HEUREKA 4/07

Page 1

Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:55 Uhr

Seite 25

heureka? Das Wissenschaftsmagazin im Falter

4–07 Beilage zu Falter. Stadtzeitung Wien | Steiermark. Nr. 47/07 Erscheinungsort: Wien. P.b.b. 02Z033405 W; Verlagspostamt: 1010 Wien; lfde. Nummer 2125/2007; Covergrafik: Reini Hackl

Klimawandel Was man einfach nicht wissen kann • Gentests Was man oft besser nicht weiß • Lungenkrebs Was die Tabakindustrie insgeheim wusste • Sozialforschung Was die Politik nicht wissen will


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:54 Uhr

Seite 2

EDITORIAL

wikimedia

Liebe Leserin, lieber Leser!

Alchemistische Rezepte? Ein wissenschaftliches Traktat? Seit Wilfrid Voynich 1912 das nach ihm benannte Manuskript aus der Zeit um 1600 entdeckt hat, versuchten sich zahlreiche Kryptologen an der Entschlüsselung dieser eigenartigen Sprache. Sie mussten scheitern. Wie neueste, computergestützte Untersuchungen, an denen auch der Linzer Physiker Andreas Schinner beteiligt war, nahelegen, handelt es sich um mit einer Schablone erzeugte, zufällig verteilte Buchstabenfolgen, kurz: um einen listigen Betrug.

Ein Wissenschaftsmagazin macht ein Heft über Nichtwissen? Nein, uns treibt nicht die Lust an der Paradoxie. Ständig ist die Rede von Wissensgesellschaft, Wissensbilanzen und wissensbasierter Wirtschaft. Wenn es so einfach wäre. Die Wissenschaft wird das Nichtwissen in seinen vielfältigen Formen nie abschütteln können. So bringen gerade die Fortschritte in der Klimaforschung Fragen hervor, die sich prinzipiell nicht beantworten lassen. Die Tabakindustrie hat mit Alibiforschung gezielt Nichtwissen produziert, um weiter Zigaretten verkaufen zu können. Wissen wird auch bewusst vorenthalten: Es gibt Informationskartelle und Geheimforschung. Nichtwissen ist aber nicht per se schlecht, etwa wenn es um die eigenen Erbanlagen geht. Es muss ein Recht darauf geben, nichts über mögliche Risiken wissen zu wollen. Wissenschaft, Gesellschaft und Politik sind gut beraten, sich mit dem Nichtwissen, den Unsicherheiten und Vorläufigkeiten zu befassen. Das heißt vor allem: einen Weg finden, darüber zu kommunizieren. So viel ist sicher. Oliver Hochadel & Klaus Taschwer

Andrea Dusl

Reinhard Hackl

Reinhard Hackl

Reinhard Hackl

INHALT

RAUCHWERFER 4

SICHER UNSICHER 10

PREIS DER ANGST 14

UNTER VERSCHLUSS 18

Robert Proctor zeigt, wie die

Klimawandel: Anstieg von Tempe-

Die Gendiagnostik erstellt indivi-

Da traut sich die Politik nicht drü-

Tabakindustrie mit Forschung

ratur und Meeresspiegel sind nicht

duelle Risikoprofile. Fortschritt

ber – warum beauftragte Studien

Nichtwissen schafft.

verlässlich vorhersagbar.

oder Geschäftemacherei?

oft nicht veröffentlicht werden

KEHLMANN 3 Über das Nichtlesen | DUNKLE MATERIE 8 Österreichische Forscher über ihre liebsten Lücken SELBSTHEILUNG 12 Die Medizin nutzt das Placebo zu wenig | UNWISSENSLEXIKON 20 Kathrin Passig und Aleks Scholz im Interview | URSUPPE 22 Spekulationen um den Beginn des Lebens | LETZTE FRAGEN 23 Rektor Hagelauer antwortet Impressum: Beilage zu Falter Nr. 47/07; Herausgeber: Falter Verlags GmbH, Medieninhaber: Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T.: 01/536 60-0, F.: 01/536 60-912, E.: heureka@falter.at, DVR-Nr.: 0476986; Redaktion: Klaus Taschwer und Oliver Hochadel; Satz, Layout, Grafik: Reinhard Hackl; Druck: Berger, Horn

2

heureka 4/2007 | Nichtwissen

heureka! erscheint mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschnung


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:54 Uhr

Seite 3

WISSENDE WORTE ZUM UNWISSEN wissen, dass wir wissen, was wir wis»sen,Zuund »Was man sicher weiß, ist langweilig.« zu wissen, dass wir nicht wissen, was wir nicht wissen, das ist wahres Wissen. Nikolaus Kopernikus, Astronom

«

»

Was wir wissen, ist ein Tropfen. Was wir nicht wissen, ist ein Ozean.

Isaac Newton, Physiker

«

Max Perutz, Chemiker

»

Das Nichtwissen darf am Wissen nicht verarmen. Für jede Antwort muss eine Frage aufspringen, die vorher geduckt schlief. Elias Canetti, Schriftsteller

«

APA/Sulzer

kein Recht auf Wissen, aber es »gibtEseingibtRecht Alles, was man im Leben braucht, sind »Ignoranz auf Nichtwissen.« und Selbstvertrauen, dann ist der Erwin Chargaff, Biochemiker Erfolg sicher.« Mark Twain, Schriftsteller »Nichtwissen ist Stärke.« Es ist nicht das Wissen, sondern das »Nichtwissen, George Orwell, Schriftsteller das gefährlich ist.« François Jacob, Genetiker Forschung bringt mehr Nichtwis»senMehr ans Tageslicht.« Ungewissheit ist angesichts lebhafter »Hoffnungen Mary Douglas & Aaron Wildawsky, Anthropologen und Ängste schmerzhaft, muss aber ertragen werden, wenn wir ohne trösist bisher zu kurz gekom»menDasaufUnwissen tende Märchen leben wollen.« der Welt.« Kathrin Passig, Autorin Bertrand Russell, Philosoph

LOST & FOUND. Was wird in Museen nicht alles verlegt! Und Jahrzehnte später für die Wissenschaft wiedergefunden: Ein fast vollständig erhaltenes Skelett eines Neandertalneugeborenen im Musée des Eyzies in Frankreich (verlegt 1916/gefunden 2002). Originalfossilien von der Erstbeschreibung des Mammuts an der Universität Göttingen (1945/2005). Und drei Wandfriese – davon eines oben – aus dem 16. Jahrhundert mit allerlei mythischem Getier auf dem Dachboden des Salzburger Spielzeugmuseums (1957/2007).

ZAHLEN BITTE! 1 Neurotransmitter, nämlich das Dopamin, ist ausreichend gut erforscht. Weitere achtzig sind bekannt, ihre Wirkmechanismen werden jedoch kaum oder nur unzureichend verstanden. Vermutlich gibt es noch hundert weitere Botenstoffe in unserem Oberstübchen (S. 13).

59 Zentimeter könnte der Meeresspiegel im 21. Jahrhundert ansteigen. Aber die Unsicherheit der Klimatologen ist groß. Vielleicht werden es auch zehn Meter (S. 10–11).

380–1200 Euro kostet ein Gentest bei der Wiener Firma Genosense Diagnostics. Das so erstellte Risikoprofil führt zu neuen Unsicherheiten (s. S. 14–16).

50.000–100.000 wissenschaftliche Zeitschriften, in denen neue Erkenntnise stehen, gibt es weltweit, schätzt man. Aber so genau weiß man es nicht (S. 21).

200.000 Euro (circa) kostete die bis heute unveröffentlichte Studie „Leiharbeit und neue Selbstständige“, die das Wiener Forschungsinstitut L&R Sozialforschung für das österreichische Wirtschaftsministerium durchführte (S. 18–19).

5.000.000 Spezies in Flora und Fauna sind noch nicht entdeckt. Mindestens. Manche Schätzungen gehen gar von bis zu 50.000.000 aus. Bekannt sind lediglich 1.500.000 Pflanzen und Tiere.

44.000.000.000 US-Dollar beträgt das Jahresbudget der US-Geheimdienste. Wie viel davon in „classified research“, also Geheimforschung geht, ist nicht bekannt.

Daniel Kehlmanns Kolumne

SCIENCE @ FICTION Pierre Bayard hat mit seinem Buch „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“ nicht bloß eine Anleitung für Hochstapler verfasst, sondern darüber hinaus eine kluge kulturtheoretische Meditation über die Frage, was es denn eigentlich bedeutet, sich in der Literatur zu orientieren. Denn, seien wir ehrlich: Das kulturelle Gespräch lebt immer auch vom Reden über Nichtgelesenes. Das Leben ist nicht unendlich, die eigene Disziplin nicht unbeschränkt, und Bildung bedeutet eben, auch Bescheid zu wissen über das, was man sich nicht selbst angeeignet hat. Das ist unvermeidbar und liegt in der Natur der Sache. Natürlich kann man es zu weit treiben. Das literarische Milieu und auch der Anstand verlangen, dass man gewisse zentrale Werke selbst gelesen haben muss oder sich wenigstens bei deren Unkenntnis nicht erwischen lassen darf. (In einer wunderbaren Geschichte von Roberto Bolaño zieht der Protagonist sich für Wochen in die Einsamkeit zurück. Er möchte endlich Prousts „Recherche“ lesen, dabei aber von keinem gesehen werden, da er immer behauptet hat, dieses Werk gut zu kennen.) Während es eine Bildungslücke wäre, nicht wenigstens ungefähr zu wissen, was in Jean Pauls „Titan“ eigentlich passiert, jedoch keine, diesen nicht gelesen zu haben, so wäre es sehr blamabel, „Hamlet“ oder „Faust“ nicht zu kennen. Die Gruppe jener Werke, deren Unkenntnis man nicht zugeben darf, verändert sich ständig. Man nennt sie Kanon. Man darf also keine Fehler machen: So mancher scheinbare Kenner hat den zweiten Teil des „Faust“ nicht gelesen, ist aber ohne weiters imstande, Sinnvolles darüber zu sagen. Man müsste ihn schon einem scharfen Verhör unterziehen, um ihm Unkenntnis nachzuweisen. Bildung, das ist eben auch ein Habitus, es ist ein Tonfall und es bedeutet, nicht nur die richtigen Bücher zu kennen, sondern dazu noch die richtigen Codes. An all das erinnert uns Pierre Bayard auf höchst geistreiche Weise, weswegen ich sein Buch nachdrücklich empfehle. Selbst habe ich es zwar noch nicht gelesen. Ich werde das aber – so die leere Versprechung, ohne die kein Gespräch über Bücher auskommt – bei nächster Gelegenheit nachholen. Daniel Kehlmann ist Schriftsteller („Die Vermessung der Welt“) und lebt in Wien.

heureka 4/2007 | Nichtwissen

3


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:54 Uhr

Seite 4

Der Nicht-Wissen-Schaftler Ein neues Wort. „Agnosiology“? Oder besser „Agnotometry“? Gar „Agnoscopy“? Im Jahre 1992 war Robert Proctor auf der Suche nach einem passenden Begriff für sein Forschungsgebiet und nahm dabei die Hilfe des Linguisten Iain Boal in Anspruch. Am Ende entschied man sich, auch weil es besser klingt, für „Agnotologie“: die Lehre von der Geschichte und der Entstehung des Nichtwissens. Proctor, Wissenschaftshistoriker an der Stanford University in Kalifornien, ist einer der Pioniere der Nichtwissensforschung. Und die ist in den letzten Jahren bei Historikern und Sozialwissenschaftlern so richtig in Mode gekommen, denn an einschlägigen Fällen mangelt es nicht: Man denke nur an die Unsicherheit angesichts der möglichen Folgen der Handystrahlung, das Leugnen des Klimawandels durch wissenschaftlich fragwürdige, industriefinanzierte Studien, den Fundamentalismus der Kreationisten, aber auch an das Recht auf Nichtwissen, etwa was die eigenen Erbanlagen angeht. Nichtwissen gibt es also in den unterschiedlichsten Formen und aus den verschiedensten Gründen. Als da wären: Geheimhaltung, Dummheit, Apathie, Zensur, Desinformation, Glauben, Vergesslichkeit, Selbstschutz. „Die Menschen denken, sie wissen viel“, sagt Proctor: „Aber von all den Dingen, die gewusst werden könnten, weiß die Wissenschaft so gut wie nichts. Was vor dem Big Bang war, über die unzähligen Planeten und Himmelskörper im Weltall haben wir so gut wie keine Ahnung. Was unsere Erde angeht, kennen wir nur die Oberfläche.“ Ist das ein Problem? „Nein, das ist die Realität. Das sollte Anlass zur Demut sein. Neandertaler hatten vielleicht Namen, die wird man nie in Erfahrung bringen. Aber andere Dinge kann man wissen, etwa was Evolution angeht oder die Gefahren des Tabakkonsums.“ Dass das Letztere gezielt verheimlicht wurde, ist für Proctor zu einem Paradebeispiel für die Produktion von Nichtwissen geworden. Nach einem Bachelor in Biologie an der Indiana University in Bloomington ging der heute 53-Jährige 1976 für sein Postgraduate-Studium in Wissenschaftsgeschichte nach Harvard. In seinem ersten Buch, „Ra-

4

heureka 4/2007 | Nichtwissen

Ignoranz hat viele Gesichter und Ursachen, sagt Robert Proctor. Der US-Wissenschaftshistoriker hat mit dem Nichtwissen ein neues und fruchtbares Forschungsfeld erschlossen. Ein Porträt. Oliver Hochadel

cial Hygiene. Medicine under the Nazis“ (1988), zeigte er, dass die Ärzte im Dritten Reich keineswegs unbeteiligt waren, sondern aktiv an den Verbrechen mitwirkten. Als Nächstes nahm sich Proctor die Auseinandersetzungen um die Krebsforschung nach 1945 vor. Alibiforschung. In den USA formte sich Mitte der Fünfzigerjahre ein wissenschaftlicher Konsens, wonach Rauchen für Lungenkrebs verantwortlich sei. Die Tabakindustrie war alarmiert. Während Philip Morris und Co. in offiziellen Stellungnahmen immer wieder betonten, dass sie „nie ein Produkt herstel-

„Zweifel ist unser Produkt“ heißt es in einem Memo der Tabakindustrie von 1969 len und vertreiben werden, von dem gezeigt wird, dass es Ursache für Krankheiten ist“, starteten sie gleichzeitig, so Proctor, eine der „ehrgeizigsten und erfolgreichsten Betrugskampagnen der Moderne“. Um sich als verantwortliche Industrie zu stilisieren, die sich ganz dem Urteil der Wissenschaft unterwerfen, gründeten die Konzerne das Council for Tobacco Research und investierten Hunderte Millionen Dollar, um die Gefahren des Rauchens zu erforschen – vermeintlich.

