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HEUREKA #32022 Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien, WZ 02Z033405 W, Österreichische Post AG, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien, laufende Nummer 2854/2022

D A S W I S S E N S C H A F T S M A G A Z I N A U S D E M F A LT E R V E R L A G

Vertrauen FOTO: KARIN WASNER

in die Wissenschaft

Vertrauen ist entscheidend Um es zu gewinnen, muss man den Diskussionsstil von Wissenschaft auch mitvermitteln Seite 8

Eine Trendwende schaffen ÖAW-Präsident Heinz Faßmann über Methoden für mehr Vertrauen in die Wissenschaft Seite 13

Public Science – eine Lösung Damit soll möglichst vielen Menschen der Zugang zur Wissenschaft ermöglicht werden Seite 18


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HEUR EKA 3/22 : IN T RO D UKTION

: AU S D E M I N H A LT

T I T E L- T H E M A VERTRAUEN IN DIE WISSENSCHAFT Seiten 10–22 Die Fotografin Karin Wasner hat für diese Ausgabe Menschen besucht, die von der Wissenschaft profitieren. Durch Wissenschaft und Forschung wurde ihr Leben einfacher, angenehmer, lebenswerter, sogar erst ermöglicht oder verlängert. Wissenschaft steht im Dienst der Menschen, viel wurde von ihr geleistet, und das meiste ist uns nicht einmal bewusst. Mit dieser Arbeit will die Fotografin Bewusstsein schaffen, wie sehr wir alle von wissenschaftlicher Arbeit in den verschiedensten Bereichen profitieren, wie sie uns in unserem Alltag begegnet und wie wichtig es ist, der Wissenschaft zu vertrauen und Forschung zu fördern.

Nachruf auf Erhard Busek Seite 5 Emil Brix über den Mitgründer der ÖFG

Sich seiner Sache sicher sein … Seite 7 … bevor man sich öffentlich äußert, fordert Eva Schernhammer

REINHOLD MITTERLEHNER

: E D I TO R I A L

Wider die Wissenschaftsfeindlichkeit nis und persönlicher Einschätzung allzu oft. So entstanden Widersprüche. Die WHO sprach sich ursprünglich gegen Masken aus, mittlerweile sind diese zur Verhinderung von Ansteckung allgemein akzeptiert. Das Robert Koch-Institut hatte auf der Homepage stehen, dass die Impfung Ansteckungsgefahr und Weitergabe weitgehend verhindert, und musste den Text auf „mildere Krankheitsverläufe durch Impfung“ reduzieren. Es ist immer noch nicht klar, ob man Omikron nicht mit Impfung genauso bekommen hätte wie ohne Impfung.

Reinhold Mitterlehner, Präsident der ÖFG

Zu guter Letzt haben wir eine auch von der Wissenschaft empfohlene Impfpflicht, von der scheinbar derzeit niemand weiß, warum, wann, wogegen und womit eigentlich geimpft werden soll. Längst ist die Wissenschaft zum politischen Instrument geworden, das zur Untermauerung des eigenen Handelns eingesetzt wird, wenn es gerade nützlich erscheint. Kein Wunder, dass die Kritik an der Politik, den Pharmaunternehmen und der Wissenschaft zunimmt und berechtigte Einwendungen wie der Eingriff in die Grundrechte in einem Aufwaschen mit dümmlichen Verschwörungstheorien vermischt und über Social Media rasant Gehör finden. Wo gilt es nun anzusetzen, um dieser unliebsamen Entwicklung zu begegnen? Wohl damit, dass man sich wie mit dieser Publikation dem

Thema stellt. Gefordert sind aber alle Stakeholder. Die Wissenschaft selber, indem man über Lehre und Forschung hinaus auch die sogenannte dritte Mission wahrnimmt: Was man an Erkenntnissen zur Lösung ökologischer, sozialer oder ökonomischer Problemstellungen einbringen kann. Hier ist jede Universität gefordert, aber auch die Politik, die nicht nur Fragen stellen soll, sondern auch konstruktiven Einfluss auf Angebot und Strukturen nehmen kann. Gefragt ist aber auch der Bildungsbereich, der nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch das Rüstzeug zu kritischem und hinterfragendem Denken liefern sollte. Dazu braucht es eine Rückbesinnung auf verantwortungsvolles „Miteinander“ statt misstrauischen und kleinkarierten „Gegeneinanders“. Es gibt viel zu tun, packen wir es an!

FOTO: HANS RINGHOFER

Die Corona-Pandemie ging auch mit einer sehr kritischen Haltung gegenüber der Wissenschaft einher. Wurde dieses Misstrauen, das es schon immer gab, gewissermaßen freigelegt, oder ist es erst jetzt entstanden? Sicher gibt es keinen monokausalen Zusammenhang. Schon vor der Pandemie lagen Wissenschaft und ihre Anliegen bei Meinungsumfragen im hinteren Drittel der wichtigen Themen. Wissenschaft wurde eher vergangenheitsorientiert abgehandelt als zukunftsorientiert diskutiert. Die Pandemie brachte eine graduelle, leider auch generelle Verschlechterung des Vertrauens in die Wissenschaft. Zur Beurteilung und Erarbeitung von Gegenstrategien kamen Wissenschaftler*innen mehr als je zuvor in den Medien vor. Das war gut, dennoch verschwamm die Grenze zwischen wissenschaftlicher Erkennt-


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Wie glaubwürdig ist Wissenschaft? Seite 8

Preis für Wissenschaftsjournalistik der ÖFG Seite 14

An dieser Frage arbeitet und forscht Friederike Hendriks

David Rennert ist einer der Preisträger*innen

Das Verhältnis von Politik und Wissenschaft Seite 16

Was macht Portugal besser als wir? Seite 22

Dieses Thema beleuchtet der Soziologe Manfred Prisching

Marta Entradas über Portugies*innen und Wissenschaft

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FOTOS: KARIN WASNER (5), MANCA JUVAN, FELICITAS MATERN, LENNART BANSE, PRIVAT, ERWIN SCHERIAU, HUGO ALEXANDRE CRUZ

I N T ROD U KT IO N : H EU R E K A 3/22

HEINRICH SCHMIDINGER

: KO M M E N TA R

FOTO: KOLARIK ANDREAS

Argumente muss man auch wollen Das Vertrauen in die Wissenschaften gerät in die Krise, sobald der ihr zugrunde liegende „rationale Diskurs“, die Argumentation, an Stellenwert verliert. Dies geschieht, wenn Argumentation die Chance einbüßt, überhaupt stattfinden zu können. Die jüngst erlebten Debatten rund um die Corona-Pandemie illustrieren, was gemeint ist: Je länger und je heftiger sie ausfielen, desto öfter wurde der Punkt erreicht, an dem die meisten Beteiligten wussten, dass Argumentieren nun keinen Sinn mehr mache, dass vielmehr die Stunde der blanken Emotionen geschlagen habe. Die besseren Argumente schienen nicht nur abhanden gekommen zu sein, es gab sie schlicht nicht mehr, ja es konnte sie gar nicht mehr geben. Nur noch entschlossenes Schweigen legte sich nahe, um derartigen Auseinandersetzungen zu entrinnen.

Dass an diesem Punkt gerade auch die Wissenschaften nur mehr wenig zu melden hatten, kann nicht überraschen. Zum einen vermochten sie nicht den Eindruck zu zerstreuen, dass die Ergebnisse ihrer Argumentationen auf schwachen Beinen standen. Für die Wissenschaften lag dies in der Sache begründet, mussten sie doch immer wieder eingestehen, nichts Verlässlicheres sagen, sondern „nur“ Vermutungen oder Wahrscheinlichkeiten in Anspruch nehmen zu können. Angesichts der Erwartungen, die seitens der Öf-

Heinrich Schmidinger, Vorsitzender des ÖFG-Beirats

fentlichkeit in sie gesetzt wurden, war dies entschieden zu wenig, kam jedenfalls nicht gut an. Zum anderen standen plötzlich wissenschaftliche Prognosen als Gewissheiten im Raum, die nicht auf objektivierbaren Argumentationen basierten, sondern außerwissenschaftlichen Wünschen – vor allem politischer und wirtschaftlicher Natur – entwuchsen. Als sie sich als trügerisch erwiesen, konnte dies nur mit einem Showdown der wissenschaftlichen Argumentationen enden. Einmal mehr erhärtet sich die Einsicht, dass Argumentation nicht von allein stattfindet, sondern dass sie zu wollen sei bzw. dass es eines Entschlusses bedürfe, sie zu führen. Wer sich auf sie einlässt, muss nicht nur bestimmte Verfahrensregeln einhalten, sondern zugleich ethische Implikationen respektieren. Tut man dies, erachten sich alle, die sich

an einer Argumentation beteiligen, gegenseitig als fähig und willens, diese im Sinne ihrer Erfindung einzugehen – bereit, ihr Ergebnis zu akzeptieren, unabhängig davon, ob es bestimmten Wünschen oder Erwartungen entsprechen mag. Damit verpflichtet man sich nicht „nur“ der sogenannten Wahrheit, sondern grundsätzlich zur gegenseitigen Anerkennung des Menschenrechts auf die freie Meinungsäußerung. Selbst der Wissenschaftsfeindlichkeit, wo immer sie auftreten sollte, wird deshalb am effektivsten dadurch entgegengewirkt, dass diese mit aller Argumentation einhergehende Tugend bewusst und zur persönlichen Handlungsmaxime wird. Eine zweifellos weitreichende pädagogische Herausforderung. Dieses Magazin der ÖFG möge dazu beitragen, auf sie weiterhin hinzuweisen.


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HEUR EKA 3/22 : KO M M E N TAR E

CHRISTIANE SPIEL

MARTIN HAIDINGER

FLORIAN FREISTETTER

Schulbildung!

Ziemlich beste Freunde

Nett, ned blöd

Ist das Interesse junger Menschen für Wissenschaft essenziell für unsere künftige Prosperität? Im EU-Schnitt sagen 48 Prozent der Befragten Ja, in Österreich nur 27 Prozent. Wenn wir das ändern wollen, sollten wir bei den jungen Menschen ansetzen. Während so gut wie alle Kinder mit hoher Lernmotivation ihre Schulkarriere beginnen, gelingt der Ausbau dieser günstigen Motivation im Laufe der Sekundarstufe häufig nicht, wie viele empirische Studien belegen. Als mögliche Ursache wird der fehlende „stageenvironment-fit“ diskutiert. Also die fehlende Übereinstimmung zwischen Umweltbedingungen und entwicklungsbedingten Bedürfnissen der Jugendlichen. Statt der für sie wichtigen Förderung von Autonomie und Mitbestimmung dominieren oft Regulierung und Leistungskontrolle. Statt der Vorgabe von Aufgaben, für die es nur eine richtige Lösung gibt, sollten Jugendliche mit Lernaufgaben konfrontiert werden, für die es keine vorgefertigten Lösungen gibt. Sie sollten in (heterogenen) Teams arbeiten und wie in der Wissenschaft Lösungsstrategien entwickeln, prüfen und bei Bedarf auch verwerfen. Dabei sollten sie ihre Stärken und Interessen einbringen und Selbstvertrauen erwerben können. Als Beispiele dafür könnten Studien aus unterschiedlichen Wissenschaftsfeldern dienen. Dabei soll der gesamte Forschungsprozess präsentiert und diskutiert werden. Ausgehend von der Forschungsidee bis zu den Studienergebnissen, inklusive von Schwierigkeiten, damit Jugendliche lernen, Rückschläge nicht als Bedrohung, sondern als Lernmöglichkeit zu sehen. Es ist davon auszugehen, dass solche Einblicke in die „Produktion von Wissen“ Interesse und Verständnis für Wissenschaft fördern. Die vor einigen Jahren reformierte Ausbildung der Pädagoginnen und Pädagogen hat das Ziel einer evidence-based education. Mit Blick auf die oben angeführte Wissenschaftsfeindlichkeit in Österreich sollten jedoch Kooperation und Austausch zwischen Schulen und Hochschulen verstärkt werden. Beispiele für Forschungsprozesse sollten Schülerinnen und Schülern so häufig wie möglich von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern selbst demonstriert werden. Diese leisten damit auch einen wichtigen Beitrag zur „Dritten Mission“ von Hochschulen, nämlich den Transfer und Wissensaustausch mit der Gesellschaft.

Wenn ich richtig nachrechne, dann habe ich vor meiner jetzigen Tätigkeit für die Ö1-Reihe „Salzburger Nachtstudio“ in meinem früheren Leben als Journalist der aktuellen Wissenschaftsredaktion des ORF-Radios ziemlich genau zwanzig Jahre lang täglich über Wissenschafts- und Bildungspolitik berichtet; für die Ö1-Journale, die Ö1- und Ö3-Nachrichten und für die Ö1-Sendung „Wissen Aktuell“. In einem kleinen Land wie Österreich (damals waren wir erst um die 8 Millionen) ergab sich dabei zwangsläufig ein Wiedererkennungseffekt: bei Themen (Studiengebühren, Oberstufenreform, „Studierendenproteste“, Rechtschreibreform …), aber auch bei den handelnden Personen aus Politik, Wissenschaft und Journalismus. Da gerieten tagesaktuelle Pressekonferenzen zu so etwas wie Klassentreffen, konnten Politiker, Rektoren und langgediente Redakteure jederlei Geschlechts ihre Fragen und Antworten schon von vornherein genau einschätzen. Man kannte einander teils jahrelang. Das erhöhte zwar die routinierte Expertise aller Seiten, barg aber die Gefahr in sich, dass die Luft irgendwann einmal draußen war, und das nicht zum Nutzen der journalistischen Qualität. Seriöser Journalismus erkannte das und ging in sich. Hochsaison hat der gemeinsame Camping-

: U N I V E RS I TÄT W I E N

: H O RT D E R W I SS E N S C H A F T

: FREIBRIEF

platz von Wissenschaft und Journalismus bei jenen Krisen und Katastrophen, die unsere Themen an die Spitze der Schlagzeilen katapultieren: Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 biwakierten Pressemenschen höchst unterschiedlicher Herkunft und Qualität geistig und manchmal auch real auf den Atominstituten und mussten biedere Stützen der Nuklearwissenschaft am eigenen Leib alles über die Gesetze und Abläufe der grellen Medienwelt zwischen Qualität, Boulevard und Jenseitigkeit erfahren. Die Corona-Pandemie schließlich ist ein überdehnter Supergau der Grenzüberschreitung, denn in manchen Fällen ist nach zwei Jahren in manchen Formaten auf manchen Sendern nicht mehr klar zwischen Personen aus den Feldern Virologie, Moderation, Journalismus, Modellberechnung, „Satire“, Clowns und abseitiger „Expertise“ zu unterscheiden. Umso schwerer wiegt da das Befolgen der kleinen Genrekunde, nach der guter Journalismus in Qualitätsmedien sich nicht als Agitation aufführen soll und die Kampagnen für dies und gegen jenes den PR-Agenturen und Propagandaabteilungen diverser Institutionen überlassen darf. Wenn Journalismus und Wissenschaft jeweils bei ihren Leisten bleiben, werden sie ziemlich beste Freunde werden und bleiben können.

