HEUREKA 2/22

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Die Letzten ihrer Art Für Wildtiere wird es extrem eng in Österreich. Tierarten stehen kurz davor, auszusterben Seite 8

AUS DEM FALTER VERLAG

Drei Prozent von Österreich sollen laut Plan wieder Wildnis werden. Gegenwärtig halten wir bei 0,03 Prozent Seite 12

Schwach und selten sind in Österreich die großen Beutegreifer Wolf, Bär und Luchs. Rundum geht’s besser Seite 18

H EU REKA # 2 2022
DAS WISSENSCHAFTSMAGAZIN
FOTO: KAY VON ASPERN Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien, WZ 02Z033405 W, Österreichische Post AG, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien, laufende Nummer 2851/2022 Brauchen wir Wildtiere und Urwald? Wieder Wildnis

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INHALT

Für Wildtiere wird es extrem eng in Österreich Seite 8

Biodiversität bedeutet viele verschiedene Arten von Lebe wesen in einem Land. In Ös terreich ist sie stark gefährdet, Tierarten stehen kurz davor, auszusterben

Kopf im Bild Seite 4

Bernd Nidetzky, Leiter des Instituts für Biotechnolo gie und Bioprozesstechnik der Technischen Universität Graz

Wie man Rotkehlchen glücklich macht Seite 9

Mit Animal-Aided Design sollen Wildtiere ein Zuhause in der Stadt finden

Weit jenseits von allem Wilden Seite 16

Der Fortschritt der Wissen schaften hat uns zu einer neuen Form der Biopolitik geführt

Marginale Gruppen und die Medizin Seite 22

Die Aids-Patient*innenbewegungen machten vor, was auch bei Corona nötig sein wird

Drei Prozent von Österreich … Seite 12

… sollen laut Plan wieder Wild nis werden. Gegenwärtig halten wir bei 0,03 Prozent

Erratum Aufmerksame Leser*innen haben uns darauf hingewiesen, dass es sich im Beitrag auf Seite 12 des vorigen Hefts bei Rindfleisch, Schweinefleisch, Geflügel, Käse, Gemüse und Getreideprodukten um Kilogramm CO2-Äquivalente und nicht um Tonnen handelt.

Schottland soll auch Urwald werden Seite 14

Nach Jahrhunderten Abholzung führen Klimawandel und Profitinteresse zu Aufforstungen

Kulturkampf

Wildnis kümmert in Deutsch land auf rund einem, in Öster reich auf 0,03 Prozent des staatli chen Territoriums vor sich hin, kei ne Rede von „O Wildnis, o Schutz vor ihr“. Wovor sich eine Literatur nobelpreisträgerin fürchtet, ist ur alte Kulturlandschaft. Zivilisation bildet die Mutter aller Schlachten, was Kulturmenschen ängstlich ver drängen, jetzt wieder entsetzt über den Krieg in der Ukraine, obwohl von alters her gilt, dass der Krieg der Vater von allem ist, in diesem Fall eines ukrainischen National bewusstseins und einer stärkeren NATO

Zivilisation und Kultur begin nen mit einem Fingerzeig auf ande res und andere, die Schreibhand ist ebenso Panzerfaust, der Krieg ein Kulturkampf und nicht nur wildes Gemetzel.

Schwach und selten in Österreich Seite 18

Die großen Beutegreifer Wolf, Bär und Luchs leben nur rund um unser Land gut

Zivilisation bedingt den Men schen. Wo er nicht hinkommt, herrscht Wildnis, die menschen leere Natur, die nicht einmal ein Tourist sehen möchte. Der „Größ te Anzunehmende Unfall – GAU“ in Tschernobyl hat für einige Zeit für Wildnis in der Ukraine gesorgt, jetzt kommt das Gebiet mit Photo voltaik und Tourismus wieder zu rück in die Zivilisation – und damit in den Krieg, der ja weltweit stän dig im Gang ist, was die gemütli chen Europäer*innen gern außer Acht lassen. Ihr Kulturkampf gilt immer schon allen Wilden.

ÖAW: Forschung ist Gestaltung der Zukunft

Mit Forschung erklären wir die Ge genwart, interpretieren die Vergan genheit und gestalten die Zukunft. Mit Forschung fördern wir die Wett bewerbsfähigkeit, analysieren soziale und ökologische Probleme und kom men dem Bedürfnis der Menschen nach der Klärung zentraler Fragen nach: Woher kommen wir, was sind wir und wohin gehen wir. Die Geis tes-, Sozial- und Kulturwissenschaf ten leisten dazu genauso wichti ge Beiträge wie Mathematik, Natur wissenschaften und Life Sciences.

Kurz gesagt: Ohne Forschung geht es nicht. Und dennoch muss für jede Investition in die Forschung immer wieder politisch gekämpft werden. Hinter der Forschung stehen keine großen Verbände, keine streikbereiten Berufsgruppen und keine mächtigen Sozialpart ner. Dadurch hat es die Forschung

im politischen Verteilungskampf um knappe Budgets oft schwer. Auch deshalb, weil Politik auf die Heraus forderungen der Gegenwart reagie ren muss. Die aktuelle Zufriedenheit der Wahlberechtigten ist entschei dend für den Ausgang einer Wahl –und nicht die zukünftige.

Dazu kommt, dass die Wissen schaft vielfältig und komplex ist. Es gibt die Universitäten, die Fachhoch schulen, die großen Forschungs träger und Forschungsförderer, aber auch Forschung in Unternehmen

und Industrie. Die einen wollen die themenoffene Grundlagenforschung stärken, die anderen die angewand te Forschung mit einer spezifischen thematischen Ausrichtung im Fokus budgetärer Zuwendungen sehen. Die se Komplexität der Forderungen aus der Forschung macht deren politische Durchsetzbarkeit nicht einfacher.

Deswegen muss die Wissen schaft immer wieder mit geeinter Stimme deutlich machen, dass For schung wesentliche Funktionen für die Gesellschaft erfüllt. Ihre Förde rung muss daher ein zentrales poli tisches Anliegen sein. Davon muss die Forschung nicht nur die Poli tik, sondern auch den Souverän, also die Bürgerinnen und Bürger, im mer wieder überzeugen, indem sie ihren Nutzen und ihren Wert deut lich macht. Sie muss daran erin nern, dass mobile Telefonie, GPS-

Navigation, die Heilung von Krank heiten, auf einer oft jahrzehntelan gen Forschung basieren. Sie muss vermitteln, dass sich Antworten auf die großen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft nur mit hilfe von Forschung finden lassen. Und sie muss klarmachen, dass Forschung zu einem Wissen mit besonderer Qualität führt: überprüf bar, objektiv, allgemeingültig und widerspruchsfrei.

Die Österreichische Akademie der Wissenschaften hat den Auftrag, die Wissenschaft in jeder Hinsicht zu fördern. So steht es im gelten den Bundesgesetz. Das ist ihre Rai son d’Être von Beginn an und seit inzwischen 175 Jahren. Und sie wird sich auch weiter mit aller Kraft für Wissenschaft und Forschung in Österreich einsetzen. Denn For schung ist Zukunft. Für uns alle.

: EDITORIAL FOTO: PETER RIGEAUD FOTOS: HELMUT LUNGHAMMER, KAY VON ASPERN CHRISTIAN ZILLNER
Heinz Faßmann ist Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
INTRODUKTION : HEUREKA 2/22 FALTER 20/22 3 :
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AUS DEM

„Ein reines Chemie- oder Physikstudium wären mir zu eingeschränkt gewesen“, sagt der im Burgenland auf gewachsene Steirer. „In der Verfahrenstechnik hingegen geht es um interdisziplinäre Lösungs ansätze, um so etwas Komplexes wie das Sen ken des CO2-Fußabdrucks einer ganzen Pro zesskette zu bewerkstelligen.“ In seinem Projekt erzeugt er ein Gas aus Biomasse und CO2, das als Ausgangsstoff für verschiedenste chemische Weiterverarbeitungsschritte genutzt werden kann. Etwa um am Ende synthetisches Erdgas, Methanol oder Biotreibstoffe herzustellen. „So kann man nicht nur fossile Kohlenstoffquellen vermeiden, sondern auch klimaschädliches CO2, das bereits vorhanden ist, wieder in eine Kreis laufwirtschaft integrieren.“

Katharina Rauchenwald, 25, Institut f. chemische Techno logien u. Analytik Um das Treibhausgas CO2 in einen wirtschaftlich relevan ten Rohstoff umwandeln zu können, sind biologische oder anorganische Katalysatoren nötig. „Aber genauso wie man Blumensamen sorgfältig verstreuen muss, um möglichst viele Pflanzen heranzuziehen, erzielt man auch hier nur hohe Umwandlungsraten, wenn die kata lytischen Zentren fein verteilt und gut zugäng lich auf einem passenden Trägermaterial verteilt sind.“ An diesem arbeitet sie. „Es sind kerami sche Werkstoffe, denn diese halten hohen Tem peraturen und Chemikalien stand. Die Formge bung für Filter- und Katalyseanwendungen ist jedoch eine Herausforderung.“ Sie setzt dabei eine neue Methode namens „Ice-Templating“ ein. „Dabei werden präkeramische Lösungen im gefrorenen Zustand in Form gebracht.“

Enzyme

„Ich habe eine karriereüberdau ernde Faszination für Enzyme“, sagt Bernd Nidetzky. „Ich frage mich, wie sie es schaffen, so fan tastische Katalysatoren zu sein.“ Katalysatoren sind Stoffe, die die Geschwindigkeit einer che mischen Reaktion beeinflussen, ohne dabei selbst verbraucht zu werden. Für seine Grundla gen- und angewandte Forschung zu Enzymen wurde der Leiter des Instituts für Biotechnolo gie und Bioprozesstechnik der TU Graz nun als einer von weni gen europäischen Forschenden mit dem Elmer L. Gaden Award des US-Journals Biotechnology and Bioengineering ausgezeich net. Das hat den Biotechnologen gleichermaßen überrascht wie erfreut: „Ich habe mich dafür ja nicht ins Spiel gebracht, aber es ist eine schöne Bestätigung der eigenen Arbeit, in so einer hoch karätigen Runde an internatio nalen Kolleg*innen aufzuschei nen.“ Nidetzkys Schwerpunkt in Zusammenhang mit bio katalytischer Synthese, synthe tischer Biologie und Reaktions technik liegt auf kohlenhydrat aktiven Enzymen sowie auf Enzymen, die an festen Grenz flächen arbeiten.

„Obwohl Entwicklungsländer am wenigsten zum Klima wandel beitragen, leiden sie am meisten unter sei nen Auswirkungen“, sagt die Mosambikanerin.

„Meine Hauptmotivation bei der Erforschung alternativer Verfahren zur Verringerung von CO2-Emissionen ist es, dass Länder wie mein Herkunftsland einmal ohne Hindernisse wach sen können.“ Ihr Schwerpunkt ist die Simula tion und Analyse von Prozessen, auf die ande re Forschende im interdisziplinären Doktorats kolleg ihren Fokus richten: CO2-Aktivierung oder die Umwandlung von CO2 zu Kraftstoffen und Chemikalien. „So kann ich die Umweltaus wirkungen ihrer Konzepte noch in der Entwurf sphase bewerten und die besten Rahmenbedin gungen für die Prozesse vorschlagen.“

: KOPF IM BILD TEXT: USCHI SORZ FOTO: HELMUT LUNGHAMMER
Florian Müller, 28, Institut f. Verfahrenstechnik, Um welttechnik u. technische Biowissenschaften
Diana Dimande, 25, Institut f. Verfahrenstechnik, Um welttechnik u. technische Biowissenschaften USCHI SORZ
4 FALTER 20/22 HEUREKA 2/22 : PERSÖNLICHKEITEN
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Was tun mit dem CO 2 ? Im interdisziplinären Doktoratskolleg „CO2Refinery“ der TU Wien arbeiten diese drei Doktorand*innen an Methoden, um es klimafreundlich zu verarbeiten FOTOS: PRIVAT, LAURA FLADNITZER

MARTIN HAIDINGER

: HORT DER WISSENSCHAFT

Klimapositiv Zurück zur – ähh?

Diesmal war eine positive Nach richt geplant – nicht zuletzt, weil dringend nötig. Beispielsweise eine Aufzählung der SDGs, deren Er reichung wir näherkommen. Die gibt es tatsächlich, auch wenn der Fortschritt der meisten Ziele als „moderat“ eingestuft wird. Des halb geht es heute darum: Was ist „positiv“ in Klimafragen?

Bereits in meinen letzten Texten habe ich argumentiert, dass die Unabwendbarkeit der Klimakrise weitgehend akzeptiert werden muss. Was nützt es uns, belegbar unerreichbare Ziele aufzustellen?

Das 1,5°C-Ziel ist kein Narrativ, hinter dem man Menschen vereint. Schon weit empathischere Versu che sind gescheitert. Nicht jedem Menschen tut ein Eisbär leid, und nicht jedem andere Menschen. Es ist inakzeptabel, dass ein gewis ser Teil der Menschheit das Le ben für einen anderen erschwert bis verunmöglicht. Doch die Häufung von Schreckensmeldungen und die Geschwindigkeit von Änderungen korrelieren schlecht. Das bedeutet jedoch nicht, dass jeglicher Fort schritt stagniert.

Irrationale Ziele nähren Zynis mus und Lethargie. Stephen Pinker und vor nicht allzu langer Zeit der US-Late-Night-Host Bill Maher beschreiben eine „progressopho bia“ – die Unfähigkeit, Fortschritt zu sehen. Ich denke, dass Sor ge und Skepsis irgendwo zwischen berechtigt und notwendig stehen.

In Anbetracht der Komplexität und Größenordnung der Herausforde rung ist „moderat“ jedoch nicht zwingend schlecht – so verschwen derisch und ineffizient wir auch sein können.

Ernüchternd und erfrischend zu gleich sind die Ausführungen des Wissenschaftlers Vaclav Smil, der zuletzt in einem Interview mit der New York Times ausführt, wie die Technik einen Übergang von Koh le über Öl hin zu Gas, Atomener gie und erneuerbaren Energiequel len ermöglicht und parallel dazu die Prozesse effizienter gestaltet hat. „Our engineers are not asleep“, so Smil. Aber: Es braucht Nach schub. Viel Nachschub. Und Un terstützung: Finanziell sowie von einer Bevölkerung, die, sofern sie kann, beiträgt – die reine Erwar tung und Notwendigkeit techno logischer Lösungen kann und soll keine Generalabsolution darstellen. Disruption ist nötig, Innovation besser als nichts. Positiv? Moderat.

