HEUREKA 1/22

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HEUREKA #12022

FOTO: GREGG SEGAL

Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien, WZ 02Z033405 W, Österreichische Post AG, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien, laufende Nummer 2748/2022

D A S W I S S E N S C H A F T S M A G A Z I N A U S D E M F A LT E R V E R L A G

Genug und gut zu essen?

Verhungernde? Wegschauen! 811 Millionen Menschen leiden weltweit unter Hunger. Medien tun das Ihre dazu: ignorieren Seite 10

Megatrends der Ernährung Local Exotics, T-Shirts aus saurer Milch, Real Omnivores, E-Food – neues Werteparadigma Seite 16

Wir werden anders essen Wie auch in mittlerer Zukunft immer mehr Menschen ausreichend ernährt werden können Seite 18


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FALTER 17/22

HEUR EKA 1/22 : T I T E LT HE M A

T I T E L- T H E M A GENUG UND GUT ZU ESSEN? Seiten 10 bis 22 Der amerikanische Fotograf Gregg Segal reiste um die Welt, um Kinder und das Essen, das sie in einer Woche zu sich nehmen, zu dokumentieren. Drei Jahre lang interviewte und fotografierte er über 50 Familien in unterschiedlichsten Ländern. Er stellte sich die Frage, inwieweit unsere Ernährung beeinflusst, wie Lebensmittel produziert und konsumiert werden. Wie unterscheidet sich der Speiseplan in unterschiedlichen Kulturen, in armen und reichen Gegenden? Segal war neugierig, wo traditionelle regionale Küche noch lebendig ist und wo sie von Burger, Pizza und Chicken Nuggets verdrängt wurde. „Wenn wir das Essen unserer Kinder von einer Woche aus der Vogelperspektive betrachten, können wir auf einen Blick erfassen, wie unsere Ernährung aussieht und was ihr fehlt.“ „Daily Bread: What Kids Around the World Eat“ wird von powerHouse Books veröffentlicht. www.greggsegal.com : AU S G E S U C H T E Z A H L E N Z U M T H E M A ZUSAMMENGESTELLT VON SABINE EDITH BRAUN

Millionen Menschen mehr werden 2022/23 unterernährt sein, schätzt die Welternährungsorganisation FAO der UNO – bei einem „moderaten Schockszenario“. Im schlimmeren Fall sind es 13,1 Millionen Menschen.

15,1 Kilo beträgt das CO2Äquivalent eines Kilos Flugananas, gefolgt von Rindfleisch mit 13,6 Kilo CO 2 pro Kilo Fleisch. Äpfel haben einen CO2-Abdruck von 0,3, getrocknete Linsen von 1,2 und Vollmilchschokolade von 4,1 Kilo pro Kilo Lebensmittel.

50,8 lautet der Wert für Somalia auf dem Welthungerindex (WHI) für 2021. Das ist der 116. Rang von jenen 116 Ländern, für die ausreichend Daten zur Bewertung vorliegen. Werte über 50 fallen in die Kategorie „gravierend“. Ein Wert von unter 9,9 gilt als „niedrig“.

38

Prozent der weltweit 30,5 Millionen Geflüchteten und Asylsuchenden stammen aus drei von Ernährungskrisen besonders betroffenen Ländern: Syrien, Afghanistan und Südsudan.

48,3 Prozent

1 Tonne Insekten kann in einem Zeitraum von 14 Tagen auf einer Fläche von nur 20 Quadratmetern heranwachsen. Weil sie sich von Obst- und Gemüseabfällen ernähren, sind Insekten die größten „Upcycler“ der Natur.

70 bis 90 Prozent ihrer Grundnahrungsmittel müssen Länder wie der Libanon oder Ägypten importieren. Kenia muss 80 Prozent des Weizens importieren. Eine Tonne Weizen kostete Anfang 2020 knapp unter 200 Euro, Anfang März 2022 knapp unter 400 Euro.

Damit war die Ukraine 2019 der weltweit größte Exporteur von Sonnenblumenkernen bzw. -öl. Aus den Niederlanden kamen 5,48 Prozent, aus Ungarn 2,97 und aus den USA 0,63 Prozent.

11 Millionen Regenwürmer täglich verlieren in Österreich durch Bodenversiegelung ihre Lebensgrundlage. Auf einem Quadratmeter Wiesenfläche können sie Tunnel mit einer Gesamtlänge von bis zu einem Kilometer bauen. 2020 verringerte sich die Zahl produktiver Böden im Land um 39 Quadratkilometer.

