschiedener Forschungsprojekte zwischen dem Land und heimischen Unternehmen zu heben. Um beste Rahmenbedingungen

Barbara Schöbi-Fink, Landesstatthalterin in Vorarlberg

„LOWERGETIKUM“ IN PINKAFELD UND „ D I G I TA L S E C U R I T Y L A B “ I N E I S E N S TA D T für Start-ups zu schaffen, wurde in Güssing schon zuvor der „Südhub“ geschaffen. Das Start-up- und Gründerzentrum unterstützt und begleitet Start-ups von der Entstehung bis zum Markteintritt. Die ersten Unternehmen aus dem Südhub haben ihren Betrieb aufgenommen. Mit all diesen Initiativen wollen wir nicht nur die Forschungsquote erhöhen, sondern das gesamte Burgenland als Forschungs- und Zukunftsstandort stärken. Vorarlberg: Digitalisierungsschub durch Joint Venture zwischen AIT und FH Die Digital Factory Vorarlberg DFV ist eine Forschungs- und Entwicklungseinrichtung am Standort Vorarlberg, die Unternehmen im Bereich digitaler Technologien unterstützt. Neben der Eigenforschung zum

Marco Tittler, Wirtschaftslandesrat in Vorarlberg

CLOUDBASIERTE FERTIGUNGSSYSTEME, D ATA S C I E N C E , K I U N D C Y B E R S E C U R I T Y

Fotos: Granada, lisamathis.at, Birgit Pichler

Fotos: Foto Gleis, beigestellt, Stefan Wiesinger

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Kompetenzaufbau werden insbesondere Konsortialforschungsprojekte und Auftragsentwicklungen mit bzw. für Unternehmen umgesetzt. Als Bindeglied zwischen Grundlagenforschung und Wirtschaft bzw. Unternehmen fokussiert die DFV auf angewandte Forschung und Entwicklung. Durch das Joint Venture mit dem AIT werden mit der Digital Factory Vorarlberg die finanziellen und technologischen Voraussetzungen für einen Digitalisierungsschub geschaffen, von dem die Unternehmen des Wirtschafts- und Forschungsstandortes profitieren. Das bestehende Wissenszen­ trum für Digitalisierung hier am Standort der Fachhochschule wird massiv ausgebaut, um so aktuelle Forschungsergebnisse für ­Wirtschaft noch besser nutzbar zu machen.

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Annette Leja, Landesrätin für Gesundheit, Pflege und Wissenschaft in Tirol

Die Forschungsschwerpunkte der Digital Factory Vorarlberg liegen in cloudbasierten Fertigungssystemen, Data Science und künstlicher Intelligenz, Funktechnologien und Cyber Security. Ein Beispiel dafür ist der Aufbau einer sogenannten Cyber-Range zur Entwicklung und Überprüfung von IT-Sicherheitssystemen für Vorarlberger Betriebe. So können Cyberangriffe auf Firmennetzwerke simuliert und Mitarbeitende in Erkennung und Abwehr geschult werden. Auch im Bereich Funktechnologien wird das Forschungsins­ titut aktiv sein. Ein Labor zur Entwicklung von 5G-basierten Anwendungen ist bereits in Planung. Tirol: Wissenschaft und Forschung als Fundament für nachhaltige Wertschöpfung Die enge Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft ist ein wesentliches Element der Tiroler Wissenschafts- und Forschungspolitik. Der Standort Tirol kann dabei mit einer erfolgreichen Zusammenarbeit und engen Vernetzung von innovativen Unternehmen sowie exzellenten Forscher*innen an den Hochschulen ­punkten. Tirol ist ein Hotspot des österreichischen Life-Science-Sektors, zu dem die Bereiche Medizintechnik, Pharma, Biotechnologie und Chemie zählen. Mit rund 11.000 Beschäftigten in Wirtschaft und Wissenschaft sowie einem Branchenumsatz von rund 2,25 Milliarden Euro hat sich dieser Sektor dank zahlreicher Initiativen von Bund, Land, Hochschulen und Industrie ausgezeichnet entwickelt. Die Bedeutung der Wissenschaft und Forschung ist uns in den vergangenen Monaten der Pandemie mehr als deutlich geworden. Eine herausragende Persönlichkeit aus diesem Bereich wurde beim diesjährigen TirolEmpfang in Wien ausgezeichnet: „Tiroler des Jahres 2021“ wurde der Krebsforscher Christoph Huber, zugleich Mitgründer von BioNTech – dem hochinnovativen Unternehmen, das den weltweit ersten zugelassenen Covid19-Impfstoff entwickelte. Huber, der in Tirol studierte, sieht seine Auszeichnung auch als Anerkennung für die hervorragenden Leistungen der Wissenschaft und Forschung in Tirol und Österreich.

TIROL ALS HOTSPOT DES ÖSTERREICHISCHEN LIFE-SCIENCE-SEKTORS

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Modellbildung & Simulation in den Wissenschaf te ILLUSTRATIONEN: GEORG FEIERFEIL

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Modelle für die Zukunft LUKAS SCHÖPPL

ls 2010 der Ausbruch des isländischen A Vulkans Eyjafjallajökull den trans­ atlantischen Flugverkehr zum Stillstand

brachte, ventilierte der CEO einer Billigflug­ linie seinen Ärger über die zivile Luftfahr­ behörde: Die Entscheidung, aufgrund der Aschewolke eine Flugverbotszone einzu­ richten, wäre völlig überzogen und basiere „bloß auf Modellen“. Für den Wissenschafts­ philosophen Axel Gelfert liefert die Aussage des Flugunternehmers ein Beispiel für ein weitläufiges Missverständnis. „Die alltägli­ che Verwendung des Begriffs ‚Modell‘ sug­ geriert, dass Modelle etwas Vorläufiges und Unfertiges und deshalb nicht aussagekräftig sind.“ Ähnlich verhält es sich mit dem Be­ griff „Theorie“. „So wie Kreationist*innen oder Verschwörungsanhänger*innen mit Aussprüchen wie ,It’s just a theory!‘ wissen­ schaftliche Theorien als ungesicherte Vermu­ tungen oder bloße Meinung diskreditieren, werden auch wissenschaftliche Modelle in ihrer Aussagekraft nicht richtig verstanden und unterschätzt.“ Dabei sind Modelle oft die beste Wissensform, um komplexe Phänome­ ne darzustellen und wissenschaftlich zu er­ forschen. Genauso wie Theorien eine Samm­ lung von wissenschaftlichen Fakten sind, um Vorgänge in der Welt zu erklären. Wie dem Flugunternehmer fällt es uns schwer, bei komplexen Problemen wie der Klimakrise und der Covid-19-Pandemie Mo­

Axel Gelfert, Wissenschaftsphilosoph, TU Berlin

M O D E L L E S I N D K E I N E S TA R R E N G E B I L D E , SONDERN UNTERLIEGEN VERÄNDERUNGEN dellen zu vertrauen, die eine Umstellung unserer alltäglichen Gewohnheiten als un­ abdingbar aufzeigen. „In den letzten einein­ halb Jahren war die Öffentlichkeit mit einer nie dagewesenen Ballung an Informationen und Modellen konfrontiert. Dabei fällt es schwer, ein Modell zu verstehen und richtig einzuordnen, insbesondere, wenn diese sehr mathematisch aussehen“, sagt Gelfert. „Mo­ delle begegnen uns immer in einem Kontext, einer bestimmten Form. Bei der Art der me­ dialen Darstellung handelt es sich oft um ein Vermittlungsproblem.“ Dabei haben Modelle selbst eine mediale Seite, und zwar in doppel­