Wenn ich früher an „österreichi sche Natur“ dachte, fiel mir immer der liebe Sepp Forcher mit dem „Klingenden Österreich“ ein, doch vollkommen zu Unrecht. Denn abgesehen davon, dass unsere aus triakischen alpinen Gegenden in den letzten 150 Jahren schon eine wechselvolle identitätspolitische Karriere als „deutsche Berge“ und „deutschösterreichische Berge“ hin ter sich haben, handelt es sich bei den Wiesen, Almen, Tälern, die der wackere Sepp durchstapfte, ja mit nichten um Natur-, sondern um jahrtausendealte Kulturlandschaf ten, die von Menschenhand gehegt, gepflegt und teilweise auch zer stört wurden. Der Anteil unberühr ter Natur liegt hierzulande bei un ter einem Prozent, und manchmal habe ich das Gefühl, dass sich das vor allem auf meinen Vorgarten be zieht – aber lassen wir das Persön liche weg und steigen hinauf in die Sphären der Geistesaristokratie:

Der alte J.-J. Rousseau hat nie mals „Zurück zur Natur!“ gefor dert, obwohl ihm das bis heute un terstellt wird, weil einem französi schen Philosophen, der alle seine Kinder unbarmherzig ins Findel haus abgeschoben hat, um mehr Zeit für seinen literarischen Kram zu haben, wahrscheinlich so ziem lich alles zuzutrauen ist. Was er uns hingegen sehr wohl nachweis lich eingebrockt hat, ist die „volon

té générale“, das Gemeinwohl, an dem wir seitdem herumbasteln und das immer wieder einmal an der repräsentativen Demokratie vorbei in seinen Zerrbildern als „gesundes Volksempfinden“ oder „klassen lose Gesellschaft“ vorkommt. Mit der freundlichen Natur des Men schen haben diese diktatorischen Vorstellungen wenig zu tun, nur gibt es schon Beispiele dafür, dass jene, die sich für die Vollstrecker irgendeines selbstangemaßten „Ge meinwillens“ halten, einstmals blü hende Kulturgegenden in öde Wüs teneien verwandelt haben. Zum Beispiel die Ukraine. Zunächst von Lenin und Stalin durch mut willige Hungersnöte ihrer Einwoh ner entledigt, dann von Hitler mit Krieg und Massenmord traktiert und nunmehr von russischen und tschetschenischen Banden „ent nazifiziert“. Was wird von diesem Gebiet und seinen Menschen nach Putins Verheerungen übrig bleiben? Eher eine Mond- denn eine Kultur landschaft, steht zu befürchten.

Dann schon lieber sanfte ökologi sche Rückbauten wie bei uns! Üble Bodenversiegelung weiche idylli schen Wiesen, und in den Auland schaften möge es quaken und zirpen. Vielleicht bringen uns ja dann auch die Radlrikscha-Konvois das heiß ersehnte Flüssiggas aus den Arabi schen Emiraten, das wir so dringend für unsere Feuerzeuge brauchen.

FLORIAN FREISTETTER

: FREIBRIEF

Schlaues Kind

Es gibt jede Menge Initiativen, um Kindern und Jugendlichen die Wissenschaft näherzubringen. Was man aber bei diesen löblichen Pro jekten nicht vergessen darf, ist die Erwachsenenbildung. Wenn man eine informierte Gesellschaft ha ben möchte, die in der Lage ist, vernünftige Entscheidungen für die Zukunft zu treffen, kommt es auch auf die älteren Menschen an. Und wir wollen ganz dringend eine solche Gesellschaft haben.

Wie es aussieht, wenn das nicht der Fall ist, konnten und können wir gerade im Zuge der Covid19-Pandemie beobachten, die länger dauert, als sie müsste, und mehr Opfer gefordert hat, weil sich zu viele aus Unwissen oder Ab lehnung wissenschaftlicher Er kenntnisse nicht an den vernünf tigen Maßnahmen zur Pandemie bekämpfung beteiligt haben.

Corona ist eine geringe Herausfor derung, verglichen mit der Klima krise. Wie sollen wir das mit dem Klima auch nur ansatzweise in den Griff bekommen, wenn es für vie le Menschen schon eine Zumutung darstellt, eine Maske zu tragen? Antwort: Gar nicht.

Das wird sich erst ändern, wenn eine ausreichend große Anzahl von uns verstanden hat, womit wir es zu tun haben. Die Kinder und Jugendlichen sind hier eher nicht das Problem, die sind da schon weiter als die Erwachsenen. Abge sehen davon ist es auch vergleichs weise leicht, den Kindern etwas beizubringen. Sie müssen ja in die Schule gehen, und ausreichend gut ausgestattete Schulen und sinnvol le Lehrpläne vorausgesetzt, wer den die meisten auch ausreichend gebildet ihr Erwachsenenleben beginnen.

Im Gegensatz dazu müssen Erwachsene nicht mehr lernen, zu mindest nicht per Gesetz. Erwach sene sind auch schon viel festgefah rener in ihren Ansichten als Kin der. Erwachsene sind es aber auch, die Entscheidungen für alle treffen. Jede Initiative, die sich eine infor mierte Gesellschaft wünscht, soll te sich also auch um die Erwachse nenbildung Gedanken machen. Hier braucht es niederschwellige Ange bote; Strukturen wie die Volkshoch schulen müssen gestärkt und attrak tiver gemacht werden. Die Zukunft gehört zwar den Kindern, aber die Welt wird sich nur dann zum Posi tiven ändern, wenn wir alle zusam men schlauer werden.

KOMMENTARE : HEUREKA 2/22 FALTER 20/22 5 :
ZEICHNUNG (AUSSCHNITT)
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NACHRICHTEN AUS FORSCHUNG UND WISSENSCHAFT

Seiten 6 bis 9

Wie Wissenschaft in unsere alltäglichen Lebensumstände eingreift und sie verändert

In Wien nehmen Hitzetage und Tropennächte zu. Das setzt ältere Personen im Sommer unter Stress – ihre Sterberate steigt

„In Wien nimmt die Zahl der älte ren Menschen zu, gleichzeitig bringt der Klimawandel vermehrt Hitzetage und Tropennächte“, erklärte der De mograf Erich Striessnig bei einer vom Wittgenstein Centre organi sierten Pressekonferenz. Das Zusam menfallen dieser Trends entspreche dem zeitgleichen Zufahren von zwei Schnellzügen auf eine Weiche.

scher: „In Zukunft erwarten wir aber eine Übersterblichkeit im Som mer.“ Dann müssen auch Ärzt*innen und Spitäler in Wien mit erhöhtem Patient*innenaufkommen rechnen.

Die anhaltende Verbauung ver stärke laut Striessnig das Problem:

Nash und Pareto vereint

Birgit Rudloff: Neue Zusammen hänge in der Finanzmathematik

Vorhersagen, wie sich Wertpapiere entwickeln, kann niemand mit Ge wissheit. Hinter der Frage, wie man ein Risiko minimiert und zugleich die Rendite maximiert, stecken kom plexe Berechnungen. Mit solchen be schäftigt sich Birgit Rudloff. Sie ist

Lkw statt Speicherkraftwerke

Elektro Lkws können auf Bergstraßen Wasserkraftstrom generieren

In den Alpen, Anden und am Hi malaya könnten in Zukunft selbst fahrende elektrische Lkw steile Berg straßen hinauf- und hinuntertin geln und dabei Wasserkraft in elek trischen Strom umwandeln, meint Julian Hunt vom Internationalen Institut für Angewandte Systemana lyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien.

Oben am Berg würden die Last kraftwagen dazu mit Wasser gefüllte Container laden, bei der Talfahrt mit der potenziellen Energie des Was sers Akkus aufladen und den so ge nerierten Strom unten im Tal ins Netz speisen.

In vielen Fällen wäre dies um weltfreundlicher als Speicherkraft werke. Denn es bräuchte dazu nur eine kleine Anlage am Berg, um das Wasser aus den Bächen und Flüs sen in Container zu leiten, schrieben Hunt und Kolleg*innen in der Fach zeitschrift Energy. Im Tal würde man das Wasser langsam in die Gewäs ser zurückführen. Zusätzlich wäre ein Stromnetzanschluss vonnöten.

Die Lkw sollten nur bestehende Straßen nutzen, damit keine neuen gebaut werden müssen. Sie könn ten flexibel unterschiedliche Berge ansteuern, je nachdem, wo gerade viel Wasser fließt. Weltweit wären auf diese Art jährlich 1,2 Billiarden Wattstunden Strom erzeugbar, rund fünf Prozent des globalen Strom verbrauchs. Bergstraßen-Lkw-KW Strom würde etwa 27 bis 91 Euro pro Megawattstunde (MWh) kosten und wäre damit um die Hälfte güns tiger als Stau-KW-Strom, berechne ten die Forschenden.

Während sommerlicher Hitze perioden wird es zu mehr Kranken hausaufenthalten, aber auch Todes fällen bei älteren Menschen kom men, hat er mit Kolleg*innen be rechnet. Ein Team um Striessnig und Roman Hoffmann vom Insti tut für Demographie der ÖAW un tersuchte mit statistischen Verfah ren, wie sehr klimatische Schwan kungen und Extreme unterschiedli che Bevölkerungsgruppen treffen. In der Vergangenheit sind ältere Men schen häufiger in der kalten Jah reszeit gestorben, erklären die For

Erich Striessnig, Österreichische Akademie der Wissenschaften

„So werden potenzielle Hitzeinseln immer größer“. In einem Extrem szenario mit anhaltend starker Ver siegelung könnte sich in den kom menden Jahrzehnten sogar eine riesi ge Hitzeinsel von Wien bis Bratislava bilden. „Die älteren Menschen wären dann an den kritischen Tagen wie in einem Hitzekessel eingeschlossen.“

Professorin am Institut für Mathe matik und Statistik der Wirtschafts universität (WU) Wien und Expertin für dynamische Optimierungspro bleme mit mehrdimensionaler Ziel funktion. „Dabei spielen mehrere, ei nander oft widersprechende Kriterien eine Rolle“, erklärt sie. „Wenn man sich bezüglich eines Kriteriums nur verbessern kann, indem man sich in einem anderen verschlechtert, nennt man dies Pareto-Optimum.“ Bei der Preisbildung wiederum ist das aus der Spieltheorie bekannte NashGleichgewicht ein guter Ansatz. Es beschreibt eine Strategie, bei der niemand einseitig abweichen kann, ohne sich zu verschlechtern.

In der Stratosphäre wird Ozon weniger, in bodennahen Luftschichten mehr – das führt zu massiver Meereserwärmung am Südpolar

JOCHEN STADLER

In der Stratosphäre 15 Kilometer über der Erdoberfläche schützt eine Ozonschicht die Lebewesen am Bo den vor schädlicher UV-Strahlung. Sie wurde durch mittlerweile verbo tene Fluorkohlenwasserstoff-Treib gase (FCKWs) verringert, auch Lach

der BOKU Wien. Bodennahes Ozon reichert sich durch die von Menschen erzeugten Emissionen von Stickoxi den und anderen Gasen an. Diese werden bei Sonneneinstrahlung in Ozon umgewandelt.

Die beiden Konzepte galten jahr zehntelang als verschieden. Nun hat Rudloff gemeinsam mit einem Kol legen aus den USA gezeigt, dass sie unter bestimmten Voraussetzungen übereinstimmen. „Das war überra schend und hat zur Folge, dass man künftig Methoden und Algorithmen der Pareto-Optimierung auf NashGleichgewichte anwenden kann.“

gas aus Düngemitteln und der Tier haltung setzen ihr zu. In bodennahen Schichten der Troposphäre wiederum ist Ozon ein potentes Treibhausgas.

„Nur Kohlendioxid und Methan haben noch stärkere Auswirkungen auf die globale Erwärmung“, erklärt Ramiro Checa-Garcia vom Institut für Meteorologie und Klimatologie

Ein Team um Wei Liu von der University of California Riverside, dem auch Checa-Garcia angehörte, berechnete, wie sehr sich die oben wie unten veränderten Ozonverhält nisse auf die Ozeane auswirken. „Un sere Studie, in Nature Climate Change veröffentlicht, ergibt, dass Ozon drei ßig Prozent der Erwärmung des Süd polarmeeres und angrenzender Oze anregionen erbringt.“ Sechzig Pro zent davon sind auf den Anstieg der Mengen von Ozon in der Tropo sphäre zurückzuführen, vierzig Pro zent auf den Schwund in der Stra tosphäre. Das Meer hat seit den 1950er-Jahren pro Jahrzehnt meh rere Trilliarden Joule Wärmeenergie aufgenommen.

Darüber hinaus konnte die Ma thematikerin neue Erkenntnisse zur Berechnung des systemischen Risi kos eines Bankennetzwerks sowie zur zeitlichen Konsistenz bei dyna mischen Optimierungsproblemen präsentieren. „Eine Entscheidung ist zeitkonsistent, wenn sie nicht nur im Moment, sondern auch zu einem späteren Zeitpunkt noch opti mal ist.“ Effizient lässt sich das mit hilfe des so genannten BellmannPrinzips berechnen: „Man teilt ein großes, mehrere Zeitperioden umfas sendes Problem in kleine Ein-Perio den-Probleme und löst es rückwärts in der Zeit.“ Eindimensional ist das gut erforscht, Rudloffs Gruppe konn te jetzt ein ähnliches Prinzip sowie Zeitkonsistenzkonzept für mehr dimensionale Probleme vorlegen.

JOCHEN STADLER JOCHEN STADLER USCHI SORZ Birgit Rudloff, Wirtschaftsuniversität Wien
Der Klimawandel: Durch seinen Einfluss sterben im Sommer vermehrt ältere Leute
Ozon-Veränderungen in der Atmosphäre heizen das Polarmeer auf
Ramiro Checa Garcia, BOKU Wien
6 FALTER 20/22 HEUREKA 2/22 : NACHRICHTEN FOTOS: MARIO BAUMGARTNER, PRIVAT
:
: MATHEMATIK

Ab 1. Oktober gilt an Österreichs Universitäten das neue Studienrecht

Mit Start des WS 2022/23 ändert sich einiges für Studierende. Das liegt nicht nur an der Mindeststudienleistung, die ab jetzt erbracht werden muss

Ab 1. September wird die Studienbeihilfe erhöht und vereinfacht. Besondere Erleichterungen gibt es für ältere Studierende

Mit 1. Oktober tritt die im Vorjahr beschlossene Novelle des Univer sitätsgesetzes (UG 2021) vollstän dig in Kraft. Das betrifft vor allem die Änderungen des Studienrechts –unter anderem die Mindeststudi enleistung, wodurch innerhalb von vier Semestern zumindest 16 ECTS Punkte zu erbringen sind. Das um fasst aber auch die Möglichkeit, zu Studienende ein „Learning Agree ment“ mit der Universität bzw. Pä dagogischen Hochschule (PH) abzu schließen, oder auch den Entfall der Nachfrist.