FOTOS: GREGG SEGAL

7,6


I N T ROD U KT IO N : H EU R E K A 1/22

: E D I TO R I A L

Wie sag’ ich’s? Im Klimawandel beginnt die Wasserkrise Seite 7 Können wir uns Trinkwasserknappheit überhaupt vorstellen?

Elf Millionen sterben jährlich am Essen Seite 8

Komplexitätsforscher Peter Klimek vom Complexity Science Hub Vienna ist „Wissenschafter des Jahres 2021“

Falsche Ernährung bringt viele Menschen um

Den eigenen Lachs in der Küche drucken Seite 9

Urbane Lebensmittelerzeugung ohne Töten von Tieren

Verhungernde? Wegschauen! Seite 10 811 Millionen Menschen hungern. Medien nehmen davon nur am Rand Notiz

FOTOS: KARIN WASNER, GREGG SEGAL (3)

Wir essen zu viel Fleisch Seite 12

Das schadet unserer Gesundheit, unserer Lebenserwartung, dem Klima und den Tieren

Mehr als Wasabi aus Europa Seite 16 Da ist doch der Wurm drin Seite 14 In vielen Teilen der Welt ist Insektenessen Tradition, in Europa ein Tabu

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CHRISTIAN ZILLNER

A U S D E M I N H A LT

Kopf im Bild Seite 4

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Eine Food-Trend-Forscherin über die Veränderung unseres Konsumverhaltens

Utopien im Klimawandel Seite 22

Warum wir utopisches Denken und Handeln im Klimanotstand brauchen

Wir werden anders essen müssen Seite 18 Wie in mittlerer Zukunft mehr Menschen ernährt werden können

Öfter in seiner Kolumne und im Interview in dieser Ausgabe erklärt Florian Freistetter, wie wichtig es ist, der Bevölkerung Österreichs die Leistungen der Wissenschaft nahezubringen. Er weist dabei darauf hin, dass diese Bevölkerung der Wissenschaft misstraut, sie als Eliteprodukt wahrnimmt. Was sie ja auch ist. Doch verständlicherweise möchte sich die fleißige Wissenschaftler*in nicht als Herrenmensch verstehen, das wie ein Oligarch in einem nur seinesgleichen verständlichen Argot spricht. Aber auch das ist ein Fakt. Wissenschaftskommunikation hat bislang darin bestanden, diese Fakten zu ignorieren und ein Pidgin der Wissenschaften zu sprechen. Davon lässt sich die Bevölkerung nicht beeindrucken. Womöglich wäre es sinnvoll, in der Wissenschaftskommunikation einmal diese Fakten zu akzeptieren. Dann stünde man vor der Frage: Wie vermitteln wir Wissenschaft nun? Aus der Frage könnte sich eine Studienrichtung entwickeln, die mit wissenschaftlich fundierten Konzepten statt mit Marketingund PR-Litaneien aufwartet, die an einschlägigen „Akademien“ vorgebetet werden. Kommunikationswissenschaften? Bitte nicht. Ich denke schon an Science und weniger an Humanities. Die versagen nämlich, wie der Wissenschaftswiderwille unserer Bevölkerung beweist.

: W I SS E N S C H A F T S P O L I T I K

Fonds Zukunft Österreich

Geosphere Austria

SABINE EDITH BRAUN

SABINE EDITH BRAUN

140 Millionen Euro jährlich: Diesen kräftigen Finanzierungsschub bekommt der Forschungsstandort Österreich mit dem neuen „Fonds Zukunft Österreich“ (FZÖ). Das Geld soll insbesondere in innovative Forschung im Gesundheitsbereich, den Bereichen Klimaschutz, künstliche Intelligenz oder „Pandemic Prepardness“ fließen, also die Bekämpfung künftiger Pandemien. Mit dem FZÖ als zentralem Finanzierungsinstrument wird sowohl die Grundlagen- als auch die angewandte Forschung unterstützt. Der FZÖ ist als Ergänzung zu den dreijährigen FTI-Paketen konzipiert, mit denen die österreichische FTI-Strategie für Forschung und Innovation bis 2030 umgesetzt wird. Deshalb decken sich ihre jeweiligen Schwerpunkte. So sollen etwa disruptive, radikale Innovationen

sowie der Nachwuchs mit jeweils bis 25 Million Euro gefördert werden. Die Mittel des neuen FZÖ ersetzen die der Nationalstiftung für Forschung (100 Millionen Euro) und die des bisherigen ÖsterreichFonds (33 Millionen Euro), die Ende 2020 ausgelaufen sind. Damit sind die österreichischen Forschungsförderagenturen wie etwa der Wissenschaftsfonds FWF, die Forschungsförderungsgesellschaft FFG oder das Austria Wirtschaftsservice (aws) am Zug. Bis Mai dieses Jahres können sie ihre Ideen zur Umsetzuung der Schwerpunkte in ihrem jeweiligen Förderbereich einreichen. Die Entscheidung über die konkrete Mittelverteilung trifft der österreichische Forschungsrat bis zum Sommer.