ZEICHNUNG (AUSSCHNITT)

: B I G P I C T U R E F RO M B U DA P E ST

LÁSZLÓ LÁSZLÓ RÉVÉSZ

Wie kommuniziert man Wissenschaft? Es wäre schön, wenn es eine klare, simple Strategie gäbe. Aber die gibt es nicht. Was in dieser Kolumne Platz hat, sind zwei Hinweise, die trivial klingen, aber wichtig sind, und aus denen sich überraschend viel ableiten lässt, wenn man Zeit investiert, um darüber nachzudenken. Hinweis 1: Die anderen sind nicht immer so blöd, wie man glaubt. Wissenschaftskommunikation folgt zu oft dem veralteten „Defizitmodell“. Das geht davon aus, dass Menschen, die an Wissenschaft nicht interessiert sind oder sie ablehnen, einfach nur zu wenig wissen. Wenn man den Ungebildeten also nur lange genug erklärt, dass sie falsch liegen, dann werden sie ihre Meinung schon ändern. Das ist nicht nur eine etwas herablassende Sicht der Wissenschaft auf die Öffentlichkeit, sondern auch eine Kommunikationsstrategie mit vielen Problemen. Niemand glaubt ja zum Beispiel an Homöopathie oder daran, dass Mikrochips in Impfungen stecken, weil er oder sie noch nie gehört hätte, dass das Quatsch ist. Ganz im Gegenteil. Man kann durchaus sehr gebildet sein und trotzdem Unsinn über Wissenschaft verbreiten. Wir alle wissen manche Dinge und andere nicht. Jeder Versuch der Wissenschaftskommunikation sollte das berücksichtigen. Natürlich ist diese immer ein wenig asymmetrisch: Eine Seite weiß mehr als die andere. Aber nur zu einem bestimmten Thema. Wenn die Kommunikation funktionieren soll, muss sie auch partizipativ sein. Man darf nicht nur verkünden, was man selbst zu sagen hat, sondern muss zuhören, was das Gegenüber davon hält. Und nicht überrascht sein, wenn man dann vielleicht auch selbst etwas Neues lernt. Die Zeiten, in denen Wissenschaft gleichsam von der Kanzel herab dem Volk die frohe Kunde der Forschung überbringt, sind vorbei. Und das ist auch gut so. Hinweis 2: Nett sein! Das kann und soll man sowieso immer so oft wie möglich berücksichtigen. Irgendwann hat die Nettigkeit auch ihre Grenzen. Aber wenn man tatsächlich kommunizieren und nicht nur streiten will: Dann lohnt es sich, wenn man die Sache freundlich angeht. MEHR VON FLORIAN FREISTETTER: HTTP://SCIENCEBLOGS.DE/ ASTRODICTICUM-SIMPLEX


N AC H RU F : H EU R EK A 3/22

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In memoriam Erhard Busek Die Österreichische Forschungsgemeinschaft trauert um Erhard Busek. Mit ihm hat Österreich einen großen Modernisierer und Visionär der Wissenschafts- und Forschungspolitik verloren. Wir in der ÖFG haben einen Gründer und Förderer verloren, der vielen von uns als Politiker und Mensch ein Vorbild und lebenslanger Freund war NACHRUF: EMIL BRIX

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FOTO: VERLAG KREMAYR & SCHERIAU /MANCA JUVAN

olitiker*innen wird in Österreich oft der Vorwurf gemacht, dass sie Wissenschaft und Forschung in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft zu wenig ernst nehmen, weil damit keine Wahlen zu gewinnen seien. Das Leben und Wirken von Erhard Busek, einem der Gründer und von 1979 bis 1989 Präsident der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, stellte dagegen das Bekenntnis dar, dass kein europäischer Staat ohne eine aktive Wissenschaftspolitik erfolgreich sein kann. Die großen Leistungen in seiner Zeit als Wissenschafts- und später Bildungsminister wie besonders die Universitätsautonomie und das System der Fachhochschulen hatte er bereits während der Zeit als ÖFG-Präsident innerhalb der Vereinsgremien heftig und oft kontroversiell diskutieren lassen. Er glaubte an die Kraft der intellektuellen Auseinandersetzung. Sein besonderes Interesse galt immer den Geisteswissenschaften. In der österreichischen Identitätsdebatte sollte nicht auf die intellektuellen Traditionen der Pluralität der späten Habsburgermonarchie verzichtet werden. Er initiierte zur Förderung der Humanwissenschaften in Österreich Wissenschaftspreise der ÖFG („Anton-Gindely-Preis“, „LudwigWittgenstein-Preis“), und ich selbst durfte in der ÖFG lange die Arbeitsgemeinschaft „Wien um 1900“ betreuen. Er motivierte Humanwissenschaftler wie Gerald Stourzh, Oswald Panagl oder Wolfgang Mantl, aber auch Naturwissenschaftler und Mediziner wie Hans Tuppy, Meinrad Peterlik, Werner Waldhäusl oder Fritz Paschke zur Mitarbeit an einer Weiterentwicklung der Forschungspolitik. Die Schwäche der liberalen politischen Traditionen sollte nicht länger als Vorwand für die fehlende strukturelle Modernisierung dienen können. Wien sollte sein urbanes Potenzial als Großstadt in Mitteleuropa nutzen und die österreichische Neutralität

sollte nicht zur Schicksalslosigkeit verkümmern. Moderne bürgerliche Politik und ein aufgeklärter Katholizismus benötigen weniger ideologische Haltungen und erlauben mehr wertorientierte Lösungsansätze. Er sah wohl erstmals seit 1945 in Österreich die Möglichkeit, ein bürgerlich-liberales Konzept der Moderne zu entwerfen, das klassische linke Modernisierungsstrategien kritisch infrage stellen konnte, ohne sofort als reaktionär oder provinziell angreifbar zu sein.

Erhard Busek 25. März 1941 bis 13. März 2022

In einem Interview aus Anlass des 40. Jahrestages der Gründung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft hat Erhard Busek 2017 seine Überlegungen für die Gründung der ÖFG in der ihm eigenen Direktheit formuliert: „Als Wissenschaftssprecher der ÖVP wurde ich gefragt, warum die SPÖ die Boltzmann-Gesellschaft habe, die ÖVP aber kein vergleichbares Instrument. Es gab Förderungen der ÖVP-Bundesländer, aber keine gemeinsame Strategie. So wurde ich von vielen Wissenschaftlern gedrängt, eine Gründung vorzunehmen, um vor allem Themen zu behandeln, die bei der BoltzmannGesellschaft kaum vorkamen. Das waren vor allem Geisteswissenschaften.“ Tatsächlich hat er mit der ÖFG immer das Ziel verfolgt, dass die Wissenschaftler*innen selbst für die Modernisierung der Universitäten und Forschungseinrichtungen Vorschläge machen und Verantwortung übernehmen. Und er war überzeugt, dass Wissenschaftler*innen sich der Öffentlichkeit erklären müssen, um mehr Interesse an Wissenschaft und Forschung zu erwecken. Innenpolitisch sind viele der von Busek immer in enger Verbindung mit einer Öffnung nach Mitteleuropa und Europa formulierten Reformideen zur notwendigen strukturellen Modernisierung Österreichs bis heute nicht verwirklicht. Gerade daran sollte man denken, wenn es um das Erbe von Erhard Busek und um die Zukunft Österreichs geht. Wir werden Erhard Busek sehr vermissen.


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HEUR EKA 3/22 : Ö FG BE I RAT

Der Wissenschaftliche Beirat der ÖFG

Martin Gerzabek, Univ-Prof. für Umwelttoxikologie und Isotopenanwendung, BOKU Wien

Reinhard Heinisch, Univ.-Prof. für Politikwissenschaften, Universität Salzburg

Bernhard Jakoby, Univ.-Prof. für Mikroelektronik, Universität Linz

Oswald Panagl, Univ.-Prof. em. für Sprachwissenschaft, Universität Salzburg

Peter Parycek, Univ.-Prof. für E-Governance, DonauUniversität Krems

Magdalena Pöschl, Univ. Prof. für Staatsund Verwaltungsrecht, Universität Wien

Kurt Scharr, Univ.-Prof. für Geschichte, Universität Innsbruck

Eva Schernhammer, Univ.-Prof. für Epidemiologie, Medizinische Universität Wien

Heinrich Schmidinger, Univ.-Prof. für Philosophie, Universität Salzburg, Beiratsvorsitzender

Christiane Spiel, Univ.-Prof. für Bildungspsychologie und Evaluation, Universität Wien

Barbara Stelzl-Marx, Univ.-Prof. für Geschichte, Universität Graz

Hans Tuppy, Univ.-Prof. em. für Biochemie, Universität Wien, ehem. Wissenschaftsminister

Friederike Wall, Univ.-Prof. für Unternehmensführung, Universität Klagenfurt

Viktoria Weber, Univ.-Prof. für Biochemie, Donau-Universität Krems

Susanne Weigelin-Schwiedrzik, Univ.-Prof. für Sinologie, Universität Wien

Harald Kainz, Univ.-Prof. für Siedlungswasserwirtschaft, Rektor TU Graz

FOTOS: BOKU, PRIVAT (4), LUNGHAMMER/TU GRAZ, UNIVERSITÄT WIEN, MOZARTEUM, DAVID SAILER, BARBARA MAIR, MICHAEL SCHAFFER-WARGA, VOUK, PUCH JOHANNES, WALTER SKOKANITSCH, BARBARA MAIR/UNIVERSITÄT WIEN

D I E Ö FG I ST E I N E FO RS C H U N G S FÖ R D E RU N G S E I N R I C H T U N G , G E T R AG E N VO N B U N D U N D L Ä N D E R N

Wolfgang Kautek, Univ.-Prof. für Physikalische Chemie, Universität Wien


TI T ELTH EM A : H EU R E KA 3/22

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Sich ihrer Sache sicher sein … … sollten Wissenschaftler*innen, ehe sie mit ihren Aussagen in die Öffentlichkeit gehen, fordert Eva Schernhammer

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FOTOS: MEDUNI WIEN/ FELICITAS MATERN

elche Bedeutung hat für die Menschen eigentlich der Begriff Wissenschaft, Frau Schernhammer? Eva Schernhammer: Ich denke, die meisten Menschen gehen ganz unspezifisch davon aus, dass hier „Wissen geschaffen“ wird. Wie der eigentliche Wissenschaftsprozess aussieht – Laborarbeit, Formulierung von Hypothesen, Durchführung von Analysen – ist jedoch nicht so offensichtlich und hat ein bisschen den „Schleier des Obskuren“. Für viele hat Wissenschaft außerdem keinen konkreten Praxisbezug und ist gleichbedeutend mit Theorie. Das zeigt auch eine Umfrage zur Wahrnehmung der Wissenschaft aus dem vergangenen Jahr: Mehr als neunzig Prozent der befragten Personen würden eine Praxisorientierung der Wissenschaft begrüßen. Wie könnte man die Praxisorientierung der Wissenschaft denn ausweiten? Schernhammer: Es kommt natürlich immer auf die konkrete Fragestellung an, inwieweit es möglich ist, verstärkt in die Praxis zu gehen und auch Lai*innen mehr einzubinden. Mir fallen da sofort Bewegungen wie Open Science ein, bei der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Forschungsdaten und Erkenntnisse nicht nur mit ihren Kolleginnen und Kollegen, sondern auch mit der Öffentlichkeit teilen. Oder auch Citizen-Science-Projekte, bei denen Bürgerinnen und Bürger etwa durch Datensammlungen oder Messungen aktiv zur wissenschaftlichen Arbeit beitragen – die Biodiversität eignet sich dafür zum Beispiel sehr gut. Die Einbeziehung in Projekte kann dabei durchaus bis hin zu einer echten Zusammenarbeit gehen, beispielsweise zwischen einem Ingenieur und einem Wissenschaftler, die ihr theoretisches und praktisches Wissen teilen und davon gegenseitig profitieren. Hat die Corona-Pandemie etwas in der Wahrnehmung der Wissenschaft verändert? Schernhammer: Während der Corona-Pandemie war gut zu erkennen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Augen von Lai*innen häufig weltfremd wirkten. Ich habe zum Beispiel oft den Satz gehört: „Ihr hört uns nicht zu.“ Das muss man ernst nehmen und darauf reagieren: Hinhören, den Austausch fördern. Dialog hat hier einen zentralen Stellenwert, zum Beispiel im Rahmen von Bürgerforen. Dabei ist es wichtig, herauszufinden, wen

TEXT: CLAUDIA STIEGLECKER

„Ich habe mich im letzten Sommer hinreißen lassen und im TV für heuer das Ende der Pandemie vorhergesagt“ EVA SCHERNHAMMER

genau man ansprechen will und soll. Auf die Pandemie bezogen ist etwa interessant, was Menschen, die bevorzugt an Verschwörungstheorien glauben, ausmacht. Gibt es bestimmte Eigenschaften oder Lebensumstände, die alle teilen, und lassen sich daraus Gruppen ableiten, die man gezielt adressieren kann? Was das angeht, stehen wir aber noch ganz am Anfang. Durch die Corona-Pandemie haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler generell mehr Aufmerksamkeit erfahren: Von der Tatsache, dass es sie überhaupt gibt, bis hin zu den Dingen, die sie in der Pandemie tun. Das ist grundsätzlich positiv. Als problematisch haben sich allerdings die plötzlich sichtbaren Widersprüche in der Wissenschaft erwiesen. Plötzlich sagt ein Wissenschaftler dies, eine andere Wissenschaftlerin jenes – das hat teilweise zu Verwirrung geführt. Konträre Meinungen und Widersprüche sind an sich im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess etwas ganz Normales. Gewöhnlich wird eine Studie aber erst dann veröffentlicht und öffentlich über sie kommuniziert, wenn solche Unklarheiten aufgelöst und die Ergebnisse evidenzbasiert, also abgesichert sind. In einer laufenden Pandemie ist eine derart solide Datenbasis aber noch gar nicht vorhanden, man ist noch mitten drin im wissenschaftlichen Prozess mit all seinen Gegensätzlichkeiten – das ist natürlich für Lai*innen nicht ganz so leicht nachvollziehbar. Noch dazu haben diese konträren Meinungen, die ja noch zu widerlegen sind, in den Medien sehr viel Gewicht bekommen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wurden da auch häufig zu Aussagen gedrängt.