Der Start des WS 2022/23 bringt aber auch die Ausweitung der Aner kennung mit sich. Nun können auch berufliche oder außerberufliche Qua lifikationen in einem Umfang von

bis zu sechzig ECTS-Punkten an erkannt werden, wenn die jeweilige Universität bzw. PH ein entsprechen des Verfahren dafür vorsieht. Zudem gilt ab dann die Beweislastumkehr: Dadurch müssen die Unis bzw. PH selbst belegen, wieso sie anderswo erbrachte Studienleistungen nicht anerkennen.

Dabei ist eine neue Frist zu be achten: Vor der Zulassung absolvierte Lehrveranstaltungen oder Prüfungen müssen bis Ende des zweiten Semes ters beantragt werden. Studierende, die sich ab Herbst im dritten Semes ter oder höher befinden und die frü her erbrachte Studienleistungen aner kannt haben möchten, müssen daher bis 30. September den entsprechen den Antrag dafür einbringen.

Bei Extremwetterlagen wie Starkregenfällen wären große Gebiete in Österreich von gewaltigen Erdrutschen bedroht

Im Juni 2009 gab es im Alpenvor land der Südoststeiermark nach star ken Regenfällen mehr als 3.000 Erd rutsche. Ein Sommer wie damals kann sich wiederholen und wür de eine um fast die Hälfte größere Region betreffen, wenn der Klima

das Risiko einschränken. Bei fort schreitendem Klimawandel steigen die Durchschnittstemperaturen bis zum Ende des Jahrhunderts welt weit um rund vier Grad Celsius an. Bei Extremwetterlagen wie 2009 wäre das betroffene Gebiet dann um bis zu 45 Prozent größer, so die Forschen den im Fachmagazin Communications Earth and Environment.

wandel ungebremst weiterläuft, be richtet Douglas Maraun vom Wege ner Center für Klima und Globalen Wandel der Universität Graz mit Kolleg*innen.

Nur wenn man die globale Er wärmung deutlich mindert und zu sätzlich die Wälder in Gefahrenregi onen mit besser „klimaangepassten“ Baumarten aufforstet, könnte man

Selbst wenn die Klimaziele von Paris erreicht werden und die Erder wärmung im Vergleich zum vorin dustriellen Niveau „nur“ eineinhalb Grad beträgt, wären zehn Prozent zu sätzliche Flächen betroffen. Deshalb wäre es wichtig, dass man in den ge fährdeten Gebieten landwirtschaftli che Flächen und Fichtenwälder durch widerstandsfähige Mischwälder er setzt. Bei einem moderaten Tempe raturanstieg von eineinhalb Grad Cel sius plus solcher Aufforstung könnte man das Erdrutschrisiko zumindest auf dem heutigen Niveau halten, er klärt Maraun.

Erst die Corona-Pandemie, dann der Ukraine-Krieg: Studierende tref fen die derzeitigen Teuerungen be sonders hart. Um sie zu unterstüt zen, liegt dem Parlament eine Reform der Studienbeihilfe zur Abstimmung vor. Sie sieht die Erhöhung der Studi enbeihilfe um bis zu zwölf Prozent ab 1. September vor. 22 Millionen Euro zusätzlich nimmt das Bundesminis terium für Bildung, Wissenschaft und Forschung allein heuer dafür in die Hand, 2023 sind es 68 Millionen Euro zusätzlich.

Mit der Erhöhung der Studienbei hilfe geht auch die Vereinfachung des bisherigen Berechnungsmodells ein her. Anstelle von einer Höchstbeihilfe bestimmte Beträge abzuziehen, geht man in Zukunft von einem Grundbei

trag von 335 Euro aus, zu dem man je nach Lebenssituation bestimmte Be träge hinzurechnet, zum Beispiel ei nen Wohnkostenbeitrag oder einen Kinderzuschlag. Das macht die Be rechnung für die Betroffenen einfa cher und damit nachvollziehbarer.

Erleichterungen gibt es auch für ältere Studierende. Sie erhalten ein facher Zugang zu einem Stipendium nach Selbsterhalt, auch wenn sie zu vor bereits Studienbeihilfe bezogen haben. Darüber hinaus wird die Al tersgrenze bei Studienbeginn um drei Jahre (von 30 auf 33 bzw. für Son derfälle von 35 auf 38 Jahre) hinauf gesetzt. Unverändert bleiben die An spruchsvoraussetzungen– insbeson dere der notwendige Nachweis eines günstigen Studienerfolgs.

Bequeme Menschen der Frühzeit: Statt auf Weitwandern setzten sie auf Regionalität

Vor 12.000 Jahren, nach dem Ende der letzten Eiszeit, hörte das Weitwandern der Menschen in Afrika allmählich auf

Mit dem Ende der „letzten Eiszeit“ vor 12.000 Jahren ließen die Men schen in Afrika das Weitwandern bleiben und machten es sich gemüt lich, wo sie gerade waren, fand ein in ternationales Forscherteam mit öster reichischer Beteiligung heraus.

„Die Proben sind das älteste Erbgut aus Afrika, das bislang sequenziert wurde“, erklärt er. Der Vergleich mit der DNA von weiteren 28 menschli chen Überresten vom ganzen Konti nent legte den Forschenden Facetten ihrer Lebensumstände nah.

Ron Pinhasi vom Department für Evolutionäre Anthropologie der Uni versität Wien ist Spezialist für das Sequenzieren „uralten Erbguts“ (an cient DNA). Zusammen mit Mary Prendergast und David Reich von der Harvard Medical School in Bos ton sequenzierte er DNA von sechs Ostafrikaner*innen, die vor 5.000 bis 18.000 Jahren gelebt hatten.

Bei den sechs Individuen erkann ten sie drei alte Herkunftslinien aus weit auseinanderliegenden Regionen: aus Ostasien, Südafrika und den Re genwäldern Zentralafrikas. Demnach wären ihre Vorfahren vorerst weite Strecken gewandert und hätten sich mit verschiedensten anderen Gruppen vermischt, erklären die Forschenden im Fachjournal Nature. Bei milder werdendem Klima vor rund 12.000 Jahren sei jedoch eine „verstärkte Re gionalisierung“ zu beobachten, erklärt Pinhasi. Die Menschen suchten ihre Partner*innen eher im lokalen Um feld. Es begann damals eine „große kulturelle Wende mit Perlen, Farb stoffen und symbolischer Kunst, die ganz Afrika durchzog“.

Im Alpenvorland steigt die Erdrutschgefahr durch den Klimawandel massiv
Im Herbst erhöht sich die Studienbeihilfe um bis zu zwölf Prozent
NACHRICHTEN : HEUREKA 2/22 FALTER 20/22 7
: KLIMAFORSCHUNG : UNIVERSITÄTSGESETZ :
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FOTOS: HEIKE MARIE KRAUSE, URSULA GERBER

Für Wildtiere wird es extrem eng

Würde man alle Wirbeltiere der Erde in Menschen, Nutztiere und in Wildtiere einteilen, machen die Wildtie re global gesehen nur noch drei Prozent aus – Menschen hingegen dreißig und un sere Nutztiere sogar sechzig Prozent. Als Wildtiere werden jene Tiere bezeichnet, die der Mensch nicht als Nutztiere verwendet. Sie stehen durch die Biodiversitäts- und Klimakrise enorm unter Druck.

„Die Biodiversitätskrise nimmt leider erschreckende Ausmaße an. Von den 71 nach EU-Recht in Österreich geschützten Lebensräumen (nach der Flora-Fauna-Ha bitat-Richtlinie) sind nur 18 Prozent in einem günstigen Erhaltungszustand“, er zählt Johannes Rüdisser vom Institut für Ökologie der Universität Innsbruck. Die Zerstörung artenreicher Lebensräume führt zu einem Rückgang an Biodiversi tät. Viele Farn- und Blütenpflanzen, Pilz arten und sogar mehr als die Hälfte der Wildtierarten gelten als gefährdet.

Ein Beispiel für ein akut bedrohtes Wir beltier ist die Bayerische Kurzohrmaus. Die nur in Österreich und Deutschland heimische Art ist vom Aussterben be droht. „Es gibt nur noch wenige Indivi duen. In Deutschland gilt sie schon als ausgestorben“, sagt Rüdisser. Aber nicht nur der Verlust seltener Arten, auch der Rückgang häufiger Arten ist ein Problem.

„Auf die Biodiversität wirkt der Flächen verbrauch durch den Menschen sehr pro blematisch. Wir verbrauchen in Österreich durch Bautätigkeit täglich 13 Hektar, also 18 Fußballfelder, an Grund und Boden“.

Hohe Biodiversität – viele Arten mit großer genetischer Vielfalt – ist wichtig. „Gibt es in einem Wald viele verschiedene Baumarten, kann er sich besser an Verän derungen anpassen. Stehen im Wald nur Fichten und wird es diesen zu warm oder zu trocken, kann es leicht zu einem mas senhaften Schädlingsbefall kommen“, er klärt Rüdisser.

Schutzzonen können helfen, sind aber noch zu klein

In den letzten Jahren wurden Maßnahmen gesetzt, um der Biodiversitätskrise entge genzuwirken. Doch das derzeit bestehen de System der Schutzgebiete in Österreich ist relativ klein und liegt bei etwa 15 Pro zent der Gesamtfläche (weitere elf Prozent sind Landschaftsschutzgebiete, die aber nur wenig für den Biodiversitätsschutz leisten). Nur 2,6 Prozent sind streng ge schützt: Nationalparks und Wildnisgebie te, in denen der Mensch keinen Einfluss

nimmt. „Wenn wir unsere Biodiversität er halten wollen, sollten aber mindestens drei ßig Prozent der Fläche geschützt werden, davon zehn Prozent streng. Ganz wichtig ist auch, dass diese Schutzgebiete durch Kor ridore miteinander verbunden sind“, sagt Bernhard Kohler vom WWF

Was den wirksamen Schutz künftig schwieriger machen wird, ist der Klima wandel, weil sich durch ihn das Verbrei tungsgebiet der Wildtiere verschiebt. „Are ale, die für bestimmte Tierarten eingerich tet wurden, werden bald nicht mehr aktuell sein.“ Deshalb sei es wichtig, zusätzliche Schutzgebiete so einzurichten, dass sie auch mögliche Verschiebungen berück sichtigen. „Es ist eine große Herausfor derung, zu wissen, wo heute bestimmte Arten leben, und abzuschätzen, wohin sie ausweichen werden“, so Kohler.

Aufgrund des Temperaturanstiegs wer den im Westen Österreichs die Tiere weiter in die kälteren Regionen der Berge wan dern. Im Osten des heißen pannonischen Tieflands, wo das Wasser knapper wird, werden Arten aussterben und andere zu ziehen, erklärt Kohler.

So ist es dem Seesaibling im Lunzer See ergangen. Seesaiblinge kommen in Ge birgsseen der Alpen und in Skandinavien vor. Die heutigen Bestände gehen auf die Eiszeit zurück, sie brauchen niedrige Was sertemperaturen und sehr sauberes Was ser. Wird ein See zu warm, kann es pas sieren, dass konkurrenzkräftigere, wärme liebende Fische einwandern. Im Lunzer See ist das Eiszeitrelikt Seesaibling aus gestorben. Es existiert nur mehr in einer Fischzuchtanstalt.

Strenge Schutzgebiete ohne menschli che Landnutzung sind als Rückzugsräu me wichtig. In solchen Gebieten, etwa im Wildnisgebiet Dürrenstein, gibt es viele alte und umgefallene Bäume, Räume für totholzgebundene Käfer, Pilze oder Schne cken, die in einem bewirtschafteten Wald nicht vorkommen. Viele Totholzorganis men sind an besonders starke Bäume ge bunden sowie an die Mikrolebensräume von knorrigen alten Bäumen. In bewirt schafteten Wäldern werden Bäume mit 140 Jahren abgeholzt – zur optimalen Nut zung für den Menschen.

Irgendwann ist die Flucht in die Höhe auch zu Ende Wegen der steigenden Durchschnittstempe raturen verlagern die Alpentiere ihr Verbrei tungsgebiet in höhere Lagen – aber diese Möglichkeit ist begrenzt. „Das beobachten

wir etwa bei der alpinen Schmetterlingsart Palpenfalter. Er braucht bestimmte Pflanzen und kann nicht höher steigen, da diese dort nicht mehr vorhanden sind“, erzählt André Stadler, Direktor des Alpenzoos Innsbruck.

„In den letzten Jahren haben wir beobach tet, dass sich die Schneehühner früher von Weiß auf Braun umfärben, da der Schnee schneller schmilzt. Besonders bemerkbar macht sich dies im Herbst bei verspätet einsetzendem Schneefall. Auch kommen Lawinen immer öfter. Das bringt die Gäm sen in Gefahr. Der Alpenzoo Innsbruck hat die Pflicht, Menschen aufzuklären. Irgend jemand muss die Geschichte erzählen. Hier im Zoo können wir Menschen gut errei chen. Ich sehe mich in der Umweltbildung“, betont Stadler. „Außerdem arbeiten wir an vielen Artenschutzprojekten, wie beispiels weise dem Gänsegeier, Bartgeier, Steinbock, oder Waldrapp.“

Trotz Windräder brüten wieder prächtige Adler hier

Um dem Klimawandel entgegenzuwirken, setzte der Mensch auch auf Windkraft. In wieweit beeinflussen die imposanten Gebil de unsere Wildtiere? „Bevor ein Windpark oder ein Windrad aufgestellt werden kann, muss zuvor eine Umweltprüfung durchge führt werden. Etwa eine ein- bis zweijäh rige Vogeluntersuchung, um herauszufin den, welche Vögel in der Umgebung vor kommen und in welchem Radius sie sich bewegen. Falls Arten vorkommen, die auf der roten Liste stehen, dürfen keine Wind räder gebaut werden“, versichert Martin Jaksch-Fliegenschnee von der IG Windkraft.

Ähnliche Untersuchungen werden für Fledermäuse durchgeführt. Untersuchungen an Wildtieren wie Reh, Hase oder Fuchs zeigten, dass sie von Windrädern nicht ge stört werden. Wenn Arten durch die Wind räder gefährdet sind, werden Maßnahmen entwickelt. „Beispielsweise wird der Fuß der Windräder bemalt, damit Birkwild, dessen optische Sinne nicht gut ausge prägt sind, das Windrad besser sieht“, er klärt Jaksch-Fliegenschnee.

Dass ein Zusammenspiel zwischen Wildtieren und Windrädern funktionie ren kann, zeigen zwei Greifvogelarten. Der Seeadler und der Kaiseradler waren in Österreich ausgestorben, brüten aber seit einiger Zeit hier wieder – in Gebieten, wo Windkraft besonders stark ausgebaut wur de, wie im Weinviertel und im Burgenland. „Trotzdem ist die Population dieser beiden Greifvogelarten in den letzten Jahren ange wachsen“, freut sich Jaksch-Fliegenschnee.