So identifizierte etwa die Zeitschrift Tobacco and Health Report in den Jahren 1963/64 die Ursache für Lungenkrebs in Vogelhaltung (Milben im Gefieder), Erbanlagen, Viren, Luftverschmutzung und allen anderen möglichen Gründen, außer eben, Überraschung, Tabak. Kein Beleg war der Tabakindustrie gut genug, weder aus Tierversuchen („nicht übertragbar“) noch aus epidemiologischen Studien („bloße Statistik“) ging für sie die Gesundheitsgefährdung ihres Produkts hervor. Gemäß ihrer Logik hätte man an Menschen experimentieren müssen. „Big Tobacco“, wie Proctor zu sagen pflegt, warnte vor vorschnellen Schlussfolgerungen Krebs sei schließlich eine komplexe Krankheit und tat alles, um den Eindruck zu erwecken, es gebe noch eine Kontroverse. Bis in die Neunzigerjahre, also nach vierzig Jahren gesponserter Forschung, war für die Tabakindustrie die Frage der Gesundheitsgefährdung durch Tabak offen. Zweifel säen. Diese Filibuster-Forschung –

Filibustieren meint das end- und meist auch sinnlose Reden im Parlament, um Abstimmungen zu verhindern – diente einzig und allein dem Zweck, Zeit zu schinden, um so weiter möglichst viele Zigaretten verkaufen zu können. Dabei musste die Tabakindustrie auf der Hut sein, dass die von ihnen finanzierten Untersuchungen nicht doch unerwünschte Ergebnisse zeitigten, und stellte daher die beteiligten Wissenschaftler unter die Aufsicht von Anwälten. Auf diese Alibiforschung konnte Big Tobacco sich in den Entschädigungsprozessen berufen: Man habe stets verantwortungsbewusst gehandelt. Proctor zitiert zahlreiche interne Dokumente, die klar bezeugen, dass hier eine ausgeklügelte Strategie verfolgt wurde. „Zweifel ist unser Produkt“ heißt es etwa in einem Memo der Brown & Williamson Tobacco Company aus dem Jahre 1969. Für Proctor ein Fall von „Agnogenesis“, der absichtlichen Erzeugung von Zweifeln oder Nichtwissen. Selbstredend versucht jede Industrie die Risiken ihrer Produkte herunterzuspielen, aber die Tabakindustrie bleibt unerreicht, was die Abgebrühtheit ihrer Vernebelungs-


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:54 Uhr

Seite 5

Linda A. Cicero / Stanford News Service

Robert Proctor – Experte für Nichtwissen aller Art

heureka 4/2007 | Nichtwissen

5


16.11.2007

taktik sowie ihre verheerenden Folgen angeht. Ohne diese Jahrzehnte währende Verzögerungstaktik wären die Raucherzahlen nie so stark gestiegen bzw. schneller gefallen, glaubt Proctor. Allein in den USA sterben laut Schätzungen des U.S. Surgeon General pro Jahr 400.000 Menschen an den Folgen des Rauchens. Weltweit sind es nach Berechnungen der WHO jährlich etwa fünf Millionen Menschen, bis 2025 wird diese Zahl auf zehn Millionen ansteigen. Geschichte kaufen. Ab den Achtzigerjahren wurde die Tabakindustrie mit Klagen und Schadensersatzforderungen in Milliardenhöhe überzogen. Dabei ging es auch um die Frage, ob und ab wann die Tabakindustrie gewusst hatte, dass Rauchen zu Lungenkrebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen führt. In diesen Prozessen verfolgte die Verteidigung eine gleichermaßen dreiste wie schizophren anmutende Doppelstrategie: Jeder wusste es, aber es gab keinen Beweis – so bringt es Proctor auf den Punkt. Sprich: Otto Normalraucher sei bewusst gewesen, welches Risiko er einging, die Experten hingegen hätten sich vergeblich um einen stichhaltigen Nachweis bemüht. Die dahinterstehende Absicht ist leicht zu durchschauen. Der Raucher darf sich nicht beschweren, dass er an Lungenkrebs stirbt, während die unschuldige Industrie ja Millionen in die Forschung investiert habe. In diesen Prozessen hat die Tabakindustrie immer wieder Medizinhistoriker mit lukra-

tiven Verträgen als Sachverständige verpflichtet. Peter English etwa, Medizinhistoriker an der Duke University in North Carolina, verdiente in den Jahren 1988 bis 1990 und 2001 bis 2002 mindestens 800.000 Dollar. Proctor hat in mühsamer Archivarbeit insgesamt drei Dutzend solcherart beschäftigte Kollegen identifiziert. Das Pikante daran: Keiner dieser Medizinhistoriker hatte zuvor über Tabak geforscht. Hatte die Tabakindustrie zunächst versucht, die Laborforschung zu kaufen, stand nun

6

heureka 4/2007 | Nichtwissen

10:55 Uhr

Seite 6

die Historikerzunft in ihrem Sold. Die Aufgabe war dieselbe: Nebel werfen, Zweifel säen, die Geldgeber reinwaschen. Für Proctor sind ihre Gutachten und Aussagen bei Gericht von Verzerrungen und Auslassungen gekennzeichnet. Immer wieder argumentierten sie: Geschichte sei eben kompliziert oder „unordentlich“ und könne nicht vom Standpunkt der Gegenwart aus beurteilt werden. Dabei ging es etwa um Fragen, wie verlässlich die epidemiologischen Studien der 1950er-Jahre waren. Dass es nicht mehr um die Frage ging, ob Rauchen zu Lungenkrebs führe, sondern auf welche Art und Weise sie das tue, also welche Stoffe dafür verantwortlich seien, verschwiegen die Experten geflissentlich.

Die Aufgabe für die von der Industrie gekauften Medizinhistoriker war: Nebel werfen, Zweifel säen, Geldgeber reinwaschen Ein Schandfleck für die Historikerzunft, wie Proctor findet. Auch bei ihm selbst wurde von einer Rechtsanwaltskanzlei angefragt, ob er in einem Prozess als Gutachter für ein Tabakunternehmen arbeiten würde, in dem es darum ging herauszufinden, was in den Dreißigerjahren über Nikotinabhän-

gigkeit bekannt war: „Meine Antwort bestand aus sieben Worten: Ich arbeite nicht für Händler des Todes.“ Proctor ist seit 1998 als Gutachter für die Anklage tätig, als einer von insgesamt gerade einmal drei Historikern. Nazis und Nichtraucher. Proctor hatte nämlich gezeigt, dass es deutschen Medizinern während des Dritten Reiches als Ersten gelungen war nachzuweisen, dass Rauchen krebserregend ist. 1939 konnte Franz Hermann

Müller durch detaillierte pathologische Fallstudien erstmals den kausalen Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs zeigen und ihn epidemiologisch zu untermauern. Im selben Jahr wies Fritz Lickint nach, dass Tabaksqualm auch Nichtraucher schädigt, und prägte den Begriff des Passivrauchens. Das war „Weltklasseforschung“, so Robert Proctor in seinem preisgekrönten und in sechs Sprachen übersetzten Buch „Blitzkrieg gegen den Krebs“ (englisch 1999, deutsch 2002). Unser gern gehegtes, zweigeteiltes Bild von der „guten“, demokratischen Wissenschaft und der „schlechten“, ideologisch verblendeten Wissenschaft totalitärer Regime sei nicht länger haltbar. Und jetzt kommt das eigentlich Verwunderliche. Die deutsche Krebsforschung sei nicht trotz, sondern wegen der besonderen ideologischen Bedingungen des NS-Regimes so erfolgreich gewesen. „Die Nazis fürchteten kleinste Wirkstoffe, die den ,Volkskörper‘ infiltrieren: Asbest, Blei, Arsen, Quecksilber und Tabak, aber auch Juden und ,Zigeuner‘“ , zählt Proctor auf: „Hitler und seine Anhänger waren besessen von körperlicher Reinheit und wollten ein exklusives, sanitäres Utopia errichten, wo das Wasser, die Arbeit und die Lungen des ,erwählten Volks‘ rein sind.“ Folglich wurden Arbeitsmedizin und Krebsforschung stark gefördert. Wissen im Abseits. „Diese Forschungen sind aber in einer ideologischen Lücke gelandet“,

konstatiert Proctor. Medizinhistoriker, darunter zunächst auch er selbst, hatten sich bis dato immer nur für die kriminelle Seite der Nazimedizin interessiert: Menschenversuche, Euthanasie, Zwangssterilisierung. Müllers Pionierleistung aus dem Jahre 1939 war in den USA bekannt und wurde gelegentlich auch zitiert. „Aber niemand konnte Interesse daran haben, diese Geschichte zu erzählen, also hat sie niemand erzählt“, resümiert Proctor. Zu sagen: „Rauchen ist krebserregend, das wussten schon die Na-

Reini Hackl

Heureka 4_07_nichtwissen.qxd


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:55 Uhr

zis“, war für Gesundheitsaktivisten kein brauchbares Argument. Stattdessen diffamierten Zigarettenhersteller die Tabakgegner in der Nachkriegszeit gerne als „Nikonazis“. Proctor nennt das die soziale Konstruktion des Nichtwissens. Die Siegermacht USA interessierte sich nach 1945 für die militärisch relevanten Aspekte der Naziwissenschaft: die biologische Kriegsführung und die Raketenforschung. Die Krebsforschung wurde nicht rezipiert. Die USA schifften stattdessen 1948/49 90.000 Tonnen Tabak kostenlos nach Deutschland. Ein Zwölftel aller Leistungen (und damit ein Drittel der Lebensmittel) des Marshallplans bestanden aus Tabak. Es ging hier nicht nur um Hilfe, sondern auch um dringend benötigte neue Absatzmärkte für die US-Tabakindustrie, die Überschüsse produzierte. Die Exportoffensive trug Früchte: War der Tabakverbrauch in Deutschland zwischen 1940 und 1950 pro Kopf um die Hälfte gesunken – Proctor führt dies aber weniger auf die Antitabakkampagnen der Nazis als auf den Krieg und die Verarmung zurück –, stieg er danach wieder stark an. Politisch allzu korrekt. Die Verbindung mit einem verbrecherischen Regime hatte das Wissen der deutschen Krebsforschung in Nichtwissen verwandelt. In der Paläoanthropologie hingegen findet Proctor den umgekehrten Fall, dass nämlich die Fixierung auf eine „gute“ Ideologie zu Scheuklappen für die Forschung wurde. Die Er-

Seite 7

Stammbusch als einem Stammbaum entspricht und mehrere Arten von Hominiden gleichzeitig die Savannen Afrikas durchstreiften und keineswegs klar ist, welche Linie zu uns führt, ist erst in den letzten zwei, drei Jahrzehnten deutlich geworden. Auch eine noch so sympathische Ideologie kann also zu blinden Flecken führen. Aufgewachsen ist Proctor in Texas: „Viele Verwandte mütterlicherseits waren im Klu-Klux-Klan, väterlicherseits waren es liberale Baptisten, die etwa in China missionierten. Es gab ständig Streitigkeiten wegen der ,Rasse‘, mein Vater wurde als ,Niggerlover‘ beschimpft.“ So erklärt sich sein Interesse auch für diese Fragen. Acheuléen und Achate. In einem weiteren Forschungsprojekt, ebenfalls aus der Paläoanthropologie, untersucht Proctor eine andere Spielart der Produktion von Nichtwissen. Dabei geht es um die millionenfach überlieferten steinernen Faustkeile aus der Periode des Acheuléen (vor 1,5 Mio. Jahren bis 100.000 Jahren). Im 19. Jahrhundert war man sich sicher, was es mit diesen Handäxten auf sich habe. Je mehr man darüber forscht, desto rätselhafter

Das sind freilich noch nicht alle agnotologischen Projekte Proctors. Sein Haushalt etwa quillt über vor Achaten (etwa 10.000), vielfältig gefärbten und gezeichneten Quarzen. Warum wurden Diamanten zum Inbegriff für Kostbarkeit, während die, wie Proctor findet, viel hübscheren Achate, auf der Edelsteinhierarchie ganz unten rangieren? Auch von Geologen werden sie mit Desinteresse gestraft, während Liebhaber darüber viel besser Bescheid wissen. Das Verschwinden des volkstümlichen Wissens – ein bekannteres Beispiel wären Heilpflanzen – ist noch so eine Spielart der Produktion von Nichtwissen. Und schließlich schreibt Proctor auch noch an einem Buch über die Geschichte der Evolutionstheorie – im Heimatland der Kreationisten fast so etwas wie ein Pflichtprogramm für einen Agnotologen. Auch Glaube kann zu Nichtwissen führen. Wie erfolgreich ist er dabei, sein Programm der Nichtwissensforschung zu etablieren? Das Thema als solches schlägt ein, gerade angesichts der großen Unzufriedenheit mit Präsident Bush. „Der Irakkrieg war ja auf Ignoranz und auf bewusste Irreführung aufgebaut, das dämmert den Menschen jetzt.“ Im Frühjahr 2008 gibt er gemeinsam mit seiner Frau Londa Schie-