Wie sollte sich Wissenschaft präsentieren, um eine positive Grundstimmung zu fördern? Eva Schernhammer, Schernhammer: Treten WissenschaftleProfessorin für rinnen und Wissenschaftler in die ÖffentEpidemiologie, lichkeit, sollten sie sich in der Sache sehr leitet die Abteilung sicher sein, ehe sie Stellung beziehen. Das für Epidemiologie am habe ich in den USA gelernt, wo ich jahreZentrum für lang tätig war und wo Medienpräsenz von Public Health der Wissenschaft etwas ganz Normales ist: Erst Medizinischen kommen die Fakten, dann die Medienpräsenz. Trotzdem habe ich mich zum BeiUniversität Wien. Seit 2018 Präsidentin spiel im letzten Sommer hinreißen lassen und im TV für heuer das Ende der Pandeder Österreichischen Gesellschaft für mie vorhergesagt. Ich weiß eigentlich selbst Epidemiologie nicht mehr, was mich dazu bewogen hat, je-

denfalls war das ein Fehler. Es gibt genug Sensationsmedien – man muss sich daher genau überlegen, was man sagt. Das ist wirklich eine Aufgabe, mit der viel Verantwortung einhergeht, denn man kann mit einer unbedachten Aussage unter Umständen bestehendes Vertrauen ganz schön durcheinanderbringen. Trotzdem halte ich es für wichtig, dass Wissenschaft mehr in die Öffentlichkeit geht und verstärkt in den Medien präsent ist. In Österreich ist das nicht ganz so leicht wie in den USA, wo es für jedes Forschungsgebiet eine Expertin oder einen Experten gibt, die oder der sich im Idealfall auch noch gut präsentieren kann. In Österreich finden sich nur schwer ausreichend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für jedes Fachgebiet, die Wissen und Inhalte gut und verständlich vermitteln können. Dennoch fände ich hierzulande zusätzliche populärwissenschaftliche Formate, die Wissen transportieren, sinnvoll. Wie etwa die Sendungen mit dem Internisten Siegfried Meryn, der im Fernsehen Gesundheitsfragen dokumentiert, mit Expertinnen und Experten darüber diskutiert und auch konkrete Fragen beantwortet. Was meiner Meinung nach ebenfalls fehlt, ist wesentlich mehr und breiterer Wissenschaftsjournalismus. Der Zugang zu Informationen ist heutzutage sehr einfach. Welchen Einfluss hat das auf die Grundstimmung zur Wissenschaft? Schernhammer: Die Menschen sind viel besser informiert als früher. Sie haben das Interesse und mit dem Internet auch die Möglichkeiten, sich Grundwissen und Grundverständnis anzueignen. Informationsquellen, die Falsches verbreiten, bergen dabei natürlich eine gewisse Gefahr, denn sie sind schwer zu erkennen und zu unterscheiden. Generell verstehen die Menschen aber tatsächlich mehr – wer wusste zum Beispiel vor der Pandemie schon, was eine SiebenTages-Inzidenz ist? Manchmal fehlt trotz aller Information aber das letzte Quäntchen Wissen. Hier gilt es, das Vertrauen in die Wissenschaft zu stärken und auf die verschiedenen Gruppierungen in der Gesellschaft gezielt zuzugehen. Prinzipiell halte ich es für gut, dass die Menschen mehr wissen: Das stärkt nicht nur das Eigenbewusstsein, sondern auch eine positive Grundstimmung.


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HEUR EKA 3/22 : T I T E LT HE M A

Vertrauen ist entscheidend D

as ist ja das Problematische an unserem Verhältnis zur Wissenschaft: Wir sind immer Lai*innen. Sogar Expert*innen in einem Gebiet sind Lai*innen im nächsten, sodass Vertrauen eine grundlegende Funktion zwischen Wissenschaft und Gesellschaft hat. Von anderen sind wir also immer abhängig“, sagt Friederike Hendriks von der Technischen Universität Braunschweig. Aus der pädagogischen Psychologie mit Perspektive auf kognitive Prozesse beim Lernen ist sie in die Wissenschaftskommunikation gekommen; ihre interdisziplinäre Forschungsgruppe untersucht, wie Wissenschaftler*innen künftig besser kommunizieren können, um eine breite Bevölkerung zu erreichen. Die Abhängigkeit von Vertrauen habe der Soziologe Niklas Luhmann auf der Systemebene beschrieben, so Hendriks: „Ohne unser Vertrauen, dass ein System mit seinen Regeln funktioniert, können wir als Gesellschaft nicht weiterkommen. Das funktioniert auch auf individueller Ebene: Wenn jemand im Sinn unserer Werte agiert und das Wissen bereitstellen kann, so können wir darauf vertrauen, dass diese Person stellvertretend für uns agieren kann.“ Wir können beispielsweise nicht selbst entscheiden, welche Heizung umweltfreundlich ist, sondern müssen darauf vertrauen, dass jemand das erforscht hat und ein anderer das verlässlich so produziert. Wir erkennen schnell, wer ehrlich ist Kognitionspsychologische Studien zeigen, dass Erwachsene die Zuständigkeit und Vertrauenswürdigkeit von anderen Menschen rasch erkennen. Wenn es etwa um Medizin geht, überprüfen wir die Zuständigkeit der sprechenden Person mit ihrem wissenschaftlichen Abschluss. Ebenso leiten wir aus ihrem Kommunikationsverhalten viel ab, erklärt Hendriks: „Wir erkennen meist schnell, ob jemand uns täuschen will oder ehrlich ist. Das Fachwort heißt epistemische Vigilanz.“ Diese Wachsamkeit, ob eine Informationsquelle sicher ist, sei nicht nur eine rationale Abwägung, denn als Lai*innen können wir ja vieles nicht mit unserem Wissen überprüfen. In Österreich ist das Vertrauen in die Wissenschaft besonders schlecht, zeigt das aktuelle Eurobarometer. Auf die Frage nach den Auswirkungen von Gentechnik hatten die Befragten hierzulande die negativste Einschätzung unter allen EU-27-Ländern.

TEXT: MICHAELA ORTIS

„Viele Diskussionen untereinander zeichnen die Wissenschaft aus. Das muss man stärker hervorheben“ FRIEDERIKE HENDRIKS

Friederike Hendriks forscht aus psychologischer Perspektive zu Wissenschaftskommunikation an der TU Braunschweig

Und knapp ein Drittel glaubt, dass Forschende nicht ehrlich sind. Hendriks differenziert in ihrer Analyse: „Ich sehe den DACH-Raum ähnlich. In Deutschland ist laut Wissenschaftsbarometer zu Beginn der Coronakrise das Vertrauen in die Wissenschaft von etwa fünfzig auf 76 Prozent extrem gestiegen. Das glaube ich nicht, sondern hier wird etwas deutlich, nämlich das Problem der Fragestellung. Am Pandemiebeginn haben die Menschen möglicherweise bei Wissenschaft mehr an jene Disziplinen gedacht, die gerade in der Krise aufgeklärt, beraten und nach Lösungen gesucht haben. In anderen Zeiten assoziieren die Befragten vermutlich breiter und denken auch an technische Lösungen wie Gentechnik oder Atomkraft, bei denen sie aufgrund der Risiken eher skeptisch sind oder Ängste haben.“ Ebenso werde bewertet, ob der Weg, wie Wissenschaftler*innen Probleme lösen, konform mit den eigenen Werten ist. Allgemein gesehen ist Skeptizismus durchaus angebracht, da wir nicht blind vertrauen sollen. Elitenskepsis zeige jedoch, dass wir verschiedene Gruppen in der Bevölkerung haben und diese unterschiedlich angesprochen werden sollten. Skeptiker*innen könne man nicht durch Kommunikation erreichen, sondern hier müsse früh mit Bildung angesetzt werden. Das wird sich aber erst auf künftige Generationen auswirken. Kurzfristiger wirksam sei eine offene statt einer belehrenden One-WayKommunikation. Geeignet dafür seien Kommunikator*innen, die der Zielgruppe ähnlich sind, etwa YouTuber, Rapper*innen oder Imame: „So kann man wissenschaftliche Themen gut an diese Gruppe vermitteln und auch über ethische Fragen reden, etwa bei der Impfpflicht. Eine Studie aus den USA hat gezeigt: Je ähnlicher uns Kommunikator*innen hinsichtlich ihrer Werte sind, desto eher vertrauen wir ihnen.“ Auch sollten Menschen ein wissenschaftliches Grundverständnis haben und die Bereitschaft, sich mit komplexen Inhalten auseinanderzusetzen. Viele gesellschaftliche Gruppen seien am besten über Social Media zu erreichen, in denen es bereits gute Formate gibt. Gleichzeitig sei statt passiver Nutzung die Digital Literacy zu stärken, damit Menschen Fehlinformationen erkennen können.

Mut zur Unsicherheit zahlt sich aus Für Forschende stellt sich die Frage, wie sie Vertrauenswürdigkeit vermitteln können. Dazu gehört der Mut, Unsicherheit oder Vorläufigkeit offenzulegen, statt zu hoffen, dass niemand etwas bemerkt. So hat Friederike Hendriks bei Wissenschaftsblogs untersucht, was passiert, wenn Autor*innen Fehler zugeben oder sagen, es müssten weitere Studien gemacht werden, um ihre These zu stärken: „Sie werden dann etwas weniger als Expert*innen wahrgenommen, doch ihre ehrliche Kommunikation dient ihrer Integrität und steigert das Wohlwollen der Bevölkerung.“ In der Coronakrise hätte man stärker kommunizieren sollen, warum unser Wissen über das Virus besser wird und dass eine Impfstoffentwicklung, selbst wenn sie schnell geht, verlässlichen Prozessen folgt. Man müsse zeigen, dass Wissenschaft ein sozialer Prozess ist, wo Wissen ausgehandelt wird und dadurch Verlässlichkeit hergestellt wird, so Hendriks. „Nicht eine Person findet die Wahrheit, sondern viele Diskussionen untereinander zeichnen die Wissenschaft aus. Das muss man stärker hervorheben.“ Dazu gehöre auch Consensus Messaging, wie es in der Klimakrise gehandhabt wird, wo viele Wissenschaftler*innen an einem Strang ziehen und sagen, der Klimawandel sei menschengemacht. Solch gemeinsame Kommunikation habe positive Effekte auf das Vertrauen der Bevölkerung. Eine wichtige, weil stark meinungsbildende Funktion hat der Wissenschaftsjournalismus, daher seien ausreichende Mittel dafür notwendig. Studien zeigen, dass das Ausspielen von Forschenden gegeneinander Skeptizismus erzeuge. Ebenso bewirkt eine False Balance Skepsis, also wenn nicht evidenzbasierte Minderheitenmeinungen unverhältnismäßig oft zu Wort kommen. Gibt es im wissenschaftlichen Forschungsprozess noch unterschiedliche Blickwinkel, sollten diese Unsicherheiten offengelegt werden, betont Hendriks: „Wissenschaftler*innen fragen sich oft, ob sie sich trauen sollen, Für und Wider darzustellen. Oder ob sie lieber einfache Botschaften sagen sollen. Unsere Forschung zeigt, dass Menschen positiv bewerten, wenn Expert*innen Pro- und Contra-Argumente benennen, und auch, wenn sie ethische Aspekte diskutieren. Diese Offenheit zahlt auf die Integrität der wissenschaftlich tätigen Personen ein.“

FOTO: LENNART BANSE JRG FOURC

Wie Wissenschaft glaubwürdig an die Bevölkerung vermittelt wird, erforscht Friederike Hendriks von der TU Braunschweig


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FOTO: KARIN WASNER

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Julia (31) bekam mit 18 Jahren die Diagnose indolente systemische Mastozytose, eine seltene Erkrankung, die durch Anhäufungen von Mastzellen in der Haut und in den inneren Organen charakterisiert ist. Seit 2020 wird die inzwischen aggressive Mastozytose im AKH von Peter Valent und Wolfgang Sperr mit Rydapt, einer speziellen Chemotherapie, behandelt. Unter @julyyy_stark kann man Julia bei ihrem liebsten Hobby, dem Fischen, begleiten


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HEUR EKA 3/22 : T I T ELT HE MA

Populismus und Pandemie Nicht erst mit der Pandemie sind die Gräben in der österreichischen Gesellschaft aufgerissen, aber mit ihr noch ein bisschen tiefer geworden, erklärt der Politikwissenschaftler Reinhard Heinisch

INTERVIEW: WERNER STURMBERGER

„Die Ablehnung des Staates ist stärker als die einer jeweils anderen Gruppe. Das weist auf einen pathologischen Zustand hin“ REINHARD HEINISCH

als Eliten wahrgenommen, die einfachen Bürger*innen Vorschriften machen. Gegenüber der „Schulmedizin“ und den medizinischen Expert*innen steht als mythologisierte Form der Natur „das Natürliche“. Viele Leute lehnen den rational-wissenschaftlichen Zugang ab, sehen darin negative Auswirkungen der Moderne und bevorzugen radikal andere Zugänge – Spirituelles, Globuli, „nicht-chemische“ pflanzliche Wirkstoffe. So, als ob Pflanzen ohne Chemie wirken. Nun wird diese persönliche Einstellung politisiert, also mit politischer Bedeutung aufgeladen, und hat politische Konsequenzen. Ist das ein Spezifikum des deutschsprachigen Raumes – quasi das Erbe der Lebensreformbewegung? Manche Argumente gegen die Impfung stammen ja schon aus der Zeit der Pockenimpfung und haben sich fast unverändert gehalten. Heinisch: Ja, es gibt Studien aus der Schweiz, die zeigen, dass dieser Naturglaube in den einzelnen Sprachfamilien unterschiedlich stark ausgeprägt ist – im Deutschen viel stärker als im Italienischen und Französischen. Das hat auch mit einer stecken gebliebenen Aufklärung zu tun, die sich als gallischer Rationalismus ihren Weg bahnt und sich bis zum Naturmystizismus der deutschen Romantik zurückverfolgen lässt. Da finden wir eine starke Ablehnung des (wirtschaftlichen) Liberalismus und Rationalismus, die beide als unnatürlich wahrgenommen werden. Das wirkt natürlich nach und trifft mit einem sehr Mainstream-kritischen Zeitgeist, in dem die eigene Meinung sehr viel gilt, zusammen. Gleichzeitig liefern die Algorithmen des Internets schnell jene Informationen, die mich in meiner Meinung bestärken – unabhängig vom tatsächlichen Wahrheitsgehalt. Zur Zeit der Pockenimpfung waren die Proteste gegen diese sehr stark antisemitisch aufgeladen. Warum passiert das jetzt auch wieder? Heinisch: Jede Ideologie, auch der Populismus, versucht Antworten auf drei Fragen zu geben: Was ist los? Wer ist schuld? Was sollen wir tun? Das heißt, Ideologien sind Welterklärungen, liefern einfache Antworten und