„Der Alpenzoo Innsbruck hat die Pflicht, Menschen aufzuklären. Jemand muss die Geschichte erzählen“
ANDRÉ STADLER, DIREKTOR DES ALPENZOOS INNSBRUCK
Biodiversität bedeutet viele verschiedene Arten von Lebewesen in einem Land.
In Österreich ist sie stark gefährdet, Tierarten stehen kurz davor auszusterben
Johannes Rüdisser, Universität Innsbruck
8 FALTER 20/22 HEUREKA 2/22 : NACHRICHTEN : BIODIVERSITÄTSFORSCHUNG
FOTOS: TARGET GROUP / FRANZ OSS, PRIVAT

Wie man Rotkehlchen glücklich macht

Was haben Braunbrustigel, Breit flügelfledermaus und Bergmolch ge meinsam? Es sind Wildtiere, die auch in der Stadt leben können, wenn man sie denn lässt. Doch weil wir immer mehr Wohnraum beanspruchen, weil unsere Städte immer voller und zu gleich aufgeräumter werden, haben Tiere dort immer weniger Platz. Aus Grünspecht-Bruthöhlen in alten Bäumen und Igelquartieren in Reisighaufen werden Mehrfamilien häuser aus Ziegel und Beton, in de nen sich kein Unterschlupf mehr fin det. Das ist auch schlecht für die Men schen, die auf dem Balkon dann keine Kohlmeisen mehr, sondern nur noch Autos hören und vom Lärm der Zi vilisation gestresst sind, statt sich in unmittelbarem Kontakt zu wildle benden Tieren entspannen zu kön nen. Wie also schaffen wir es, zumin dest ein bisschen Wildnis in unseren wild wachsenden Städten zu erleben?

Mehr Lebensqualität für Wildtiere und Menschen in der Stadt Animal-Aided Design heißt eine Me thode, die der Biologe Wolfgang W. Weisser und der Landschaftsarchi tekt Thomas E. Hauck dafür entwi ckelt und schon in einigen Projekten in Städten wie München und Ham burg angewendet haben. Ihr Ziel ist es, den Schutz und die Förderung von wild lebenden Tieren mit der Stadt planung in Einklang zu bringen – sei es bei neu entstehenden Wohnan lagen, sei es bei Sanierungen von Gebäuden oder in Parks.

„Bislang haben wir die Tiere in un seren Planungsprozessen ignoriert. Deshalb weiß man auch erstaun lich wenig darüber, warum hier eine

Amsel vorkommt und dort nicht. In einer zunehmend verdichteten Stadt können wir uns aber nicht mehr da rauf verlassen, dass die Tiere einfach da sind. Wenn wir nicht für die Tiere planen, dann planen wir extrem ge gen sie“, sagt Wolfgang Weisser, der den Lehrstuhl für Terrestrische Öko logie an der TU München leitet. Da bei könnten in der Stadt viel mehr Ar ten leben, als man denkt. „Wo es auch nur den kleinsten Strauch gibt, hat man schon Tiere. Wir können durch unsere Gestaltung unglaublich viel beeinflussen.“

Doch es geht nicht nur um den Schutz der Arten, die bereits in der Stadt leben, sondern auch um jene, die in der Stadt leben könnten. „Es ist eine Methode, die den Naturschutz ergänzt“, erklärt Thomas Hauck, Pro fessor für Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung an der TU Wien.

Wenn eine Fläche bebaut wird, herr schen dort hinterher ja oft ganz an dere Standortbedingungen als vorher. Was beispielsweise die Feldlerche zum Leben braucht, findet sie nicht mehr, nachdem die Äcker bebaut wurden.

Aber der neue Ort lässt sich zumin dest so gestalten, dass möglichst viele vorhandene und auch neue Arten dort einen Lebensraum finden. „AnimalAided Design erlaubt uns zu sagen, dass wir gerne Rotkehlchen hätten.

Wir fragen uns, was wir tun müssen, damit ein Rotkehlchen bei uns glück lich ist“, sagt Weisser.

Für das Glück von Rotkehlchen und anderen Wildtieren definieren die Wissenschaftler Zielarten und schauen sich deren Lebenszyklus von der Geburt bis zum Tod an. „Wie der Mensch braucht der Vogel Platz zum

Wohnen, Nahrung und eine Möglich keit, über den Winter zu kommen. Die meisten Tiere bleiben ja auch über den Winter bei uns. Wenn etwa die Raupe eines Schmetterlings im Boden oder an einer Pflanze überwintert, darf man die Pflanze nicht schneiden, bis die Raupe geschlüpft ist“, erklärt der Bio loge. Genau das Grün für eine neue Wohnanlage auszusuchen, das be stimmte Arten brauchen, sei ein Rie senfortschritt im Vergleich dazu, ein fach Kirschlorbeer im Baumarkt zu kaufen.

Glasfassaden töten 100 Millionen Vögel jährlich in Deutschland

Das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung erklärt, dass durch die Verwendung großer Glas scheiben etwa 100 Millionen Vögel pro Jahr in Deutschland sterben. Ein architektonischer Entwurf ohne sol che Gefährdungen sei die notwendi ge Voraussetzung für Animal-Aided Design, sagt Hauck. „Wir können ja nicht die Tiere anlocken und gleich zeitig in den Tod treiben.“ Gruben wie Kellerschächte, aus denen ein Frosch nicht wieder herauskommt, sind da her ebenso tabu wie das Fällen alter Bäume.

Auf diese Weise wachse auch auf der menschlichen Seite etwas, das Hauck Umweltgerechtigkeit nennt. Denn wenn wir die Städte immer weiter verdichten, hätten Menschen, die aus körperlichen oder finanziel len Gründen nicht hinaus in die Wild nis eines Nationalparks fahren kön nen, keine Möglichkeit mehr, Natur zu erleben. „Doch auch diese Men schen haben ein Recht darauf, Vögel singen zu hören.“

Strategie zur digitalen Zukunft der Universitäten 2030

Bis Herbst arbeitet das BMBWF mit den Univer sitäten an einer gemeinsamen Strategie zur digitalen Zukunft

Seit jeher gehören Universitä ten zu den Treibern der Digita lisierung. Errungenschaften wie das Internet oder soziale Medien sind an Universitäten entstan den. Das war und ist in Öster reich nicht anders.

Um diese Vorreiterrolle wei ter voranzutreiben, arbeitet das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) bis Herbst an einer Strategie zur digitalen Zukunft der Universitäten 2030.

Ausgangsbasis dafür ist ein Grundsatzpapier, das gemeinsam mit dem Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschafts standort (BMDW) im Rah men eines „Digitalen Aktions plans“ erarbeitet wurde. Es ent hält 15 Thesen in den Bereichen Lehre, Forschung und Organisa tion, die aufgrund der Erfahrun gen und Erkenntnisse der Uni versitäten nach zwei Jahren Co rona-Pandemie verfasst wurden.

Sie umfassen etwa die Fort führung und Integrierung von digitalen Lehrformaten wie das Streaming von Vorlesungen, die mögliche Individualisie rung von Lehrveranstaltungen oder die gemeinsame, ortsun abhängige Nutzung digitaler Forschungsinfrastruktur.

Um diese weiter aufzubau en, startet noch vor dem Som mer die Ausschreibung „(Digi tale) Forschungsinfrastruktur“. 40 Millionen Euro nimmt das BMBWF in die Hand, um bei spielsweise in die Entwicklung, Anschaffung oder den Ausbau von automatisierten, digitalen Fabriken, von Supercomputern oder von Archiven für digitale Kunst zu investieren. Zumin dest teilweise soll das Budget über den EU-Krisenfonds Re covery and Resilience Facility (RRF) finanziert werden.

Die genauen Details der Aus schreibung werden Mitte Mai fixiert, die Einreichfrist ist von Juni bis September geplant.

Mit Animal-Aided Design sollen Wildtiere ein Zuhause in der Stadt finden
NACHRICHTEN : HEUREKA 2/22 FALTER 20/22 9
CHRISTINA
: DIGITALISIERUNG: MATHEMATIK
GRAFIK: SOPHIE JAHNKE, STUDIO ANIMAL-AIDED DESIGN

TITEL-THEMA

BRAUCHEN WIR WILDTIERE UND URWALD?

Seiten 10 bis 22

400

2Städte nahmen im Gründungsjahr 2016 teil, 2021 waren es schon 419 (in 44 Ländern): Beim Citizen-ScienceProjekt „City Nature Challenge“ (CNC) sollen so viele wild lebende und wachsende Tiere, Pflanzen und Pilze wie möglich in einer Stadt beobachtet und dokumentiert werden.

spanische Weingärten wurden mittels einer 13 Jahre umfassenden Datenbank analysiert. Das Ergebnis: Befindet sich ein Weingarten in einer naturnahen Landschaft, gibt es weniger Schädlingsbefall – und braucht weniger Pestizide.

25Prozent beträgt die Zunahme der Vielfalt im Nationalpark Donau-Auen in den letzten zehn Jahren. Der Totholzanteil nahm um fast das Vierfache zu. Das ergab eine Bestandsaufnahme durch die Österreichischen Bundesforste gemeinsam mit dem Forstamt der Stadt Wien im Winter.

war der Beginn einer Bewegung zum Schutz der Wildnis in den USA . 1924 wurde das erste Wildnisgebiet eingerichtet, 1964 folgte mit dem „Wilderness Act“ die gesetzliche Grundlage für ein nationales Wildnisprogramm. Die 756 Wildnisgebiete der USA sind die weltweit größten und haben die fünffache Fläche von Österreich.

Quadratmeter groß ist die seit 1980 sich selbst überlassene Wiese zwischen dem Wiener Gaudenzdorfer Gürtel und der Rechten Wienzeile. Nur einmal im Jahr wird sie gemäht. Auch beim neuen Wohnviertel Nordbahnhof soll eine solche „Stadtwildnis“ entstehen.

wurde der Yellowstone-Nationalpark in den USA gegründet. Von seinen 8983,17 Quadratkilometern sind achtzig Prozent Nadelwald, 15 Prozent Wiese und fünf Prozent Wasser. Insgesamt 186 bekannte Flechten- und 2.000 Pflanzenarten gibt es im Park, darunter zwölf Baum- und über sechzig Wildblumenarten.

17Sustainable Development Goals, also Ziele für eine nachhaltige Entwicklung, hat die UNO im Jahr 2015 zum Erreichen bis 2030 definiert. Biodiversität spielt bei vielen dieser Ziele eine wichtige Rolle. Denn 13 Prozent der Vögel, 41 Prozent der Amphibien und 34 Prozent der Nadelbäume sind weltweit gefährdet.

Kilometer lang ist der auf 860 Meter gelegene Themen-Rundweg um das Hochmoor Leckermoos in Göstling – als Teil des Wildnisgebiets DürrensteinLassingtal. Der Buchenurwald steht seit 2017 auf der Unesco-Welterbeliste „Alte Buchenwälder und Buchenurwälder der Karpaten und anderer Regionen Europas“. Er ist eines von knapp hundert Teilgebieten in 18 europäischen Ländern.

Die Fotostrecke für diese Ausgabe wurde vom Fotografen Kay von Aspern gestaltet und ist Teil seiner Serie „(not so) wild life“. Der Street-PhotographyKünstler verbringt viel Zeit im öffentlichen Raum und hat einen Blick für die außergewöhnlichen, merkwürdigen und surrealen Szenen auf den Straßen entwickelt. Die Fotos sind im Zeitraum zwischen 2008 und 2021 entstanden und sind nicht inszeniert. Kay von Aspern entdeckt mit seinem humor vollen Blick durch die Kamera die wilden Tiere im von Menschen dominierten urbanen Raum. www.von-aspern.com : AUSGESUCHTE ZAHLEN ZUM THEMA ZUSAMMENGESTELLT VON SABINE EDITH BRAUN
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TITELTHEMA : HEUREKA 2/22 FALTER 20/22 11 FOTO: KAY VON ASPERN

Drei Prozent von Österreich …

Wilde Konik-Pferde auf Wiesen, See adler am Himmel und Damwild in Wäldern: In der Region Flevoland, nur zwei Stunden von Amsterdam entfernt, liegt das größte von Menschen geschaffene Wildnisentwicklungsgebiet Europas: Oost vaardersplassen. Der Landstrich, mühsam dem Meer abgerungen, war für industriel le Zwecke bestimmt. Stattdessen überzeug ten Biolog*innen die niederländische Regie rung, auf den 5.000 Hektar Neuland eine Wildnis entstehen zu lassen, wo Natur vom Menschen unbeeinflusst wieder ihren Lauf nehmen kann.

Das Projekt wurde stark diskutiert, hat die Natur doch ihre eigenen Launen: Ein harscher Winter führte zu Nahrungsknapp heit, plötzlich tauchten in den Medien Bil der von verhungerten Tieren auf. Typisch Wildnis. Doch die niederländische Re gierung zog die Reißleine, beschloss eine Obergrenze von 1.500 Stück großer Weide tiere und schuf weitere Wald- und Sumpfge biete, damit die Tiere mehr Schutz finden. Manch einer spricht davon, dass der Traum von der sich selbst regulierenden Wildnis durch das Experiment in den Niederlanden zu Grabe getragen wurde. Das Projekt setz te aber in ganz Europa eine „Rewilding“Bewegung in Gang mit der Idee, Europa wieder wilder zu machen.

Die Wildnisidee aus dem Wilden Westen Ihren Ursprung hat die Wildnisidee in Nordamerika: Während spanische und eng lische Eroberer das Bild des „Wilden Wes tens“ kreierten, entwickelte sich im 19. Jahr hundert eine Art Gegenbewegung zum Schutz der Wildnis. Diese führte 1924 zur Einrichtung des ersten Wildnisgebiets in den USA, 1964 wurde mit dem „Wilderness Act“ die gesetzliche Grundlage eines natio nalen Wildnisprogramms geschaffen. Mitt lerweile erstreckt sich das Wildnisgebiet auf eine Gesamtfläche von 43,8 Millionen Hek tar (fünfmal die Fläche Österreichs).