Reini Hackl

Weltweit sterben jährlich etwa fünf Millionen Menschen an den Folgen des Rauchens. 2025 werden es zehn Millionen sein

fahrung des Holocausts hatte nach 1945 quasi jegliche Form des Rassendenkens diskreditiert. Wir sind alle von einem Stamm. Gut und richtig so, oder? Freilich, nur wurde diese unilineare Sicht auch auf die Vorgeschiche des Menschen übertragen. Wer in den Fünfziger- und Sechzigerjahren den Neandertaler auf einen ausgestorbenen Seitenzweig verbannen wollte, wurde schnell der Diskriminierung geziehen. Dass die Stammesgeschichte der Hominiden ungleich komplizierter war, eher einem

werden diese Werkzeuge. Wie ist es möglich, dass sie über einen derart langen Zeitraum quasi unverändert blieben, zwischen Spanien und China verwendet wurden und noch dazu von verschiedenen Spezies von Vormenschen? Und vor allem: Wozu wurden sie gebraucht? Zum Teil völlig divergierende Theorien – „Killerfrisbee“ für die Jagd, „Schweizermesser der Steinzeit“, Balzgeschenk oder bloßer Abfall –, füllen Bände, ein Konsens wird immer schwerer vorstellbar.

binger, ebenfalls eine renommierte Wissenschaftshistorikerin, bei Stanford University Press den Sammelband „Agnotology: The Making and Unmaking Ignorance“ heraus. Einen vieldiskutierten Wikipedia-Eintrag zu dem Kunstwort gebe es auch schon, freut sich Proctor. Dennoch glaubt er – ist dies nun Selbstkritik oder Bescheidenheit? –, keine gute Arbeit bei der Etablierung des neuen Forschungsfeldes geleistet zu haben. „Ich bin doch mehr Gelehrter als Vermarkter.“

heureka 4/2007 | Nichtwissen

7


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:55 Uhr

Seite 8

„Meiden wie die Pest“ Was ist die größte Wissenslücke in Ihrem Fach? Und was werden Sie wohl nie herausfinden? heureka! fragte einen Onkologen, eine Philosophin, eine Juristin, einen Mathematiker und eine Astronomin. Und die Psyche? Das größte Rätsel in der On-

entsteht Krebs »nichtWarum viel häufiger?« Michael Krainer

Wie kann man die »Motive rekonstruieren, die uns und andere vorgeblich leiten?« Herlinde Pauer-Studer

kologie ist wahrscheinlich, warum Krebs nicht viel häufiger entsteht. Im menschlichen Organismus müssen Milliarden von Zellen eng miteinander kommunizieren, damit sie sich rechtzeitig erneuern, nachbilden und wachsen können. Und jede einzelne dieser Zellen könnte theoretisch außer Kontrolle geraten. Viele Dinge, etwa die genetische Veranlagung für bestimmte Krebserkrankungen wie Brustkrebs oder Darmkrebs, waren zu Beginn meiner Beschäftigung mit dem Gebiet vor 15 Jahren absolute Rätsel. Heute verstehen wir die Zusammenhänge. Mit den Methoden der Molekularbiologie, die sich laufend verbessern, werden in den nächsten Jahrzehnten nicht viele Rätsel in Bezug auf die körperlichen Vorgänge bei der Krebsentstehung übrigbleiben. Alles andere als geklärt ist dagegen der Einfluss der Psyche bei der Entstehung von Krebs. Die meisten Krebspatienten und auch viele Ärzte glauben fest an einen Zusammenhang, obwohl es dafür keine wissenschaftlichen Anhaltspunkte gibt. Am ehesten könnte es noch eine Verbindung über das Immunsystem geben, welches durch psychische Faktoren geschwächt ist. Aber selbst wenn sich zeigen ließe, dass es keinen Zusammenhang gibt: Ich fürchte, man wird dieses Dogma nicht aus den Köpfen der Menschen bringen. Zumindest sollte man aber darüber aufklären, wie sehr diese Mutmaßungen Betroffene belasten können: Es ist fast so, als ob man einem Menschen, der vom Blitz getroffen wurde, erklärt, sein sündiges Leben wäre daran schuld.

Michael Krainer forscht an der Klinischen Abteilung für Onkologie an der Medizinischen Universität Wien.

8

heureka 4/2007 | Nichtwissen

Unwissen über das Selbst. Das Nichtwissen ist eng mit der Philosophie verschränkt, genau so, wie es zum Menschsein gehört. Was ist Erkenntnis? Was verstehen wir unter „Wahrheit“? Wie definieren wir „Wissen“? Was ist das Gute? Was kann als gutes und glückliches Leben gelten? Noch spannender sind freilich die impliziten Voraussetzungen dieser großen Fragen, etwa jene nach dem Selbst. Was bedingt das Ich? Wie verschränken sich die Mechanismen der Repräsentation, Konstruktion und Selbstzuschreibung des Erlebten? Wie werden Erfahrungswelten teilbar? Auf welche Gewissheiten können wir uns berufen, wenn wir die intentionalen Strukturen des Handelns anderer entziffern und bewerten wollen? Wir bewegen uns so sicher in Behauptungen, Annahmen, Zuschreibungen und Interpretationen – von anderen und uns selbst. Doch wie kann man die Motive rekonstruieren, die uns und andere vorgeblich leiten, wenn wir bereits in der Interpretation unseres eigenen Tuns den Verlockungen der Rationalisierung, der Beschönigung und der Selbsttäuschung so offensichtlich ungeschützt ausgesetzt sind? Die „großen Philosophen“ haben zahlreiche Erklärungen und Erzählungen anzubieten, um uns über das Unwissen unseres Ichs hinwegzuhelfen: Geschichten über die Macht der Rationalität, der Logik, des folgerichtigen Räsonierens und Argumentierens, der vernunftbetonten Konstruktion der Wirklichkeit und des unerschütterlichen Glaubens an unsere Evidenzen. Wir tun gut daran, diese Geschichten neu zu durchdenken – denn geänderte Kontexte verlangen veränderte Antworten.

Herlinde Pauer-Studer ist Philosophin an der Universität Wien.

Privat (4), Uni Innsbruck

Sabina Auckenthaler


Privat (4), Uni Innsbruck

Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:55 Uhr

Seite 9

Warum kooperieren Wird es den Staat im » »traditionellen Menschen weltweit mit Sinn auch in Nichtverwandten?« Zukunft noch geben?«

Was hat es mit der »dunklen Materie und der

Anna Gamper

Karl Sigmund

Konstanze Zwintz

Veränderung und Verfassung. Die große offene Frage der Allgemeinen Staatslehre ist zugleich fundamental für das Fortbestehen des Wissenschaftsgebietes selbst: Wird es den Staat im traditionellen Sinn auch in Zukunft noch geben, oder wird er durch eine andere Organisationsform abgelöst werden? Insgesamt ist die Forschung in der Rechtswissenschaft und -praxis trotz der Herausforderungen durch Europäisierung und Globalisierung immer noch sehr einzelstaatsbezogen. So wird zwar immer wieder plakativ vom „gemeineuropäischen Verfassungsrecht“ gesprochen, doch beschränkt sich die Forschung großteils auf einzelne Länderberichte, ohne das Thema grenzüberschreitend zu betrachten. Nötig wären dafür aber nicht nur Kenntnisse des eigenen, sondern auch des ausländischen Verfassungsrechts und des europäischen Rechts, die sozusagen eine Vogelperspektive erlauben. Hier gibt es einigen Aufholbedarf in Österreich. Auch viele ganz konkrete Fragen sind ungelöst: Zum Beispiel, wann genau denn eine Gesamtänderung der österreichischen Bundesverfassung vorliegt. Noch strittiger ist die Frage, wann es sich um eine „schleichende Gesamtänderung“ handelt und ob es überhaupt „gesamtänderungsfeste“ Verfassungsinhalte gibt. Überhaupt ist das Verfassungsrecht nicht immer so eindeutig, wie viele Menschen glauben. So sind zum Beispiel die Judikatur eines Verfassungsgerichts oder künftige Verfassungsreformen nie mit Sicherheit vorhersehbar.

Welträtsel meiden. „Das Rätsel gibt es

Populär, aber unbeweisbar. Das größte unge-

nicht“, zumindest wenn man Wittgenstein glaubt. Er wollte damit wohl besonders rätselhaft erscheinen. Und tatsächlich hört man Wissenschaftler kaum je von Rätseln sprechen, dafür umso mehr von offenen Fragen. Der Unterschied? Zu den offenen Fragen gibt es Hypothesen, die geprüft und verworfen werden können. Zu den großen Welträtseln aber gibt es nicht einmal vernünftige Hypothesen. Wer seine Wissenschaft vorantreiben will, vermeidet sie daher meist wie die Pest. Die größte offene Frage in der evolutionären Spieltheorie lautet: Wieso trifft man bei Menschen auf so viel Kooperation? Schon Aristoteles wusste, dass auch Ameisen und Bienen kooperieren. Bei diesen sozialen Insekten lässt sich dies durch die enge Verwandtschaft innerhalb der Kolonien noch gut erklären. Aber Menschen kooperieren auch mit Nichtverwandten in enormem, ja globalem Ausmaß. Was sind die Ursachen für diese singuläre Neigung? Wie entstanden die Voraussetzungen dafür, etwa unsere Sprachfähigkeit oder unsere Anlage zu moralischem Verhalten? Das sind Fragen, die Evolutionsbiologie, Psychologie, Anthropologie, Neurophysiologie und viele andere Disziplinen beschäftigen. Die Spieltheorie befasst sich mit den strategischen, wirtschaftswissenschaftlichen Aspekten dieser Frage. Zwar bestimmt Eigennutz zu einem großen Teil unser Verhalten, aber wir können uns auch in die Lage anderer versetzen, kognitiv und emotional. Wie ist das möglich? Letztlich führt das zu der Frage: „Was ist Bewusstsein?“ Und damit sind wir doch bei einem Rätsel gelandet.

löste Rätsel in der Astrophysik ist wohl, wie aus einer Molekülwolke ein Stern entsteht, der unserer heutigen Sonne entspricht. Die derzeitigen Simulationen treffen die bekannten Eigenschaften unserer Sonne nicht ganz exakt und lassen vermuten, dass uns wesentliche physikalische Prozesse noch unbekannt sind. Ebenfalls nicht ganz klar ist die Frage der Altersbestimmung: Sterne gleicher Temperatur, Masse und Leuchtkraft können nämlich sowohl junge Sterne sein, bei denen die Strahlungsenergie durch Kontraktion des Sterninneren erzeugt wird, als auch etwas ältere Sterne, bei denen im Kern Wasserstoff zu Helium verbrennt. Auch wenn ein Problem im Moment unlösbar scheint, kann sich das durch neue Erkenntnisse oder Technologien in wenigen Jahren ändern. Ein Beispiel ist die Suche nach Planeten außerhalb unseres Sonnensystems: Spekulationen darüber gab es schon im 18. Jahrhundert, entdeckt wurde der erste extrasolare Planet 1995. Mittlerweile kennen wir etwa 260 solcher Gestirne und sind kurz davor, die ersten erdähnlichen Planeten zu entdecken. Allerdings gibt es in der Astronomie auch Rätsel, die vermutlich nie gelöst werden: zum Beispiel, was es mit der dunklen Materie und der dunklen Energie auf sich hat, die mehr als achtzig Prozent des Universums ausmachen. Ebenso wird wohl die Frage nach der Entstehung des Universums niemals ausreichend beantwortet werden können, auch wenn es viele, teilweise sehr populäre Modelle dazu gibt, wie zum Beispiel die Urknalltheorie.

Anna Gamper ist Verfassungsrechtlerin an der Universität Innsbruck.

Karl Sigmund ist Mathematiker an der Universität Wien.

«

dunklen Energie auf sich?