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err Heinisch, welche Voraussetzungen haben den gesellschaftlichen Bruch möglich gemacht? Für mich neu war, dass hier Gruppen zueinandergefunden haben, die sonst an unterschiedlichen Polen des politischen Spektrums stehen: urbane, ökologisch bewegte Yogis und die Fans der John-Otti-FPÖ-Hausband. Reinhard Heinisch: Dazu gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze. Einer geht von einer „normalen Pathologie“ aus. Sprich: jede Demokratie habe an den Rändern eben ein paar Extreme, die radikal gegen das System opponieren. Diese Gruppen stellen keine Gefahr dar, und das System würde das schon aushalten. Andere sagen, nein, die Situation ist heutzutage anders: Die politische Spaltung ist längst zum Normalzustand geworden, denn die Anzahl der Menschen, die wenig bis kein Vertrauen in das demokratische System und seine Institutionen haben, ist relativ hoch. In westlichen Demokratien geht man von immerhin zwanzig bis dreißig Prozent aus. Auch in Österreich kommt man auf einen vergleichbaren Anteil. Neu ist zudem, dass Protest bislang nach Ideologien aufgespalten war: Punks wären früher nie mit Neonazis demonstrieren gegangen. Auf Impfgegner*innen-Demos sieht man heute aber Reichskriegsflaggen neben Regenbogenfahnen, weil die Ablehnung des Staates stärker ist als die der jeweils anderen Gruppe. Auch das weist auf einen pathologischen Zustand hin, der nicht von einem singulären, sondern systemischen Problemen hervorgebracht wird. Das Ergebnis ist eine Spaltung zwischen jenen, die sich als Bürger*innen begreifen, und jenen, die die Demokratie, in der sie leben, aus unterschiedlichen Gründen als nicht oder wenig legitim erachten. Das betrifft aber nicht nur Österreich, auch Länder, die als Vorzeigedemokratien gelten, sind davon betroffen. Spezifisch österreichisch dagegen erscheinen mir beim populistischen CoronaDiskurs die weit verbreitete Esoterik und damit verbunden die große Wissenschaftsskepsis. Gerade beim Thema Impfen ist das natürlich von Bedeutung. Die viel kritisierten Pharmafirmen stehen in der Debatte auch stellvertretend für Wissenschaft. Auch die medizinischen Expert*innen, die in den Medien Empfehlungen abgeben, werden

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Franz (76) bekam 2015 seine erste Hüftendoprothetik. Das künstliche Hüftgelenk wurde dem inzwischen pensionierten Gymnasiallehrer von einem ehemaligen Schüler eingesetzt. 2018 folgte die zweite Hüftprothese am rechten Bein. Seitdem kann er wieder in seinem Garten arbeiten und Rad fahren

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Fortsetzung von Seite 10 somit auch Schuldige. Für Donald Trump waren das China, die WHO und die offenen Grenzen. Für QAnon waren es bluttrinkende Pädophile. Hierzulande waren es Bill Gates oder eben auch „die Juden“. Weil es sehr einfach ist, bestehende Vorurteile zu aktualisieren, also auf als Sündenböcke etablierte Gruppen zurückzugreifen, weil man von denen eben schon „weiß“, dass sie böse sind. War Österreich nicht schon vor der Pandemie ein gespaltenes Land? Das Zwei-Parteien-System hat quasi Parallelgesellschaften ausgebildet – vom Sport- bis zum Automobilclub – und auch die letzte Präsidentschaftswahl hat nicht unbedingt ein Bild der Einigkeit gezeigt. Heinisch: In Österreich und in vielen anderen europäischen Ländern hatte man nach dem Zweiten Weltkrieg eine klassische sozioökonomische Links-rechts-Achse: Links wollte man mehr staatliche Intervention in Gesellschaft und Wirtschaft, rechts dagegen mehr privat. Dieser Konflikt hat aber massiv an Bedeutung verloren, die soziokulturelle Achse, die vertikal zur Verteilungsachse verläuft, dagegen stark an Bedeutung gewonnen. Dabei geht es nicht primär um materielle Dinge, sondern um Selbstverwirklichung und Individualität auf der einen und Tradition und Identität auf der anderen Seite. In dieser sogenannten „stillen Revolution“ haben diese Positionen seit den 1970er-Jahren in allen westlichen Gesellschaften an Bedeutung gewonnen und in liberalen und grünen, aber auch rechtspopulistischen Parteien ihren Ausdruck gefunden. Die etablierten Parteien sind noch überwiegend entlang der alten Achse orientiert. Aber an diesen zerrt auch der politische Wettbewerb entlang der postmateriellen Achse: Stehen klassisch materielle Themen im Vordergrund, tun sie sich leichter. Der politische Wettbewerb spielt sich primär entlang der postmateriellen Achse ab – an der Wahl von Alexander Van der Bellen wurde das deutlich. Es ist daher eher Ausdruck dieser Zeitenwende denn einer tiefen Spaltung der Gesellschaft. Wie schätzen Sie die Bedeutung der beiden Achsen für die Corona-Pandemie ein? Heinisch: In unseren Forschungen konnten wir zeigen, dass vor allem die postmaterielle Achse besonders relevant ist. Dabei begreifen wir Populismus als ideologisches Konstrukt, das von einem Gegensatz zwischen einem homogenen und guten Volk ausgeht, dem eine korrupte Elite gegenübersteht, die dem Volk ihre Interessen aufzwingen will. Menschen mit populistischen Orientierungen – also klassischer-

„Der politische Wettbewerb spielt sich primär entlang der postmateriellen Achse ab – an der Wahl von Alexander Van der Bellen zum Bundespräsidenten wurde das deutlich“ REINHARD HEINISCH

Reinhard Heinisch, Professor für österreichische Politik in vergleichender europäischer Perspektive an der Universität Salzburg, Leiter der ÖFG-Arbeitsgemeinschaft „Zukunft der Demokratie“

weise Nicht- und FPÖ-Wähler*innen – nehmen Eliten darum als Feindbild wahr. Auch Wissenschaftler*innen, die im Fernsehen mit einer „volksfremden“ Agenda auftreten und mir sagen, wie ich zu leben haben – Maske tragen, impfen gehen, Social Distancing –, werden als Teil dieser wahrgenommen. Dasselbe passiert auch bei der Klimadebatte: Du musst mit dem Zug, nicht mit dem Auto fahren, vegan leben und kein Fleisch essen. Diese Menschen fühlen sich darum durch Expert*innen oder Eliten in ihrer Identität und der dazugehörigen Lebensweise angegriffen: in ihren Gewohnheiten, ihrer Ernährung oder auch ihrem Glauben an das eigene Immunsystem. Hier finden wir eine deutlich größere Dynamik als bei klassischen Verteilungskämpfen. Das liegt aber auch daran, dass diese in Österreich institutionalisiert über Gewerkschaften und Interessenverbände der Wirtschaft ausgetragen werden. Für diese neuen Konfliktbereiche gibt es aber keine etablierten Konfliktlösungsmechanismen, und darum schlagen sie auch medial voll durch. Öffentlich auftretende Wissenschaftler*innen sahen sich massiven Anfeindungen ausgesetzt, wurden aber auch von den Entscheidungsträger*innen nicht immer für voll genommen. Wie haben Sie die Situation wahrgenommen? Heinisch: Die Wissenschaft hat sicherlich eine Aufwertung erfahren, weil sie essenziell für die Bewältigung der Pandemie ist. Man hat aber auch gemerkt, dass viele Politiker*innen nicht verstehen, wie Wissenschaft funktioniert. Anders als etwa im angloamerikanischen Raum rekrutieren sich Menschen in Spitzenpositionen hierzulande selten aus der Wissenschaft, sondern aus den Bereichen Wirtschaft und Jus. Hinzu kommt, dass jede Wissenschaft, jede Disziplin ein Problem eher aus einem eigenen Blickwinkel betrachtet und darum auch zu scheinbar unterschiedlichen Antworten kommt. Die Wissenschaft widerspricht sich nicht, sondern gibt unterschiedliche Antworten auf unterschiedliche Fragestellungen: Die Frage nach dem optimalen Zeitpunkt für eine Impfkampagne werden Epidemiologie, Politik- und Kommunikationswissenschaft jeweils anders beantworten. Das ist etwas, dass man in der Politik bis zuletzt nicht verstanden hat. Aus epidemiologischer Sicht ist eine Impfung im Hochsommer sicher sinnvoll, der richtige Zeitpunkt für eine Impfkampagne ist es wohl kaum. Ich kann politisch nur etwas erreichen, wenn sich ein Gelegenheitsfenster öffnet, wenn die Dramatik hoch ist. Das sind zwei unterschiedliche Antworten, die aber beide richtig sind. Die Politik muss darum entscheiden, wie man vorgeht. Das kann man nicht an die einzelnen Disziplinen abtreten. In anderen Ländern gibt es so etwas wie Public Health, um Sozialwissenschaft und Medizin zusammenzudenken. Das ist in Österreich aber nicht genug ausgebildet. Es fehlen auch entsprechende Daten, um schnell sagen zu können, welche Maßnahmen zu welchen Ergebnissen führen. Diese Schwierigkeit hat man der Wissenschaft

überlassen und die Disziplinen gegeneinander ausgespielt. Wissenschaftler*innen, die ihre Freizeit geopfert haben, hat man das mit teilweise patzigen Kommentaren gedankt. Das ist nicht die feine englische Art und sicherlich auch Ausdruck der weit verbreiteten Wissenschaftsskepsis. Sie haben selbst eine Studie zu Populismus und der individuellen Betroffenheit durch die Pandemie gemacht. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen? Heinisch: Wirklich überraschend war, dass politische Einstellungen sich darauf auswirken, ob ich mich krank fühle. Man würde ja meinen, das sei ein physiologischer Vorgang, der nichts damit zu tun hat, wo ich mich politisch verorte. Menschen mit populistischen Einstellungen fühlen sich aber um fast zehn Prozent stärker betroffen. Diesen Effekt fand man unabhängig davon auch bei Nicht- und FPÖ-Wähler*innen. Man darf nicht vergessen, das war eine Datenerhebung im Frühherbst 2020 – zu einer Zeit, in der wir recht gut durch die erste Welle gekommen waren und verhältnismäßig wenige Menschen krank waren. Trotz dieser idealen Voraussetzungen war diese ideologische Überfrachtung der Coronadebatte schon weit fortgeschritten. Mehr als ein Drittel hatte bereits damals das Vertrauen in das politische System verloren und sich zurückgelassen, kränker und ökonomisch stärker betroffen gefühlt. Gesamt etwa drei Viertel aller Befragten hatten angegeben, sich gesundheitlich betroffen gefühlt zu haben. Wie kann man das Vertrauen wiederherstellen und diese Menschen zurückgewinnen? Heinisch: Das zweite zentrale Ergebnis war die große Bedeutung von Emotionen: Eine Pandemie ist ein kollektives Erlebnis. Menschen sind kollektiv verängstigt und offen für populistische Inhalte. Um diesen Ängsten entgegenzuwirken, brauche ich Vertrauen. Die Aufgabe der Regierung wäre es zu schauen, wer sind die Gruppen, die mir nicht vertrauen, und mit wem kann ich diese noch erreichen. Das können etwa die Hausärzt*innen sein oder bei Muslim*innen die Imame. Wenn die Regierung aber stattdessen Muslim*innen mit einer sogenannten Islam-Landkarte so vorführt, dass sie sich kollektiv ins radikale Eck gestellt fühlen, darf man sich nicht wundern, wenn diese den Aussagen der Regierung kein Vertrauen entgegenbringen. Wichtig wäre es, Institutionen und Personen anzusprechen, die bei schwer zu erreichenden Gruppen Vertrauen genießen, und diese in die Lage zu versetzen, mit ihren Klientelgruppen zu sprechen. Das ist vor allem in der entscheidenden Frühphase kaum passiert. Stattdessen hat man sich in choreografierten Pressekonferenzen hingestellt und gedacht, das wird schon reichen. Es braucht eine Kommunikation auf der Höhe der Zeit. Das heißt, angepasst an die jeweiligen Zielgruppen und auf Augenhöhe. Vertrauen zu schaffen dort, wo keines mehr ist, ist ein kleinteiliger, komplizierter und langfristiger Prozess. Mit den 200 Millionen Euro Werbeetat hätte man so bestimmt mehr erreichen können.


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Eine Trendwende schaffen Der ehemalige Wissenschaftsminister und nunmehrige Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften über das Gewinnen von Vertrauen in die Wissenschaft

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err Faßmann, in Ihrem Kommentar im letzten Falter Heureka schreiben Sie: „Hinter der Forschung stehen keine großen Verbände, keine streikbereiten Berufsgruppen und keine mächtigen Sozialpartner“, was es für Wissenschaft und Forschung schwieriger mache, öffentlich wahrgenommen zu werden und an Förderungen zu kommen. Müsste sie dann nicht wenigstes auf Teufel komm raus PR und Kommunikationsarbeit machen? Was geschieht da konkret? Heinz Faßmann: Ja, hinter der Wissenschaft stehen keine großen und geeinten Interessensvertreter. Das schwächt unsere Position im Verteilungskampf um knappe Ressourcen, was ich so nicht akzeptieren möchte. Denn Forschung und Entwicklung sind fundamental, um unsere Zukunft zum Wohle aller zu gestalten. Und ja, genau deshalb müssen wir Kommunikationsarbeit auf Teufel komm raus leisten, weil wir die Akzeptanz und Unterstützung durch die Bevölkerung brauchen. Die Österreichische Akademie der Wissenschaften als Wissenschaftsinstitution und Forschungseinrichtung wird ihre Öffentlichkeitsarbeit daher weiter ausbauen. Wir haben erst vor wenigen Tagen den neuen Campus Akademie eröffnet und damit einen Ort der Begegnung mit der Bevölkerung geschaffen – und zwar nicht am Rand der Stadt, sondern mitten im Herzen Wiens. Bei der „Langen Nacht der Forschung“ konnten junge und erwachsene Menschen hier Wissenschaft an rund vierzig Mitmachstationen unmittelbar erleben. Das ist schon etwas ganz Besonderes inmitten einer Großstadt. Aber auch im virtuellen Raum öffnen wir die Türen zur Welt der Forschung. Auf unserer Website und unseren Social-Media-Kanälen bieten wir zum einen verlässliche Wissenschaftsinfos an und sind zum anderen Anlaufstelle für Fragen. Das wird auch genutzt: Mehr als eine Million Mal haben Menschen im letzten Jahr unsere Website besucht, unsere Videos auf YouTube wurden insgesamt rund 900.000 Mal angesehen, wir gestalten Podcasts, und neben Twitter und Facebook sind wir seit Kurzem auch auf Instagram zu finden.