Trotzdem, so Biodiversitäts- und Land nutzungsexperte Christoph Plutzar, sei der Begriff „Wildnis“ mehr ein Konzept als ein allgemeingültiger Begriff: „Was Wildnis ist und was nicht, ist sehr subjektiv – oder wie der US-Historiker Roderick Nash meinte: „Des einen Wildnis ist des anderen Pick nickplatz neben der Straße.“

In den 1970er-Jahren ist im englisch sprachigen Raum die Idee vom „Wilderness Continuum“ aufgekommen. „Die Frage, ob etwas Wildnis ist, ist demnach keine Ja-/ Nein-Entscheidung, sondern in einem Kon tinuum zu betrachten. Das Zentrum einer Stadt gilt nicht als Wildnis. Doch je kon tinuierlicher der menschliche Einfluss ab nimmt, umso mehr erreiche ich einen wild nishaften Zustand“, erklärt Plutzar das Konzept. In Europa und Österreich spre che man daher weitgehend von „Wildland“ statt von „echter Wildnis“. „Die Idee von

Wildnis als unberührtem Land ist ohne hin irreführend. In Europa gibt es keinen Flecken, der vom Menschen unberührt ist, und sei es über die Immissionen durch den Regen“, erklärt er. Die Idee der Wildnis sei mehr Botschaft als Realität, meint Thomas Wrbka, Professor für Botanik und Biodiver sität an der Universität Wien: „Wir wissen, wir haben zu wenig Natur und daher ein großes Artensterben. Um der Natur wieder Raum zu geben, ist das Konstrukt Wildnis eine Möglichkeit.“

Mit Rewilding Europe kommen die Bisons zurück

Der Natur mehr Raum zu geben, hat sich die Initiative „Rewilding Europe“ zum Ziel gesetzt, eine 2011 in den Niederlan den gegründete Non-Profit-Organisation. Bis 2030 soll die Anzahl der verwilderten Landschaften in Europa von zehn auf 15 wachsen und auf insgesamt 500.000 Hek tar aktives „Rewilding“ kommen. Fabien Quétier, Ökologe und Head of Landscapes bei Rewilding Europe: „Wir helfen dabei, bestimmte Landschaftsareale wieder wil der werden zu lassen und Ökosysteme zu erstellen, die sich weitgehend frei von menschlichen Eingriffen selbst regulieren.“

Gleichzeitig möchte man bei allen „Rewilding-Projekten“ auch die lokale Be völkerung miteinbinden und so struktur schwache Regionen durch Umweltschutz und Naturtourismus stärken. „Uns ist es wichtig, das Konzept von Wildnis als et was Positives in den Köpfen der Menschen zu etablieren“, erklärt Quétier. So erzählt er vom Zentralapennin in Italien, wo die NGO sogenannte Bear Smart Communi ties errichtete. „Der Braunbär breitete sich immer weiter über die Grenzen der Natio nalparks aus“, erzählt Quétier. „Darum ver suchen wir den Menschen zu vermitteln, wie sie mit den Bären im Einklang leben und von deren Existenz profitieren können.“

Durch „Rewilding“-Bemühungen habe man es außerdem geschafft, dass erstmals seit dem Mittelalter hundert europäische Bisons frei durch die Südkarpaten in Ru mänien wandern. Das locke den Naturtou rismus in diese Regionen. „Die Menschen merken, dass sie für Safaris nicht mehr weit reisen müssen, sondern dass es auch in Eu ropa faszinierende Wildnisgebiete zu be sichtigen gibt“, sagt Quétier.

Nicht immer passiert das Erwünschte Manchmal birgt das Konzept von „Rewil ding“ auch praktische Probleme, erklärt Thomas Wrbka: „Der Klimawandel schafft neue Rahmenbedingungen. Wir beobachten aber auch das Problem der invasiven Arten: Wenn man eine Fläche völlig außer Nut zung stellt und sich selbst überlässt, kön nen bestimmte Arten in diesem Gebiet do minant werden.“ Wo sich Wildnis hinent wickle, sei nicht immer planbar. Er sehe das Konzept von „Rewilding“ eher funktional.

„Wichtig ist der sogenannte Prozessschutz, also das Zulassen eines natürlichen Gestal tungsprozesses der jeweiligen Landschaft, indem die menschliche Nutzung auf null re duziert wird.“ Als Beispiel nennt er die Do nau und die Donauauen: „Mittlerweile hat man die Abdämmungen der Seitenarme der Donau zurückgebaut, damit bei Hochwas ser einströmendes Wasser die Auen wieder gestalten kann.“

Prozessschutz bedeute auch, Muren und Lawinen im Gebirge zu tolerieren und Wildtieren Platz zu geben. „In diesem Zusammenhang ist der Wolf ein wichtiges Beispiel, weil er für natürliche Verhaltens weisen bei Wildtierarten sorgt. Im Natio nalpark Yellowstone wanderten durch die Ausrottung des Wolfes Bisons weniger und überweideten Flächen. Erst als der Wolf wieder im Park auftauchte, konnte das Sys tem in ein natürliches Gleichgewicht ge bracht werden.“ (Siehe auch Seite 18.)

Die geplanten „Rewilding“-Projekte in Österreich

Im dicht besiedelten Europa ist nur ein Pro zent der Landfläche geschützte Wildnis – in Österreich sind es nur mehr 0,03 Prozent. Dazu gehören das Wildnisgebiet Dürrenstein und die Sulzbachtäler im Nationalpark Hohe Tauern. Die nationale Biodiversitätsstrategie 2030+ sieht vor, drei Prozent der Fläche in Österreich für komplett wildnishafte Ent wicklung zu schaffen und zehn Prozent der Fläche unter Schutz zu stellen.

Die Schutzziele orientieren sich dabei an den IUCN-Kategorien: Ia gilt als strenges Naturreservat, Ib als Wildnisgebiet mit re guliertem öffentlichen Zugang. „Durch die vielen Bergregionen gibt es in Österreich ein enormes Potenzial für neue Wildnisgebie te“, bestätigt auch Christoph Plutzar. Das Karwendelgebirge und das Tote Gebirge sei en immer wieder im Gespräch.

Allerdings werde dieses Thema auch politisch heiß diskutiert. „Die Frage nach Wildnis ist stark mit Eigentumsrecht und Nutzungsrecht verbunden“, erklärt Plutzar. „Wenn Wildnis die Aufgabe von Nutzung bedeutet, dann hat das natürlich enorme Konsequenzen für die Menschen vor Ort, die von der Fläche leben müssen.“ Die Zu gänge zu diesen neuen Wildnisgebieten müssten auch gesellschaftlich neu ausver handelt werden.

„Die Sulzbachtäler liegen teils so abge legen, dass es schwierig ist, diese zu betre ten, dort kommen nicht viele Tourist*innen hin. In den amerikanischen Wildnisgebie ten wiederum gilt eine strenge ,Leave no trace‘-Regel.“

Es brauche also auch hier klare Regeln, wie mit diesen Gebieten umgegangen wer de. Trotz dieser Fragen, so Thomas Wrbka, müsse man die Ziele für neue Wildnisge biete schnellstmöglich umsetzen. „Nur so können wir die Diversitätskrise ernsthaft bekämpfen.“

FOTOS: BART VAN DIEKEN, CLAUDIA OTT, WALTER SKOKANITSCH
„Wir helfen dabei, Landschaften wieder wilder werden zu lassen“
FABIEN QUÉTIER, REWILDING EUROPE
… sollen laut Plan wieder Wildnis werden. Gegenwärtig halten wir bei 0,03 Prozent
Christoph Plutzar, Wildland Research Institute
Thomas Wrbka, Universität Wien
12 FALTER 20/22 HEUREKA 2/22 : TITELTHEMA
TITELTHEMA : HEUREKA 2/22 FALTER 20/22 13 FOTO: KAY VON ASPERN

Schottland soll auch Urwald werden

Saftige grüne Wiesen, die sich über die sanften Hügel des Hochlands legen. Nur Schafherden, die sich wie weiße Farb tupfen auf einer Leinwand ausnehmen, die grauen Bänder der Steinmauern und das Glitzern eines Flusses durchbrechen hier und da diesen Eindruck. „Die Highlands sind natürlich sehr schön anzusehen, man darf dabei aber nicht vergessen, dass es sich um eine vom Menschen geschaffene Land schaft handelt“, erklärt Hubert Hasenauer, Professor für Waldbau an der BOKU Wien. Noch vor rund 10.000 Jahren über zog der Kaledonische Urwald, abgesehen von einzelnen Bergspitzen, die gesamte Insel. Die Besiedelung Britanniens soll te das drastisch ändern. Die stetig wach sende Bevölkerung brauchte Ackerflächen und Brennmaterial, Balken, um Stollen ab zustützen, Bretter für die Errichtung von Gebäuden und Planken für die Schifffahrt. Die Industrialisierung sollte zum finalen Sargnagel für Schottlands Wälder wer den. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts sank die Waldfläche auf rund fünf Prozent. Vom ursprünglichen Urwald blieb nur etwa ein Prozent erhalten – das entspricht der gemeinsamen Fläche von Wien, Graz, St. Pölten und Klagenfurt.

Schottland 1919: Beginn der größten Aufforstung Europas Aktuell verfügt Schottland über knapp zwanzig Prozent Waldfläche. Der Weg da hin war allerdings weit. Mit den erzwun genen „Highland Clearances“ kam es zu einem Exodus, der aber keine natürliche Aufforstung nach sich zog. Kleine Farmen wurden geräumt, um große Viehzuchtbe triebe für die Versorgung der Tuchfabriken in Manchester mit Wolle etablieren zu kön nen. Als diese unrentabel wurden, wurden sie von wohlhabenden Adeligen für die Jagd adaptiert. Schaf-, Ziegenherden und Rot wild ließen den Baumsprösslingen keine Chance. Die Highlands blieben kahl.

Das sollte im Ersten Weltkrieg zum Pro blem werden, nachdem beinahe alle Holz vorräte aufgebraucht worden waren. Die Re aktion darauf war 1919 die Gründung ei ner Forstbehörde als Auftakt zur größten Aufforstung in Europa. Intensivieren soll ten sich diese Bemühungen aber erst Mitte des Jahrhunderts, um die Abhängigkeit von Holzimporten (Großbritannien ist hinter China der größte Holzimporteur) und länd liche Arbeitslosigkeit zu verringern. „In den entlegenen Gebieten Schottlands herrscht oft auch große Armut. Die Aufforstung soll te Einkommensmöglichkeiten für die Land bevölkerung schaffen“, sagt Hasenauer.

So entstanden vor allem in den 1960erund 1970er-Jahren riesige Fichtenmono kulturen. „Durch die Seefahrt sammelten die Kolonialmächte Erfahrungen mit ande ren Regionen der Welt und deren Vegetati on. Man begann darum schon früh damit, mit schnell wachsenden Hölzern anderer

Regionen aufzuforsten. In Schottland etwa mit der amerikanischen Sitka-Fichte, die dort sehr gute Wachstumsbedingungen vorfindet.“

In Schottland soll künftig neuer Urwald entstehen Unter der Regierung Thatcher wurden die Aufforstungsbemühungen mittels Steuer erleichterungen und Subventionen weitge hend privatisiert: Aufforstungen wurden so rentabel, dass dafür Moore trockengelegt wurden: „Aus ökonomischer wie aus ökolo gischer Sicht sind diese Aufforstungen dif ferenziert zu betrachten. Die Fichte braucht gut durchlüftete Böden, Staunässe verträgt sie nicht, wenngleich die Sitka-Fichte im Gegensatz zur heimischen Fichte nicht rot fäuleanfällig ist. Trockengelegte Moore sind für die Land- und Forstwirtschaft eher nicht geeignet.“ Zudem setzt die Trockenlegung von Torfmooren gigantische Mengen CO2 und das noch klimaschädlichere Lachgas (N2O) frei. Ein Hektar Moor speichert etwa 700 Tonnen Kohlensoff, rund sechsmal so viel wie ein Hektar Wald.

Die Kritik an dieser Praxis und der Po litik, die sie hervorbrachte, wurde Ende der 1980er-Jahre zunehmend lauter. Die Regie rung sah sich mit dem Vorwurf konfron tiert, lukrative Anlagemöglichkeiten für Reiche auf Kosten der Allgemeinheit und des Ökosystems zu schaffen. Die Monokul turen führten zur Zerstörung natürlicher Habitate und damit zu weniger Artenviel falt. Die Debatte führte zu einem Umden ken der staatlichen Politik und verankerte den Kaledonischen Urwald als ein Natur denkmal im öffentlichen Bewusstsein.

Mehrere Projekte versuchten fortan, die verbliebenen Gebiete zu schützen und so gar neue Urwälder zu pflanzen. „Trees for Life“ kann als eines der ambitioniertesten gelten: Auf einer 25.000 Hektar großen Flä che sollen in den nächsten 250 Jahren hei mische Baumarten wie Birken, Eschen, Ei chen, Eiben, Wacholder, Espen und Kiefern zum Urwald von morgen heranwachsen.

Für die Sitka-Fichte ist dort allerdings kein Platz. Der Großteil aller Neupflanzun gen entfällt dennoch auf sie, denn für die Forstwirtschaft ist sie unverzichtbar. Auch hier hat ein Umdenken eingesetzt: Die Forstbehörde setzt mittlerweile auf vielfäl tigere Wälder: Neben den Fichten sollen zu nehmend auch heimische Laubbaumarten gepflanzt werden und Lichtungen erhalten bleiben. Schließlich trägt auch die Heide landschaft der Highlands zur Artenviel falt bei. Anfang der 2000er-Jahre begann man zudem damit, trockengelegte Moore zu renaturieren.

Die schottischen Forstbetriebe tragen diese Ziele mit, weiß Hasenauer aus sei ner Erfahrung mit diesen: „Man will nicht mehr nur Wälder, in denen die Fichten in Reih und Glied stehen. Es geht darum, eine bessere Artenvielfalt zu etablieren und die

Waldpflege zu verbessern. Das hat natür lich auch ökonomische Gründe, weil sich so das Betriebsrisiko minimieren lässt.“

Damit das klappt, berät Hasenauer schot tische Forstbetriebe: „Das ist natürlich auch ein Lernprozess. Man hat noch we nig Erfahrungen mit Naturverjüngung und Durchforstungen.“

Wald: Brückentechnologie und Investition für Reiche

Mit dem Klimawandel wurde auch die De batte um Schottlands Aufforstung um eine Facette reicher: „Der Wald lässt sich quasi als Brückentechnologie nutzen: Irgendwann stirbt ein Baum und setzt das gespeicher te CO2 frei. Das dauert aber, und das ver schafft mir Zeit, CO2-neutrale Technologien zu entwickeln und einzusetzen“, so Hase nauer. Dafür braucht es aber Flächen, die aufgeforstet werden können. Während Ös terreich rund zur Hälfte bewaldet ist, gibt es in Schottland noch riesige waldlose Ge biete: 2018 übertraf man mit 11.200 Hek tar Neupflanzungen sogar die eigenen Ziele. Damit kamen 84 Prozent aller in Großbri tannien gepflanzten Bäume in schottische Erde. Ab 2024 sollen jährlich 15.000 Hek tar Wald, rund 33 Millionen Bäume, hin zukommen. Bis 2031 will man eine Bewal dung von 21 Prozent erreichen.

Allein die Hauptstadt Glasgow will in den nächsten zehn Jahren 18 Millionen Bäume pflanzen, um den urbanen CO2-Aus stoß zu kompensieren. Auch einzelne Un ternehmen kaufen bereits Flächen für die Kompensation ihrer Emissionen an. Aktu ell scheinen die Neupflanzungen nicht mit dem steigenden Interesse an Wald Schritt halten zu können. Die Grundstückspreise für Aufforstungsprojekte steigen, bestehen de Wälder gewinnen durch Steuervorteile und Subventionen stetig an Wert.