Konstanze Zwintz ist Astrophysikerin an der Universität Wien.

heureka 4/2007 | Nichtwissen

9


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:55 Uhr

Seite 10

Heiße Fragen Die neuesten Erkenntnisse in der Klimaforschung besagen, dass man über den Anstieg des Meeresspiegels und der Temperatur im 21. Jahrhundert nichts Genaues wissen kann. Und zwar aus Prinzip. Klaus Taschwer

Weiterhin unvorhersagbar. Das Ozonloch

Die Weltdurchschnittstemperatur wird im 21. Jahrhundert um 2 bis 4,5 Grad ansteigen – mit der Wahrscheinlichkeit von einem Drittel, dass dieser Wert darüber oder darunter liegt

10

heureka 4/2007 | Nichtwissen

verschwand in den letzten Jahren vor allem auch deshalb aus den Schlagzeilen, weil die Erderwärmung zum dringlichsten Problem der Klimapolitik aufstieg. Gemäß des 4. Berichts des UN-Weltklimarats IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change), der seit 1. Februar dieses Jahres die mediale

Berichterstattung über den Klimawandel und seinen Folgen erst so richtig anheizte, hat der Mensch nunmehr mit neunzigprozentiger Sicherheit mit den zunehmenden Treibhausgasemissionen einen entscheidenden Anteil am Klimawandel. Das ist ein eindeutiger Fortschritt gegenüber dem 3. IPCC-Bericht sechs Jahre zuvor. Weniger leicht lässt sich naturgemäß sagen, wie sich die Erhöhung der Treibhausgase auf den Temperaturanstieg auswirken wird. Im neuen Bericht des IPCC – das heuer gemeinsam mit Al Gore den Friedensnobelpreis erhielt – heißt es, dass der Temperaturanstieg bis zum Ende des Jahrhunderts 2 bis 4,5 Grad Celsius betragen könnte. Mit der Wahrscheinlichkeit von immerhin einem Drittel, dass dieser Wert außerhalb dieser Spanne liegen könnte. „Tatsächlich hat sich an dieser Spannbreite der Unvorhersagbarkeit in den letzten dreißig Jahren kaum etwas verändert“, sagt Gerard H. Roe, Klimaforscher vom Department für Erd- und Weltraumwissenschaften an der University of Washington in Seattle im Gespräch mit heureka! Er veröffentlichte Ende Oktober mit seiner Kollegin Marcia Baker unter dem Titel „Why Is Climate

Die Forschung zur Chemie des Ozonlochs steht wieder am Anfang Sensitivity So Unpredictable“ einen Text in Science (Bd. 318, S. 629–632), der von den Medien zumindest hierzulande erst gar nicht aufgegriffen wurde. Seine neuen Erkenntnisse sind denn auch nicht allzu leicht zu verkaufen – zumal, wenn man sich von der Wissenschaft sicheres Wissen erhofft. Roe hat gemeinsam mit seiner Kollegin nämlich eine ganze Reihe von komplexen mathematischen Modellrechnungen angestellt und kam zum Schluss, dass sich an diesem Nichtwissen, zumal über die maximale Obergrenze beim Temperaturanstieg, nur wenig ändern wird. Der Grund dafür „liegt in der Natur der

Reini Hackl (2)

Lücke im Loch. „Wenn die Messungen richtig sind, dann können wir im Prinzip nicht mehr sagen, dass wir verstehen, wie das Ozonloch entstanden ist“, sagt Markus Rex, Klimaforscher am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Potsdam. Und sein Kollege John Crowley ergänzt: „Unser Verständnis der Chemie der Chlorverbindungen wurde in die Luft gesprengt.“ Nachzulesen sind die beiden Zitate in der Nature-Ausgabe vom 26. September. Quirin Schiermeier berichtet darin von neuen Experimenten, die Markus Rex durchführte – und die eine riesige Lücke ins bisherige Wissen ums Ozonloch rissen, um das es in den letzten Jahren ein wenig still geworden war. Das war nicht immer so. Wir erinnern uns: Mitte der Achtzigerjahre wurde das Ozonloch entdeckt. Eine Reihe von chemischen Verbindungen – darunter vor allem die Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) – wurden als die Hauptverursacher ausgemacht. Die Beweise, die von der Wissenschaft zu den Vorgängen in der Stratosphäre geliefert wurden, konnten eindeutiger nicht sein. Die Politik handelte prompt, verbat 1987 die FCKWs, und mittlerweile zeigt sich auch die Wirkung: die Ozonschicht erholt sich. So weit, so gut. Der Haken an der Sache: Nach den neuen Erkenntnissen von Rex ist der Einfluss des FCKW-Abbauproduktes Dichloroperoxid zehnmal kleiner, als er es nach den bisherigen Theorien sein müsste. Die Forschung steht damit wieder am Anfang, auch wenn die FCKWs weiterhin die Hauptverdächtigen bleiben. Doch wie sie ihr Werk der Ozonausdünnung verrichten, das muss wohl neu analysiert und erklärt werden.


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:55 Uhr

Sache“, wie Roe sagt. Schuld daran sind vor allem die für das Klima typischen Rückkopplungseffekte, die bereits bei kleinen Veränderungen enorme Folgen zeitigen können. Und zwar in beide Richtungen.

Reini Hackl (2)

Wer bietet mehr? Ähnlich viel Nichtwissen

bzw. Unsicherheit herrscht beim Anstieg der Weltmeere: Hatte das IPCC am 1. Februar erklärt, die Meere würden bis zum Jahr 2100 infolge der Erwärmung um höchstens 59 Zentimeter anschwellen, so warteten etliche Forscher seitdem mit weitaus dramatischeren Daten auf. Noch am selben Tag erschien eine Studie in Science, in der eine Gruppe um den Nasa-Chefklimatologen James Hansen zeigte, dass die Ozeane seit 1993 schneller ansteigen als vorhergesagt. Weitere düstere Prognosen folgten. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Anfang Mai prophezeite Garry Clarke von der University of British Columbia in Kanada den Küstenbewohnern der Erde sieben Meter plus bis zum Jahr 2100. Er hatte die Veränderungen am grönländischen Eisschild untersucht, dessen Totalverlust er fürchtet. Forscher um Bridget Anderson von der Columbia University in New York warnten bereits Ende März im Fachblatt Environment and Urbanisation, dass Regionen, die weniger als zehn Meter über dem Meer lägen, noch dieses Jahrhundert von anschwellenden Meeren bedroht seien. Ein Zehntel der Weltbevölkerung sei betroffen. Die Ursache für die voneinander abweichenden Erkenntnisse ist in dem Fall die dünne Datenlage. Satellitenmessungen des Meeresspiegelanstiegs gibt es erst seit 1993. Seither ermittelten die Forscher 3,2 Millimeter Anstieg pro Jahr. Behielten die Ozeane ihr derzeitiges Anstiegstempo bei, lägen sie Ende des 21. Jahrhunderts um etwa dreißig Zentimeter höher. Dazu kommen natürliche Schwankungen. So sei der Vulkanausbruch des Pinatubo auf den Philippinen 1991 indirekt für die Hälfte des stärkeren Anstiegs in den vergangenen Jahren verantwortlich, haben Wissenschaftler um den Australier John Church herausgefunden. Wie unkalkulierbar die zukünftige Ent-

Seite 11

wicklung noch ist, zeigt sich in der Kontroverse zum Grönlandeisschild: Nasa-Forscher Hansen und andere glauben, dass Schlimmes bevorsteht, weil die riesigen Gletscher verstärkt tauen könnten. Tatsächlich könnten ihre Eismengen sieben Meter Wasserhöhe beitragen – das würde freilich Jahrhunderte dauern. Der andere große Nichtwissensfaktor ist der westantarktische Eisschild, dessen komplettes Abschmelzen einen Anstieg des Meeres-

Unsicherheiten in den Berechnungen muss man kommunizieren spiegels um fünf Meter zur Folge hätte. Doch weil die Daten unterschiedliche Interpretationen zulassen, wurde das Thema im IPCC-Bericht „unsicherheitshalber“ gar nicht erst erwähnt.

nicht weiß, ob es stimmt. Diese Unsicherheit müsse man auch Politikern und Medien kommunizieren – ganz egal, ob diese Erkenntnisse auf einen weniger dramatischen Klimawandel hindeuten oder nicht. Im Grunde geht es der Klimaforschung in vielen entscheidenden Fragen so wie Sokrates: Sie weiß, dass sie noch nichts oder nur sehr wenig weiß. Was es für die Politik und die Medien nicht eben leichter macht, mit diesem (Nicht-)Wissen umzugehen und die richtigen Schritte zu setzen. In der Frage des Ozonlochs und der FCKWs hat man es immerhin schon mit Erfolg geschafft: Mit der Einigung auf das Verbot im Jahr 1987 tat man eindeutig das Richtige – auch wenn sich das damalige wissenschaftliche Wissen über die Wirkmechanismen, das damals als Entscheidungsgrundlage galt, als falsch herausstellen dürfte.

Unsicherheit kommunizieren. Das provozierte

einen geharnischten Kommentar, den Brian O’Neill vom Internationalen Institut für Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg gemeinsam mit einigen Kollegen Mitte September in Science (Bd. 317, S. 1505) unter dem Titel „The Limits of Consensus“ veröffentlichte. Die Forscher üben darin heftige Kritik, dass vom IPCC für den Bericht an die Entscheidungsträger das ganze „unsichere“ Kapitel über den westantarktischen Eisschild aus den Vorberichten weggelassen wurde. „Wir hätten es als sehr viel besser und ehrlicher gefunden, wenn dieses wichtige Kapitel kontroversiell dargestellt worden wäre, anstatt es komplett zu streichen“, bringt O’Neill im Gespräch mit heureka! die These ihres Textes auf den Punkt. Er hält es rückblickend zwar für richtig, dass man in den letzten 15 Jahren in der Klimaforschung den Konsens gesucht habe, um die Öffentlichkeit vom Klimawandel zu überzeugen. Nun sei aber die Zeit reif, auch jenes Wissen zu veröffentlichen, von dem man noch

Der Wasserspiegel wird im 21. Jahrhundert um 59 Zentimeter steigen. Oder vielleicht gar um sieben Meter? Sicher ist nur: Wir werden es nicht mit Sicherheit vorhersagen können.

heureka 4/2007 | Nichtwissen

11


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:55 Uhr

Seite 12

Heilsamer Glaube Placebos waren lange Zeit der Ärzte einziges Kapital. Doch je besser verstanden wird, wie Erwartungen die Heilung beeinflussen, umso mehr ignoriert die moderne Medizin ihren Effekt. Stefan Löffler

Ungenutztes Wissen. „Eine effiziente Place-

boreaktion bringt zufriedene und gesunde Patienten“, appelliert Brian Olshansky an seine Arztkollegen. Der Effekt des Placebos (lat.: ich werde gefallen) werde unterschätzt, meist gar nicht bemerkt und immer öfter gar nicht genutzt, schreibt der US-amerikanische Kardiologe. Olshansky fürchtet, dass die moderne Medizin eine der wichtigsten Grundlagen für Heilung einbüßt, wenn Patienten keine Aufmerksamkeit erhielten und im Eiltempo abgefertigt würden. Auch bei etablierten Medikamenten und Eingriffen beruht ein Teil der Heilwirkung auf dem Placeboeffekt. Die sogenannte Komplementär- und Alternativmedizin beruht ausschließlich darauf. Anhänger der Bachblütentherapie schwören auf Notfalltropfen, die sie stets bei sich tragen. Die Flüssigkeit, in der ein paar Blütenblätter geschwommen sind, chemisch betrachtet pures Wasser, verschafft ihnen rasche Abhilfe bei Befindlichkeitsstörungen jeglicher Art. Auf Verdünnung setzt auch die Homöopathie und zwar so hochgradig, dass in vielen ihrer Mittel kein einziges Molekül des vermeintlichen Wirkstoffes mehr enthalten ist. Gehackte Kreuzotter. Dass die Einnahme von Notfalltropfen und Homöopathika, einmal abgesehen von den Kosten, völlig unbedenklich ist, markiert einen Fortschritt gegenüber den Arzneien unserer Vorfahren. Die haben zur Ankurbelung ihrer Selbstheilungskräfte allerhand in Kauf genommen: Theriak, ein bis ins 19. Jahrhundert verbreitetes Allheilmittel, basierte auf gehackter Kreuzotter. Apotheker rührten Fliegendreck und bestenfalls ein paar harmlose Kräuter zusammen. Zum Teuersten, was Pharmazeuten früher zu bieten hatten, zählten pulverisierter Narwalzahn und Gallensteine von der Ziege. Weil solche Gaben die Genesung nicht immer verhinderten, wurde ihnen Heilkraft zugeschrieben.

12

heureka 4/2007 | Nichtwissen

Die Aufklärung brachte zumindest in der Medizin keine Wende, sondern nur mehr Fantasie in die Behandlungen: Franz Anton Mesmer magnetisierte, John Wesley elektrisierte, und in Frankreich waren Blutegel so in Mode, dass sie fast ausgestorben wären. Über den Placeboffekt hinaus wirkende Therapien und Medikamente blieben indes bis ins 20. Jahrhundert Mangelware. Effekt entdeckt. 1927 bemerkte Iwan Paw-

low, dass sein Hund, der nach Morphinspritzen regelmäßig erbrochen hatte, sich auch übergab, wenn ihm beim nächsten Mal lediglich Kochsalzlösung gespritzt wurde. Als dem amerikanischen Militärarzt Henry Beecher das Morphin für die

Große Pillen wirken besser als kleine, Schlafpillen eher, wenn sie blau oder grün, nicht rot sind Verwundeten ausging, spritzte er ebenfalls gesalzenes Wasser, und siehe da: vielen verschaffte es Linderung. War Placebo lange eine höfliche Umschreibung für Quacksalberei, bezeichnete es nach 1950 auch die wirkstofflose Pille, gegen die ein neues Medikament sich nunmehr im Doppelblindversuch behaupten musste: Wer den Wirkstoff kriegt und wer das Placebo, weiß weder der Patient noch der Arzt, erst bei der Auswertung der Studie wird das Geheimnis gelüftet. Viele Hoffnungsträger der Pharmafirmen sind gescheitert, weil sie nicht signifikant bes-

ser, in manchen Fällen sogar weniger gut wirkten als das Placebo. Ein Abfallprodukt der neuen Methode war die Erforschung des Placeboeffekts: Große Pillen wirken besser als kleine, Schlafpillen eher, wenn sie blau oder grün und nicht rot sind, besser wirkt eine Substanz, wenn sie der Professor verabreicht und nicht die Schwester. Selbst die Überzeugung des Arztes von der Wirksamkeit macht nachweislich einen Unterschied. Was unter die Haut geht, kommt besonders gut an. Das gilt nicht nur für Spritzen, sondern auch für Akupunktur. Dass das Pieksritual vielen, die über chronische Rücken- oder Gelenksschmerzen klagen, eher hilft als die Schulmedizin, muss an der besonderen Portion Aufmerksamkeit liegen. Ob die Nadeln nämlich in die Punkte einstechen, die der traditionellen chinesischen Lehre entsprechen, oder an frei gewählten Hautstellen oder die Nadeln beim Berühren der Haut sich sogar teleskopartig zusammenschieben, machte in Vergleichsexperimenten, die in München, Heidelberg und Harvard durchgeführt wurden, keinen Unterschied. Krebs nein, Asthma ja. Der Berner Epidemiologe Mattias Egger verglich Wirkungsstudien von Homöopathika mit den Ergebnissen, die Placebos in Medikamenten-