INTERVIEW: CHRISTIAN ZILLNER

Haben Sie als ehemaliger Bildungs- und Wissenschaftsminister eine oder mehrere Maßnahmen in Erinnerung, von denen Sie sagen würden, sie haben das Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft erhöht?

Heinz Faßmann, Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

„Als Wissenschafts minister habe ich auch verlangt, dass Forschung erklärt wird und dass sich Forschung, auch im Sinne der ,Dritten Mission‘, der Themen der Zeit annimmt“ HEINZ FASSMANN

Faßmann: Vertrauen ist eine wichtige Währung in der Wissenschaft. Man muss darauf vertrauen können, dass sauber und korrekt gearbeitet wird und dass wissenschaftliche Normen auch eingehalten werden. Ich komme aus der Wissenschaft und ich weiß, dass dies nahezu immer der Fall ist. Die Bevölkerung kann zu Recht der Wissenschaft vertrauen, denn diese hat funktionierende Mechanismen der Selbstkontrolle und der Qualitätssicherung. Dieses Vertrauen war für mich auch ausschlaggebend, um für Rekordbudgets für die Wissenschaft zu kämpfen: für die Universitäten, für die Fachhochschulen, für die Forschungsförderung und für die außeruniversitäre Forschung. Als Gegenleistung habe ich aber auch verlangt, dass Forschung erklärt wird und dass sich Forschung, auch im Sinne der „Dritten Mission“, der Themen der Zeit annehmen muss. Forschung also nicht als Selbstzweck der Forschenden, sondern als Dienst an der Gesellschaft. Sie sind nun neuer Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Was kann diese Institution leisten, um das Vertrauen der Menschen in die Wissenschaft zu erhöhen? Faßmann: Wissenschaft ist wesentlich, damit wir Herausforderungen wie den Klimawandel, den demografischen Wandel, soziale Ungleichheiten, die Digitalisierung aller Lebensbereiche und vieles mehr bewältigen können. Diese Lösungskompetenz der Wissenschaft wollen wir durch unsere Kommunikationsarbeit noch mehr betonen. Um das Vertrauen in die Ergebnisse der Wissenschaft zu stärken, wollen wir aber auch vermitteln, wie wissenschaftliches Wissen zustande kommt, wie Wissenschaft funktioniert und welche besondere Qualität wissenschaftliches Wissen besitzt. Dabei werden wir bewusst thematisieren, dass Wissen nie „fertig“ oder „abgeschlossen“ ist, dass jedes Wissen auch unser Nichtwissen vergrößert und wie wir mit Unsicherheiten umgehen. Ein wichtiger Baustein bei dieser „Vermittlungsarbeit“ ist der Wissenschaftsjournalismus. Die Akademie hat Stipendien für Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten ins Leben gerufen und wir werden diese heuer neu ausschreiben. Wir möchten auch junge Menschen möglichst früh mit Wissenschaft in Berührung bringen. Die ÖAW hat das

Programm „Akademie im Klassenzimmer“ gestartet, wir werden unsere Zusammenarbeit mit der KinderuniWien intensivieren, über die neu geschaffene Studienstiftung werden besonders interessierte junge Menschen an die Wissenschaft herangeführt, und es wird wieder neue Wissenschaftscomics für Kinder geben, die spielerisch komplexe Fragen vermitteln. Wir wollen außerdem vermehrt versuchen, bislang eher „wissenschaftsferne“ Gruppen in der Bevölkerung zu erreichen. Das ist uns besonders wichtig, denn sonst erreichen wir nur die von Wissenschaft bereits Überzeugten, aber nicht die Skeptiker. Was können aus Ihrer Sicht Wissenschaftstreibende selbst dazu beitragen, dass das Vertrauen in ihre Tätigkeit und ihre Leistungen steigt? Faßmann: Für eine öffentlich finanzierte Forschung muss es „part of the job“ sein, die eigene wissenschaftliche Arbeit zu erklären. Die Wissenschaft darf nicht mehr im berühmt-berüchtigten Elfenbeinturm verharren. Wissenschaftlich Tätige stehen heute in Klassenzimmern, sie vermitteln ihre Forschung in Videos auf YouTube oder halten Vorträge für die Öffentlichkeit. Das ist gut so. Wir müssen den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aber auch dabei helfen, ihrer Vermittlungsarbeit bestmöglich nachgehen zu können. Gerade in der Pandemie – das hat eine Studie der Universität Wien kürzlich gezeigt – hatten Forschende, wie es darin heißt, „mitunter frustrierende“ Erlebnisse mit Politik, Medien und Öffentlichkeit. Wir werden daher an der ÖAW verstärkt Medientrainings für unsere Forschenden anbieten. Portugal, einst ebenso wissenschaftsskeptisch wie Österreich, hat sich davon deutlich entfernt. Wird das uns auch einmal gelingen, und was wird dazu am wichtigsten sein? Faßmann: Ich bin überzeugt, dass wir eine Trendwende schaffen können. Was dafür auch wichtig sein wird, sind neue Ideen für die Vermittlung von Wissenschaft. Wir haben deswegen eine Preisfrage ausgeschrieben: „Wie gehen wir mit Wissenschaftsskepsis um?“ Menschen aus der ganzen Welt können mitmachen und Essays beliebiger Länge einreichen. Einsendeschluss ist der 15. September. Ich bin schon sehr gespannt auf die Antworten.


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Die ersten ÖFG-Preisträger*innen für guten Wissenschaftsjournalismus Kategorie Wissenschaft und Gesellschaft

„Kommunikation ist die schärfste Waffe in der Pandemie“, schreibt Edith Meinhart in ihrem preisgekrönten Artikel „Die Pandemie entzweit die Gesellschaft“, in dem sie die Gräben zwischen Geimpften und Ungeimpften, ihnen zugrunde liegende soziologische und psychologische Dynamiken sowie politische und krisenkommunikatorische Fehler analysiert. Dabei plädiert die langjährige profil-Journalistin für Konsens, ohne kritisches Hinschauen auf die Protagonist*innen der verschiedenen Lager auszuschließen. Doch Lösungsanstrengungen seien wichtiger als Rechthaben, meint sie und erkundet unter anderem, welche Möglichkeiten ein Sozialphilosoph und Netzwerkanalyst hierzu sieht, oder wie ein Soziologe und ein Konfliktforscher das Problem des wachsenden Misstrauens gegenüber Institutionen beurteilen. „Wenn Ambivalenzfähigkeit ein Schlüssel zur Bewältigung noch auf uns zukommender Krisen ist, sind wir schlecht aufgestellt“, erklärt sie ihre Motivation hinter dem Artikel. „Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie offenkundig dürftig das sozialpsychologische Wissen um den Wert von Vertrauen und Anerkennung selbst in hochrangigen Pandemie-Krisenstäben ist.“ Zumal der

„Um die eigene Unsicherheit herumzuturnen, geht selten gut. Jede Vereinfachung im Sinne von Lesbarkeit und Verständlichkeit muss eine ,gute‘ sein“

Preis für den Artikel „Die Pandemie entzweit die Gesellschaft“ Teil der Wählerschaft, der sich von der Politik nicht mehr vertreten fühle, beunruhigende Ausmaße angenommen habe. „In der politischen Kommunikation gibt es ein Credo, dass Botschaften ,simple and stupid‘ gehalten sein müssen, um verstanden zu werden“, so Meinhart. „Ich bin entschieden anderer Meinung, wenn diese Maxime dazu führt, dass Unsicherheit verschleiert wird, jeder Satz wie eine unwiderlegbare Behauptung daherkommt und ein, zwei Wochen später nur mehr die Hälfte davon stimmt.“ Als Mitglied der Innenpolitik-Redaktion schreibt Meinhart nicht ausschließlich über Wissenschaft, widmet sich dieser aber gern, wenn sie gesellschaftliche Themen berührt. Dann bemühe sie sich, kenntlich zu machen, welche Fragen erforscht wurden, welche noch offen sind und wo man auf Beobachtungen, Thesen oder anekdotische Befunde angewiesen ist. „Manchmal kann es sich auch anbieten, kontroverse Ergebnisse anzuführen und nach Möglichkeit zu erklären, wie sie zustandekommen.“ Die nötige Vereinfachung des wissenschaftlichen „Fachchinesisch“ erfordere es, so lange zu recherchieren, bis man den Sachverhalt selbst verstanden habe. „Um die eigene Unsicherheit herumzuturnen, geht selten gut. Jede Vereinfachung im Sinne von Lesbarkeit und Verständlichkeit muss eine ,gute‘ sein und nicht einer Denkfaulheit geschuldet.“

Florian Aigner, Ö1 In einem Podcast „das Universum zu erklären, die Wissenschaft und überhaupt alles“, das sei zwar eine unmögliche, aber wunderschöne Aufgabe, kommentiert Florian Aigner seine Radioreihe „Aigners Universum“. Anfang 2021 ging sie auf Ö1 on Air. In drei- bis vierminütigen Beiträgen teilt der promovierte Quantenphysiker hier seine Gedanken über spektakuläre Forschung, Verwerfungen des Kosmos, verbreitete Denkfehler, gut abgehangene Klischees oder versteckten Aberglauben. Dass er dafür nun ausgezeichnet wurde, freut ihn sehr. „Wissenschaftskommunikation ist ein oft mühsames Geschäft, es gibt kein klares Berufsbild, wo man nach erprobten Regeln dahinarbeitet. Da tut es natürlich gut, durch einen solchen Preis signalisiert zu bekommen, dass man etwas richtig gemacht hat.“ Wissenschaftserklärer ist Aigner seit 2008, wobei er sich – neben seiner Arbeit als Wissenschaftsredakteur an der TU Wien – besonders gern auf das Grenzgebiet zwischen Fakt und Fake konzentriert. Darüber schreibt er Bücher und Kolumnen, etwa für das österreichische Technologie- und Wissenschaftsportal „futurezone“, hält Vorträge und engagiert sich als Jurymitglied des satirischen Negativpreises „Das goldene Brett vorm Kopf “. „Wenn man erklä-

„Ich sehe mir auch antiwissenschaftliche Themen an – von Astrologie bis Chemtrails, von Perpetuum-mobileKonstrukteuren bis zu Impfgegnern“

Kategorie Rundfunk

Preis für die Radioreihe „Aigners Universum“ ren will, was Wissenschaft ist, muss man auch erklären, was sicher keine Wissenschaft ist“, unterstreicht er. „Darum befasse ich mich nicht nur mit Naturwissenschaft und Technik, sondern sehe mir auch antiwissenschaftliche Themen an – von Astrologie bis Chemtrails, von Perpetuum-mobile-Konstrukteuren bis zu Impfgegnern.“ Das sei manchmal lustig, manchmal schockierend. „Aber es ist wichtig, dass solche Dinge eingeordnet werden. Menschen, die an so etwas glauben, sind ja nicht dumm. Sie stoßen nur im Internet unglaublich leicht auf falsche Informationen.“ Hier müsse man mit überprüfbaren Fakten dagegenhalten. Mangelndes Vertrauen in die Forschung hält Aigner für ein altes, in Österreich leider tief verankertes Phänomen. „Wissenschaft wird als Nebensache wahrgenommen.“ Auf die Frage, was Wissenschaftsjournalismus leisten muss, um hier Abhilfe zu schaffen, schmunzelt er: „Wer darauf eine Antwort findet, wird vermutlich weltberühmt.“ Aber auch wenn es keinen einfachen Trick gebe, ein paar Grundregeln würden schon gelten: „Ehrlich Fakten präsentieren anstatt sensationellen Headlines hinterherlaufen. Nicht nur die Ergebnisse der Forschung erklären, sondern auch, wie sie zustande kommen. Dazusagen, welches Wissen solide und verlässlich ist und wo es sich vorerst nur um vorläufige Vermutungen handelt.“

FOTOS: ANDREAS KOBLINGER, PRIVAT

Edith Meinhart, profil


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Spätestens seit der Corona-Pandemie ist klar: Guter Wissenschaftsjournalismus ist eminent wichtig. Das Sortieren, Bewerten und Verständlichmachen komplexer Forschungsinhalte trägt dazu bei, dass diese von Laien weniger leicht als nebulös und abgehoben wahrgenommen werden. Es ist allerdings eine hohe Kunst, dabei die Balance zwischen sachlich-präzise und spannendunterhaltsam zu wahren, weder reißerisch noch fad daherzukommen, zu vereinfachen, ohne zu verzerren. Diese „Übersetzungsleistung“ würdigt die Österreichische Forschungsgemeinschaft ÖFG mit ihrem neuen Preis für Wissenschaftsjournalismus. Edith Meinhart, Florian Aigner, Sandra Fleck und David Rennert bekamen ihn im April 2022 überreicht USCHI SORZ

Sandra Fleck, freie Journalistin

FOTOS: MATTHIAS JAIDL, PRIVAT

Sandra Fleck lässt sich nicht in Schubladen stecken. „Jedem Inhalt sein Medium“, sagt sie. „Ob Zeitung, Onlineformat, TV, Radio oder Social Media – als Wissenschaftsjournalistin ist es mir wichtig, das schon bei der Aufbereitung mitzudenken.“ Eine charakteristische Bewegung etwa lasse sich in einem Video oft besser festhalten als auf einem Foto. Und eine Grafik stelle einen komplexen Wirkmechanismus unter Umständen unmissverständlicher dar als ein Text. Die studierte Biologin schreibt für mehrere österreichische Tageszeitungen, wie zum Beispiel die Wiener Zeitung, arbeitet am Ö1-Gesundheitsmagazin „Radiodoktor“ mit und betreibt den Podcast „Best-of Wissenschaft“, in dem populärwissenschaftliche Bücher im Mittelpunkt stehen. Den ÖFG-Preis hat sie für ihre Multimediareportage „Einfach nur Jakob“ bekommen, die die Lebenswelt des gleichnamigen Protagonisten hautnah vor Augen führt und zugleich über die neurodegenerative Erkrankung des jungen Mannes informiert. Die seltene „Friedreich-Ataxie“ ist genetisch bedingt, beginnt meist im Kindheits- und Jugendalter und ist gekennzeichnet vom fortschreitenden Absterben von Nervenzellen, was sich unter