Ob Klimawandel, Extremwetterereignisse, Naturgefahren, alternative Energienutzung, Grundwasserschutz: Um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern, werden die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) und die Geologische Bundesanstalt (GBA), zwei Einrichtungen des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung, zur GeoSphere Austria zusammengeschlossen: zur Bundesanstalt für Geologie, Geophysik, Klimatologie und Meteorologie (GSA). Ab 2023 wird die GSA zur zentralen Kompetenzstelle des Bundes für Daten und Informationen über die Geosphäre mit rund 500 Beschäftigten. Das Jahresbudget für den Krisen- und Katastrophenfall, aber auch zur Sicherung der geologischen, geo-

physikalischen, klimatologischen und meteorologischen Lebensund Wirtschaftsgrundlagen beträgt rund 40 Millionen Euro. Die bisherigen Standorte bleiben erhalten, auch die ZAMG-Außenstellen in den Bundesländern – und damit ihre Expertise mit langer Tradition. 1849 wurde die GBA gegründet, 1851 die ZAMG. Der Zusammenschluss wird für mehr Planungssicherheit sorgen, denn die Finanzierung erfolgt dann nicht mehr über ein Jahresbudget, sondern ähnlich wie bei den Universitäten oder der Akademie der Wissenschaften über dreijährige Leistungsvereinbarungen. Geleitet wird die neue GSA von zwei Generaldirektor*innen (wissenschaftlich und kaufmännisch). Für die Aufsicht wird ein Kuratorium eingerichtet.


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HEUR EKA 1/22 : P ERSÖN LIC HKE ITE N

: KO P F I M B I L D

Analysen Seit Beginn der Coronakrise hält er die Österreicher*innen up to date: Komplexitätsforscher Peter Klimek, der am Complexity Science Hub Vienna und an der MedUni Wien riesige Datenmengen modelliert und analysiert, ist einer der medial präsentesten wissenschaftlichen Begleiter in der Pandemie. Dafür, und auch weil er sich dabei kein Blatt vor den Mund nimmt, hat ihn der Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalist*innen zum „Wissenschafter des Jahres 2021“ gekürt. Kommunikation findet er wichtig. „Auch weniger wissenschaftsaffinen Menschen gilt es zu erklären, warum Forschung etwas Cooles und Sinnvolles ist.“ In seiner Arbeit möchte der 39-Jährige zeigen, „wie wir durch intelligenten Dateneinsatz die Bevölkerung gesünder machen und andere Probleme wie etwa den Klimawandel angehen können. Dazu müssen wir mitunter realitätsfremde Erwartungen an Big Data, künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen auf den Boden bringen.“ Auch wenn das dann schnell mühsam, kleinteilig und sehr methodisch werde: „Die essenziellen Fragen dahinter motivieren mich.“ TEXT: USCHI SORZ FOTO: KARIN WASNER

: J U N G FO RS C H E R I N N E N

USCHI SORZ

Margaret Rosenberg, 26 Stoßdämpfer, Lautsprecher, Siegel – in vielen technischen Anwendungen verwendet man sogenannte Ferrofluide. Diese bestehen aus winzigen, in einer Trägerflüssigkeit gelösten magnetischen Partikeln, die auf Magnetfelder reagieren, ohne zu verfestigen. „Sie sind auch Hoffnungsträger in der Medizin, etwa um Wirkstoffe schonend durch den Körper zu transportieren, sodass sie nur an ihrem Zielort wirken und kein gesundes Gewebe schädigen. Außerdem möchte man sie für Umweltschutzmaßnahmen wie die Entfernung von Mikroplastik aus dem Meer einsetzen“, so die Wienerin über das große Potenzial ihres Forschungsobjekts. „Mittlerweile gibt es Ferrofluide, die auch selbst als Magnet wirken. Um diese besser zu verstehen, erarbeite ich eine Theorie.“ Dazu entwirft sie Modelle und führt Simulationen am Supercomputer durch.

Anne-Catherine de la Hamette, 25. Physikalische Systeme werden immer relativ zu einem Bezugsystem beschrieben. Die Luxemburgerin beschäftigt sich mit der „Quantenversion“ davon. „Dabei berücksichtige ich auch Quantenphänomene“, erklärt sie. „Das heißt den Umstand, dass es in Quantensystemen keine klare Position von Teilchen gibt und sich Zustände überlagern können.“ In der bizarren Welt der Quantenmechanik ist das die „Superposition“. Wie könnte das Universum aus so einer Perspektive aussehen? Was wäre, wenn die Erde eine Superposition einnähme? Was ist dann mit dem Gravitationsfeld? Wie würde sich ein Satellit verhalten? „Quantenbezugssysteme könnten theoretische Antworten auf solche Fragen geben und das noch weitgehend unerforschte Zusammenspiel von Quantenmechanik und Gravitation erhellen“, so de la Hamette.