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:55 Uhr

unterschätzt werde, warnt Fabrizio Benedetti. Es kann nämlich, so der Turiner Neurologe, auch ein Noceboeffekt (lat.: ich werde schaden) eintreten. Den gibt es nicht nur beim Voodoozauber, sondern etwa auch in klinischen Studien. Deren Teilnehmer müssen pingelig genau über mögliche Nebenwirkungen aufgeklärt werden. Von denen, die ein zumindest physiologisch wirkungsloses Placebo empfangen haben, teilt fast jeder Vierte später mit, dass Nebenwirkungen eingetreten sind. Das wirft ein bedenkliches Licht auf einen anderen Trend der modernen Medizin. Auf den Beipackzetteln der Medikamente wird immer ausführlicher auf ungewünschte Nebenwirkungen hingewiesen. Ihr Eintreten wird durch die wohlgemeinte Warnung allenfalls wahrscheinlicher.

oder Epilepsie ist kein Placeboeffekt zu beobachten, bei Asthma, Angina Pectoris, Bluthochdruck, Hautentzündungen, Depression oder Husten hingegen schon. Und am meisten vermögen Placebos bei Schmerzen, Arthritis oder Magengeschwüren. Der Effekt ist nicht, wie lange geglaubt wurde, rein psychischer Art. Bei der Akupunktur werden im Hirn Neurotransmitter freigesetzt, besonders das Dopamin, aber auch Endorphine, die wiederum Immunzellen aktivieren können. Zwischen Personen, bei denen Placebos wirken, und solchen, bei denen sie es nicht tun, ist bisher allerdings kein signifikanter Unterschied gefunden worden. Ich werde schaden. Jede Behandlung habe einen kognitiven Teil, der aber allzu oft

„Wir können nur Vermutungen anstellen“ Medikamente gegen psychische Krankheiten zu entwickeln gleicht dem Picken eines blinden Huhns. Der britische Neuropharmakologe David Nutt, Professor an der Uni Bristol, erklärt, warum die Hirnforschung bisher nicht die erwarteten Durchbrüche gebracht hat. heureka!: Die Hirnforschung hat auf vielen Gebieten neue Einsichten gebracht – auch für die Entwicklung von Medikamenten? David Nutt: Leider nein. Praktisch alle Wirkstoffe, die wir gegen psychische Erkrankungen haben, beruhen auf Zufallsfunden, angefangen vom ersten Antidepressivum, das eigentlich ein Mittel gegen Schizophrenie werden sollte. Auf dem Markt gibt es nur ein einziges, gezielt entworfenes Medikament, und eines steht vor der Zulassung.

gen Schizophrenie haben, wirkt auf dreißig verschiedene Rezeptoren zugleich. Vielleicht ist das logische und theoriegeleitete Entwickeln der falsche Ansatz, und vielleicht wären wir mit der Maschinengewehrmethode weiter: blindlings Moleküle entwickeln, testen, welche etwas versprechen, und mit denen weitermachen.

Ist das Ihr Ernst? Die US-amerikanische Suchtforschungsstelle NIDA hat Milliarden in die Erforschung von Dopamin geschüttet, weil es bei Kokainsucht und anderen Abhängigkeiten eine entscheidende Rolle spielt. Der Dopaminkreislauf ist hochinteressant. Das ist aber eben der einzige Neurotransmitter, der gut erforscht ist.

Warum ist die Entwicklung von Neuround Psychopharmaka so schwer? Der Wirkmechanismus ist bei vielen Medikamenten ungeklärt, aber im Gehirn ist es besonders verzwickt. Die Hälfte aller Gene drückt sich im Gehirn aus. Wir verstehen nicht, warum manche Wirkstoffe die Blut-Hirn-Schranke überwinden und

Hören die Pharmafirmen nicht auf die Wissenschaftler? Im Gegenteil. Sie haben vielleicht zu viel auf uns gehört. Praktisch alle großen Pharmafirmen haben große Summen in die Hirnforschung gesteckt. Inzwischen fahren viele ihre Investitionen zurück. Fast alle Versuche, Wirkstoffe auf neurowissenschaftlicher Basis zu entwickeln, sind gescheitert. Warum? Man zielt auf einen bestimmten Rezeptor. Doch das beste Medikament, das wir ge-

andere nicht. Überhaupt können wir das lebende Hirn nur sehr eingeschränkt beobachten. Rückschlüsse aus Tierversuchen lassen sich beim Hirn besonders schwer ziehen. Außerdem wissen wir erst über einen Neurotransmitter wirklich Bescheid.

University of Bristol

Illustration: Reini Hackl

studien erzielten. Das wenig überraschende Ergebnis: Homöopathische Mittel wirken genau so gut oder schlecht wie Pillen, von denen man erst gar nicht vorgibt, dass sie einen Wirkstoff enthalten. Auch Ärzte, die es nicht mit der Homöopathie halten, verschreiben mitunter Pillen auf Pflanzenbasis oder in wirkungslos niedriger Dosierung und versichern ihren Patienten dabei, dass die Beschwerden bald verschwunden sein werden. Besser, als wenn der Patient sich nicht ernst genommen fühlt, ist es allemal. Bei Krebs

Seite 13

„Praktisch alle Wirkstoffe beruhen auf Zufallsfunden“ – Neuropharmakologe David Nutt

Wie viele gibt es? Wir kennen achtzig Neurotransmitter und gehen davon aus, dass es etwa hundert weitere gibt. Aber wir können nur Vermutungen anstellen, was sie in unserem Hirn genau tun. Die Verfahren und Marker für die Beobachtung weiterer Neurotransmitter kann kein Institut, kann keine Firma allein entwickeln. Dafür braucht es ein Konsortium. Die European Science Foundation ESF wird im Dezember hoffentlich die nötige Anschubfinanzierung von 35 Millionen Euro für fünf Jahre beschließen. Sobald wir Noradrenalin, Serotonin und Endorphin im Hirn verfolgen können, erwarte ich wichtige Einsichten. Interview: Stefan Löffler

heureka 4/2007 | Nichtwissen

13


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:55 Uhr

Seite 14

Ließ als erster Mensch seine gesamte eigene DNA sequenzieren – der umstrittene Gentechnikpionier Craig Venter

AFP/Stephen Jaffe

Wissen, das unsicher macht Erkenne dich selbst. Craig Venter war schon immer sehr von sich selbst eingenommen. Beim Wettrennen um die Sequenzierung der menschlichen DNA vor knapp sieben Jahren stilisierte er sich zum „Herrn der Gene“. Nun hat er dem Begriff des Selbstdarstellers eine neue Bedeutung gegeben: Auf der Website der Public Library of Science (http://biology.plosjournals.org) kann man das komplette Erbgut des US-Forschers in einer nur 88 Megabyte großen Datei kostenlos herunterladen. Für alle, die es wissen wollen. Freilich interessiert die eigene Gensequenz viel mehr als die eines Fremden. In etwa zehn Jahren, so hoffen vor allem geschäftstüchtige Wissenschaftler, werde es Routine sein, dass sich der Mensch seine gesamte DNA um geschätzte 750 Euro aufschlüsseln lässt. Zu welchem Preis jedoch ist fraglich – vielleicht zu dem der permanenten Angst. Derzeit liegt noch eine andere, weniger aufwendige genetische Analyse im Trend, quasi eine Vorstufe der DNA-Vollanalyse: die von bestimmten Polymorphismen. Das sind geringfügige Abweichungen im Erbgut, die sich positiv oder negativ auf den Organismus auswirken können. Je nach Umfang und Art dieser Untersuchung erhält man ein persönliches Risikoprofil bereits ab etwa 300 Euro. Und weil sich der wissenschaftsgläubige Mensch heute gerne von der Gene-

14

heureka 4/2007 | Nichtwissen

tik verführen lässt, springen immer mehr Firmen, besonders in den USA, auf diesen Zug auf.

„Fortschritte in der Gendiagnostik ermöglichen das Erstellen individueller Risikoprofile. Lassen sich so Krankheiten präventiv bekämpfen? Oder wird dem Patienten nur gegen Gebühr Angst eingejagt?“ Andreas Feiertag

Geschäfte mit Genen. „Die Risiken bestimmter Krankheiten zu kontrollieren, basierend auf individueller DNA-Analyse“, verspricht beispielsweise das in Boulder, Colorado, angesiedelte Unternehmen Sciona. Die Biotech-Firma führt „persönliche nutrigenetische Analysen“ durch, die daraus resultierende Diät wird per Post in einem blauen Büchlein zugestellt. Jedem seine eigene Ernährungspyramide, in Hochglanz und vierzig Seiten stark. Eine – von Sciona bezahlte – Forschungsstelle an der Yale University besorgt den wissenschaftlichen Anstrich des Marktführers in Sachen „Nutrigenomics“. Die deutsche Journalistin Kathrin Burger ließ für die Zeit diesen Gentest mit sich machen, schickte Angaben zu ihren Ernährungsgewohnheiten und Wattestäbchen mit Abstrichen ihrer Mundschleimhaut über den Atlantik. Die Analyse von 19 ihrer Gene ergab: „Risiko für Herzkrankheiten erhöht, Risiko für Krebs erhöht. Und das Risiko für Übergewicht, Diabetes und Osteoporose auch.“ Weiters habe sie Variationen im B-Vitamin-Genprofil. Sie müsse daher „mehr Lebensmittel mit viel Vitamin B“ zu sich nehmen, beispielsweise „Schwein, Leber, Nieren“. Friss oder stirb.


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:55 Uhr

Venters Ohrenschmalz. Craig Venters biologisches Selbstporträt zeigt immerhin 300 Genvarianten, die mit dem Auftreten von Krankheiten assoziiert werden, sowie 4000 noch unerforschte Varianten der etwa 26.000 bekannten Gene des Menschen. Außerdem unterscheidet sich seine DNA in deutlich mehr als vier Millionen Bereichen von jenem menschlichen Genom, das im Jahr 2001 sequenziert wurde, einem Mischgenom, dessen Bausteine von mehreren Menschen stammten, unter anderen von Venter selbst. Die Wissenschaft weiß sich nach Venters molekularer Selbstdarstellung jedenfalls in ihren jüngsten Vermutungen bestätigt: Der Mensch gleicht dem Mitmenschen genetisch doch nicht zu 99,9 Prozent, es sind nur 99, vielleicht sogar lediglich 98 Prozent. Was aber weiß der DNA-Exhibitionist darob über seine Konstitution? Venters Sequenz im ABCC11-Gen zum Beispiel zeigt deutlich, dass er eher flüssiges als festes Ohrenschmalz produziert. Verräterisch ist auch seine Sequenz im MAOA-Gen: Wiederhole sie sich nur viermal – wie bei Venter – oder seltener, sei das ein starkes Indiz für antisoziales Verhalten, wie Genetiker in Nature süffisant feststellten. Sein DNA-Profil zeigt aber auch genetisch bedingte höhere Risiken für Hautkrebs, Fettsucht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Alzheimer als bei Menschen ohne entsprechende Polymorphismen.

Venter selbst hatte übrigens zu Protokoll gegeben, sein Vater sei am Herzinfarkt gestorben. Zu einer entsprechend einfachen Prophylaxe, nämlich der Anpassung seines Lebensstils an dieses mögliche Risiko, hatte er

Venters DNA-Profil zeigt genetisch bedingte höhere Risiken für Hautkrebs, Fettsucht und Alzheimer sich bisher nicht aufraffen können. Doch seit er endlich sein Genom kenne, gestand der Forscher, nehme er vorsichtshalber ein cholesterinsenkendes Medikament. Die Pharmaindustrie dankt. Punktuell sinnvoll. Ist es aber ausreichend,

nichts über sein genetisches Profil zu wissen und sein Schicksal allein in Gottes Hände zu legen? Nein, konstatiert das jüngste Mitglied der päpstlichen Akademie für das Leben,

Markus Hengstschläger: „Dort, wo ein kausaler Zusammenhang von genetischer Veränderung und Erkrankung nachgewiesen ist und wo es auch eine Therapie gibt, ist ein Gentest sinnvoll.“ Wenngleich der Wiener Humangenetiker einschränkend zu bedenken gibt: „Wie bei allen medizinischen Diagnosen ist seine Sicherheit niemals hundert Prozent.“ So werden in Österreich und andernorts Neugeborene auf Mutationen eines Gens auf Chromosom 12 getestet, den Verursachern der angeborenen Stoffwechselerkrankung Phenylketonurie. Betroffene können dann mit entsprechender Diät schwere geistige Entwicklungsstörungen verhindern. Schwieriger sei die Analyse des HuntingtonGens. Ist es verändert, entwickeln Betroffene etwa ab dem vierzigsten Lebensjahr die neurodegenerative Erkrankung Chorea Huntington. Und zwar mit hundertprozentiger Sicherheit. Diese Mutation kann, muss aber nicht vererbt werden, die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig. Soll man Menschen mit einer entsprechenden familiären Krank-

Begrenzter Nutzen. Auch wenn heute eine

mehr oder minder starke Veranlagung für Tausende von Erkrankungen anhand von Gentests erkannt werden können, sei deren Aussagekraft doch sehr beschränkt, so der deutsche Humangenetiker Helmut Blöcke vom Braunschweiger Helmholtz-Forschungszentrum, so etwa bezüglich der Frage inwiefern genetische Faktoren für die großen Volkskrankheiten verantwortlich seien. Ob jemand etwa eine Veranlagung zu erhöhten Blutfettwerten hat, erkenne er genauso gut beim Blick auf die Krankengeschichten der Großeltern, Eltern, Onkeln und Tanten.