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ter Hinsicht. Sie stehen als Erkenntnisinstru­ ment zwischen forschendem Subjekt und zu erforschendem Objekt. Andererseits nehmen Modelle eine Mittlerrolle zwischen empiri­ scher Beobachtung und wissenschaftlichen Theorien ein. In seinem Vortrag „Perspektiven der Wis­ senschaftstheorie“ am 31. Wissenschaftstag der ÖFG skizziert Gelfert in drei Punkten die Unumgänglichkeit von Modellen für die wis­ senschaftliche Praxis. „Auch wenn Modelle widerspiegeln, dass wir kein perfektes Abbild der Welt erreichen können, so sind sie doch das beste Mittel für ihre wissenschaftliche Darstellung.“ Gelfert verweist auf bekannte Modelle wie die Doppelhelix der DNA oder das Bohr’sche Atommodell. Mit dem Missis­ sippi River Basin Model führt Gelfert auch ein weniger bekanntes Modell an. Nach der Mississippi-Flutkatastrophe von 1927 und zahlreichen Regulierungsversuchen bauten Ingenieure der US Army von 1943 bis 1966 den gesamten Flussverlauf maßstabsgetreu und mit hydraulischen Pumpen versehen nach. So konnten auf einer Fläche von rund achtzig Hektar Überschwemmungen nach­ gestellt und prognostiziert werden. Für den Wissenschaftsphilosophen sind Modelle aber weit mehr als nur Simulatio­ nen von Szenarien oder Instrumente ihrer Vorhersage. Sie haben auch andere episte­ mische Funktionen. Vor allem die explora­ tive Funktion ist Axel Gelfert ein Anliegen. Als anschauliche und mehrdimensionale Gedankenexperimente bieten sie einen ers­ ten Zugang zu neuen Wissensfeldern: „Für den Gewinn neuer Erkenntnisse ist experi­ mentierendes Modellbauen essenziell. Wenn Modelle explorativ für die wissenschaftliche Praxis eingesetzt werden, bergen sie ein gro­ ßes Überraschungspotenzial.“ Dabei räumt Gelfert aber auch Einschränkungen ein, die bei der Verwendung und Konzeption wissen­ schaftlicher Modelle notwendigerweise gege­ ben sind. Modelle sind immer noch indirekte und idealisierte Repräsentationen von wis­ senschaftlichen Phänomenen. „Es wäre aber ein Fehlschluss zu glauben, Modelle wären deshalb epistemisch defizitär.“ Ein weiterer Irrtum im Umgang mit Mo­ dellen sei die Erwartung, dass sie stets diesel­ be Form annehmen und dieselben Aussagen

Foto: TU Berlin/Christian Kielmann

Der Wissenschaftsphilosoph A X E L G E L F E R T skizziert Zukunftsperspektiven der Wissenschaftstheorie und die Rolle wissenschaftlicher Modelle

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Illusration: Georg Feierfeil

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liefern sollen. Dementgegen hält Gelfert die Flexibilität, die einmal mehr kein Defizit, sondern notwendige Eigenschaft wissenschaftlicher Modelle ist. „Es gibt nicht die eine Form von Modellen. Modelle sind keine starren Gebilde, sondern unterliegen Veränderungen und werden stets weiterentwickelt.“ Diese Pluralität führe nicht zu einem Relativismus, sondern zu einer adäquateren Beschreibung und Erforschung wissenschaftlich relevanter Phänomene. Vulkanausbrüche, Klimakrise, Pandemie  – wie können wir Modellen angesichts dieser Wandelbarkeit vertrauen, dass sie die komplexen Probleme unserer Gegenwart für uns erfahrbar machen? „Einem Modell zu vertrauen ist ein bisschen, wie einem Menschen

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zu vertrauen. Wir müssen uns auf sie einlassen, uns an sie gewöhnen. Modelle haben auch eine Art Eigenleben“, sagt Gelfert. Konfrontiert mit unvermeidlichen Limitationen bei der Repräsentationsfähigkeit von Modellen gelte es, auch Toleranz gegenüber Unvollständigkeit walten zu lassen. Dieser „Mut zur Lücke“ darf aber nicht größer sein als der Mut, Lücken zu füllen. „Fast Science“, das übereilte Produzieren wissenschaftlicher Erkenntnisse, wird angesichts drohender Probleme forciert, ist aber die falsche Devise. Sie zu fordern und gleichzeitig Vollständigkeit zu erwarten, ein weiterer Irrtum. „Es besteht die Möglichkeit, von Modellen enttäuscht zu werden. Aber sie sind das beste Erkenntnisinstrument, das die Wissenschaft hat.“

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Fundamentaler Gamechanger Der Komplexitätsforscher S T E F A N T H U R N E R , Präsident des Complexity Science Hub Vienna, über Big Data und Theoriebildung

Herr Thurner, was haben Big Data und Theoriebildung miteinander zu tun? Stefan Thurner: Große Datensätze ermöglichen es, die Welt ganz anders zu sehen als bisher. Was man in der Wissenschaft kaum gesehen hat, sind die Interaktionen zwischen Dingen. Man kannte aus der Physik die Gravitation als Interaktion zwischen Planeten, aus der Chemie die elektrostatischen Anziehungskräfte, und man wusste um Interaktion bei den Elementarteilchen. Aber man weiß noch wenig, wie Menschen, Tiere oder Zellen interagieren. In großen Datensätzen finde ich erstmals die Information, wie ein ganzer Staat miteinander telefoniert, miteinander redet, wie der Homo Sapiens interagiert.

Stefan Thurner, Komplexitätsforscher, MedUni Wien

Der Unterschied zwischen Lebewesen und Naturwissenschaften ist wesentlich? Thurner: Genau. In der Naturwissenschaft hatte man vier Kräfte: Schwerkraft, Elektromagnetismus, starke Kernkraft, schwache Kernkraft. Mehr gibt’s nicht. In komplexen Systemen aber hat man nicht nur vier Kräfte, sondern sehr viele. In komplexen Systemen interagieren die Bauteile durch Netzwerke, die man niemals durch Zettel und Papier in den Griff bekommen würde. Durch die Möglichkeit, Daten aufzuzeichnen, kann man nun diese Netzwerke sehen. Das ist ein fundamentaler Gamechanger, wie man Wissenschaft sieht. Man kann jetzt in einem O F T W I R D D AT E N S C H U T Z V O R G E S C H O B E N , UM PROJEKTE NICHT MACHEN ZU MÜSSEN Netzwerk Millionen und Abermillionen von Interaktionen sehen. Und diese Information kann man nutzen, um zu verstehen, wie ein System funktioniert. Dafür aber muss ich Theoriebildung machen. Die Daten allein helfen mir im Regelfall nichts, ich muss sie in ein Korsett, ein Modell zwingen. Sonst bleiben Daten eine sinnlose Ansammlung von Information. Ein Freund von uns, ein berühmter Physiker in Santa Fe, sagt: „Big data without big theory is big bullshit“. Was braucht es, um zu einer Theoriebildung zu kommen?