Investitionen zur Bekämpfung des Kli mawandels könnten so dazu führen, Land besitz in noch weniger Händen als bisher zu konzentrieren. 2019 besaßen 87 juris tische Personen (Privatbesitzer, staatliche und wohltätige Organisationen) 1,7 Milli onen Hektar Landfläche, mehr als ein Fünf tel Schottlands. Für die ansässige Bevöl kerung wird es unleistbar, lokale Forstbe stände aufzukaufen und kleinteilige Besitz strukturen zu schaffen.

Wie sich die Bekämpfung des Klima wandels auf den Wald, seine Bewirtschaf tung und die dahinterstehen Besitzverhält nisse auswirken wird, ist indes noch offen. Genau wie in Österreich und der gesamten EU sucht man auch in Schottland nach Lö sungen, um Rechtssicherheit für die Kom pensation von CO2-Emissionen zu schaf fen. Klar scheint nur, je heißer es für den Wald wird, desto hitziger werden auch De batten um diesen. Schließlich gilt es einen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Interessen – Holzlieferant, CO2-Kompensator, Erholungsraum, Ökologie – zu finden.

„Es geht darum, eine bessere Artenvielfalt zu etablieren und die Waldpflege zu verbessern“
HUBERT HASENAUER, BOKU WIEN
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Nach Jahrhunderten der Abholzung führen Klimawandel und Profitinteressen zu Aufforstungen
TITELTHEMA : HEUREKA 2/22 FALTER 20/22 15 FOTO: KAY VON ASPERN

Weit jenseits von allem Wilden

Schenkt man den Theorien des Philo sophen Michel Foucault Glauben, be finden wir uns im Zeitalter der Biomacht. Das Wort „Biomacht“ leitet sich von „bios“ ab, was aus dem Griechischen kommt und in der Übersetzung so viel wie „leben“ be deutet. Aber was genau heißt das?

In welchem Verhältnis stehen Leben und Politik?

Für die einen fängt Politik an, wo Leben aufhört. Für andere ist es umgekehrt: Poli tik hat an sich schon mit Leben zu tun. Die Definition des Begriffes ist nicht wertfrei, sondern immer konflikthaft. Es handelt sich bei „Biopolitik“ um ein theoriepolitisches Feld, in dem gearbeitet wird, nicht um ei nen objektiven Forschungsgegenstand. Wie lässt sich dieser Begriff nun deuten?

Die Frage ist, auf welchen Wortteil der Akzent gelegt wird. Ist es das Leben oder ist es die Politik, was betont werden soll? Aus der Entscheidung darüber ergeben sich zwei Bereiche: jener, in dem Lebensprozesse zum Gegenstand der Politik erhoben wer den wie bei den Euthanasieprogrammen in Zeiten des Nationalsozialismus. Und den Bereich, in dem es zur Regulierung des Le bens durch die Politik kommt.

Deutet man den Begriff naturalistisch, so steht das Leben über der Politik. Geht man von einem historischen Begriff aus, verhält es sich umgekehrt. Die von Fou cault vorgeschlagene Klassifizierung lau tet, dass es im Fall, da „Biopolitik“ oder „Biomacht“ betrieben wird, zu einer Abs traktion des Lebens von den substanzhaf ten Trägern kommt. So gibt es im Zeitalter der Biomacht keine singulären Existenzen mehr, sondern sogenannte „Bevölkerungen“, wie Thomas Lemke in seiner Einführung zur „Biopolitik“ schreibt.

Zu wichtigen Strömungen der Biopoli tik kann man die Entwicklungen in Statis tik und Demografie zählen. Dass es dem Menschen nun möglich ist, in biologische Verhältnisse einzugreifen und diese zu re gulieren, verändert seinen Umgang mit der Welt. Natur ist kein selbstständiges Substrat mehr, sondern ein Korrelat der Regie rungshandlungen: Sterbehilfe, In Vitro Fertilisation, Cyborg Identitäten. Prakti kable Programme eben.

Müssen wir unsere Körper überwachen und optimieren? Wie kann man da noch auf Wissenschaft und Fortschritt vertrauen? Natur wird sozu sagen von den Mächtigen „gemacht“. Man denke an den Trend der neuen Reichen, sich ihr Körperfett mittels Kryolipolyse wegfrie ren zu lassen, oder an teure Self Tracker, die dazu dienen, die Gesundheitswerte des Körpers zu überwachen und zu optimieren. Diese „Optimierung“ erinnert ein wenig an unsere dunkle Vergangenheit.

In den Zeiten des Nationalsozialismus wurde der Begriff des „Volkskörpers“ ein­

geführt. Darunter verstand man eine ras sisch homogene Gemeinschaft, die auto ritär geführt wird. Soziale und politische Probleme seien, so die Theorie des NS Re gimes, auf erbbiologische Unterschiede zu rückzuführen. Dass dieser Ansatz jeder wis senschaftlichen Fundierung entbehrt, spiel te dabei keine Rolle. Die Optimierung des Körpers und das Vernichten von „unwer tem“ Leben sind ein wichtiges Merkmal des Nationalsozialismus. Die Erschaffung von Leben, eine rassenhygienische und erb biologische Grundierung der biopolitischen Programmatik sowie die Kombination mit geopolitischen Ideen war ein wesentliches Instrumentarium des NS Regimes. Positive und negative Eugenik wurde auf die Spit ze getrieben: „Minderwertiger“ Nachwuchs, zu denen die NS Ideologen Menschen mit Behinderungen, Juden, Schwule/Lesben, Roma und Sinti sowie andere Randgruppen zählten, galten als „lebensunwertes Leben“ und sollten vernichtet werden. Innenpoli tisch wurde die „Rassenmischung“ unter sagt. In den Grenzen des nationalsozialis tischen „Reichs“ durfte sich das Blut „rei ner Rassen“ nicht mit dem „minderwerti ger Rassen“ vermengen. Außenpolitisch war das Ziel, den Lebensraum der vermeintlich „gesunden Rasse“ durch Krieg und Heirat sowie geschlechtliche Reproduktion so weit wie möglich auszuweiten.

Biopolitik als eine zeitgemäße Form der Machtausübung

Heute gelten Rassentheorien als verpönt. Dennoch lädt der medizinische Fortschritt dazu ein, zwischen Lebensformen zu un terscheiden: So bietet beispielsweise die Untersuchung des Fruchtwassers einer Schwangeren die Möglichkeit, sich früh des heranwachsenden Lebens und seiner gesundheitlichen Verfassung bewusst zu werden. Was auch indirekt impliziert, dass es sich etwa bei einem Kind mit Downsyn drom nicht um ein „optimales“ Wesen han delt. Wer aber bestimmt darüber? Mit neu en Errungenschaften muss, so verlockend sie klingen, vorsichtig umgegangen werden.

Ein weiterer Bereich, den man mit Skep sis betrachten muss, ist die Molekularbio logie: In den 1930er Jahren hat die Rocke feller Stiftung in den USA massiv in diese investiert. Es sollten Instrumente sozialer Kontrolle entwickelt werden, um mensch liches Verhalten zu steuern und zu opti mieren. „Biopolitics“ wurde zu einer neu en Wissenschaft.

Der Philosoph Foucault sieht diese Bio politik dezidiert als eine moderne Form der Machtausübung. Sie habe eine fundamen tale Veränderung in der Ausübung des Po litischen erbracht. Diese Zäsur im politi schen Handeln war entscheidend bei der Entstehung des modernen Rassismus. Zwi schen „optimiertem, gesundem“ und „kran kem, minderwertem“ Leben zu unterschei den mit der Absicht, letzteres zu eliminie

ren, ist eine Form der Hierarchie. Im Zeit alter der Biomacht wird das Recht, über Leben und Tod zu verfügen, wirksam. Das zeigt sich in den Bereichen Reproduktion, In Vitro­Fertilisation und Eugenik. Dabei gilt folgende Regel: Der Körper ist umso gefügiger, je nützlicher er ist – und umge kehrt. Er wird zur Ware. Wollen wir das?

Neue Technoreligionen erobern unsere Welt. Heil wird uns durch Gene und Al gorithmen versprochen. Künstliche Intel ligenz soll sich von unserem Bewusstsein abkoppeln. Wir Menschen sollen mit dieser Entwicklung mithalten, Körper und Geist, so gut es geht, optimieren. Die erste kog nitive Revolution verschaffte dem mensch lichen Geist einen Zugang zum Intersub jektiven – was dazu führte, dass wir nun über den Planeten herrschen. Heute sollen mit Hilfe von Gentechnik, Nanotechnolo gie und Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer neue Welten geschaffen werden.

Humanismus gegen technische Möglichkeiten – und wer kontrolliert? Bemerkenswert ist in dem Zusammenhang der Aufmerksamkeitshelm der US Armee. Er trägt dazu bei, Menschen dazu zu brin gen, sich besser auf ihre Aufgabe zu kon zentrieren. Dazu werden mittels Sensorik einzelne Gehirnregionen aktiviert und an dere lahmgelegt. Eine Journalistin, die ihn ausprobierte, schrieb, sie habe sich nie so gut gefühlt wie beim Tragen dieses Hel mes. Nun – die schlaueste Ziege sorgt für die größten Probleme, wie der Bauer sagt.

Stets hat der Humanismus betont, es sei nicht leicht, den eigenen authentischen Willen zu erkennen. Der technische Fort schritt ist da viel härter: Er will nicht, dass wir auf unsere inneren Stimmen hören. Er will sie kontrollieren. Sobald wir wissen, wie das biochemische System aussieht, mit dem wir arbeiten, können wir an Knöpfen drehen und das Leben einfacher machen, indem wir einzelne Energieflüsse ein wenig reduzieren und andere verstärken. Huma nisten verabscheuen diese Haltung – doch sie scheint auch einige Menschen glückli cher zu machen. Cipralex, das zur Behand lung von Depressionen eingesetzt wird, er leichtert vielen Menschen das Leben, wäh rend die humanistische Forderung „Hinter frage und erkenne dich selbst!“ Tausende von Leben zerstört.

Sagten wir früher „Hör auf dich selbst!“, so muss dies nun hinterfragt werden. Denn wir wissen zu wenig, wer wir selbst sind. Welche Stimme spricht in uns, was genau kontrolliert uns? Eine Operation der Libi do kann womöglich Homo oder Heterose xuelle aus dem Weg schaffen – und unsere Vorlieben drastisch verändern. Ein Algorith mus erscheint wie der heilige Gral: Er ver eint alles, von der Ökonomie über die Kunst bis zur Politik. Doch so verführerisch sei ne Macht auch ist, es bleibt die Frage: Wer hält das Steuer in der Hand?

Der Philosoph Foucault sieht die Biopolitik dezidiert als eine moderne Form der Machtausübung
Der Fortschritt der Wissenschaften hat uns zu einer neuen Form der Biopolitik geführt
Die Biographie des Philosophen, der uns Sexua lität, Wahnsinn, Gefängnis und Macht in ein an deres Licht ge taucht hat
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BUCHCOVER: SUHRKAMP
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Schwach und selten in Österreich

Im Jahr 1995 wurden im Yellowstone-Na tionalpark (USA) Wölfe wiederangesie delt. Darauf reagierten sogar Flüsse – und änderten ihren Lauf. Der Grund: Die un zähligen Wapitihirsche, die fast alle Jung bäume gefressen hatten, mieden Täler und Schluchten, in denen sie leichte Beute für die Wölfe wurden. So kamen dort an den Talflanken Espen- und Weidenwälder auf, deren Wurzeln die Uferböschungen stabi lisierten. In die neuen Wälder zogen Bi ber und veränderten mit ihren Dämmen die Flüsse. Sie mäanderten weniger und bilde ten Becken für Fische sowie Amphibien. Die durch die Wölfe erzwungenen neuen ökologischen Verhältnisse vermehrten Sing vögel, Enten, Füchse, Fische, Adler und an dere Arten.

In Europa erlegen Jäger mehr Wild als die Wölfe Solche enormen Effekte wird man in den viel kleineren Naturlandschaften Öster reichs durch Rückkehr großer Beutegreifer wie Wolf, Bär und Luchs nicht beobach ten können, erklären Wildtierexpert*innen. Dennoch gehören sie zum natürlichen Ar tenspektrum und haben hier ein Lebens recht wie andere Tiere, meint der Geograph und Ökologe Thomas Engleder. Sie spielen eine wichtige Rolle in den Ökosystemen, erklärt Lucas Ende vom Naturschutzbund Österreich: „Wenn Beutetiere wie Rehe Feindvermeidungsstrategien wieder zeigen müssen und bestimmte Regionen im Wald meiden, gibt es dort wohl weniger Verbiss, und der Wald kann sich durchaus verjün gen.“ Auch sei die Bezeichnung „Gesund heitspolizist“ für den Wolf nicht weit herge holt. „Ein fittes Reh, das ihn früh bemerkt, erwischt ein Wolf kaum – weit öfter durch gesundheitliche Einschränkungen oder das Alter geschwächte Tiere. Außerdem ist er als Bereitsteller von Aas für Raben und im Alpenraum aktiv wieder angesiedelte Bart geier wichtig.“

Der Wolf wird hierzulande großen menschlichen Einfluss auf die Wildtiere nicht überprägen. Selbst in europäischen Regionen mit sehr hohen Wolfszahlen schießen menschliche Jäger deutlich mehr Wild, als den Beutegreifern zugerechnet wird, erklärt Felix Knauer vom Forschungs institut für Wildtierkunde und Ökologie der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Außerdem sind in Österreich die Wildzah len so hoch wie wohl nirgendwo in Europa. „Als Regulativ wird der Wolf bei uns nicht herhalten können, dazu haben bei uns etwa Rehe zu gute Nahrungsbedingungen und werden im Winter oft gefüttert.“

Damit große Beutegreifer einen er kennbaren Einfluss auf Ökosysteme ha ben könnten, müssen sie sich in halb wegs stabilen Populationen etablieren. Wolf, Bär und Luchs sind jedoch hierzu lande in keinem „günstigen Erhaltungszu stand“, sagt Knauer: „Bei den Bären lässt

sich die Situation so beschreiben: Es gibt nur ganz wenige Zuwanderer aus Slowenien und dem italienischen Trentino. Keiner da von ist weiblich. Die am Ötscher in Nieder österreich durch den World Wildlife Fund for Nature, WWF, wiederangesiedelten Bä ren sind ,verschwunden‘. Von einigen weiß man, dass sie illegal geschossen wurden.“

Österreichs einziges Wolfsrudel lebt beim Bundesheer 1979 wurden Wölfe in Europa unter Schutz gestellt. So konnten sie sich etwa vom itali enischen Apennin in die Alpen ausbreiten. Zusätzlich kommen Wölfe aus drei ande ren Richtungen nach Österreich: aus Slo wenien im Süden, Deutschland und Tsche chien im Norden und den Karpaten in der Slowakei im Osten „Wir haben jedes Jahr mehr Wölfe, die hereinkommen, aber vie le von diesen verschwinden wieder“, erklärt Felix Knauer von der VetMed Universität Wien. Warum? „Bei den Elterntieren kann man anhand der Biologie der Art ausschlie ßen, dass sie woanders hingegangen sind. Wenn ein Rudel verschwindet, heißt das praktisch immer, dass eines der beiden El terntiere verstorben ist.“

„Den Gründen wird in Österreich nicht ausreichend nachgegangen“, sagt Lucas Ende vom Naturschutzbund. 2019 wurde ein Wolfskadaver ohne Kopf in Tirol ge funden. „Die Tiroler Jägerschaft sprach sich daraufhin in einer Allianz mit dem Natur schutzbund und dem WWF dezidiert ge gen Wildtierkriminalität aus“, erklärt Ende. „Wir wünschen uns, dass so etwas von wei teren Jagdverbänden aufgegriffen wird.“

In einem anderen Fall wurden menschli che Jäger entlastet, als sich 2021 die Wun den an einem Wolfskadaver als Bissspuren von Wildschweinen oder Artgenossen her ausstellten. Bemerkenswerterweise schaffen es Wolfsrudel, sich im umliegenden Aus land zu etablieren. In Österreich konnte sich bis auf einen Fall keines mehr als ein Jahr lang halten. „Diese einzige Ausnahme ist ein Rudel am Truppenübungsplatz Al lentsteig im niederösterreichischen Wald viertel. Es steht unter Aufsicht des Bun desheeres“, sagt Knauer.