Illustration: Reini Hackl

AFP/Stephen Jaffe

Sciona weiß zwar, dass bei der Entstehung eines Infarkts mehrere Gene zusammenspielen. Aber hat man auch nur eine Variation in einem der zwölf Herzgene, ist man für Sciona Risikopatient. Noch komplizierter ist es bei Diabetes: Auf diese Krankheit sollen 300 Variationen Einfluss haben. Wird man bald krank, wenn man nur eine davon in seinen Genen trägt? Was kann aus dem Erbgut tatsächlich herausgelesen werden? Soll man es überhaupt wissen?

Seite 15

heureka 4/2007 | Nichtwissen

15


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

Je nach Umfang und Art der Genanalyse erhält man ein persönliches Risikoprofil bereits ab etwa 300 Euro

10:55 Uhr

Seite 16

heitsgeschichte genetisch testen? Hier will sich Hengstschläger zwar nicht festlegen, gibt aber zu bedenken: „Was nützt es, wenn ich weiß, dass ich die Mutation habe und deshalb krank werde, wenn es keine Therapie gibt?“ Und abgesehen von den persönlichen Auswirkungen eines solchen Wissens seien die Analysedaten, so sie in die Hände Dritter geraten, ein Handicap bei Versicherungen und auf dem Arbeitsmarkt. Unverantwortlicher Wildwuchs. Gerade weil der

Umgang mit genetischen Daten derart heikel sei, müssten DNA-Analysen äußerst behutsam durchgeführt werden. „Was in der Praxis jedoch nicht geschieht“, bedauert Hengstschläger, der einen „unverantwortlichen Wildwuchs an Genanalysefirmen“ beobachtet. Hier werde, wissenschaftlich teils unhaltbar, mit der Genetik das große Geld gemacht, den Betroffenen ohne persönliche Beratung irgendein Risikoprofil vor die Nase geknallt, ein Geschäft mit der Angst betrieben. Besonders im heiklen Bereich der Polymorphismen. Dieser Kritik sah sich auch der Wiener Hormonspezialist und Gynäkologe Johannes Huber ausgesetzt, der mit einer umstrittenen Zelltherapie erst vor wenigen Monaten negative Schlagzeilen schrieb und danach den Vorsitz der Österreichischen Bioethikkommission zurücklegte. Huber war Kopf einer Gruppe von Ärzten und Biochemikern, die gemeinsam mit einem Spin-off der Universität Wien im Jahr 2001 die Firma Genosense Diagnostics gründeten. Beschränkte sich das Unternehmen anfangs auf eine Handvoll wissenschaftlich sehr gut untersuchter Polymorphismen aus dem gynäkologischen Bereich, beinhaltet das Portfolio heute annähernd hundert solcher geringfügiger Variationen, abgedeckt werden neben der Gynäkologie und Geburtshilfe auch die Andrologie und Urologie, die Kardiologie sowie die Pharmakologie. Zu viel, meinen Skeptiker. „Ich bin zwar eine große Anhängerin von Polymorphismusstudien, weil sie uns ein gewaltiges Wissen über die Pathogenese vieler Krankheiten liefern“, erklärt beispielsweise Christine Mannhalter vom Institut für Medizinische und Chemische Labordiagnostik am AKH Wien und Mitglied der österreichischen Bioethikkommission, die selbst derartige Studien durchführt. „Ich bin aber sehr restriktiv, was ihren Einsatz in der individuellen Diagnostik betrifft. Für viele heute angebotene Tests liegen divergierende Studienergebnisse vor, sodass der mögliche Nutzen für den Patienten zu wenig abgesichert ist.“ Dem widerspricht Huber, auch wenn er seine „unentgeltliche Funktion als wissenschaftlicher Berater von Genosense“ nun niedergelegt hat und sich auch sonst „aus privaten Gründen“, so Huber, aus dem Unternehmen zurückziehen will. Studien über Polymorphismen boomten derzeit, ständig seien neue, für die individuelle Diagnose relevante Erkenntnisse in großen Fachjournalen

16

heureka 4/2007 | Nichtwissen

nachzulesen. „Und der britische Wellcome Trust hat gerade 250.000 Polymorphismen miteinander vergleichen lassen. Für fünf sogenannte Coming Diseases, für Diabetes, Multiple Sklerose, Adipositas, den rheumatischen Formenkreis und HerzKreislauf-Erkrankungen wurden dabei relevante Polymorphismen gefunden und bestätigt.“ Eine Packung Prävention. Die Kosten eines Gentests

von Genosense Diagnostics betragen je nach Umfang zwischen 380 und 1200 Euro. Angefordert werden könne ein solcher jedoch, dem österreichischen Gentechnikgesetz konform, „ausschließlich von ärztlichem Fachpersonal“, wie der wissenschaftliche Geschäftsführer Christian Schneeberger erklärt, und auch die Analysedaten würden „ausschließlich an den zuweisenden Facharzt geschickt“. Ob dieser mit den Daten etwas anfangen kann oder nicht, scheint egal zu sein. Immerhin wirbt Genosense auf der Homepage: „Unsere Befunde bestehen aus dem Laborergebnis und einer naturwissenschaftlichen und klinisch-medizinischen Interpretation jeweils durch den befundenden Facharzt. Daher muss der zuweisende Facharzt kein Genetikexperte sein, um die Testergebnisse anwenden und eine erfolgreiche Diagnose für seinen Patienten ableiten zu können.“ Und er muss auch keine Ahnung von Prävention haben, die nach der Genanalyse vielleicht angesagt wäre. Denn das Service der Wiener Gentech-Firma umfasst auch gleich Vorschläge für geeignete Hormone und andere Pillen sowie für ihre Dosierung. Individuell abgeleitet aus dem Gentest. Christine Mannhalter freilich bleibt dabei: Ein großer Teil der bisherigen Studien über Polymorphismen könne lediglich statistische Aussagen über eine große Gruppe von Menschen mit eben diesen Polymorphismen liefern, erlaube aber keine individuellen Aussagen. Abgesehen davon „fehlen noch wichtige biostatistische Grundlagen“, um die Fülle der möglichen genetischen Variationen und Interaktionen zu erfassen. Des Weiteren seien „die heutigen bioinformatischen Messsysteme noch nicht so ausgereift“, wie sie es sein sollten. Vielleicht sei es daher besser, noch nicht allzu viel über mögliche Variationen seiner Erbsubstanz zu wissen. Alles in den Genen. Was aber, wenn man nicht anders kann, als wissen zu müssen? Craig Venter etwa macht für seine zwanghafte Neugierde sein Erbgut verantwortlich. Auch sein Hang zu Nikotin und Alkohol sei in seinen Basenpaaren festgeschrieben. Und nicht zuletzt will der Wissenschaftler in seinem genetischen Selbstbildnis 750 „einmalige Mutationen“ entdeckt haben, die seine englische Abstammung belegen. Was wiederum einige Kollegen Venters verblüfft, die wissen wollen, dass seine Eltern deutsche Vorfahren haben. Aber wer weiß.


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:55 Uhr

Seite 17

Jetzt zum Abo: der Roland-Rainer-Sessel

50-mal Falter, die beste Stadtzeitung Europas. Plus: Der Wiener Stadthallensessel von Roland Rainer! Eine Rekreation des Designs von 1951. Streng limitiert und nummeriert. Aus massivem Buchen-Bugholzrahmen und geformtem Birkensperrholz. Stapelbar.

5 279,–

www.falter.at

Rainer Sessel + Abo um

Ja, ich bestelle: ❑ Ja, ich bestelle ein klassisches Falter1-Jahres-Abo um 5 79,– (❑ Studierende 5 71,–) ❑ das Falter-1-Jahres-Abo + 1 RR-Sessel um 5 279,– (Studierende 5 271,–) ❑ __ Stk. RR-Sessel um 5 240,– (für AbonnentInnen) Ich wähle folgende Zahlungsform: ❑ __ Stk. RR-Sessel um 5 299,– (für Nicht-AbonnentInnen) ❑ VISA ❑ Eurocard ❑ DINERS ❑ Erlagschein Karten-Nr.:

Name

Gültig bis:

Straße/Hausnummer PLZ/Ort

Telefon

❑ Bankeinzug Ich bin einverstanden, dass genannter Betrag bei Fälligkeit von meinem Konto abgebucht wird. Eine Rückbuchung kann innerhalb von 42 Kalendertagen ohne Angabe von Gründen veranlasst werden.

E-Mail Datum Unterschrift

Matrikelnr. 338

BLZ

Kontonummer

Datum

Unterschrift

Karte ausfüllen, abtrennen und an den Falter schicken bzw. faxen, oder das Abo einfach elektronisch bestellen. Falter, PF 474, 1011 Wien, T: 01/536 60-928, F: 01/536 60-935, E: service@falter.at, www.falter.at. Das Falter-1-Jahres-Abo verlängert sich automatisch nach Ablauf des Abo-Zeitraumes zum jeweils gültigen Abo-Preis. Der RR-Sessel kann nach Eingang der Zahlung abgeholt werden. Terminvereinbarung mit dem Falter-Abo-Service 01/536 60-928. Angebot gültig, solange der Vorrat reicht, gilt auch bei Verlängerung eines bestehenden Abos.


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:55 Uhr

Seite 18

Unter Verschluss Wissen, das nicht öffentlich wird, ist Nichtwissen. In Österreich landen sozialwissenschaftliche Studien immer wieder in der Schublade, weil manche Ergebnisse den Auftraggebern nicht genehm sind. Erkundungen im Spannungsfeld von Auftragsforschung und Politik. Oliver Hochadel

Im Nationalrat. „Die Ergebnisse passen dem

Minister wohl nicht.“ Am 24. Mai 2006 beschuldigte die SPÖ-Abgeordnete Renate Csörgits bei einer Rede im Nationalrat Wirtschaftsminister Martin Bartenstein, er halte eine mit Steuergeldern finanzierte Studie zum Thema „Leiharbeit und neue Selbstständige“ unter Verschluss. In der – wohl doch nicht so geheimen – Studie sei unter anderem nachzulesen, dass 65 Prozent der Frauen, die in Leiharbeit beschäftigt sind, akut armutsgefährdet seien. Wohl nicht nur für die Frauenpolitikerin Csörgits eine alarmierende Zahl. Wenn sie denn stimmt. Veröffentlicht ist die Untersuchung aus den Jahren 2003/04 bis heute nicht. Der Leiter der Leiharbeitsstudie Andreas Riesenfelder von der Wiener L&R Sozialforschung möchte zu deren Inhalt nichts sagen, daran sei er vertraglich gebunden. Nur so viel: Es habe eine Fortsetzung der Studie gegeben, die das Problem der Zeitarbeit auch aus Arbeitgeberperspektive betrachte, nachdem der erste Teil die Arbeitnehmerperspektive beleuchtet habe. Die Fortsetzungsstudie sei nun ebenfalls abgeschlossen und liege seit einigen Wochen zur Begutachtung beim Wirtschaftsministerium. Er gehe davon aus, dass diese danach veröffentlicht werde. Im Wirtschaftsministerium möchte man am liebsten gar nichts dazu sagen, etwa ob allein der erste Teil der Studie über 200.000 Euro gekostet habe. Stattdessen übt man sich in Kryptologie: Die Art der Veröffentlichung hänge von der Zielsetzung der Studie ab. Entziffert heißt das wohl, dass man sich eine Publikation der Leiharbeitsstudie vorbehält. Zensuriert und umgeschrieben. Sozialwissen-

schaftler, die in der außeruniversitären Auftragsforschung arbeiten, berichten hinter vorgehaltener Hand immer wieder von Studien, die in der Schublade landen, von Zensur und Umschreiben durch die Auftraggeber. heureka! wollten sie zum Teil nur unter

18

heureka 4/2007 | Nichtwissen

Zusicherung von Anonymität Auskunft geben. Denn die Financiers der eigenen Arbeit öffentlich zu kritisieren ist nicht sehr geschäftsfördernd. Deswegen wird der folgende Fall nur verklausuliert beschrieben. Andrea Begmann (Name geändert) berichtet von einem ambitionierten, international vergleichenden Projekt, an dem mehrere Sozialwissenschaftler eineinhalb Jahre gearbeitet haben. Nach dessen Abschluss habe der Auftraggeber jedes Mal andere Gründe ins Feld geführt, warum der Bericht nun nicht veröffentlicht werden könne. Schließlich hieß es, die Zahlen seien nun veraltet. „Wir durften nicht einmal den beteiligten ausländischen Institutionen, die uns ja bereitwillig mit Datenmaterial versorgt haben, Belegexemplare schicken“, klagt Begmann. Schwerer wiegt, dass den jungen Forschern der Kompetenzausweis für ihre weitere Karriere fehlt: Die Studie gibt es offiziell nicht,