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Thurner: Eines der allerwichtigsten Dinge ist, eine gute Frage zu haben. Gute Wissenschaftler haben eine große Frage und suchen dann die Mittel, die sie brauchen, um sie zu beantworten. Oft kommt jemand mit einer Frage, die so interessant ist, dass man sie bearbeitet. Wenn er dazu auch Daten hat, hat man schnell eine Kooperation. Sonst kommt man oft an die Daten nicht heran – oder erst, wenn alle anderen sie auch schon haben. Inwiefern ist es schwierig, an Daten heranzukommen? Thurner: Oft wird Datenschutz vorgeschoben, um Projekte nicht machen zu müssen, die schwierig durchzusetzen sind, zum Beispiel elektronisches Contact-Tracing, das in den südostasiatischen Staaten das wichtigste Pandemiebekämpfungstool war. Wir haben darauf verzichtet, weil es für Parteien selbst in einer Pandemie schwer zu verkaufen ist, dass man weiß, wer wen getroffen hat. Obwohl man das anonymisieren kann. In der Medizin haben wir in Österreich die paradoxe Situation, dass gute Daten an sich vorhanden sind. Aber sie werden von dreißig verschiedenen Institutionen gesammelt. Und oft nicht weitergegeben, weil man Angst hat, jemand könnte daraus Profit ziehen. Ohne zu bedenken, dass, wenn man sie teilt, beide Teile etwas davon haben, insbesondere auch die Republik sowie Patienten, Ärzte, Krankenhäuser und die Versicherungen. Mein Kollege Peter Klimek und ich haben daher eine Initiative gestartet, damit der Staat eine einheitliche Stelle einrichtet, wo alle Medizindaten hineinkommen und jeder, der Daten braucht, wie Versicherungen, Ministerien, Patientenanwälte, Ärzte, Pflegestellen oder Apotheken, einen Zugang erhält. Sie erstellen mit dem Complexity Science Hub für das Gesundheitsministerium 14-Tage-Prognosen über die Situation der Intensivbettenbelegung im Zuge der Pandemie. Was sind die besonderen Herausforderungen bei dieser Aufgabe? Thurner: Wir machen eine Menge Forschung. Wenn sich das Virus ändert, dann muss ich alles wieder neu lernen: Wie ansteckend es ist, wie schnell es sich ausbreitet. Sind beide Virusarten gleichzeitig vorhanden? Wann übernimmt das andere, und was

Foto: Eugenie Sophie

BRUNO JASCHKE

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Illusration: Georg Feierfeil

Foto: Eugenie Sophie

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heißt das für den Verlauf der Krankheit? Das weiß man anfangs nicht. Man muss ausrechnen, wie das neue Virus funktioniert, das jetzt übernimmt, damit man mit der Prognose gut bleibt. Das ist äußerst schwierig; dazu kommt das Problem, an Daten zu kommen. Diesbezüglich muss man auf Israel schauen, oder auf England – im Wissen, dass man Israel und Österreich nicht vergleichen kann, denn die Familiendichte ist in Israel anders, die Familien besuchen einander viel öfter und es gibt dort eine große orthodoxe Gruppe, die sich nicht impfen lässt. Auch England ist anders, schon beim Wetter angefangen. So sind Hunderte kleine Faktoren zu berücksichtigen, wenn man versucht, sich auf die Daten einen Reim zu machen.

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Was könnten Datensätze sonst noch zur Pandemiebekämpfung beitragen? Thurner: Man könnte auch erheben: Wie viele Patienten auf den Intensivstationen sind geimpft oder nicht geimpft? Das wissen wir derzeit nur, wenn Ärzte die Patienten fragen. Und die sagen die Wahrheit oder nicht. Die Zahl von neunzig Prozent an Ungeimpften ist nur, was man hört. Das ist nichts Systematisches, im Prinzip sind es bloß ­Anekdoten von Ärzten. Wir haben auch keine Ahnung, welche Berufsgruppen wie stark geimpft sind. Da haben wir keinen Überblick, damit kann man nachher nichts steuern. Wenn man nichts steuern kann, ist am Ende das einzige Mittel, das bleibt: wieder alles zusperren.

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Die Pixar-Studios der Uni Wien Leiterin des Instituts für Theoretische Chemie an der Universität Wien, über Animationsfilme mit Molekülen

LETICIA GONZÁLEZ,

zusammenschüttet. Dabei bewegen wir uns im Femtosekundenbereich. Das ist eine Zahl mit 15 Nachkommastellen. Die Berechnung der Modellierung einer einzelnen Femtosekunde kann je nach Komplexität Stunden in Anspruch nehmen. Würden wir etwa eine ganze Minute modellieren wollen, würde das länger dauern, als das Universum existiert.

Frau González, wann haben Sie zum letzten Mal in einem Labor gearbeitet? Leticia González: Während des Studiums, jetzt würde ich wohl nur mehr alles kaputtmachen. Chemie klingt für viele Menschen nach Labor, aber meine Kolleg*innen und ich beschäftigen uns ausschließlich mit Computersimulationen. Statt im Labor sitzen wir vor dem Computer und modellieren Moleküle, um deren Eigenschaften und Verhalten erklären zu können.

Leticia González, Theoretische Chemikerin, Universität Wien

Wie geht man dabei vor? González: Mit Quantenmechanik. Deren zentrale Gleichungen wurden vor einem Jahrhundert aufgestellt, mit den Supercomputern ist es möglich geworden, komplexe Modelle zu rechnen. Je größer die Systeme sind, desto komplexer wird es, und desto mehr Rechenleistung benötige ich. Eine zentrale Gleichung ist für uns die Schrödingergleichung, auf der viele unserer Modelle beruhen. Diese liefert aber nur für Systeme mit zwei Teilchen eindeutige Lösungen. So ein System ist etwa das Wasserstoffatom, das aus einem Elektron und einem Proton besteht. Damit kommen wir aber nicht weit, denn als Chemiker*innen wollen wir natürlich auch Aussagen über alle Atome, ganze Moleküle und Reaktionen zwischen Molekülen treffen. Solche Modelle mit mehreren Elementen lassen sich nur mehr numerisch über AnnäheS TAT T I M L A B O R S I T Z E N W I R V O R D E M COMPUTER UND MODELLIEREN MOLEKÜLE rungen lösen. Dafür benötigt man sehr viel Rechenleistung. Können Ihre Modelle auch Abläufe wiedergeben? González: Wenn man im Labor zwei Lösungen zusammenschüttet, dann ändert sich vielleicht die Farbe, und man sieht, es hat etwas reagiert. Aber das war es dann. Wir können in unseren Modellen sichtbar machen, wie sich die Moleküle während einer chemischen Reaktion verhalten. Wir stellen molekulare Animationsfilme her und können so in Echtzeit stark verlangsamt zeigen, was passiert, wenn man etwa zwei Flüssigkeiten

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Wie relevant ist die Rechenleistung? González: Sie steigt zwar kontinuierlich, aber viele Aufgaben benötigen so viel Rechenleistung, dass man das nicht einfach mit ihr lösen kann. Die Gleichungen, die wir lösen, skalieren exponentiell. Wir können nicht warten, bis mehr Rechenleistung zur Verfügung steht, sondern müssen kreative Lösungen finden und uns Modelle überlegen, die es erlauben, unsere Forschungsfragen zu beantworten. Wir sehen uns darum genau an, welche Fragen wir mit welchen Modellen effizient beantworten können, und entwerfen Modelle, um neuartige Fragestellungen zu bearbeiten. Wir nutzen auch Machine Learning und neuronale Netze, um Modelle zu finden, die Rechenleistungen noch effizienter nutzen. Quantencomputer sind ein spannendes Thema für uns. Unsere Simulationen beruhen auf quantenmechanischen Annahmen. Damit sind sie ideal, um Quantencomputer zu erproben. Umgekehrt wird auch unsere Arbeit von dieser Technologie profitieren, sobald sie ausgereift ist. Im Moment ist das aber noch Zukunftsmusik. Welchen Vorteil bieten die Modelle im Vergleich zu Laborexperimenten? González: Die Rechenzeit auf Supercomputern ist teuer, aber sie ist günstiger, als in Laboren komplexe Versuchsanordnungen aufzubauen. Vieles lässt sich auch gar nicht im Labor nachvollziehen. Unsere Modelle funktionieren wie ein präzises Mikroskop, mit dem wir bis auf die Ebene der Kerne sehen können. So können wir auf mikroskopischer Ebene Erklärungen für makroskopische Eigenschaften finden. Wenn man sich bestimmte Eigenschaften wünscht, kann man auch für bestimmte Anwendungen ganz gezielt nach diesen suchen oder versuchen, schon vorhandene Eigenschaften zu verbessern. Das Verhältnis von Experiment und

Foto: ÖAW

WERNER STURMBERGER

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Modell ist aber kein Entweder-oder. Meistens gehen beide Hand in Hand. Man versteht nicht immer alles im Experiment und braucht dann eine theoretische Erklärung.