Von Wölfen geht in Mitteleuropa für Menschen keine Gefahr aus. „Sie könnten Menschen umbringen, aber das passiert in unserer westlichen Gesellschaft seit vielen Jahrzehnten nicht mehr“, erklärt Knauer. „Wir haben derzeit etwa 20.000 Wölfe in den westeuropäischen Ländern. Die letzten tödlichen Vorfälle gab es in Spanien wäh rend der Franco-Diktatur Mitte des vorigen Jahrhunderts.“ Hingegen sind Nutztiere, vor allem Schafe und Ziegen, extrem gefährdet. „Wir hatten voriges Jahr wieder einige Hun dert tote Schafe.“ Auf Almen müssen sie geschützt werden. „Dafür gibt es bewähr te Maßnahmen, die in Österreich immer wieder in Frage gestellt werden. Viehhalter in den umliegenden Ländern kommen da

mit gut zurecht.“ Mögliche Herdenschutz maßnahmen sind etwa Zäune oder Hirten und Herdenschutzhunde. „In Österreich ha ben wir viele Nebenerwerbsbauern ohne die nötige Zeit dafür, es bräuchte zusätzliche Arbeitskräfte.“ Außerdem fehle es an Knowhow darüber, was möglich und sinnvoll ist. Es gibt also auch einen massiven Bedarf an Wissensvermittlung. Dazu dient das EU Projekt „LIFEstockProtect“, indem es Kur se für Landwirte zum Zaunbau im alpinen Gelände anbietet.

Der Verein „Naturschutzhunde in Ös terreich“ bildet Wolfsspürhunde aus. Sie erschnüffeln Wolfskot, ein Zeichen, dass rechtzeitig gehandelt werden muss, damit kein Riss von Schafen oder Ziegen durch Wölfe stattfindet, erklärt Bea Maas vom Verein Naturschutzhunde. Im EU-Projekt „LIFE WOLFALPS EU“ werden schnelle Eingreiftruppen zum Herdenschutz auf gebaut. „Auch zur Identifikation der Tä ter sollen Hunde zum Einsatz kommen“, sagt Maas. Sie zeigen an, ob ein getöte tes Tier von einem Wolf angegriffen wor den ist oder nicht.

In Österreich heimische Luchse sind ohne Nachwuchs

Auch Luchse sind in Österreich fast alle samt Zuwanderer aus den umliegenden Ländern. „Im Norden ist ein kleiner Teil der ‚Böhmerwald-Luchse‘ aus Tschechien und Bayern auch als Grenzgänger immer wieder im Mühl- und Waldviertel in Ober österreich und Niederösterreich anzutref fen“, erklärt der Ökologe Thomas Engle der. „Das sind gut zwanzig Tiere.“ Schwei zer Luchse wandern auch nach Vorarlberg. Diese beiden ausländischen Luchspopulati onen reproduzieren sich regelmäßig.

Die fünf gezählten Luchse im National park Kalkalpen in Oberösterreich hingegen haben keinen Nachwuchs – vermutlich ein Ergebnis von Inzucht. In Österreich ver schwinden auch immer wieder Tiere, ohne dass dem nachgegangen wird, obwohl die Akzeptanz für die großen Katzen in der Be völkerung hoch ist. „Sie sind für Menschen ungefährlich. Auch Nutztierrisse kommen sehr selten vor“, sagt Engleder. „Der Groß teil der Menschen findet den Luchs super, weil er ein faszinierendes, geheimnisvolles Tier mit schönem weichem Fell ist.“

Laut Expert*innen wäre es möglich, öko logisch sinnvoll und beim richtigen mensch lichen Verhalten mit geringem Risiko ver bunden, wenn die großen Beutegreifer wie Wolf, Bär und Luchs wieder vermehrt und anhaltend in den Wäldern Österreichs le ben würden. Es bräuchte aber mehr Akzep tanz, weniger Wildtierkriminalität und Ini tiativen, die für die Bauern den Schutz ih rer Nutztierherden einfacher machen. Da bei geht es nicht nur um Wildnis. Wolf, Bär und Luchs sorgen auch für intakte natür liche Ökosysteme wie den US-amerikani schen Nationalpark Yellowstone.

„Wir haben jedes Jahr mehr Wölfe, die hereinkommen, aber viele von diesen verschwinden wieder“
FELIX KNAUER, VETMED WIEN
Die großen Beutegreifer Wolf, Bär und Luchs leben nur rund um unser Land gut
Thomas Engleder, Geograph und Ökologe
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Wieder Wildnis: Das Glossar

Biodiversität Vielfalt der Lebewesen in einem bestimmten Gebiet.

Evolution Veränderung biologischer Organismen von Generation zu Gene ration durch zufällige Veränderungen (Mutationen) und natürliche Auslese (Selektion).

Gila-Wildnis Das 1924 erste von Menschen gegründete Wildnis-Gebiet. Es ist mit 2.260 Quadratkilometern nur ein wenig kleiner als Vorarlberg und be findet sich in Neu-Mexiko (USA)

Klimaxgesellschaft „Endzustand“ der Artengemeinschaft von Pflanzen, Tie ren, Pilzen und Mikroben an einem bio logischen Standort, wenn sich die Um stände dort über einen größeren Zeit raum hinweg nicht ändern. Kultur Umfasst vom Faustkeil über Mozarts Kanon für sechs Singstim men „Leck mich im Arsch“ (Köchel verzeichnis 231) bis hin zur Internatio nalen Raumstation sämtliche mensch liche Aktivitäten.

Kulturlandschaft Dauerhaft vom Menschen geprägter Raum. Natur Alles, was ohne menschliches Zutun entstanden ist.

Naturereignis Vorkommnis wie etwa eine großflächige Überschwemmung, ein Waldbrand, Lawinenabgang, Erd rutsche, die der Mensch in der Kultur landschaft nicht duldet, weil es ihn und seine wirtschaftlichen Interessen gefähr det. Darf jedoch eine Wildnis nebst der biologischen Evolution mitgestalten.

Naturerfahrung Direkte Wahrneh mung der Umwelt vor Ort, also nicht durch Dokumentarfilme, sondern bei ei nem Spaziergang.

Naturpark Kulturlandschaft, die in heutiger Form bewahrt wird.

Naturlandschaft Vom Menschen un beeinflusster Raum. Gibt es auf der Erde nicht mehr, da zumindest seine Abfälle (wie etwa Plastikmüll) nachweisbar in alle Ökosysteme eindringen.

Naturromantik Das Schwärmen für die Natur und ihre entzückenden Lau nen, bis einen die Gelsen zerstechen, ein Bär verfolgt oder ein Blitz trifft. Naturschutz Maßnahmen zum Erhalt der Artenvielfalt und von Ökosystemen. Naturschutzgesetze Gibt es im föde ralistischen Österreich neun, also ei nes pro Bundesland. Zusätzlich regeln ebenso viele Jagd- plus Fischereigeset ze Umweltbelange sowie unzählige Ver ordnungen. Freilich tun dies auch diver se EU-Richtlinien. Internationale Ab kommen gilt es ebenfalls einzuhalten. Nutzwald Wird zur Holzgewinnung mit wirtschaftlich geeigneten Baumar ten bepflanzt.

Nutzwert Direkter wirtschaftlicher Nutzen. Ist bei Wildnis null. Ökologie Jene wissenschaftliche Sparte, die sich mit den Wechselwir kungen der Lebewesen untereinander beschäftigt.

Ökosystem Lebensgemeinschaft ver schiedenster Arten in einem bestimm ten Lebensraum.

Reservat Gebiet, in dem irgendwer oder etwas geschützt wird, wie etwa indigene Einwohner, Bäume und Wild.

Rothwald Das einzige ausgewiesene Wildnis-Gebiet in der Alpenrepublik. Befindet sich in Niederösterreich rings um den Dürrenstein in den Göstlinger Alpen, umfasst 3.400 Hektar und ist laut Weltnaturschutzunion als „striktes Naturreservat“ geschützt.

Sekundärwald Nach menschlicher Abholzung etwa im Zuge von Stra ßenbau, Holzeinschlag und Brandro dung durch natürliche Zuwanderung der standorttypischen Arten entstan dener Wald.

Umwelt Das Rundherum, mit dem je des Lebewesen in Verbindung steht, um von dort die Luft zum Atmen, Nahrung und vieles mehr zu beziehen.

Urwald/Primärwald Von menschli cher Einflussnahme verschonter Wald. Weltnaturschutzunion (IUCN) Dach verband von Naturschutzorganisationen weltweit. Österreichische Mitglieder sind zum Beispiel: das Umweltminis terium, der Naturschutzbund, National park Hohe Tauern, Tiergarten Schön brunn und World Wide Fund For Na ture (WWF)

Wilde Räume Relativ naturnahe Ge biete, die quasi eine Qualitätsstufe unter der echten Wildnis liegen, weil sie stär ker vom Menschen beeinflusst sind als diese, und wo teils extensive Landnut zung stattfindet, wie etwa traditionelle Weidewirtschaft und Jagd. Auch dürfen hier Straßen durchführen und einzelne Siedlungen stehen.

Wildnis Vom Menschen weitgehend unbeeinflusste Naturlandschaft. Sie darf nicht genutzt oder besiedelt sein, ist nicht durch Verkehrswege erschlossen und somit schwer zugänglich.

Wildnisfläche Weltweite Schätzungen schwanken zwischen 10 und 46 Pro zent der Landfläche. In Österreich sind es 0,03 Prozent, nämlich 3.400 Hektar in Niederösterreich (Urwald Rothwald). Wildnis-Management Zunächst woll ten die Leute jegliche Wildnis im Sin ne von „macht euch die Erde untertan“ wegmachen, um möglichst den ganzen Planeten zu „kultivieren“. Später wur de sie romantisiert, und so mancher ver spürte zumindest zeitweilig einen Ruf, sich darin zu verlieren. Heute erkennt man ihren Wert als Reservat für Arten, die im vom Menschen geprägten Kul turlandschaften sukzessive aussterben. Yellowstone-Nationalpark Der welt weit erste Nationalpark, der 1872 ge gründet wurde und mit zirka 8.983 Qua dratkilometern flächenmäßig zwischen den österreichischen Bundesländern Salzburg (7.155 km²) und Kärnten (9.537 km²) liegt.

Der Nürnberger Prozess vor dem Internationalen Militär gerichtshof 1945/46 ging in die Geschichte ein. Der amerika nische Hauptankläger Robert Jackson wollte Verbrechen ge gen den Frieden bestraft sehen. Dass die drei westlichen Richter mit ihrer Mehrheit gegenüber dem sowjetischen Mitglied aus dem Prozess etwas ganz ande res, nämlich einen Mordprozess, gemacht hatten, wurde erst er kennbar, als die Strafen verkün det wurden. Butterweck weist nach, dass mit einer Ausnahme ausschließlich die Schuld oder Mitschuld am Tod von Men schen über die Strafen entschied.

Hellmut Butterweck: Der Nürnberger Prozess, Czernin Verlag, 2022

Beim Nürn berger Prozess spielten die Richter nicht mit Handke denkt über Einsam keit und Schön heit nach sowie über gerade entstehende Bücher

Eine Erinnerung des Vierund siebzigjährigen steht am An fang: „Der Dreikönigstag, das Fest der Epiphanie heute, als der Tag der Besinnung, an die winterliche Rückkehr vom Dorf seinerzeit, vor über sechzig Jah ren, in die Fremde der Frem den, des Internats; verzehrt von Heimweh?“ Handke denkt über Einsamkeit und Schönheit nach sowie über gerade im Entstehen begriffene Bücher. Und liest sei ne Hausgötter: Tolstoi, Goethe, Stifter, Doderer oder die Apos telgeschichte. Einer der „in neren Dialoge“: „Der Butz in dem Rinnstein da, bist das du?“ – „Ja!“

Peter Handke: Innere Dialoge an den Rändern. 2016–2021, Jung und Jung, 2022

Eine weit gehend Unbe kannte mit imponierender Persönlichkeit

Die 1892 geborene Bibia na Amon wird als Kind sexu ell missbraucht, ihre frühen Versuche, traditionelle Rollen klischees zu durchbrechen, gelingen nur ansatzweise. Für Egon Schiele steht sie Modell, mit Anton Kuh ist sie verlobt, mit Peter Altenberg reist sie nach Venedig, bei Franz Werfel taucht sie als Romanfigur auf, 1939 veröffentlicht sie in Pa ris den Roman „Barrières“. Die akribische Recherche Walter Schüblers verdichtet die bruch stückhaften biografischen Quel len zu der weitgehend Unbe kannten zum Bild einer impo nierenden Persönlichkeit.

Walter Schübler: Bibiana Amon. Eine Spurensuche, Edition Atelier, 2022

Warum sind große Werke näher an schlechten als routinierte Kunst?

Ende 2014 fragt die in Paris lebende Autorin und Überset zerin Anne Weber ihren Wiener Kollegen Thomas Stangl: „Wa rum ist gute – große – Litera tur oft näher an der schlechten, misslungenen als an der soli den, perfekten, routinierten?“ Inwiefern gute oder schlech te Literatur für die Leser*innen eine Rolle spielt, ist nur eine der Fragen des über sechs Jah re andauernden Briefwechsels. Eine andere: Ist Kunst eine Frage der Moral, der Form oder ist ihr zentrales Element ein Geheimnis? Selbstredend geht es auch um der beiden Autoren eigene und fremde Bücher.