„Einfach nur zu behaupten, der Journalismus sei objektiv, ist eine Lüge. Aber wer seine Kriterien offenlegt und faktenbasiert arbeitet, handelt glaubwürdig“

Kategorie Doku Multimedia

Preis für Multimediareportage „Einfach nur Jakob“ anderem in Bewegungs- und Koordinationsstörungen äußert. „Naturgemäß sind seltene Erkrankungen den meisten weitgehend unbekannt. Das wollte ich ändern.“ Fleck nutzte dafür das Multimedia-Tool Pageflow, mit dem sie im Zuge ihres Journalismusstudiums an der FH Wien in Berührung kam. Damit lassen sich Texte, Fotos und Videos mit interaktiven Elementen wie Infografiken, 360-Grad-Videos, Hotspots und variablen Storylines zu komplexen Erzählungen arrangieren. Die Low-Budget-Produktion „Einfach nur Jakob“ war im Vorjahr ihr Abschlussprojekt. Zu mehr Vertrauen in die Wissenschaft könne sie als Journalistin nur durch größtmögliche Transparenz beitragen, betont Fleck. „Zu behaupten, Journalismus sei objektiv, ist eine Lüge. Aber wer seine Kriterien offenlegt und faktenbasiert arbeitet, handelt glaubwürdig.“ Schwerpunkt ihrer Arbeit sei es, wissenschaftliche Papers im Original zu lesen, zu verstehen, auf Richtigkeit und Neuigkeitswert zu überprüfen und alle daraus resultierenden Informationen für Laien verständlich aufzubereiten. „Es ist aber auch entscheidend, mehr Medienkompetenz und ein Verständnis davon zu vermitteln, wie professionelle Kommunikation funktioniert. Die Gesellschaft kann auf das Unterscheiden von gesicherten und ungesicherten Erkenntnissen geschult werden.“

David Rennert, Der Standard „Die Herausforderung bei Forschungsthemen besteht darin, komplexe Zusammenhänge in ein lesenswertes Narrativ zu packen und die Leser*innen bei ihrem individuellen Wissensstand abzuholen, ohne in einen Dozentenmodus zu verfallen oder zu stark zu vereinfachen“, sagt David Rennert. In diesem Sinne halte er ein oft Einstein zugeschriebenes Zitat nicht nur für die Theoriebildung in der Physik für die passende Devise, sondern auch für die Wissenschaftsberichterstattung: „So einfach wie möglich, aber nicht einfacher.“ Darüber hinaus habe Journalismus grundsätzlich die Aufgabe, interessante und relevante Geschichten zu erzählen. Rennert hat nach dem Studium der Politkwissenschaften und Geschichte seine beiden Leidenschaften vereint: die Wissenschaft und das Schreiben. Seit zehn Jahren ist er Wissenschaftsredakteur bei der Tageszeitung Der Standard und hat zwei wissenschaftshistorische Bücher verfasst. Eines davon, in dem er zusammen mit Kollegin Tanja Traxler das Leben der Physikerin und Kernspaltungspionierin Lise Meitner nachzeichnete, wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2019 gekürt. Den ÖFG-Preis erhielt er für den Artikel „Die Verwandlung der Welt“.

„Komplexe Zusammenhänge in ein lesenswertes Narrativ packen und die Leser*innen bei ihrem Wissensstand abholen, ohne zu stark zu vereinfachen“

Kategorie Magazin

Preis für den Artikel „Die Verwandlung der Welt“ Er ist im Vorjahr in einer Ausgabe des Standard-Wissenschaftsmagazins Forschung erschienen, die sich dem Thema Wasser widmete. „Die Suche nach Antworten auf fundamentale Fragen ist eine zentrale Antriebsfeder meiner Arbeit“, erklärt Rennert. „Als wir das Thema in der Redaktion diskutierten, war mir schnell klar, dass hier die große Frage, die über allem anderen steht, lautet: Wie kam Wasser überhaupt auf die Erde?“ Bei der Recherche habe ihn vor allem beeindruckt, wie eine so einfache Frage so vielschichtige Aspekte hervorbringen könne. „Und wie viel dazu noch im Dunkeln liegt.“ Mit spürbarer Faszination hat er sich aufgemacht, den Theorien der Wissenschaftler*innen nachzuspüren, dabei mit einem Expert*innen für die Evolution von Planetenatmosphären und einer Astrobiologin gesprochen, aktuell publizierte Forschungsergebnisse studiert und die Leser*innen in unvorstellbar lange vergangene Zeiten mitgenommen, als Planetenkollissionen, Asteroideneinschläge und eine langsam abkühlende brodelnde Vulkanwelt das Geschehen bestimmten. Dass die ÖFG die gestiegene Bedeutung von Wissenschaftsjournalismus in der Corona-Pandemie zum Anlass für einen neuen Preis genommen habe, freut ihn sehr. Es wäre wünschenswert, dass die Forschung in Österreich einen ähnlich hohen Stellenwert hätte wie Kunst und Kultur.


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Über das Verhältnis von Politik und Wissenschaft Beide verstecken sich gelegentlich gern hintereinander, besonders dann, wenn es wie in der Pandemie um schwierige Entscheidungen geht ie verhält es sich mit der Verantwortung der Wissenschaft gegenüber der Politik und jener der Politik gegenüber der Wissenschaft? Wissenschaft muss Expertise einbringen, informieren, Lösungen vorschlagen, Kritikfähigkeit bewahren – aber die Politik entscheidet. Es gilt, praxisnahe Politikberatung und den Kern von Werturteilsfreiheit zu vereinen. Wenn Politik nicht dumm ist, wird sie die ausreichende Finanzierung des Wissenschaftssystems sichern, beratungswillig sein, Expert*innen respektieren, evidenzbasierte Politik betreiben. Wissenschaftsvermittlung ist für eine diskursive Demokratie vonnöten. Doch so sauber lässt sich die Welt nicht sortieren. Also beschäftigen wir uns mit den Grauzonen dieser Verhältnisse. Wirklichkeitswissen. Über die Komplexität der modernen Welt müssen wir nicht räsonieren: ein selbstverständlicher Befund. Somit braucht jede Politik Wissenschaft, Erkenntnis, Expertise. Entwicklung von Impfstoffen? Energiespeichervorrat für den nächsten Herbst? Wirtschaftliche Folgen russischer Sanktionierung? Ist die westliche Demokratie am Ende? Die Wissenschaft kann Fakten sammeln, analysieren, interpretieren. Aber es sind nicht nur Fakten: Denn entscheidend ist es, aus den einzelnen Fakten ein Bild zu entwickeln, ein Muster, einen Zusammenhang. Damit man sieht, was man sieht. Mit dem Material allein könnte man nichts anfangen. Aber das Bild hat Elemente der Konstruktion, die von den Wissenschaftler*innen eingebracht werden. Die einfache Zweiteilung „Wissenschaft liefert objektive Fakten, die Politik entscheidet auf dieser Grundlage wertbezogen“ ist bloß eine Simpelversion. Wahrscheinlichkeiten. Politik und Öffentlichkeit haben oft ein irreales Bild der Wissenschaft: Diese möge „Wahrheit“ liefern, Gewissheit – oder das Ganze ist unglaubwürdig. Aber erstens ist Wissenschaft immer falsifizierbar, also vorläufig gültig. Sie operiert zweitens oft mit Wahrscheinlichkeiten statt mit Sicherheiten. Es gibt Grade der Verlässlichkeit: Manches wissen wir so gut wie sicher, anderes ist trotz mancher Unsicherheit praktisch verwendbar, in einigen Fällen kommen wir kaum über abgewogene Spekulation hinaus. Es gibt drittens gerade bei bislang unbekannten Sachverhalten wie einem neuen Virus eine ständige, von laufenden Befunden modifizierte Wissensentwicklung. Dann schaut die Sache drei Monate später anders aus – und man muss revidieren. Doch

TEXT: MANFRED PRISCHING

„Wahrscheinlichkeitskompetenz ist weder in der Politik noch beim Publikum ausgeprägt“ MANFRED PRISCHING

Manfred Prisching ist Professor für Soziologie an der Universität Graz www.manfredprisching.com

Wahrscheinlichkeitskompetenz ist weder in der Politik noch beim Publikum ausgeprägt. Öffentlichkeit. Es wird Aufgabe der Wissenschaft sein, insbesondere die Risiken von Natur, Mensch und Gesellschaft, die man erforscht hat, dem Publikum zu kommunizieren. Public Science hat an Reputation gewonnen. Aber wie muss man wissenschaftliche Erkenntnisse vereinfachen, kontextualisieren, übersetzen, sodass das wichtige Substrat tatsächlich bei Bevölkerung und Politik ankommt? Wo ist das Optimum zwischen Komplexitätsbewahrung und Verständlichmachung? Universitäten bewegen sich (in ihrer Verlegenheit) oft in Richtung auf Show-Veranstaltungen, ganz angemessen einer medial geprägten und entertainigen Kommunikationsgesellschaft. Finanzierung. Wissenschaft braucht Geld, ebenso einen passenden rechtlichen Rahmen, in dem Kreativität und Innovation gedeihen können. Die Steuerung der Wissenschaft erfolgt immer stärker durch „Projektismus“: Man schafft inhaltlich definierte Finanzierungstöpfe, für die man sich bewerben kann. Deshalb gibt es zunehmend kein Betreiben von Wissenschaft ohne Projekt. In die Projektprogramme fließen politische (oft alltäglich-modische) Zielsetzungen ein, sie stehen manchmal in Spannung zu wissenschaftsimmanenten Fragestellungen. Oft geht es bloß um politisch attraktive und massenwirksame Etiketten. Immer mehr Geld kommt von der Wirtschaft: Jene Teile der Universitäten wachsen, die als (kostengünstig) ausgelagerte Forschungslabors von Industriebetrieben eingestuft werden können. Wissenschaftsdifferenzierung. Seinerzeit sorgte man für die erforderlichen Professionist*innen, wie sie in den klassischen Fakultäten abgebildet worden sind (Juristen als Sachwalter von Recht und Staat, Mediziner für Menschen und ihre Körper, Theologen für den diesseitigen Kirchenbetrieb und das jenseitige Wohlergehen). Die Philosophische Fakultät war das restliche Alles. Mittlerweile haben sich die Disziplinen differenziert und spezialisiert. Wir haben es mit dem Aufstieg der unterschiedlichsten NAWI-Fächer zu tun, von der Physik bis zur Materialwissenschaft, von der Chemie über die Informatik bis zu den biologischen Disziplinen. Neuerdings hat die Öffentlichkeit gelernt, dass es so etwas wie Virolog*innen, ja sogar Komplexitätsforscher*innen gibt. Ein paar Monate später sucht man Expert*innen für

Militärforschung. Man könnte lernen, dass es fallweise gut ist, Expert*innen „vorrätig“ zu haben, auch wenn man sie im Normalbetrieb nicht zu brauchen glaubt. Hyperspezialisierung. Es gibt immer mehr Differenzierung, Arbeitsteilung, Spezialwissen; aber wie bekommt man die Wissenspartikel wieder zusammen? Teambildung gelingt offenbar nur in der naturwissenschaftlich-technisch-medizinischen Welt. Ansonsten redet man (etwa auf interdisziplinären Konferenzen) aneinander vorbei. Die Humanities (die Geistes- und Sozialwissenschaften) sind ohnehin in der Krise. Einer der Auswege ist „Nanoexpertentum“: Man wird zur Spezialist*in für die Interpretation des unbekannten Literaten X durch den unbekannten Philosophen Y. Das ist Revierabgrenzung, folgt aber auch der Prämisse, dass alles, was wissenschaftlich erforscht werden kann, die wissenschaftliche Erforschung verdient. Unverständnis dafür wird der Politik als Versagen zugeschrieben. Vielleicht versteht es die Politik aber sehr wohl. Ideologisierung. Da desorientierte Geistes- und Sozialwissenschaften den Eindruck vermeiden wollen, dass sie den Menschen nichts Lebensdienliches anzubieten hätten, haben sich manche auf Moralisierung und Indoktrinierung spezialisiert, was besonders bei heranwachsenden Personen, die eine gewisse Formbarkeit aufweisen, nachweisliche Effekte zeitigt. Viele Wissenschaftler*innen wollen an jeder gesellschaftlichen Entrüstung ihren Anteil haben. Was bei den Normalmenschen Emotion heißt, nennen sie für sich selbst „Kritik“. Diese Neigung lässt sich politisch instrumentalisieren. Und manche freuen sich über ihre Instrumentalisierung. Versteckspiel. Die Politik versteckt sich gern hinter der Wissenschaft: Die Expert*innen haben gesagt … Die Maßnahme ist alternativlos … Es besteht deshalb der Anreiz, auf Ergebnisse der Wissenschaft Einfluss zu nehmen. Schließlich will man bei einer Pressekonferenz von der Wissenschaft bestärkt, nicht demontiert werden. Aber auch die Wissenschaft versteckt sich gern hinter der Politik: Wir könnten ja, wenn man uns nur ließe ... Es wird jede Krise genutzt, um mehr Geld aus dem Staatsbudget zu fordern. Und ein Teil des Publikums hält Personen aus Wissenschaft, Politik, Medien und Management ohnehin für eine korrupte Einheitselite. Leute mit solcher Konspirationsmentalität haben kein Problem mit dem Verhältnis von Politik und Wissenschaft.