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Für welche Anwendungsbereiche sind Ihre Modelle besonders relevant? González: Unser Arbeitsbereich ist die Wechselwirkung von Molekülen und Licht. Das, was wir machen, ist natürlich Grundlagenforschung, aber Prozesse, die durch Lichtabsorption ausgelöst werden, sind allgegenwärtig. Das beginnt beim menschlichen Sehen oder für die Umwelt grundlegende Mechanismen wie die Photosynthese, reicht aber auch in technische Bereiche ­hinein wie medizinische Bildgebungsverfahren oder

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Photovoltaik. Wir sind Teil eines Forschungskonsortiums, in dem wir der Frage nachgehen, wie man Moleküle so verändern kann, dass sie besser für die künstliche Photosynthese geeignet sind. Dazu braucht man auch die Theorie, um Vorhersagen zu treffen und Erklärungen zu bieten, um so Forschung und Entwicklung zu steuern. Das heißt nicht, dass wir morgen eine definitive Antwort haben werden, aber ohne die Grundlagenforschung kann man keine neuen Prototypen entwickeln. So sind wir in unserem Forschungsbereich in Kontakt mit vielen spannenden und gesellschaftlich relevanten Anwendungen. Unsere „molecular movies“ helfen uns dabei, Vorschläge zu unterbreiten, wie man Prozesse optimieren kann.

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Vorstellungen vom Körper Professorin für Theaterwissenschaft und Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin, über Körpermodelle

GABRIELE BRANDSTETTER,

Frau Brandstetter, wieso kann der Körper auch ein Modell sein? Gabriele Brandstetter: Für viele ist der Körper einfach eine Gegebenheit der Natur. Doch wie wir diesen sehen, ist durch Diskurse, wie Michel Foucault sagen würde, also durch Redeordnungen formiert, die ihrerseits unsere Vorstellungen über Realität prägen. Wie man im Alltag und auch auf der Bühne Körper vor sich hat, ist somit durch Modelle reguliert, sowohl die Körpermaße als auch die Erscheinungsweise betreffend. Theoretiker*innen wie Pierre Bourdieu haben herausgearbeitet, dass all das, was wir mit dem Körper verbinden, auf Körpertechniken und dem Habitus basiert. Gendertheoretikerinnen wie Judith Butler wiesen darauf hin, dass die Frage des Bios im Sinn von Sex oder Gender sozial codiert ist. Es sind also immer schon Modelle im Spiel, wenn wir uns mit Körper befassen. Modelle sind natürlich vereinfachend und ­reduzieren komplexe Zusammenhänge.

Gabriele Brandstetter, Theaterwissenschaftlerin, Freie Universität Berlin

Was ist nun ein Beispiel für ein Körpermodell im Tanz? Brandstetter: Etwa das klassische Ballett, das aus der Tradition Ludwigs XIV. kommt und bis heute auf dieser Basis reguliert ist. Das zugrunde liegende Modell ist hier geometrisch organisiert, man geht von der Idee eines symmetrisch organisierten Körpers aus. Nun wissen Tänzer*innen, dass der inDAS ZUGRUNDE LIEGENDE MODELL BEIM KLASSISCHEN BALLETT IST GEOMETRISCH dividuelle Körper nicht so ist. Hier spielt die Realität der Abweichung von diesem Modell eine Rolle. Denn die Ästhetik des Tanzes bedingt, dass Tanzende in ihrer Praxis ständig damit beschäftigt sind, diesem Modell zu entsprechen. Jeder hat ja eine Schokoladenseite und kann in eine Richtung besser eine Pirouette drehen als in die andere, was ständig korrigiert werden muss. Modell und Angleichung an das Modell bilden ein striktes Reglement aus, das einer ästhetischen Idee der Klarheit und einer proportionalen sowie funktionalen Schönheit entspricht. Dieses Modell geht aber durchaus konform mit

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e­ iner kinetischen und motorischen Energie auf der Basis eines anatomischen Wissens. Das künstlerische Moment basiert nun auf der Abweichung von diesem Modell, wenn manche besonderen Tänzer*innen, die uns alle begeistern, sogar darüber hinausgehen. Der ‚thrilling moment‘ liegt im Surplus, wenn etwa durch eine minimale Verlängerung in der Arabeske die Stabilität in Labilität überführt wird. Diese Beherrschung geht weit über Virtuosität hinaus. Wie ist das im zeitgenössischen, nicht akademischen Tanz? Brandstetter: Hier bleibt die Anatomie interessanterweise ebenfalls der Referenzpunkt für das zugrunde liegende Körpermodell. Man versucht jedoch, gegen die Idee der Symmetrie zu agieren und die Diversität des Körpers und seine Individualität zu betonen. Trainingsformen sind hybride Techniken und somatische Praktiken, sei es Alexander-Technik, Tai-Chi, Qigong, Yoga und die Feldenkrais-Methode. Letzterer liegt ein anatomisches, kinetisch-motorisches Körpermodell zugrunde, das auf Knochen, Gelenke und Muskeln fokussiert. Man konzentriert sich dabei auf Blockaden des Körpers, und in den Übungen geht es um funktionale Integration. Alle diese somatischen Praktiken beziehen sich auf ein anatomisches Modell. Mein Beispiel zur Anschauung ist die in Wien lebende französische Tänzerin und Choreografin Anne Juren. Sie ist auch FeldenkraisPractitioner und gab vor einiger Zeit eine Serie von „Private Anatomy Sessions“ für Publikum. Die Teilnehmer*innen lagen da in entspannter Position am Boden, und Juren rief mittels Imaginationstechnik deren anatomischen Atlas in der Vorstellung auf. Sie führte die Menschen in der Folge durch deren eigenen Körper. Das Spannende ist, dass in diesem Fall das Körpermodell individualisiert wird, weil jeder Mensch eine andere Vorstellung vom anatomischen Atlas hat. Juren machte das auf imaginär-haptische Weise, sodass man seine Organe sogar innerlich berühren konnte. Natürlich kommen hier bei manchen auch Vorstellungsblockaden vor, und vieles an Imagination entspricht nicht unbedingt dem Lehrbuch über innere Anatomie, sondern dem jeweils verfügbaren Wis-

Foto: Christina Stivali

BARBARA FREITAG

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Illusration: Georg Feierfeil