Thomas Stangl, Anne Weber: Über gute und böse Literatur, Matthes & Seitz, 2022

BUCHEMPFEHLUNGEN VON ERICH KLEIN : FREIHANDBIBLIOTHEK
20 FALTER 20/22 HEUREKA 2/22 : TITELTHEMA : VON A BIS Z
TITELTHEMA : HEUREKA 2/22 FALTER 20/22 21 FOTO: KAY VON ASPERN

Marginale Gruppen und die Medizin

SARS-Cov19 mit der Grippe verglei chen – dies wurde schon zu Beginn der Pandemie als Unart qualifiziert. Den noch macht es Sinn, in die Vergangenheit zu blicken.

Whodunit? Das Schuldparadigma des Westens

So argumentiert etwa der Medizinhistori ker Richard McKay, dass der globale Nor den eine recht bescheidene Auswahl an kulturellen Repertoires hat, um mit Infek tionskrankheiten umzugehen: Es kommt kein Krankheitsnarrativ ohne Schuldgeo grafien (von wo?) und Schuldgenealogien (von wem?) aus. Dem stimmt die Literaturund Kulturwissenschaftlerin Priscilla Wald zu: Narrative Entscheidungen weisen im mer in dieselbe Richtung. Sozial margina le Gruppen werden zu den Opponenten, die Wissenschaft ist die Heldin des Narrativs.

Pandemien und soziale Marginalisie rung sind immer verschränkt. Durch Mit telalter und Neuzeit ziehen sich antisemiti sche Brunnenvergiftungstheorien, um Pest ausbrüche zu erklären. SARS-Cov2-Sterb lichkeitsraten laufen in den USA entlang von Einkommen, Hautfarbe und Gender. Aids hieß zuerst die 4H-Krankheit, weil an fangs vor allem bei Homosexuellen, Hero in injizierenden Menschen, Haitianer*innen und Hämophilen beobachtet. Ein anderer früher Name für Aids, GRID – gay-related immunedeficiency, suggeriert, schon Homo sexualität allein würde zum Krankheitsaus bruch führen.

Dies entsprach frühen Theorien zu Aids. Anfang der 1980er-Jahre verfolgten viele Immunolog*innen die „Immune-overload“Hypothese. Sie sahen Aids als „LifestyleKrankheit“. Vermeintliche Promiskuität, Chemsex (unter Drogeneinfluss) und der gleichen würden das Immunsystem über fordern. Die Hypothese war auch der Tat sache geschuldet, dass nichts außer sexuelle Orientierung die ersten Aids-Cluster (New York, Los Angeles, Orange Counties) ver band. Das Contact-Tracing eines Flugbe gleiters aus Quebec wird oft als wichtigs ter Moment in der Pandemie beschrieben: Gaetan Dugas wurde Bindeglied zwischen einigen der dokumentierten Fälle. Aus „Pa tient O“ – für Out of California – wurde Pa tient 0, Patient Zero. Und Patient Zero wur de zum Signifkanten für Aids – er wurde zu „dem“ Überträger stilisiert, wurde Mensch und Mikrobe in einem.

Durch das Individualisieren von Aids als Erreger und Überträger wurde auch von den sozialen Gegebenheiten abgesehen. Der Journalist Malcolm Gladwell gibt die etwas kurios anmutende Äußerung eines Epide miologen wieder, der sich fragt, ob es nicht besser gewesen wäre, das HI-Virus nie zu identifizieren? Statt auf die lange erfolg lose Suche nach Therapeutika hätte man sich auf die soziopolitischen Ursachen kon zentrieren sollen – warum sozial schwache

Gruppen so vulnerabel waren. Medikamen te und Patente waren für Geldgeber jedoch sofort vielversprechender als Sozialpolitik.

Das Entstehen einer sozialen Bewegung

Die Demografie von Menschen mit Aids ist für die Medizingeschichte weiter wich tig. Unter den „4H“ gab es nur eine Gruppe mit sozialem Kapital – schwule weiße Män ner der Mittelschicht. Über die homophi len Bewegungen der 1950er-Jahre, die Sto newall Riots in New York 1969 und durch das Streichen von Homosexualität als psy chische Krankheit aus dem DSM-2 1973 konnte sich die Schwulen- und Lesbencom munity zwischen 1960 und 1980 von einer pathologisierten Randgruppe zu einer legi timen Interessensgruppe aufwerten.

Als es zum Ausbruch der Aids-Pandemie kam, hatte die Schwulen- und Lesbenbe wegung jahrzehntelang eine legitime Iden tität des Schwul- oder Lesbischseins auf gebaut. Die erneute Delegitimierung und Pathologisierung von Homosexualität be deutete eine Bedrohung dieser Identität. So waren Lesben, obwohl nicht direkt von der Krankheit betroffen, von Anfang an Teil des Aids-Aktivismus. Sie blieben nicht die ein zigen involvierten Frauen. Bald betraf Aids auch immer mehr Sexarbeiterinnen, darun ter viele Trans*Frauen. Zum anderen solida risierten sich viele Frauen aus dem Sozial arbeits- und Medizinbereich. Viele waren Teil feministischer Gesundheitsbewegun gen der 1970er-Jahre, brachten also viel Ex pertise und Politisierung mit.

Früher Aids-Aktivismus lässt sich vor allem in zwei Phasen einteilen: vor und nach der Entwicklung hochwirksamer The rapeutika. Anfang der 1980er-Jahre war Aids-Aktivismus vor allem darauf fokus siert, explizite Sexualität weiterhin nicht aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen. Dann kam der Behandlungsaktivismus für schnellere Zulassung von experimentellen Medikamenten. Ende der 1980er-Jahre lag das Interesse auf früheren Stadien medizi nischer Forschung – nämlichen klinischen Studien. Aids-Aktivist*innen stellten deren Ethik infrage.

Randomisierte, doppeltblinde Studien, bei denen niemand weiß, wer aktive Subs tanz und wer Placebo bekommt, gelten als der Goldstandard evidenzbasierter Medizin. Er raubte aber, laut Aids-Aktivist*innen, der Hälfte der Testpersonen ihre Überlebens chancen. Auch war der Zugang zu Studien hochproblematisch.

Frauen galten als inakzeptabel für klini sche Studien, da mögliche Schwangerschaf ten Studien potenziell beeinflussen konn ten. Ein weiteres Problem war die Einnah me von anderen Substanzen.

So wurden etwa Hämophile, intravenös Heroin konsumierende Menschen, aber auch Trans*Frauen aus klinischen Studi en ausgeschlossen.

Neue wissenschaftliche Studien, alte Vorurteile

Die Aids-Patient*innenbewegung ist eines der besten Beispiele, wie sich eine soziale Bewegung Gehör verschafft. Um Einfluss auf klinische Studien zu bekommen, muss ten sich Aids-Aktivist*innen die kulturel le Kompetenz von Expert*innen aneignen. Der Soziologe Steven Epstein nennt das Glaubwürdigkeitsstrategien.

Eine davon war, Stellung zu schon eta blierten Konfliktlinien in der biomedizini schen Forschung zu beziehen, etwa in der Debatte zwischen „pragmatischen“ und „pe niblen“ klinischen Studien. Das Argument von Aids-Aktivist*innen war: Penibler Zu gang führe in der Praxis zu unpeniblen Daten. Die penible methodische Reinheit stand in Opposition zu sozialen Realitä ten. Aids-Aktivist*innen schufen ihr Ide al von „guter Wissenschaft“ – experimen telles Design, das soziale Realität mit einbezieht. Schritt für Schritt konnten Behandlungsaktivist*innen Änderungen im Studiendesign herbeiführen.

Hier endet aber nicht die Geschichte von Aids und sozialen Bewegungen. Noch im Jahr 2000 hatte nur eine von tausend Perso nen mit HIV oder Aids in Südafrika Zugang zu Therapie. Als Hochaktive Antiretrovira le Therapien (HAART) auf den Markt ka men, war es öffentliche Meinung, dass die se aufgrund ihrer Kosten nie für die Märkte des globalen Südens zugänglich sein konn ten. Im Jahr 1998 klagten 41 Pharmaunter nehmen die südafrikanische Regierung un ter Nelson Mandela für das Nichteinhalten von Patentrechten.

Wieder waren es Patient*innenbewe gungen, die zehn Jahre später Zugang zu HAART auch im globalen Süden ermög lichten. HAART wurden von einem hoch preisigen, geringvolumigen Gut der weni gen zu einem niedrigpreisigen, hochvolu migen Gut für alle, die es brauchten. Die Aids-Patient*innenbewegungen transfor mierten Märkte.

Wann kommt die Covid-Patient*innenbewegung?

Was diese Anliegen angeht, ist noch viel zu tun. Patentrechte führen auch dazu, dass HIV-Prophylaxe besonders vulnerablen Gruppen wie Sexarbeiter*innen nur hoch preisig zugänglich ist – auch in Österreich.

Die Aids-Patient*innenbewegungen zeigen aber, wie Aktivist*innen in das globale Ge sundheitsgeschehen eingreifen können.

Auch in Bezug auf die aktuelle SARSCov19-Pandemie lässt sich vieles aus den Aids-Aktivist*innenbewegungen lernen. Schon viele Pharmaunternehmen las sen Mittel zur Behandlung oder Vorbeu gung von Corona patentieren. Als vermut lich lang andauernde globale Gesundheits krise wird es in vielen Belangen wieder an Patient*innenbewegungen liegen, Zugang zu Medikamenten und Hilfe zu sichern.

FOTOS: TONY RINALDO, PHILIP WADE
Der Soziologe Steven Epstein prägte den Begriff Glaubwürdigkeitsstrategie
Die Aids-Patient*innenbewegungen machten vor, was auch bei Covid nötig sein wird
Medizinhistoriker Richard McKay, Universität Cambridge
22 FALTER 20/22 HEUREKA 2/22 : AUFSATZ

: GEDICHT MICHAEL KRÜGER: OSTERSAMSTAG 2022

Michael Krüger (Jg. 1943), deutscher Dichter, Verleger und Übersetzer, veröffentlichte seit seinem ersten 1976 zwanzig Gedichtbände; zuletzt „Mein Europa. Gedichte aus dem Tagebuch“, Haymon, Innsbruck 2019; „Im Wald, im Holzhaus. Gedichte“, Suhrkamp, Berlin 2021. Das hier abgedruckte Gedicht ist ein Originalbeitrag.

In der Frühe war die Luft über dem See so klar, dass die Welt sich mühelos verdoppelte.

Ein Fisch zeigte mir mit einem gewaltigen Sprung, wo die Grenze lag, und die Katze des Nachbarn schaute ungläubig ihr Spiegelbild an.

Als ich das Haus verliess, sah ich einen Kranz Federn auf dem Weg, so sorgfältig ausgelegt, als hätte man ein Opfer zelebriert, wenig Blut an den dürren Kielen, gerade genug, um Fledermäuse und Käfer zu warnen.

Ein Bienenfresser? Ich war mir nicht sicher.

Am Fuss der kranken Linde hatte ich einen Stein vor das Loch einer Wühlmaus gewälzt, der lag jetzt verloren im Gras, wie hingeworfen.

Die überlebenden Vögel sind fleissig an der Arbeit. Was sie in den Himmel schreiben, ähnelt den Vorzeichnungen, wie Maler und Bildhauer sie auf den Särgen anbringen von anonymen Toten, es wimmelt von Fehlern, sorgfältig sind sie nicht.

: BIG PICTURE AUS BUDAPEST

Es fällt schwer, ein barbarisches Imperium in Worten vernünftig erscheinen zu lassen, es geht um Endkampf. Christus ist auferstanden, und der Himmel schweigt.

HEUREKA ist eine entgeltliche Einschaltung in Form einer Medienkooperation mit

ERICH KLEIN

: WAS AM ENDE BLEIBT

Europuher

Als Mitte der 1980er-Jahre der letzte deutsche Baum starb, war man in mitteleuropäischen Brei ten entsetzt. „No, apocalypse – not now!“ hieß die Losung. Ewiger Friede sollte herrschen, nie wie der Krieg, die Wiesen sollten la chen. Pazifismus, das galt auch für die Natur. Au- und Baummördern wurde der Kampf angesagt.

Ein Land wie die Ukraine gab es damals nicht. Erst mit der Reaktorkatastrophe in Tscherno byl tauchte es in der westlichen Wahrnehmung auf, um sogleich wieder vergessen zu werden. Die Politik der Gefühle fand in diesem Teil der Sowjetunion bestenfalls Bestätigung. Auch der Fall des Eisernen Vorhangs änderte daran nichts. Kiew blieb selbst für so genannte Russland-Experten bloß drittgrößte Stadt „Russlands“, ein „vergessenes Territorium“ laut dem ukrainischen Autor Juri Andrucho wytsch. Das flächenmäßig größte Land Europas: Heimat von Oligar chen und Korruption, Billigpreis land und Imperium der Arbeits emigration nach Ost und West.

Ukraine-Reisende wunderten sich über ein Kaiser-Franz-JosephDenkmal in Czernowitz und eines für Katharina die Große im einst von ihr eroberten Odessa. Kom munistische Denkmäler wurden gestürzt und durch Sympathi santen der Nazis ersetzt. Sym bolpolitik vor Sonnenblumenfel dern, woran die „orangene Revo lution“ nichts und die „Revoluti on der Würde“ 2013/14 einiges änderte. Die Annexion der Krim durch Russland in der Folge wur de fast als Selbstverständlichkeit hingenommen.

Seit Beginn des von Russland entfachten Kriegs scheint alles an ders: Die Ukraine ist Zentrum Eu ropas. Trotz anfänglicher Orien tierungsprobleme waren gewohn te Gefühlparadigmen umzukeh ren. Was bedeutet es aber, wenn über die Vernichtung von Mariu pol gesagt wird, im Zentrum Eu ropas herrsche Krieg; wenn ange sichts der Bilder von Zerstörung und Kriegsverbrechen von „Ge nozid“ die Rede ist? Die Hoch rüstung der Worte macht über zeugte Pazifisten zu Befürwor tern von Waffenlieferungen – wer versucht, dagegen zu argumentie ren, wird als „Putin-Versteher“ de nunziert. So sehr Politiker*innen auch beteuern, man wolle nicht in den Krieg hineingezogen wer den – längst ist das Gegenteil der Fall. Ist es möglich, dass trotz al ler Hilfsbereitschaft die Ukraine abermals vergessen wird? Eines ist klar: Europa will lachende Wiesen.

LÁSZLÓ LÁSZLÓ RÉVÉSZ (AUSSCHNITT)
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