FOTO: ERWIN SCHERIAU

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FOTO: KARIN WASNER

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Max (20 Monate) kam wegen Geburtskomplikationen per Kaiserschnitt auf die Welt. Er ist gegen Pneumokokken, Masern, Mumps, Röteln, Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Poliomyelitis, Haemophilus influenzae Typ b und Hepatitis B geimpft. Er liebt Bücher, Flugzeuge und Spielplätze


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Public Science für Vertrauensurteile Vertrauen wird erst dann ausschlaggebend, wenn eine Kontroverse existiert, aus der unterschiedliche Handlungsmuster folgen, erklärt Rainer Bromme

err Bromme, was versteht man unter dem Begriff Public Science? Rainer Bromme: Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Im Kern geht es darum, den Wissenschaftsprozess für Außenstehende transparenter zu machen. Das kann einerseits bedeuten, dass Daten möglichst früh – eigentlich noch während der laufenden Forschung – für andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler frei zugänglich gemacht werden. Das wiederum gehört zu dem, was man als Open Science bezeichnet. Andererseits versteht man darunter das Bestreben, den gesamten wissenschaftlichen Erkenntnisprozess auch für Bürgerinnen und Bürger transparenter und auch für ihr Engagement zugänglich zu machen: die publizierten Ergebnisse, den Weg dorthin, aber auch Rückschläge und Irrwege im Forschungsprozess. Eine Variante von Public Science wird als Citizen Science bezeichnet. Bürgerinnen und Bürger nehmen selbst am Wissenschaftsprozess teil, sammeln zum Beispiel Daten für ein Forschungsprojekt oder führen Messungen durch. Die Partizipation beschränkt sich dabei nicht nur auf das Zusammentragen von Informationen, auch persönliche Erfahrungen und Interessen sind gefragt, etwa bei der Formulierung von Forschungsfragen. Auf diese Weise soll mehr Verständnis für den Wissenschaftsprozess geschaffen werden. Diese Art der Heranführung eignet sich nur für bestimmte Disziplinen und Themen. Vogelbeobachtungen sind da ein gutes Beispiel, ein anderes Beispiel ist die Gesundheitsforschung, die sich mit persönlichen Krankheitserfahrungen befasst. Allerdings hat nicht jeder Mensch die Zeit und die Bildungsvoraussetzungen, um an wissenschaftlichen Projekten auf eine Weise partizipieren zu können, die dem ähnelt, was Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihren Projekten tun. Wenn jedoch die Bürgerinnen und Bürger nicht aktiv am Forschungsprozess mitwirken, dann handelt es sich eher um „Wissenschaft zum Anfassen“, ähnlich wie bei Vorführungen in Wissenschaftsmuseen oder sogenannten „Gläsernen Laboren“. Wissenschaft arbeitet oft mit sehr komplexen und auch abstrakten, formalen Modellen – das gilt beispielsweise für die Epidemiologie genauso wie für die Wirtschaftswissenschaften. Angesichts der Spezialisierung, die dafür nötig ist, geht es hier letztlich um die Frage, ob man Public

TEXT: CLAUDIA STIEGLECKER

„Public Science sollte dazu beitragen, dass möglichst viele Verständnis über die Arbeitsweisen von Wissenschaft erlangen und auf diese Weise ein informiertes Vertrauensurteil fällen können“ RAINER BROMME

Rainer Bromme ist Seniorprofessor für Pädagogische Psychologie an der Westfälischen WilhelmsUniversität in Münster

Science so versteht, dass man die Arbeitsteilung zwischen spezialisierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Bürgerinnen und Bürgern, die ja keine Experten sind, aufhebt. Oder aber, ob man Formen des Engagements entwickeln kann, die dem Umstand Rechnung tragen, dass die Arbeitsteilung zwischen spezialisierter Wissenschaft und den Bürgern eigentlich der Regelfall ist. Welche Art der aktiven Einbeziehung wäre denn ein gutes Mittel, um Vertrauen in die Wissenschaft zu stärken? Bromme: Um diese Frage zu beantworten, muss man untersuchen, warum sich Bürgerinnen und Bürger überhaupt für Wissenschaft interessieren und wann sich Vertrauensfragen überhaupt stellen. Aus empirischen Studien wissen wir, dass das Interesse an Wissenschaft eng mit Erwartungen an Beiträgen zur Lösung individueller und gesellschaftlicher Probleme verbunden ist. Die Corona-Pandemie ist da ein gutes Beispiel. In solchen Zusammenhängen ist es besonders wichtig, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler möglichst transparent machen, was sie mit welchem Ziel erforschen, welche Fragen sie derzeit oder aber demnächst beantworten können, und auch, was sie nicht wissen. In die Forschung gehen auch Wertentscheidungen ein, etwa bei der Themenwahl. Gleichfalls dann, wenn man im Forschungsprozess darüber entscheiden muss, wie viel Evidenz man benötigt, um eine Hypothese zu akzeptieren. Auch darüber sollte Wissenschaft Transparenz herstellen. Denken Sie zum Beispiel an die methodischen Fragen rund um die Messung der Krankheitslast durch Corona, die dann für politische Entscheidungen über Lockdownmaßnahmen relevant waren. Vertrauen wird erst dann ausschlaggebend, wenn eine Kontroverse existiert, aus der unterschiedliche Handlungsmuster folgen und man daher entscheiden muss, welche Seite recht hat. Das können Widersprüche in der Wissenschaft sein, die sich daraus ergeben, dass wissenschaftliche Ergebnisse durch neue Erkenntnisse revidiert werden. Es können aber auch Widersprüche und Konflikte sein, wenn wissenschaftliche Ergebnisse eigenen Überzeugungen widersprechen. Oder aber Widersprüche zwischen pseudowissenschaftlichen und wissenschaftlichen Aussagen. Die Debatten mit Impfgegnerinnen und Impfgegnern während der Corona-Pandemie haben dafür viele Beispiele geliefert.

Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel? Bromme: Nehmen wir die Frage, ob mRNA-Impfstoffe langfristig Schäden verursachen können. Es gibt gute wissenschaftliche Argumente, dass dies nicht der Fall ist, und durch gute Wissenschaftskommunikation kann man das auch erklären. Wenn aber jemand mit pseudowissenschaftlichen Argumenten dagegen auftritt, wird es für Bürgerinnen und Bürger schwierig, auf Basis des eigenen Verständnisses über Impfstoffwirkungen und speziell über mRNA zu entscheiden, wer in der Sache recht hat. Dann muss man eher beurteilen, wem man eigentlich vertraut. Wie kommen Vertrauensurteile zustande? Bromme: Um zu beurteilen, ob wir jemand vertrauen, orientieren wir uns im Alltag an drei Dimensionen: An Hinweisen in Bezug auf die Fähigkeit, dann auf die Integrität und schließlich die Absichten – all das immer mit Bezug auf die jeweilige Frage, um die es beim Vertrauen geht. Also konkret: Hat die Wissenschaftlerin, die angibt, mRNA-Impfstoffe seien nicht gefährlich, die nötige Expertise, um das überhaupt beurteilen zu können, hält sie sich bei ihrem Urteil an die Regeln ihres Fachs und hat sie das Wohlergehen der Öffentlichkeit dabei im Blick? Empirisch lässt sich zeigen, dass diese drei Dimensionen unterschiedlich stark gewichtet werden: Beim Vertrauen geht es vor allem um die Expertise, gibt es Indizien für Misstrauen, werden Integrität und Benevolenz stark gewertet. Auf welche Weise kann nun Wissenschaftsvertrauen geschaffen werden? Bromme: Diese drei Dimensionen bieten eine gute Heuristik, um Ihre Frage zu beantworten. Informationen zum Wissenschaftsprozess können sich zum Beispiel positiv auf die Integritätsebene auswirken: das Kommunizieren über Studien, das Begründen der Vorgangsweise und Erklären wissenschaftlicher Ergebnisse. Im Alltag wird Vertrauen häufig mit einem intuitiven und nicht mit einem rationalen, wissensbasierten Urteil gleichgesetzt. Im Kontrast dazu ist aber zu betonen, dass es auch „informiertes Vertrauen“ gibt, das auf Wissen und rationalen Schlussfolgerungen basiert. Public Science sollte dazu beitragen, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger Wissen und Verständnis über die Arbeitsweisen von Wissenschaft erlangen und auf diese Weise ein „informiertes Vertrauensurteil“ fällen können.

FOTO: PETER GREWER

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Mario (38) geriet 2012 bei der Arbeit in eine Maschine, die ihm seine linke Hand zerstörte. Ein Jahr lang versuchte man seine Hand zu retten, bis er sich unter der Betreuung von Oskar Aßmann im Wiener AKH für eine bionische Prothese entschied. Die funktionsunfähige und schmerzende Hand wurde amputiert. Seitdem kann er wieder alles machen, „nur halt ein bissl anders“. Er arbeitet weiterhin als Installateur und ist begeisterter Mountainbiker

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Gesellschaftlich verantwortliche Hochschulen V

or zehn Jahren bewarb sich das deutsche gemeinnützige CHE Centrum für Hochschulentwicklung beim deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) um Fördermittel für das Projekt FIFTH. Darin ging es um Facetten und Indikatoren für Forschung und „Third Mission“ an Hochschulen für angewandte Wissenschaften. Damals war Third Mission noch ein recht unbekanntes und unbedeutendes Thema im DACH-Raum. Heute ist das anders: So stand der April-Workshop der Österreichischen Forschungsgemeinschaft ÖFG unter dem Titel: „Die dritte Mission von Universitäten: Transfer und Wissensaustausch mit der Gesellschaft“ – und ich durfte als Referentin in das Thema einführen. Den Begriff Third Mission gibt es seit rund vierzig Jahren. Damals entwickelte sich ein Bewusstsein, dass die Leistungen von Hochschulen weit über ihre Kernmissionen „Lehre und Forschung“ hinausgehen: Sie inkludieren etwa Weiterbildung, Technologietransfer, Wissenstransfer, soziales oder gesellschaftliches Engagement. Sie setzen sich für Demokratisierung und gesellschaftlichen Wandel ein, bieten Kinderuniversitäten und Kulturangebote in Form von Konzerten des Uni-Orchesters und Ausstellungen. Eine Hochschule im Osten Deutschlands unterhält sogar eine Feuerwehr, weil es in der Region keine gibt. Diese ganzen Aktivitäten und Engagements sind im Begriff Third Mission gebündelt. Third Mission sind somit die Aktivitäten, Resultate und daraus entstehende Folgen, die von Hochschulen unmittelbar in die Gesellschaft und Wirtschaft hineinwirken – im Idealfall sogar zu gesellschaftlichen Weiterentwicklungen führen, sowie Strömungen aus der Wirtschaft und Gesellschaft, die ihrerseits in die Hochschulen hineinwirken. Was, fragten Wissenschaftler*innen, ist Third Mission? Bis vor relativ kurzer Zeit waren nicht sehr viele Menschen im universitären Bereich mit dem Begriff „Third Mission“ vertraut. Als wir 2014 in unserem Projekt Professor*innen die Frage stellten: „Was machen Sie im Bereich Third Mission?“, bekamen wir meistens riesengroße Fragezeichen als Antwort. Sie kannten den Begriff nicht. Als ich den Zugang änderte und fragte: „Was machen Sie den ganzen Tag?“, sah ich keine Fragezeichen, sondern fast beleidigte Gesichter.

TEXT: ISABEL ROESSLER, BRUNO JASCHKE

„Eine Hochschule im Osten von Deutschland unterhält sogar eine Feuerwehr, weil es in der Region keine eigene gibt“ ISABEL ROESSLER

Isabel Roessler ist Senior Projektmanagerin am CHE Centrum für Hochschulentwicklung in Gütersloh mit den Arbeitsschwerpunkten Third Mission, Transfer und Hochschulentwicklung

Dann sprudelten die Interviewten los: „Ich bin in der Kinderuniversität.“ „Ich habe ein umfassendes Netzwerk aus Kitas aufgebaut und erkläre die wichtigsten Faktoren frühkindlicher Bildung.“ „Ich habe den deutschen Weiterbildungspreis gewonnen.“ Hinterher habe ich ihnen gesagt: „Sie machen viel Third Mission.“ Jahre später kam eine Professorin auf mich zu und bedankte sich, weil wir ihr für das, was sie tut, einen Begriff gegeben haben. Mit diesem Begriff konnte sie zu ihrem Hochschulrektor gehen und sagen „Ich lehre nicht viel, ich forsche nicht viel, aber ich mache Third Mission, und das ist ebenso viel wert!“ Third-Mission-Aktivitäten sind weltweit unterschiedlich. In Lateinamerika sind Third-Mission-Aktivitäten vor allem auch Demokratisierungs- und TeilhabeAktivitäten, während sie im DACH-Raum viel stärker im Zeichen des Wissenstransfers stehen. Neben großräumigen regionalen Unterschieden gibt es aber auch Unterschiede auf regionaler Ebene: Eine kleine Hochschule im ländlichen Raum hat oft gar nicht die Möglichkeit, mit Industriepartnern zu kooperieren, weil es diese schlicht nicht gibt. Da richtet sich der Fokus dann auf zivilgesellschaftliche Partner. Third-Mission-Aktivitäten brauchen Personal Vielfach wird Third Mission mit Transfer gleichgesetzt. Third Mission ist aber viel breiter. In unseren Projekten greifen wir die Breite auf und zeigen: Für Third Mission bedarf es Vorbedingungen. Man braucht Personal, das das überhaupt kann, man braucht Geld. Eine Hochschulleitung, die es den Wissenschaftler*innen ermöglicht, mehr zu machen als Forschung und Lehre. Dann haben wir die Aktivitäten, die realisiert werden. Der Transfer kommt hinzu und in der Folge habe ich Resultate. Das ist auch die Wissenschaftskommunikation: Wissenschaftliche Erkenntnisse so aufbereiten, dass sie zum Beispiel auch medial an andere Zielgruppen als die wissenschaftliche Community adressiert werden kann. Aus diesen Resultaten entstehen Folgen. Nämlich dann, wenn sich etwas verändert. Beispielsweise wurde von einer Hochschule eine App entwickelt, mit der demenzkranke Personen mit ihren Angehörigen kommunizieren können. Dadurch verändert sich der Umgang miteinander erheblich. Die App führt zu einer sogenannten Sozialen Innovation, einer Innovation, die das Handeln und die Praxis in einer

bestimmten Gruppe von Menschen verändert. Soziale Innovationen gehören für uns ebenfalls zu Third Mission. Doch sie werden immer noch nicht ausreichend wertgeschätzt. Als Folge gilt die wissenschaftliche Publikation vielen Forschenden noch immer als höchstes Gut. Um das zu ändern, muss sich in der Einstellung etwas ändern – seitens der Einzelnen, aber auch seitens der Hochschulleitungen. Es ist eine Frage der Wertschätzung, Anerkennung und Wahrnehmung, Third Mission wirklich zu einer dritten Mission neben Lehre und Forschung zu machen. In Deutschland haben wir die leistungsorientierte Mittelvergabe, in die verschiedene Indikatoren eingerechnet werden, also zum Beispiel wissenschaftliche Publikationen, Zitationen, Promotionen, Drittmittel, die eingeworben wurden. Das sind Standard-Parameter. Nicht aber zum Beispiel: Wie viele Messen wurden besucht? Auf wie vielen Veranstaltungen von Praktikern wurde referiert? Oder wie viele Zeitungsartikel wurden publiziert? Das spielte im Regelfall keine Rolle. In Österreich ist es etwas anders, weil Aktivitäten im Third-Mission-Bereich auch in den offiziellen Dokumenten nachgefragt werden: in den Wissensbilanzen, den Leistungsvereinbarungen und Entwicklungsplänen. Stark in Richtung Third Mission profilieren sich die Hochschulen für angewandte Wissenschaften respektive die Fachhochschulen. Sie haben verstanden: Man kann sich auch ein Profil aufbauen, indem man viel Transfer oder viel Weiterbildung macht. In Deutschland wird seit einigen Jahren über das Förderprogramm „Innovative Hochschule“, grundsätzlich ein reines Third-Mission-Projekt, eine große Menge Geld, nämlich 550 Millionen Euro, in die Hochschulen für angewandte Wissenschaften gesteckt. Insbesondere Transferaktivitäten stehen hier im Fokus. Darüber hinaus fordert das BMBF seit Neuestem bei sämtlichen Projekten aktive Wissenschaftskommunikation als Bestandteil eines Projekts ein. Das ist eine indirekte Förderung, sprich: Dir wird das Projekt nur bewilligt, wenn du auch Wissenschaftskommunikation betreibst und damit eine Facette der Third Mission bedienst. Mit diesen Maßnahmen hat Third Mission in Deutschland einen starken Schub erhalten: Wenn viel Geld im Raum steht, interessieren sich auf einmal sehr viele Leute dafür, was Third Mission bedeutet – und möchten es selber „machen“.