Foto: Christina Stivali

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sen ­darüber. Nicht alle Menschen haben das gleiche Körperwissen, schon deshalb nicht, weil unsere Körper- und Gesundheitsdiskurse so hybrid sind. Mich interessiert das Potenzial der Entgrenzung: Jede Zuschauer*in wird mit ihrem Wissen konfrontiert, diese Konfrontation kann eine neue Erkenntnis provozieren. Juren setzt all dem noch eines drauf, indem sie das Geschehen ins Imaginäre und Fiktionale ausweitet. Es passieren Dinge in der Imagination, die real anatomisch nicht möglich sind. Und doch gibt es immer ein anatomisches Modell, das hier freilich nicht dazu da ist, um Komplexität zu reduzieren. Kunst zielt darauf, neue Komplexitäten herzustellen. Es ist eine fiktionale Arbeit am Körpermodell, die es aus seiner Abstraktion herausführt und neue Er-

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fahrungsräume öffnet. Um diese unterschiedlichen Erfahrungsräume geht es, und da man sich zusammen mit anderen in einem öffentlichen Raum befindet, ist das auch ein politisches Geschehen. Die Tanzwissenschaft leistet hier also die hermeneutische Auslegung? Brandstetter: Auf der künstlerischen Ebene konnten wir anhand von Anne Juren sehen, wie Modelle kreiert werden. Die Tanzwissenschaft kann das anschaulich machen durch historisch-diskursbezogene Analyse der Ästhetiken und deren kultureller Voraussetzungen. Es ist ein vergleichendes Arbeiten in einer Mischung aus Diskursanalyse und einem hermeneutischen Verfahren.

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Die simulierte Gesellschaft G. TROITZSCH

über Simulationen in den

CLAUDIA STIEGLECKER

ie entstehen soziale Systeme? Welche W Einflussfaktoren können zu Veränderungen führen? Fragen, mit denen sich u. a.

die Computersimulation in den Sozialwissenschaften auseinandersetzt: „Im Grunde versuchen wir, mit der Informatik eine künstliche Gesellschaft zu erzeugen“, erklärt der Soziologe Klaus G. Troitzsch. Der emeritierte Professor für Computeranwendungen in den Sozialwissenschaften an der Universität Koblenz-Landau beschäftigt sich seit nahezu fünfzig Jahren mit der Materie: „Die Idee der Simulation in den Sozialwissenschaften hat mich schon im Studium fasziniert, die Möglichkeiten dafür waren damals allerdings beschränkt. Seither hat die Informatik aber riesige Fortschritte gemacht.“ Fortschritte, die die Simulation von menschlichem Verhalten in Kommunikation mit anderen Menschen zulassen: „Kleine Computerprogramme, sogenannte Agenten, interagieren miteinander. Mit ihnen gelingt es uns, etwas zu schaffen, das dem Ausschnitt einer menschlichen Gesellschaft ähnelt. Wir geben den Agenten in einem Simulationsmodell ausgewählte menschliche Fähigkeiten mit. Sie werden jeweils vom Problem definiert, das simuliert werden soll. Zu unterscheiden ist dabei zwischen Modellen, die entweder auf plausiblen Annahmen oder auf empirischen Daten beruhen“, erklärt Troitzsch.

Klaus G. Troitzsch, Soziologe (em.), Universität KoblenzLandau

„COMPUTERPROGRAMME SIMULIEREN MENSCHLICHE GESELLSCHAFT“ Modelle, deren Grundlage plausible Annahmen über das Verhalten und die Handlungen menschlicher Akteure bilden, bezeichnet Troitzsch als Spielmodelle: „Die Vermutungen, die getroffen werden, beruhen auf dem Bauchgefühl der Modellierenden, ein Lernspiel, das sich im besten Fall als nützlich erweisen kann.“ Trifft man in einer Autoverkehrssimulation die simplen „Bauchgefühl“-Annahmen, dass die Beteiligten Zusammenstöße vermeiden wollen und sich untereinander austauschen, verständigen sich die virtuellen Autofahrer*innen nach einiger Zeit darauf, dass alle dieselbe Straßenseite benutzen. „Mit

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diesem Spiel­modell lässt sich zeigen, wie die Anwendung individueller Regeln durch die Aktionen und das Zusammenspiel zahlreicher Softwareagenten zur Entstehung von allgemein befolgten Regeln führt.“ Im Gegensatz dazu werden bei Simulations­ modellen, die auf empirischen Daten beruhen, ein Anfangszustand sowie Verhaltens- und Handlungsregeln aus Messungen abgeleitet und dann mit Wahrscheinlichkeiten bewertet. „Die Annahmen werden hier aufgrund von Erfahrung getroffen. Mit diesen Modellen kann man rückblickend zeigen, welche Faktoren Einfluss haben. Die Simulationen rund um die aktuelle Coronapandemie sind dafür Lehrbeispiele.“ War etwa die Reproduktionszahl R0 am Anfang der Pandemie noch in aller Munde, hat sie als Richtwert für das Infektionsgeschehen ausgedient: „Die Grundannahme bei der Berechnung von R0 lautete, dass alle Infizierten gleich viele Leute anstecken. Mithilfe von Simulationen lässt sich zeigen, dass diese Vereinfachung unzulässig ist und die realen Geschehnisse nicht abbildet.“ Klaus G. Troitzsch hat seine Simulation der Coronapandemie um eine sozialpsychologische Komponente erweitert, die in empirischen Simulationsmodellen normalerweise nicht berücksichtigt wird: Den Risikoniveaus der Agenten, die sich beispielsweise aus ihrer Geselligkeit oder ihrer Sorglosigkeit ergeben, wird die Kommunikation über Normen hinzugefügt. Die Agenten tauschen sich etwa über die Maskenpflicht oder die Notwendigkeit, zu Hause zu bleiben, aus und weisen einander darauf hin, dass die Regeln befolgt werden sollen. Die von einem Agenten kommunizierte Norm kann dabei aber ebenso „Frei atmen“ lauten – der Anteil der jeweiligen Standpunkte wird in den Anfangsbedingungen berücksichtigt. „Ein einzelner Simulationslauf mit einer bestimmten Konstellation von Parametern dauert Stunden“, erläutert Troitzsch. Nach jedem Durchlauf wird erneut analysiert, inwieweit das Ergebnis der Wirklichkeit entspricht, dann gegebenenfalls neu bewertet, kalibriert, validiert: „Jeder Parameter kann viele unterschiedliche Werte annehmen und wird von den anderen Parametern beeinflusst, die ebenfalls viele Werte annehmen

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Der Soziologe K L A U S Sozialwissenschaften

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können.“ Im Endeffekt seien Hunderte von Durchläufen nötig, um relevante Einflussfaktoren eingrenzen zu können. In Bezug auf die Coronapandemie lasse sich zeigen, dass unter anderem die Mutationsrate des Virus und die Bevölkerungsdichte starken Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben. Valide Voraussagen, wie es mit der Pandemie weitergeht, seien damit allerdings nicht zu treffen. „Der Rückblick lässt erkennen, was unter Umständen falsch beurteilt wurde und man künftig anpassen könnte“, meint Troitzsch. „Prognosen sind immer mit Vorsicht zu genießen.“ Denn letztendlich arbeitet jede Simulation mit Wahrscheinlichkeiten: „Denken Sie an die Wettervorhersage. Wird für die nächsten Tage eine Höchsttemperatur von 20 Grad an-

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gekündigt, muss man sich eigentlich bewusst machen, dass es sich lediglich um den wahrscheinlichen Verlauf der Temperaturkurve handelt“, führt Troitzsch aus. „Die korrekte Prognose müsste lauten, dass die Höchsttemperatur mit einer Wahrscheinlichkeit von 95  Prozent in einem Bereich von 18 bis 22 Grad liegen wird.“ Das sogenannte Konfidenzintervall gibt den Bereich an, innerhalb dessen der zu erwartende Wert mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit liegt. Abweichungen davon seien prinzipiell immer möglich. Es gehe nie darum, was geschehen wird, sondern was geschehen könnte, betont Troitzsch: „Wie sagt man landläufig so schön: Vorhersagen sind schwierig, vor allem wenn sie sich auf die Zukunft beziehen.“