Sozialwissenschaftliche Studien zu heiklen Themen werden zum Politikum weshalb sie auch auf keine Publikationen verweisen können. Eine innovative, weil international vergleichende Methode zum Finanzierungsbedarf von Institutionen bleibe der Fachöffentlichkeit nun vorenthalten, so die Forscherin, ganz abgesehen von den eigentlichen Ergebnissen. Doch das ist nicht das einzige Problem im Spannungsfeld zwischen Sozialforschung und Politik. Denn auch wenn eine Studie veröffentlicht wird, sind die dazugehörigen umfangreichen Datensätze von Umfragen und statistischen Erhebungen häufig gesperrt, berichtet Begmann weiter. Anfragen anderer Forscher oder auch von Diplomanden müsse man ablehnen: „Um dies zu um-

gehen, klopfen wir alle Daten in den Bericht und produzieren 700-Seiten-Ziegel.“ So werden wenigstens alle Daten öffentlich. Heiße Eisen. Sozialwissenschaftliche Studien

zu heiklen Themen werden schnell zum Politikum. Deswegen handeln viele Auftraggeber getreu der Devise, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Ein Ministerium behauptete vor Jahren steif und fest, dass lediglich ein Prozent jedes Jahrgangs die Schule abbreche, während mehrere Studien von etwa sieben Prozent ausgehen. Eine Stadtverwaltung legte noch vor Beginn einer Untersuchung über die Anzahl von Obdachlosen in der Stadt fest, wo die „maximale Obergrenze“ zu liegen habe. Und – die eingangs erwähnte Leiharbeitsstudie ist dafür nur ein Beispiel – fast schon ein Klassiker: die Politik hört ungern von der Entstehung eines Prekariats, also von Menschen, für die die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und die damit einhergehenden neuen Beschäftigungsformen zur Armutsfalle wird. Für Andreas Riesenfelder von L&R Sozialforschung stellt die Nichtveröffentlichung von Studien aber ein weitaus geringeres Problem dar als jene Untersuchungen, die gar nicht erst in Auftrag gegeben werden. Gerade an so entscheidende politische Fragen wie Integration traue sich die Politik zu wenig heran, nicht zuletzt aus Angst, dass entsprechende Studien von der „falschen Seite“ instrumentalisiert werden könnten. Herrschaftswissen. Wer will seinem politi-

schen Gegner die Munition schon frei Haus liefern – zumal in dem weiterhin in eine rote und eine schwarze Reichshälfte aufgeteilten Österreich? Besonders gut eingespielt sind hier Arbeiter- und Wirtschaftskammer, deren jeweils beauftragte Studien vor allem dazu da sind, sie der jeweils anderen Kammer um die Ohren zu hauen. Dass im politischen Stellungskrieg mit Forschungsergebnissen selektiv und geheimniskräme-


16.11.2007

10:55 Uhr

risch umgegangen wird, liegt auf der Hand. Was der Sozialforschung allerlei Verbiegungen abverlangt, ist rechtlich indes absolut legitim: Es besteht keinerlei Anspruch, Studien – auch solche, die mit Steuergeldern finanziert wurden – zu veröffentlichen. Der Vertrag mit dem Forschungsinstitut legt fest, dass die Rechte an den Ergebnissen beim Auftraggeber liegen. Wobei die Gründe für eine Nichtveröffentlichung keineswegs immer politisch-taktischer Art sein müssen. Das Wissenschaftsministerium teilt auf Anfrage mit, dass es zum Beispiel explorative Studien gebe, die nicht unmittelbar „herzeigbar“ wären, deswegen aber keineswegs als „Wissen in der Schublade“ abzuqualifizieren seien: „Das Ziel solcher Studien ist in erster Linie, bei forschungspolitischen Entscheidungen des Ministeriums das für neue strategische Ausrichtungen nötige Wissen mit wissenschaftlichen Methoden zu generieren.“

Seite 19

Wissen wird mitunter auch deshalb nicht zugänglich, weil die Studie als „graue Literatur“ in einem Regal verstaubt. In Zeiten des Internets bieten sich freilich neue Suchmöglichkeiten. Viel Lob von den Forschern heimst etwa die Plattform www.amsforschungsnetzwerk.at des Arbeitsmarktservice ein, die Zugriff auf zahlreiche Studien ermöglicht. Auch wenn gezielte Informationsvorenthaltung dazugehört, darf man Beamten und Politikern ein genuines Interesse an der Sache unterstellen. Und schließlich sind Ministerien, Magistrate und Kammern keine monolithischen Blöcke. Auch hier gibt es Fraktionen, und Studien werden hier für interne Auseinandersetzungen instrumentalisiert. „Und wir wissen nicht einmal, wofür. Die Beauftragung einer Studie hat immer auch eine Geschichte“, weiß Sozialforscher Christian Drau (Name geändert) aus langjähriger Erfahrung. Bei der Erstellung des Endberichts werde schon um die Botschaft

gefeilscht. „Wenn einem Auftraggeber ein Wort nicht passt, dann streichen wir es halt. Dass eine Studie vom Auftraggeber völlig umgeschrieben werde, sei aber die große Ausnahme und ihm erst zweimal passiert, so Drau. Das System sozialisiert. Christoph Hofinger

kann sich an gar keinen Fall erinnern, bei dem massiv umgeschrieben worden sei. Was die befragten Forscher vielmehr bei manchen ihrer Kollegen beobachten, sei ein vorauseilender Gehorsam: Das Ministerium werde das schon so oder so wollen. Das sei aber überhaupt nicht gesagt. Hofinger glaubt, dass man sich als unangenehmer Forscher den Auftraggebern interessanter macht. Letztlich sei es anstrengender, sich ständig nach dem Wind zu drehen, und daher besser, mit der Wahrheit anzuecken. „Sich nicht verbiegen zu lassen geht nicht“, glaubt hingegen Christian Drau: „Das System sozialisiert mich, nicht umgekehrt.“

Interesse verloren. Wenn eine Studie nicht

veröffentlicht wird, gebe es häufig banalere Gründe als bösen Willen oder Angst vor der Öffentlichkeit, gibt auch Christoph Hofinger vom Wiener Forschungsinstitut SORA zu bedenken. Eine Untersuchung könne sich etwa als schlechtgemacht entpuppen. Möglicherweise ist die infrage stehende Entscheidung bereits gefallen oder die Fragestellung der auftraggebenden Einrichtung hat sich verlagert, sprich: sie hat das Interesse an der Studie und deren Veröffentlichung verloren.

Förderungspreis – jetzt bewerben! Der Theodor-Körner-Fonds fördert Arbeiten aus den Bereichen Wissenschaft und Kunst mit 1500 bis 3000 Euro. • Höchstalter 40 Jahre • Bewerbungsschluss 30. November (Poststempel) • Onlinebewerbung und weitere Infos: www.theodorkoernerfonds.at

heureka 4/2007 | Nichtwissen

19

Martin Fuchs

Heureka 4_07_nichtwissen.qxd


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:55 Uhr

Seite 20

Man fragt einfach, warum Von Aal bis Wasser reichen die 42 Einträge im vergnüglich-subtilen „Lexikon des Unwissens“ von Kathrin Passig und Aleks Scholz. Im Interview erzählen sie, wie sie die Wissenslücken aufspürten und warum statt des Eintrags „Hawaii“ vielleicht Madagaskar besser gewesen wäre. Fragen: Klaus Taschwer

Wie kam es zur Auswahl der 42 Begriffe, darunter „Stern von Bethlehem“ und „Trinkgeld“? Passig: Wir hatten eine lange Liste möglicher Themen, aus der wir nach und nach das herausgegriffen haben, was uns gerade am interessantesten erschien. Irgendwann war dann das Buch voll und der Abgabetermin da. Hat es Sie überrascht, wie wenig die Wissenschaft über scheinbar einfachste Dinge wie das Schlafen, die Erkältung oder das Riechen weiß? Aleks Scholz: Es hätte mich enttäuscht, wenn sich bei der Recherche herausgestellt hätte, dass es solche scheinbar einfachen, dann aber doch ungeklärten Dinge nicht gibt, schon deshalb, weil wir dann das ganze Buch mit langweiligem Zeug wie Quarks und Neutronensternen hätten vollschreiben müssen. Heute, also nach der Recherche, kommt es mir eher überraschend vor, wie viel man über so unglaublich komplexe Dinge wie das Riechen oder den Schlaf doch schon herausgefunden hat. Ihr Buch beginnt mit einem Beitrag, der eher zufällig ausgewählt war, nämlich den über den Aal. Könnte man daraus schlie-

20

heureka 4/2007 | Nichtwissen

ßen, dass sich Wissenslücken bei so gut wie allem auftun, wenn man nur entsprechend nachbohrt? Scholz: Es gibt in naturwissenschaftlichen Studiengängen eine simple Prüfungstechnik: Jedes Mal, wenn der Prüfling eine richtige Antwort gibt, fragt man ihn einfach: „Warum?“ Mit zwei, drei gezielten WarumFragen ist man in der Regel am Rande des Wissens des Studenten, und noch ein einziges Warum mehr bringt einen an den Rande des Wissens der Menschheit. Die Antwort ist also: Ja, wer ein wenig hartnäckig ist, findet überall Unwissen. Wie ging es Ihnen damit, sich in die zum Teil doch recht komplizierte Materie einzuarbeiten und der Forschung nachzuweisen, dass sie was nicht weiß? Passig: Wir weisen der Forschung ja gar nicht nach, dass sie was nicht weiß, sondern versuchen nur, das in der Forschung gewonnene Unwissen auch Nichtwissenschaftlern zu vermitteln. Das ist manchmal aus der Außenperspektive leichter, als wenn man mittendrin steckt. Auch individuelle Unwissenheit kann ja – in seltenen Fällen – ganz hilfreich sein. Und um zu verhindern, dass wir aus lauter individueller Unwissenheit nur Unfug ins Buch schreiben, haben wir alle Beiträge, zu denen wir deutschsprachige Experten finden konnten, gegenlesen lassen. Scholz: Wissenschaftler zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie die richtigen Fragen stellen – also genau wissen, wo das Unwissen steckt. Dabei ist es ein wenig störend, dass sie, sobald sie Unwissen gefunden haben, sofort mit einer Hypothese oder meist gleich mehreren Hypothesen ankommen, um es zu erklären, und nicht erst mal mehrere Jahre Publikationen schreiben, die „Problem XXX weiterhin ein Rätsel“ heißen. Das macht es uns bei der Recherche etwas schwer, das Unwissen zu finden, aber, hey, für Hypothesen werden die Wissenschaftler schließlich bezahlt. Inwiefern hat das Internet solche Recherchen für Nichtforscher verändert? Wären

Recherchen wie die Ihren vor zehn Jahren auch möglich gewesen? Passig: Vor zehn Jahren gab es ja immerhin schon das Internet, und man konnte sogar schon englischsprachige Bücher über Amazon bestellen anstatt bei irgendwelchen Offline-Halsabschneiderfirmen, bei denen man zum doppelten Originalpreis monatelang auf das bestellte Buch warten durfte. Etwas schwieriger als heute wäre es trotzdem gewesen, wahrscheinlich hätten wir statt einem Jahr drei Jahre gebraucht, um das Buch zu schreiben. Vor zwanzig Jahren, ganz ohne Internet, hätte es zehn Jahre gedauert, und vor fünfzig Jahren wahrscheinlich hundert. Von welchem der 42 ungelösten Probleme würden Sie sich selbst am dringendsten eine Klärung erhoffen? Scholz: Es sollten natürlich alle gleichzeitig geklärt werden, und zwar so schnell wie möglich. Man mag einwenden, dass es wichtiger wäre, zunächst mal das P/NPProblem der Mathematik zu lösen, weil das wirtschaftlich wichtige Rechenvorgänge radikal vereinfachen würde. Aber Durchbrüche kommen in der Wissenschaft oft unvermutet, eventuell ist die Katzenschnurrforschung einer großen Sache auf der Spur, mit der man schon bald zum Mars fliegen kann, wer weiß. Außerdem ist es unglaublich deprimierend, dass wir noch nicht mal wissen, wie sich Ratten an den Schwänzen zusammenknoten. Die Außerirdischen werden uns auslachen, wenn sie von solchen peinlichen Wissenslücken erfahren. Wie wird Ihr Lexikon des Unwissens in fünfzig Jahren aussehen? Passig: Aussehen wird es vermutlich ein bisschen vergilbter als heute. Vielleicht sind in fünfzig Jahren nicht alle Fragen im Buch gelöst, aber man kann unbesorgt prophezeien, dass alle Kapitel überarbeitungsbedürftig sein werden. Aber das ist nicht mein Problem, darum muss sich dann der 82-jährige Aleks Scholz kümmern.

Susanne Schleyer

heureka!: Wie kamen Sie eigentlich auf die Idee, ein Lexikon ausgerechnet über das Unwissen zu schreiben? Kathrin Passig: Das Unwissen ist bisher zu kurz gekommen auf der Welt. Man widmet ihm hin und wieder mal eine Fußnote oder einen Zeitungsartikel, aber viel zu selten auch mal ein ganzes Buch. Die Idee hatte ich vor einigen Jahren, ich glaube nach der Lektüre von „Pest, Not und schwere Plagen“ von Manfred Vasold, einem Buch, in dem zu meiner Überraschung steht, dass der Pesterreger gar nicht so dingfest gemacht ist, wie ich dachte, und dass man überhaupt gar nicht so genau weiß, was die Pest für eine Krankheit war. Nach der Lektüre unseres Lexikons steht man nicht, wie bei den meisten Sachbüchern, mit der Illusion da, etwas zu wissen, sondern verfügt stattdessen über solides, zuverlässiges Unwissen.