FOTO: CHE/GEMEINNÜTZIGES CENTRUM FÜR HOCHSCHULENTWICKLUNG

Die Bedeutung von „Third Mission“ im akademischen Bereich und warum ihr Stellenwert in Zukunft immer höher werden wird


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FOTO: KARIN WASNER

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Steffi (35) lebt seit 2019 in einem Smart Home. Ihr Mann Lukas hat sich um die technische Umsetzung gekümmert. Wenn sich ihre beiden Söhne im Haus bewegen, schaltet sich das Licht in den jeweiligen Räumen ein. Das Haus lässt sich per App aus der Ferne steuern, zentrale Funktionen löschen im ganzen Haus das Licht oder öffnen die Jalousien. Die Heizung regelt sich in jedem Zimmer automatisch, Luftfeuchtigkeit und CO2-Sättigung hat man jederzeit auf dem Schirm und händisches Lüften gehört der Vergangenheit an. Steffi nutzt auch begeistert die smarte Musiksteuerung


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Vertraut Portugal der Wissenschaft mehr? Das Land mit der höchsten Impfquote in der EU schnitt auch bei der jüngsten Eurobarometerstudie über Wissenschaft erstaunlich gut ab

ährend Portugal in der 2005 durchgeführten Eurobarometerstudie – der Umfrage über Wissen und Ansichten der europäischen Bürger*innen zu Wissenschaft und Technologie – ähnlich wie Österreich einen der hinteren Plätze belegte, rangierte das Land in der Studie von 2021 überraschenderweise auf den vordersten Plätzen. Unter anderem gaben 2005 lediglich 14 Prozent der Befragten an, sich für wissenschaftliche Themen zu interessieren, 2021 sind es bereits 62 Prozent. Damit liegt Portugal fast dreißig Prozent über dem EUDurchschnitt (33 Prozent). Fast die Hälfte der Befragten (49 Prozent) sehe den Einfluss von Wissenschaft und Technologie auf die Gesellschaft als „sehr positiv“. Auch die „Scientific Literacy“, also die naturwissenschaftliche Grundbildung, die in der Studie mit konkreten Wissenschaftsfragen beurteilt wurde, erhöhte sich von zwanzig Prozent im Jahr 2005 auf 59 Prozent. Grund genug zu fragen: Wie kam es zu diesem hohen Anstieg? Und was macht Portugal hinsichtlich Wissenschaftskommunikation anders als der Rest der EU? Die Ergebnisse sind mit Vorsicht zu genießen Während viele ihrer Kolleg*innen über die jüngsten Ergebnisse jubeln, sieht Ana Delicado, Soziologin und Wissenschaftskommunikationsexpertin der Universität Lissabon, die jüngste Eurobarometerstudie zur Wissenschaft kritisch: „Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, wo die Umfrage telefonisch durchgeführt wurde, erfolgte sie in Portugal online. Die Registrierung für Onlineumfragen in Portugal ist immer freiwillig, alle Teilnehmer*innen werden von den Umfrageinstituten für ihre Teilnahme bezahlt. Das heißt, die Zuverlässigkeit der Ergebnisse von Onlineumfragen ist sehr gering“, erklärt die Wissenschaftlerin. 25 Prozent der portugiesischen Bevölkerung seien außerdem keine Internetnutzer*innen und würden von der Umfrage nicht abgedeckt. „Die Mehrheit der Befragten verfügt zudem über einen höheren Bildungsabschluss. Das macht das Sample nicht repräsentativ für die portugiesische Gesamtbevölkerung“, sagt Delicado. Auch das Topergebnis bei den Wissensfragen sieht sie mit Vorbehalt: „Was hält Menschen davon ab, die Antworten der Fragen im Internet zu recherchieren, während sie die Umfrage machen?“ Verlässlichere Umfragedaten über die Einstellung der Portugies*innen zur

TEXT: LISA SCHÖTTEL

Ana Delicado, Wissenschaftskommunikationsexpertin an der Universität Lissabon

Der Großteil der Bevölkerung informierte sich zu Corona über das Fernsehen. Informationen über soziale Netzwerke hielten nur vier Prozent für sehr nützlich

Marta Entradas, Soziologin an der Universität Lissabon und Research Fellow an der London School of Economics

Wissenschaft bietet, laut Delicado, die Studie zu „Science Perception“ des WellcomeInstitutes von 2018. Im Jahr 2020 wurde die Erhebung im Hinblick auf Corona – und wie Corona das Vertrauen in die Wissenschaft verändert hat – wiederholt. „Ich verwende die Studie auch für meine eigene Forschung – die Daten sind zuverlässig“, bestätigt Delicado. Die Umfrage beinhaltet unter anderem Fragen nach dem Vertrauen in Wissenschaftler*innen. Hier liegt Portugal vorne: 34 Prozent schenken den Wissenschaftler*innen „sehr großes“ und 54 Prozent „mittleres“ Vertrauen. Allerdings, so die Soziologin, gehe dieses hohe Vertrauen in die Wissenschaft mit geringem Wissen einher. Delicado: „Das ist paradox, aber Menschen, die über wenig Kenntnisse zu wissenschaftlichen Themen verfügen, können diese auch nicht infrage stellen.“ Das hohe Vertrauen in die Wissenschaft sei daher nicht unbedingt ein guter Indikator, denn es könne bedeuten, dass Menschen nicht genug über Wissenschaft wüssten. Andererseits habe dieses hohe Vertrauen in die Wissenschaftler*innen auch positive Auswirkungen, wie an der hohen Impfquote in Portugal deutlich wird. Corona veränderte das Verständnis von Wissenschaft „Als Corona in unsere Leben trat, spielte Wissenschaft plötzlich eine größere Rolle: Die Menschen beschäftigten sich mehr mit wissenschaftlichen Prozessen und begannen über Wissenschaft zu sprechen“, erklärt Marta Entradas, Soziologin an der Universität Lissabon und Research Fellow an der London School of Economics. In einer öffentlichen Studie untersuchte sie, inwieweit die öffentliche Kommunikation während der Coronakrise das Vertrauen der Portugies*innen in die Wissenschaft beeinflusste. Die Ergebnisse waren überraschend: 87 Prozent stimmten zu, dass die Wissenschaft die Gesundheitskrise lösen würde, 93 Prozent gaben außerdem an, den Wissenschaftler*innen und Forscher*innen in dieser Krise zu vertrauen. Der Großteil der Bevölkerung informierte sich über das Fernsehen. Informationen über soziale Netzwerke hielten nur vier Prozent für sehr nützlich. Damit stießen auch Impfgegner*innen auf wenig Gehör. „In Portugal gab es nie eine starke Antiwissenschaftsbewegung und wenige politische Kräfte, die öffentlich den Klimawandel oder Corona leugnen“, so Ana Delicado. Den Grund für die hohe Impfquote sieht sie

auch kulturell bedingt: „Wenn die Regierung in Portugal sagt, geh dich impfen, dann machen die Menschen das auch.“ Für Marta Entrada war es interessant zu beobachten, wie stark die öffentliche Meinung über Corona mit dem Ton der Informationen der öffentlichen Medien korrelierte. „Es gab während der Coronakrise wenig öffentliche Debatten: Keine Diskussionen darüber, ob Menschen geimpft werden sollten oder nicht, oder welche Vorteile Impfungen bringen. Im Prinzip haben wir viele Dinge, die wir in den letzten Jahrzehnten über Wissenschaftskommunikation gelernt haben, während der Pandemie wieder vergessen.“ Portugals Initiativen in Sachen Wissenschaftskommunikation An auf nationaler Ebene geförderten Projekten zur innovativen Wissenschaftskommunikation mangelt es in Portugal nicht. Vor 25 Jahren begann unter anderem das Programm Ciência Viva („lebendige Wissenschaft“) von Mariano Gago, einem Teilchenphysiker und dem ersten Wissenschaftsminister Portugals. Das Ziel ist die Vernetzung zwischen den Universitäten, der Gesellschaft und den Bildungseinrichtungen. „Viele Wissenschaftler*innen der Universitäten unterstützen diese Institution,“ sagt Delicado. „Sie nehmen an Events teil, organisieren Wissenschaftsmessen und andere Initiativen.“ Zudem müssen Forschungsinstitute in Portugal, wenn sie aus staatlicher Hand gefördert werden, einen Teil der Förderung in Wissenschaftskommunikation investieren. „Das gibt es in vielen Ländern nicht. Egal ob Technik, Geisteswissenschaften oder Medizin, in allen wissenschaftlichen Bereichen werden Veranstaltungen zur Wissenschaftsvermittlung organisiert.“ Mit Corona habe die Wissenschaftskommunikation noch einen weiteren Schub erhalten. „Generell hatten Universitäten mehr Zeit, um Wissenschaftskommunikation zu betreiben“, erklärt Marta Entrada. „Die Institutionen, vor allem jene im medizinischen Bereich, gingen stärker in die Öffentlichkeit und publizierten mehr Material, um ihre Community zu informieren.“ Inwiefern diese Initiativen das Wissen und das Vertrauen in die Wissenschaft der Bevölkerung beeinflusst haben, kann keine der beiden Soziologinnen im Moment sagen, und Delicado meint: „Dafür brauchen wir mehr Studien über Wissenschaftskultur mit zuverlässigen Befragungsmethoden. Seit 1990 wurde hier keine Studie dieser Art durchgeführt.“

FOTOS: UNIVERSITÄT LISSABON, HUGO ALEXANDRE CRUZ

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FOTO: KARIN WASNER

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Karl (69) installierte seine erste Photovoltaikanlage vor etwa 30 Jahren auf dem Dach seines Ferienhauses in der Steiermark, das nicht ans Stromnetz angeschlossen ist. Zur Zeit plant er eine moderne Anlage auf seinem Wohnhaus, um umweltfreundlichen Solarstrom das ganze Jahr über zu nutzen

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Neunmalklug Vorschläge, Thesen und Beispiele, die zu mehr Vertrauen der Menschen in die Wissenschaften führen sollen

„Es braucht eine Kommunikation auf der Höhe der Zeit. Das heißt, angepasst an die jeweiligen Zielgruppen und auf Augenhöhe. Vertrauen zu schaffen dort, wo keines mehr ist, ist ein kleinteiliger, komplizierter und langfristiger Prozess“ REINHARD HEINISCH, POLITOLOGE

„Wissenschaftler*innen haben eine große Verantwortung für die Gesellschaft, die sie aktiv im Sinne eines Austausches wahrnehmen sollen. Um dies zu ermöglichen, muss bei der Bildung angesetzt werden und bei der Politik, die die Wissenschaft ernst nehmen und auch deren Mechanismen berücksichtigen muss“

„Für eine öffentlich finanzierte Forschung muss es ,part of the job‘ sein, die eigene wissenschaftliche Arbeit zu erklären. Die Wissenschaft darf nicht mehr im berühmtberüchtigten Elfenbeinturm verharren“ HEINZ FASSMANN, PRÄSIDENT DER ÖAW

MARTIN GERZABEK, UMWELTTOXIKOLOGE

„Wissenschaft bildet die Grundlage für die Bewältigung künftiger gesellschaftlicher Herausforderungen. Vertrauen in die Wissenschaft ist daher eine Investition in die Zukunft“

„Was meiner Meinung nach in Österreich fehlt, ist wesentlich mehr und breiterer Wissenschaftsjournalismus“ EVA SCHERNHAMMER, EPIDEMIOLOGIN

FRIEDERIKE HENDRIKS, PSYCHOLOGIN

VIKTORIA WEBER, BIOCHEMIKERIN

„In Zusammenhängen wie der Corona-Pandemie ist es besonders wichtig, dass Wissenschaftler*innen möglichst transparent machen, was sie mit welchem Ziel erforschen, welche Fragen sie derzeit oder aber demnächst beantworten können, und auch, was sie nicht wissen“ RAINER BROMME, PÄDAGOGISCHER PSYCHOLOGE

„Eine Studie aus den USA hat gezeigt: Je ähnlicher uns Kommunikator*innen hinsichtlich ihrer Werte sind, desto eher vertrauen wir ihnen“

„Third Mission sind die Aktivitäten, Resultate und daraus entstehende Folgen, die von Hochschulen unmittelbar in die Gesellschaft und Wirtschaft hineinwirken – im Idealfall sogar zu gesellschaftlichen Weiterentwicklungen führen, sowie Strömungen aus der Wirtschaft und Gesellschaft, die ihrerseits in die Hochschulen hineinwirken“

„Das gibt es in vielen Ländern nicht. In Portugal aber werden, egal ob Technik, Geisteswissenschaften oder Medizin, in allen wissenschaftlichen Bereichen Veranstaltungen zur Wissenschaftsvermittlung organisiert“ ANA DELICADO, WISSENSCHAFTSKOMMUNIKATIONSEXPERTIN

ISABEL ROESSLER, THIRD-MISSION-MANAGERIN

: I M P R E SS U M Medieninhaber: Falter Verlagsgesellschaft m. b. H., Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T: 0043 1 536 60-0, E: service@falter.at, www.falter.at; Redaktion: Christian Zillner; Fotoredaktion: Karin Wasner; Gestaltung und Produktion: Raphael Moser, Andreas Rosenthal, Nadine Weiner; Korrektur: Ewald Schreiber; Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau; DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz ist unter www.falter.at/offenlegung/falterverlag ständig abrufbar.

Diese Ausgabe von HEUREKA entstand in einer Kooperation mit der


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