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Archäologie wird anschaulicher

n Athen, rund 500 Jahre vor Christi Geburt, Ihaben töpferten die Menschen „Kopfgefäße“. „Sie meist die Form eines Frauenkopfes

und wurden nicht auf einer Töpferscheibe gemacht, sondern aus einem Model gefertigt“, erklärt Elisabeth Trinkl. Diese Hohlform war manchmal nach einigen Serien ausgeschlagen oder aus anderen Gründen nicht mehr zu verwenden. Dann stellten die antiken Künstler*innen aus einem bestehenden Gefäß einfach wieder einen neuen Model her. „Durch die Eigenschaft des Tons, beim Trocknen und beim Brennen zu schrumpfen, ist die zweite Serie dann aber um eine Spur kleiner als die erste.“ Mit dem Maßband am Objekt und anderen konventionellen Messmethoden könne das eine Wissenschaftler*in aber kaum nachvollziehen. „Diese kleinen Differenzen sind aber durch digitale, dreidimensionale Modellbildung wunderbar nachweisbar“, so die Archäologin. Vor allem könne man auch zwei Kopfgefäße ortsunabhängig vergleichen, zum Beispiel wenn sie in Wien und Berlin in Museen stehen, aber gescannt wurden und die Daten weltweit zur Verfügung stehen. „Die Archäologie arbeitet immer mit dreidimensionalen Objekten. Normalerweise kann man diese Objekte nur gut erfassen,

Elisabeth Trinkl, Archäologin, Universität Graz

„MAN KANN FRAGMENTE AUS UNTERSCHIEDLICHEN SAMMLUNGEN D I G I TA L Z U S A M M E N F Ü H R E N “ wenn man sie in der Hand hält.“ Hier eröffnen Digitalisierung und Modellbildung am Computer neue Möglichkeiten. „Man kann nicht nur Objekte miteinander vergleichen, die zum Beispiel an ganz verschiedenen Orten verwahrt sind, sondern zum Beispiel auch Fragmente aus unterschiedlichen Sammlungen digital zusammenführen und die virtuelle Verbindung visualisieren. Dadurch gewinnt man einen ganz neuen Eindruck des ungebrochenen Objekts“. Sehr oft finden Archäolog*innen nur Fragmente. „Auch hier helfen uns die Modelle, einen Vorschlag zu machen, wie sie im vollständigen Zustand ausgesehen haben.“ Die althergebrachten Regeln für ­archäologische Restaurierungen

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würden dafür sorgen, dass man nicht übertreibt und allzu viel Fantasie in die wissenschaftliche Rekonstruktion am Computerbildschirm einfließt. Es müsse zum Beispiel klar erkennbar und optisch getrennt werden, was Originalbestand ist und was ergänzt wurde. Man könne auch für eine Ausstellung eine Rekonstruktion beispielsweise am 3-DDrucker herstellen und daneben das Fragment legen, aus dem man die Gesamtgestalt rekonstruierte. Was in der Archäologie vielfach vernachlässigt und vergessen wird, sind die Farben und Ornamente, die all die Objekte früher einmal geschmückt haben, meint die Forscherin. Fast alle grauen, erd- und steinfarbenen Stücke, die Forschende aus der Erde befreien, waren einst bunt bemalt und reichlich verziert. Auch dies könne man mit digitalen Methoden viel effektiver nachvollziehen als mit konventionellen. „Wir arbeiten mit Kolleg*innen der Technischen Universität Graz zum Beispiel an Mustererkennungsprogrammen bei dekorierter Keramik.“ Die Computer suchen und vergleichen mit „Deep Learning“-Algorithmen Muster auf der Gefäßoberfläche. In einem anderen Projekt scannten Forschende des Instituts für Antike der Universität Graz Römersteine aus Flavia Solva in der Südsteiermark. So konnten sie deren Geschichte nachvollziehen und zum Beispiel zeigen, dass heute in der „Römersteinwand“ im Schloss Seggau verbaute Steine ursprünglich zusammengehörende Bauteile desselben Grabmals waren. Trinkl plädiert dafür, die dreidimensionalen Daten in der Archäologie für alle Forschenden verfügbar zu machen. Es gebe zwar vereinzelt Anstrengungen – „ich habe 25 Jahre lang ein digitales Journal für Archäologie geführt, und wir bauen hier an der Uni Graz gerade ein virtuelles Museum auf “ –, aber die Altertumskunde sei vor allem bei Publikationen derzeit noch „extrem textlastig“. „Im Moment ist es daher oft schwierig, diese 3-DDaten bei einer Veröffentlichung mitliefern zu können. Doch immer mehr Forschende verwenden glücklicherweise Daten-Repositorien, auf denen sie diese anbieten und von denen man sie herunterladen kann. Da sehe ich persönlich großen Aufholbedarf.“

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JOCHEN STADLER

ELISABETH TRINKL

Foto: Uni Graz/Tzivanopoulos

Den Vorteil von dreidimensionaler Modellbildung erläutert vom Institut für Antike der Universität Graz


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Wie Maschinen lernen vom Institut für Machine Learning der Universität Linz über die Entwicklung künstlicher Intelligenz BERNHARD NESSLER

CLAUDIA STIEGLECKER

Herr Nessler, was ist eigentlich unter künstlicher Intelligenz zu verstehen? Bernhard Nessler: Das ist ein verwirrender Begriff, der gemeinhin anders verstanden wird als in der Wissenschaft. Es existiert kein eigenständiges, intelligentes Programm, das autonom Entscheidungen trifft, sondern es gibt viele einzelne Algorithmen, die unter dem Begriff künstliche Intelligenz zusammengefasst werden. Es geht nicht darum, einen unabhängigen „Geist“ zu schaffen, sondern um die Fähigkeit einer Maschine, intelligentes menschliches Verhalten zu imitieren. Beim maschinellen Lernen etwa erkennt ein künstliches System aus einer großen Datenmenge mithilfe von Algorithmen Muster, Gesetzmäßigkeiten und Beziehungen und fasst diese Korrelationen in mathematische Funktionen und statistische Modelle. Die identifizierten Zusammenhänge und Statistiken ermöglichen dem System, in weiterer Folge auch bis dahin ungesehene Daten einzuschätzen. Die Maschine hat also „gelernt“, auch wenn dieses Lernen und Erkennen nicht wie beim Menschen erfolgt.

Bernhard Nessler, Experte für Machine ­Learning, Universität Linz

Inwiefern? Nessler: Einem Menschen fällt es zum Beispiel leicht, den Bedeutungszusammenhang

Foto: Privat

Foto: Uni Graz/Tzivanopoulos

„ E S G E H T U M D I E FÄ H I G K E I T E I N E R MASCHINE, INTELLIGENTES MENSCHLICHES V E R H A LT E N Z U I M I T I E R E N “ zwischen einem Bild und seiner Beschreibung herzustellen. Eine Maschine muss sich erst in einer Unmenge von Daten und Zusammenhängen zurechtfinden: Wie hängen die einzelnen Pixel des Bildes zusammen? Wie passen die Worte der Bildbeschreibung zu diesen Pixeln? Wie stehen die Worte miteinander in Beziehung? Bei so komplexen Aufgabenstellungen hat sich das sogenannte Deep Learning bewährt. Es setzt auf künstlichen neuronalen Netzen auf, deren Architektur sich an jener des menschlichen Gehirns orientiert. Diese Netze simulieren mehrschichtige Hierarchien von Zellverbindungen, die aufgrund der präsentierten Daten kontinuierlich verbessert werden.