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:55 Uhr

Seite 21

Susanne Schleyer

„Es sollten natürlich alle 42 Probleme gleichzeitig geklärt werden, und zwar so schnell wie möglich“ – Kathrin Passig und Aleks Scholz sind dem Unwissen auf der Spur

Sie haben in Ihrem Buch, das sich prächtig verkauft, die E-Mail-Adresse korrektur@lexikondes unwissens.de für Fehlermeldungen angegeben. Wie viel Leserpost ist denn bislang eingegangen? Passig: Gar nicht so viel, wie ich in manchen Albträumen vor dem Erscheinen des Buchs dachte. Bisher haben uns genau zehn Mails mit Korrekturen erreicht. Kamen die eher von Wissenschaftlern oder von „Amateuren“? Scholz: Von einer Ausnahme abgesehen stammen alle bisherigen Korrekturen von Amateuren, jedenfalls haben sich die Kommentatoren nicht als Fachleute zu erkennen gegeben. Ich vermute jetzt mal einfach, es liegt daran, dass man kein Profi sein muss, um zu bemerken, dass Wasser bei vier Grad Celsius nicht die geringste, sondern die höchste Dichte hat, unser peinlichster Fehler bisher. Sind durch die Zuschriften in der Zwischenzeit auch schon Einträge für eine Neuauflage obsolet geworden? Scholz: Ungefähr eine Woche nach Erscheinen des Lexikons traf ich in Cambridge auf einer Grillparty zufällig einen Geologen, der sich mit der Entstehung Hawaiis auskannte und mir auf Nachfragen leider mitteilte, dass hier weniger Unwissen besteht, als wir im Buch behaupten. Die Plume-Hypothese zur Entstehung der hawaiianischen Inselkette – kurz: ein langer Schlot, der tief in den Erdmantel reicht, transportiert Lava nach oben – wird offenbar nur von einer Handvoll Au-

ßenseitern angezweifelt und wäre nach unseren harten Kriterien damit zunächst mal kein Unwissen. Allerdings publizieren diese Plume-Gegner in angesehenen Journals, und ihnen wird nur selten öffentlich widersprochen; wir sind daher nicht die Einzigen, die beim Recherchieren zu dem Eindruck gekommen sind, es gäbe hier allgemein akzeptiertes Unwissen. Trotzdem: Die Entstehung von Hawaii sollte als Erstes aus dem Buch gestrichen werden. Vielleicht ist stattdessen ja die Entstehung von Madagaskar unklar. Unter der E-Mail-Adresse vorschlag@lexikondes unwissens.de bitten Sie um neue Unwissensthemen für eine etwaige Neuauflage des Lexikons. Schon Post? Scholz: Bisher leider deutlich weniger als bei der Korrekturadresse, obwohl es ganz sicher mehr neues Unwissen als Fehler im Buch gibt, behaupte ich jetzt mal. Einige interessante Vorschläge gab es aber doch. Zum Beispiel ist möglicherweise unklar, warum Tiere an Schrotschüssen sterben. Geht sich ein neues Lexikon mit 42 neuen offenen Problemen schon aus? Passig: Wir haben eine Liste, auf der ungefähr 200 schöne, neue offene Fragen stehen, und sammeln vorsichtshalber auch noch weiter. Andererseits haben wir diverse andere Buchpläne, die jetzt erst mal dran sind. Aber wenn der Verlag kommt und uns ein, zwei goldene Badewannen bietet, sind wir natürlich dabei. Na gut, sagen wir: goldene Zahnputzbecher.

Kathrin Passig und Aleks Scholz: Lexikon des Unwissens. Worauf es bisher keine Antwort gibt. Rowohlt Berlin, 255 S., s 17,40

ZUR PERSON

Kathrin Passig (37) ist Geschäftsführerin der „Zentralen Intelligenz Agentur“ in Berlin und Redakteurin des Weblogs „Riesenmaschine“. 2006 gewann sie den BachmannPreis.

Aleks Scholz (32) ist Astronom und forscht an der Universität St. Andrews in Schottland. Er ist daneben ebenfalls Redakteur der „Riesenmaschine“.

heureka 4/2007 | Nichtwissen

21


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:55 Uhr

Seite 22

Ursuppe oder Meteorittaxi? Ein Evergreen des Nichtwissens ist die Frage nach der Entstehung des Lebens. Auch Simulationen am Computer führen eher zu mehr Spekulationen als zu Gewissheiten. Birgit Dalheimer

Späte Reue. Einen wissenschaftli-

Simuliertes Leben. Heute werden nicht mehr

Ursuppen gepanscht, sondern Computersimulationen entworfen, die, gefüttert mit allen verfügbaren Daten über die Atmosphäre der Urerde, ihre Oberflächenbeschaffenheit oder vorhandene Moleküle, zeigen sollen, ob, wie und unter welchen Bedingungen sich die ersten organischen Verbindungen gebildet haben könnten. Denn die Frage, wie das Leben auf der Erde entstanden ist, ist nach wie vor ungeklärt.

22

heureka 4/2007 | Nichtwissen

freie Software und Haltbarkeit der Hardware vorausgesetzt – erst nach 300 Millionen Jahren. Spontan wäre ihre Entstehung in beiden Fällen, unsere Wissenslücken ließen sich nur im ersten schließen. Aber nicht nur, wie es zu den ersten organischen Molekülen gekommen sein könnte, weiß keiner so genau, auch zwischen diesen und der Entstehung der ersten Zellen klafft ein riesiges Loch an Nichtwissen. Irgendeine Art von Informationsspeicher, die auch replizierbar ist, der Stoffwechsel und eine Hülle, die das Innen vom Außen trennt – über diese drei Kriterien definieren Biologen heute „Leben“. Der früheste Informationsspeicher, auf den sich die (meisten) Wissenschaftler einigen können, war die RNA, sie dominierte die „RNA-Welt“, lange bevor die erste DNA entstand. Ob allerdings die RNA wirklich der erste Informationsträger war, und wie sie entstand, sind – ebenso wie beispielsweise die Bildung von Membranen als Zellhüllen – völlig ungelöste Rätsel.

Ivan Klein

chen Artikel zurückzuziehen, also gleichsam zu widerrufen, hat Seltenheitswert. Dies 52 Jahren nach seinem Erscheinen getan zu haben, dürfte dem mittlerweile 84-jährige Chemiker Homer Jacobson einen Guinness-Eintrag sichern. Mit Entsetzen hatte Jacobson nämlich festgestellt, dass ein Aufsatz, den er 1955 im American Scientist veröffentlichte, den Kreationisten Munition für ihre Evolutionsanfechtungen liefert. Er hatte damals die spontane Entstehung von Aminosäuren im Urozean als unmöglich bezeichnet. Jacobson wollte damit die Experimente widerlegen, mit denen Stanley Miller und Harold Urey 1953 Furore gemacht hatten. Die beiden hatten versucht, die Bedingungen, die auf unserem Planeten vor etwa vier Milliarden Jahren geherrscht haben, nachzustellen. Nach nur wenigen Tagen bildeten sich in dem Laborgemisch aus Wasserdampf, Methan, Wasserstoff, Ammoniak und elektrischen Entladungen spontan Aminosäuren – jene kleinen organischen Verbindungen, aus denen heute Proteine aufgebaut sind. Das „Ursuppen“-Experiment avancierte schnell zum Ausgangspunkt der präbiotischen Chemie und der chemischen Evolutionsforschung – auch wenn es sich Jahrzehnte später als falsch herausstellen sollte. Allerdings nicht wegen der wenig beachteten Einwände Homer Jacobsons, sondern weil die Annahmen für die atmosphärischen Bedingungen auf der frisch entstandenen Erde nicht stimmten.

Viele Vertreter der präbiotischen Chemie gehen davon aus, dass die ersten Vorstufen Proteine bzw. ihre Bestandteile, die Aminosäuren, im Urozean waren. Und diese Vorstufen sind vermutlich völlig spontan entstanden – eine Annahme, die experimentell zu bestätigen von Natur aus tü-

Die Simulation könnte nach drei Tagen eine virtuelle Aminosäure ausspucken. Oder aber erst nach 300 Millionen Jahren ckisch ist: Die Computersimulation könnte nach drei Tagen eine virtuelle Aminosäure ausspucken oder aber genauso gut – ununterbrochene Stromzufuhr, störungs-

Aus dem All? Noch einmal einen Schritt zurück: Bis heute herrscht keineswegs Einigkeit unter den Wissenschaftlern, dass sich der Beginn des Lebens auf der Erde so zugetragen hat, wie das die präbiotischen Chemiker vermuten. Das Geheimnis des Ursprungs des Lebens stachelt auch zu exotischeren Gedankenexperimenten als modernen Ursuppenversuchen an. Immer wieder stellen auch namhafte Wissenschaftler wie zum Beispiel der DNA-Strukturaufklärer James Watson und der Astronom und Big-Bang-Namensgeber Fred Hoyle die Hypothese in den Raum, das Leben auf der Erde könnte per Meteorittaxi von einem anderen Planeten gekommen sein. Was das Grundproblem, nämlich die Frage, wie es entstanden ist, allerdings im besten Fall räumlich um ein paar Lichttage bis -jahre verschiebt und sich einer wissenschaftlichen Klärung damit ein gutes Stück weiter entzieht.


Heureka 4_07_nichtwissen.qxd

16.11.2007

10:55 Uhr

Seite 23

Zu Ende gedacht 25 ergänzte Sätze von RICHARD HAGELAUER, neuer Rektor der Universität Linz

Unbedingt wissen möchte ich … warum so wenige Frauen Technik studieren. Alles zu wissen … ist unmöglich. Wissensbilanzen halte ich für sinnvoll ... um zu sehen, was alles geleistet wurde. In meiner Disziplin weiß ich ... dass ich immer am Ball bleiben muss. Die Zeit meines Studiums habe ich ... sehr gut eingeteilt, um auch andere Dinge tun zu können.

Wäre ich Wissenschaftsminister ... würde ich die Exzellenzschwerpunkte an den einzelnen Universitäten ausbauen. Mein Lebensmotto: „Sich ein Ziel vornehmen und alles tun, um es zu erreichen.“ Mein schlimmster Irrtum ... war die Annahme, dass die Bürokratie einem hilft. Ich frage mich manchmal ... warum manche Personen so kompliziert denken. Auf meinem Nachtkästchen liegt ... ein Buch und ein BMW-Magazin. Mein Lieblingsschriftsteller: Daniel Kehlmann

Mein größter Erfolg an der Universität ... war die Wahl zum Rektor.

Mein liebster Held in der Geschichte: Albert Einstein

Am meisten ärgere ich mich ... über Leute, die einem die Zeit stehlen.

Am liebsten höre ich ... im Bereich der Klassik die 6. Symphonie von Ludwig van Beethoven, im Bereich Pop Michael Jackson.

Besonders stolz macht mich ... meine Familie. Sorge bereitet mir an meiner Universität ... die eingeschränkte Gestaltungsmöglichkeit. Als Rektor möchte ich durchsetzen, ... dass mehr interdisziplinär zusammengearbeitet wird. Wissenschaftler sind Menschen ... mit Kreativität und Ideenreichtum. Am meisten verabscheue ich ... Zwiebelkuchen.

Wenn ich mehr Zeit hätte ... würde ich mit meiner Familie auf Urlaub fahren. Das letzte Mal Herzklopfen hatte ich ... bei der Inauguration zum Rektor. Ich habe den Traum, ... dass die Menschen in Frieden miteinander leben können. Ein guter Tag endet für mich ... wenn ich alles, was ich mir vorgenommen habe, erledigt habe.

Rudolf Brandstätter

Nicht wissen möchte ich … wie das eigene Leben endet.

RICHARD HAGELAUER Nach einer Lehre zum Starkstromelektriker studierte Richard Hagelauer (55) Elektrotechnik an der Universität Erlangen-Nürnberg. Der gebürtige Deutsche war sowohl in der universitären wie außeruniversitären Forschung tätig und stets um den Technologietransfer in die Wirtschaft bemüht (Miniaturisierungen, komplexe Schaltungen). Seit 1993 lehrt Hagelauer an der Universität Linz, seit 1. Oktober dieses Jahres steht er ihr als Rektor vor.

Universität Linz Geschichte, Zahlen, Fakten. Eröffnet 1966, heißt sie seit 1975 Johannes-Kepler-Universität. Der Namenspate war von 1612 bis 1626 in Linz als „Mathematicus“ tätig. An den drei Fakultäten (Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Recht, Mathematik und Naturwissenschaften) sind mittlerweile über 13.000 Studierende eingeschrieben, von denen etwa zehn Prozent aus dem Ausland kommen. Jus und Wirtschaft sind die mit Abstand größten Fächer. Im Ranking der deutschsprachigen Unis des CHE (Centrum für Hochschulentwicklung) liegt die Uni Linz in der Kategorie Forschungsgelder pro Wissenschaftler in fast allen Fachbereichen österreichtypisch im gelb-roten Bereich, d.h. in der Mittel- und Schlussgruppe. Nur die Informatik ist hier in der Spitzengruppe. Besser sieht es punkto Betreuung aus, hier sind die Fachbereiche in der Mittel- und Spitzengruppe platziert (die genannten Rankings wurden 2005 und 2006 durchgeführt).

heureka 4/2007 | Nichtwissen

23


heureka

A4 1107-4

05.11.2007

14:00 Uhr

Seite 1

Um Antwort wird gebeten > Ist gegen das Schnupfenvirus schon irgendwo ein Kraut gewachsen? > Welchen Einfluss hat die Gehirnforschung auf das Schuldverständnis der Rechtswissenschaften? > Wie ließe sich die Sonne nachstellen? > Gibt es unendlich viele Primzahlzwillinge? > Wieso ist eine Tumorzelle unsterblich? Es ist noch soviel da zum Erforschen. Deshalb: Sparkling Science, um schon die Jugend für Forschung zu begeistern, Stipendienerhöhung ab 2008, um noch mehr Forscherkarrieren zu ermöglichen und viele weitere Maßnahmen von Johannes Hahn auf www.bmwf.gv.at

www.bmwf.gv.at

Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.