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Das klingt schon ein wenig nach eigenständigem Denken … Nessler: Eine Maschine arbeitet genau in dem Maß, in dem sie programmiert wurde. Ihre Ziele werden immer von außen vorgegeben, durch die verwendeten Daten oder Modelle. Und natürlich können auch noch im Nachhinein Veränderungen vorgenommen werden, beim maschinellen Lernen etwa durch Anpassungen der Programmierung. Wenn beim Deep Learning ein neuronales Netz falsche Schlüsse zieht, wird es etwas komplizierter, hier muss man auf komplexe mathematische Techniken zurückgreifen, um Fehler minimieren zu können. Grundsätzlich erfüllt eine Maschine aber nur das, wozu sie gebaut wurde, auch Fehler passieren nur in dem Rahmen, der durch die Programmierung gesteckt ist. Im Gegensatz zum Menschen wohnt ihr nicht das natürliche Bedürfnis inne, sich auszuleben – sie hat überhaupt keine Bedürfnisse, sonst würde es sich um künstliches Leben handeln. Die Maschine ist ein Werkzeug. Welche Einsatzgebiete sehen Sie für künstliche Intelligenz? Nessler: Nutzungsmöglichkeiten ergeben sich überall dort, wo es um gleichförmige Tätigkeiten geht, wie zum Beispiel in großen Produktionshallen. Der Einsatz künstlicher Intelligenz kann hier einerseits den Produktionsgrad erhöhen und andererseits die Menschen vom Stereotypen befreien. Grundsätzlich eröffnet sich eine Fülle neuer Möglichkeiten durch das maschinelle Lernen. Die wichtige Frage ist aber, wie wir das daraus gewonnene digitale Wissen nutzen. Meiner Meinung nach ist hier eine Regulierung der Anwendung dieses Wissens hoch notwendig. Den aktuellen Gesetzesentwurf der Europäischen Union zur Regulation des Einsatzes künstlicher Intelligenz halte ich allerdings für kontraproduktiv. Dieser versucht mit unklaren Definitionen, Techniken zu beschränken, anstatt den Einsatz von Daten und Wissen in Anwendungen zu regeln. Der Entwurf erzeugt große Rechtsunsicherheit und würde die weitere Forschung und Entwicklung in Europa hemmen, ohne effektiven Schutz für die Freiheit der Menschen zu bieten.

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Den Klimawandel verstehen Modellierungen zum Klimawandel beschreibt J O C H E M

MAROTZKE

aus Hamburg

MICHAELA ORTIS

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Jochem Marotzke, Direktor des Max-PlanckInstituts für Meteorologie in Hamburg

wärmere Luft mehr Wasserdampf enthält. Ob so eine Wetterlage häufiger wird, ist ent­ gegen den Behauptungen im Wetter-Fernse­ hen nicht geklärt. Der Antrieb des Jetstream wird zwar auf der Erdoberfläche geringer, weil zwischen Tropen und Arktis der Tem­ peraturunterschied sinkt, aber in acht Kilo­ meter Höhe ist es umgekehrt: Der Tempera­ turunterschied steigt und beschleunigt den Jetstream. „Um zu wissen, wie sich das entwickelt, müssten unsere Modelle feiner sein mit einer globalen Gitterweite von einem Kilometer. Das können nur Supercomputer rechnen, eigentlich brauchen wir ein CERN für die Kli­ maforschung“, so Marotzke. Bislang wurden die Forderungen der Klimaforscher nicht gehört. Was Vergangenheit und Zukunft in der Simulation verbindet, sind die Tests: Sie prüfen, ob die Modelle das tun, was sie sol­ len. Ein komplexes geophysikalisches Modell kann man nicht für wahr erklären, das wür­ de bedeuten, dass es unter allen Umständen richtig ist. Man kann es jedoch bestätigen, das ist die Confirmation. Jochem Marotz­ ke ist Mitautor des Sachstandsberichts des Weltklimarats IPCC und war in der fünften Ausgabe 2013 einer der Verantwortlichen für die Evaluierung von Klimamodellen: „Wir nutzten reale Beobachtungen vom Lufttem­ peraturkontrast über Ozean und Land aus

der Eiszeit im Vergleich zu heute und prüf­ ten, wie die Modelle das Verhalten darstellen. Das ist ein hochgradig nichttrivialer Test, den kann man nicht durch Drehen an Parame­ tern hinkriegen.“ Schwierig wird Testen, wenn der Klima­ wandel bis zum Ende des 21. Jahrhunderts betrachtet wird, denn beobachtete Mess­ daten gibt es noch nicht. So verantwortete Marotzke das Kapitel „Globale Projekti­ on“ im aktuellen IPCC-Bericht: „Für dieses grundsätzliche Problem gibt es keine umfas­ sende Lösung. Wir haben die globale Erwär­ mung der letzten vierzig Jahre genommen, damit die unterschiedlichen Modelle kali­ briert, und sie haben ein konsistentes Ergeb­ nis geliefert.“ Dieser Testansatz war möglich,

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Illustration: Georg Feierfeil

„EIGENTLICH BRAUCHEN WIR EIN ZWEITES CERN FÜR DIE KLIMAFORSCHUNG“

Foto: D.Ausserhofer/MPI

as Herzstück unserer Arbeit sind Kli­ mamodelle. Zuerst steht viel Grund­ lagenforschung an, dann kommen Anwen­ dungsfragen: Was bedeutet Klimawandel für die Menschen?“, beschreibt Professor Jochem Marotzke die Arbeit am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg. Dort entstand Mitte der 1980er-Jahre weltweit das zweite umfassende Klimamodell (das erste wurde in Princeton entwickelt) und wird bis heute fortgeführt: Erstellen von Modellen, Software entwickeln und für wissenschaftliche Frage­ stellungen anwenden. Beobachtete Messreihen der Vergangen­ heit sind ein Ansatz von Klimamodellen. Die Erdoberfläche hat sich im Mittel seit dem 19. Jahrhundert um 1,1 Grad erwärmt. Nun möchte man verstehen, was passiert und ob es menschengemacht ist. Um Antworten zu finden, betrachtet die Klimaforschung kon­ trafaktische Welten, die es nie gegeben hat, erklärt Marotzke: „Wir simulieren eine Welt ohne Menschen, wo es nur Vulkanausbrüche und Schwankungen der Sonnenenergie gab. Das Ergebnis dieser Simulation ist völlig an­ ders, die Temperatur ändert sich nicht, und so können wir sagen: Die auf der Erde heute beobachtete Temperatur ist undenkbar ohne den Einfluss des Menschen.“ Die Forderung mancher Klimawandelleugner, sie wollen die Verantwortung des Menschen modell­ frei ­erklärt haben, sei unmöglich zu erfüllen, denn es gibt keine reale zweite Welt ohne Menschen. Mit Vorhersagen richten Klimamodel­ le den Blick in die Zukunft: Was passiert bis 2100, wenn die Menschheit wie bisher weiter­ macht. Hier ist ein Vergleich interessant: Das Wetter hat das erfolgreichste Vorhersage­ system der Welt, weil schon früh Daten global ausgetauscht und leistungsfähige Computer entwickelt wurden. Die extrem starken Niederschläge in Westdeutschland im Juli dieses Jahres wurden auch auf einige Tage im Voraus sehr gut vorhergesagt. Beim Klima ist das anders, hier wollen wir wissen, ob Überschwemmungskatastrophen mit der Klimaerwärmung häufiger werden. Diese Frage ist viel schwerer zu beantworten. Zwar ist thermodynamisch erwiesen, dass bei entsprechender Wetterlage die Wahr­ scheinlichkeit für starken Regen steigt, weil


Illustration: Georg Feierfeil

Foto: D.Ausserhofer/MPI

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weil seit ­vierzig Jahren die Kernänderung nur Treibhausgase betraf, die Emission von Aero­ solen ist aufgrund von Maßnahmen einiger­ maßen konstant. „Wir haben ein gutes Maß dafür gewonnen, wie die globale Temperatur auf Treibhausgasemissionen reagiert, das Vertrauen ist recht hoch, ein großer Erfolg im sechsten Bericht“, resümiert Marotzke. Das Pariser Klimaabkommen 2015 zielt auf eine Begrenzung der menschen­ gemachten Erwärmung auf 1,5   Grad. Ob der gesellschaftliche Umbau dafür schnell genug erfolgt, analysierte Marotzke mit Sozialwissenschaftler*innen im Hamburger Excellence Cluster Klima, Klimawandel und Gesellschaft: „1,5 Grad einzuhalten ist nach heutigem Wissensstand nicht plausibel.“ Die

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Folgen wie Überflutungen, Dürren, Hagel oder sinkende Grundwasserspiegel können Simulationen aufzeigen, damit die Mensch­ heit sich darauf einstellen kann. Die Wissenschaft habe die Rolle der Ana­ lyse einzunehmen, nie von Aktivismus. Katas­ trophennarrative sieht Marotzke als nicht zielführend. Sie bewirken Überlebensängste oder dass es irgendwann egal ist, was wir tun: „Es gibt einen Point of no Return im Klima­ wandel, etwa Korallen könnten unwiderruflich verschwinden. Aber, das ist der wichtige Un­ terschied: Im Klimaschutz gibt es keinen Point of no Return, es ist nie zu spät, etwas zu tun. Das Risiko steigt mit der Erwärmung, aber es ist besser, in einer 2,5 Grad wärmeren Welt zu wohnen als in einer 3,5 Grad wärmeren.“

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Publikationen der ÖFG Eine Auswahl N E U E R E R Band 22 der Reihe des Österreichischen Wissenschaftstages: Krise der Demokratie – Krise der Wissenschaften? Herausgegeben von Christiane Spiel und Reinhard Neck. 2020, Böhlau Verlag, 165 Seiten

Der Österreichische Wissenschaftstag 2018 widmete sich dem Thema „Krise der Demokratie – Krise der Wissenschaften?“. Der Bindestrich im Titel signalisiert eine mehrfach offene Frage, an deren Beantwortung sich die Beiträge zum Wissenschaftstag 2018 in diesem Band annähern. Befindet sich die demokratische Staatsform in einer Krise und könnte das auch Folgen für die Wissenschaften haben? Sind die jeweiligen Gefährdungen aufeinander beziehbar? Hängen kritische Zustände in den Wissenschaften von kritischen Zuständen der Demokratie ab, oder sind Wissenschaften und Demokratie unabhängig voneinander?

Band 23 der Reihe des Österreichischen Wissenschaftstages: Wissenschaft und Aberglaube. Hrsg. Christiane Spiel und Reinhard Neck. 2020, Böhlau Verlag, 176 Seiten

Die Beiträge des Österreichischen Wissenschaftstags 2019 setzten sich mit dem Thema des Aberglaubens und mit der damit verbundenen Wissenschaftsfeindlichkeit in interdisziplinärer Weise auseinander. Sie versuchen sich u. a. der Beantwortung folgender Fragen anzunähern: In welchem Verhältnis stehen Wissenschaft und Pseudowissenschaft? Hängen Aberglaube und Überleben zusammen? Wie entsteht Aberglaube und wie wird dieser aufrechterhalten? Wo verlaufen die Grenzen der Wissenschaft?

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BÜCHER

im Umfeld der Forschungsgemeinschaft Kulturelle Dynamiken/ Cultural Dynamics – Visualisierung. Hrsg. Sabine Coelsch-Foisner und Christopher Herzog. Universitätsverlag Winter. (Erscheint 12/2020)

Kritisches Handbuch der österreichischen Politik: Verfassung, Institutionen, Verwaltung, Verbände. Hrsg. Reinhard Heinisch. 2020, Böhlau Verlag, 334 Seiten

Der Band setzt die Bilderflut wissenschaftlicher Evidenzkulturen in Bezug zur Suche nach der Sinnlichkeit und suggestiven Kraft von Bildern. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die Zusammenhänge von eikon und episteme in wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung. Im Mittelpunkt der Beiträge stehen Dynamiken des Herstellens und Wahrnehmens von Bildern und deren Rolle für Wissensproduktion, -dokumentation und -transfer. Zehn Fallbeispiele aus unterschiedlichen Fachgebieten beleuchten das Spannungsfeld von Ästhetik und Epistemik. Im Lichte aktueller Anwendungen hinterfragt der Band die wechselseitige Abhängigkeit von analogen und virtuellen Bildern, die an der Schwelle zu einer Neubewertung von Taktilität im Zeichen der CoronaKrise 2020 besondere Brisanz erfährt.

Wie funktioniert das politische System in Österreich? Warum hat es in den letzten Jahren an Vertrauen eingebüßt? Antworten auf Fragen wie diese zu finden, gestaltet sich oft schwierig. Die rechtlichen Grundlagen gelten als schwer verständlich. Und viele politische Weichen werden in informellen Räumen gestellt. Das politische System gleicht einem Rätsel. „Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie“ möchte hier Antworten geben, wissenschaftlich fundiert, aber allgemein verständlich. Es beleuchtet das Regelwerk der Bundesverfassung, die Institutionen des demokratischen Prozesses und die politischen Funktionsweisen der Verwaltung. Vor allem zeigt es Theorie und Wirklichkeit des österreichischen Parteienstaates auf und benennt Reformmöglichkeiten.

Kulturelle Dynamiken/ Cultural Dynamics – Transmedialisierung. Herausgegeben von Sabine Coelsch-Foisner und Christopher Herzog. 2019, Universitätsverlag Winter, 438 Seiten

Staatliche Aufgaben, private Akteure. Band  3: Neuvermessung einer Grenze. Hrsg. Claudia Fuchs, Franz Merli, Magdalena Pöschl, Richard Sturn, Ewald Wiederin, Andreas W. Wimmer. 2019, Manz, 242 Seiten

Mit dem Begriff „transmedial“ wird der Fragebezug zwischen medialen Konfigurationen und dem, was gemeint ist, ins Blickfeld der Forschung gerückt. Digitale Technologien und weltweite Netzwerke haben ein Neudenken dieses Sinnzusammenhangs gefordert und Debatten über das transmediale Spannungsverhältnis zwischen Mediengebundenheit und Mediendurchlässigkeit um die Annahme einer radikalen Transitivität aller Inhalte und Verfahren erweitert.

Nach „Erscheinungsformen und Effekten“ (2015) und „Konzepten zur Ordnung der Vielfalt“ (2017) widmet sich der abschließende Band des Forschungsprojekts der Abgrenzung zwischen staatlicher und privater Sphäre: Inwieweit gelten für die vielen Personen und Organisationen, die außerhalb des Staates stehen, aber an der Erfüllung staatlicher Aufgaben mitwirken, die Regeln für den Staat oder die Regeln für Private?

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