Barbora Budinská, 29 Die gebürtige Slowakin ist in die Fußstapfen ihres Vaters getreten: Schon er hat als Physiker – auf dem Gebiet der Magnetresonanztomografie – mit leistungsstarken supraleitenden Magneten gearbeitet. „Ihre Kraft, große Objekte zu bewegen, die mit meinem Kühlschrankmagneten gar nicht zu vergleichen war, hat mich von klein auf fasziniert“, erzählt sie. Heute erforscht sie Fluxonen, magnetische Flusswirbel, die in manchen supraleitenden Materialien vorkommen und deren Verhalten beeinflussen. „Ich untersuche, wie sich diese Wirbel bei Stromzufuhr bewegen, wie schnell sie sind, wie das jeweilige Material und diverse Geometrien ihre Bewegung verändern und wie man ihr Tempo erhöhen und ihre Richtung steuern kann“, so Budinská. Relevant ist das etwa für Einzelphotonendetektoren, eine Schlüsseltechnologie für die Quantenoptik.

FOTOS: PRIVAT, DANIEL HINTERRAMSKOGLER

Diese drei Doktorandinnen forschen an der Vienna Doctoral School in Physics der Universität Wien an grundlegenden Fragen der Physik


KOM M EN TA R E : H EU R E KA 1/22

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CHRISTOPH PONAK

MARTIN HAIDINGER

FLORIAN FREISTETTER

Atomenergie

Nahrungskette und die Katze

Ganzheitlich

Atomenergie ist nicht nachhaltig. Jedoch ist nahezu nichts von dem, was wir in Mitteleuropa tun, von der Inanspruchnahme einer Dienstleistung über den Kauf eines Produkts und je nach Untergrund bis hin zum Spazierengehen, als nachhaltig zu bezeichnen. Wenn Entwicklungen nachhaltig sein sollen, sind negative Auswirkungen auf die Lebensqualität aller momentan und künftig lebenden Generationen auf dem Planeten nicht zulässig. Unter dieser Bestimmung von Nachhaltigkeit kann Atomenergie nicht dafür sorgen, denn es gibt keine Sicherheit, dass auf unbestimmte Zeit nichts Negatives geschieht, wenn man Atommüll endlagert. Will man an ihr festhalten, ist das Wort Nachhaltigkeit im Zusammenhang mit Atomkraft zu vermeiden. Was hat das nun mit Energiepolitik zu tun? Leider erdenklich wenig. Wir leben derzeit nicht nachhaltig und wir wirtschaften nicht nachhaltig. Die Energiewende mittels Fotovoltaik und Windkraft ist eine von vielen dringend zu forcierenden Maßnahmen, um dem Klimawandel zu begegnen. Jedoch ist sie keine Silver Bullet, ist nicht befreit von Materialintensität und damit CO2-Verbrauch und nicht allein ausreichend, um den Weltenergiebedarf in Zeiträumen, die mit dem Pariser Klimaabkommen vereinbar sind, zu decken. Wir können es uns daher keinesfalls leisten, existierende und im Betrieb praktisch CO2-freie Möglichkeiten der Energiebereitstellung nicht zu nutzen. Wir müssen Nicht-Nachhaltigkeit bereits gegen sich selbst abwägen und auch bei einer inhärent nicht nachhaltigen Entscheidung das geringere Übel wählen. Hunderttausende Klimatote werden weltweit jährlich gezählt. GAU-Situationen in vergleichbarem Ausmaß sind statistisch ausgeschlossen. Die Atomkraft aufgrund ihrer Unnachhaltigkeit in der Energiepolitik aus Prinzip zu verteufeln ist gefährlich – nicht zuletzt mangels Alternativen. So sehr ein hoffnungsvoller Blick auf Wind- und FotovoltaikAnlagen auch zu befürworten ist – wir müssen uns eingestehen, dass wir den Klimawandel nicht mehr verhindern, sondern bereits Schadensbegrenzung betreiben.

Der gegenwärtig obwaltende europäische Krieg zwingt einem bisweilen manch älteres Buch in die Hand und vor die Augen. „Blutrituale. Ursprung und Geschichte der Lust am Krieg“ (1997/99) der originellen US-amerikanischen Zellbiologin und Publizistin Barbara Ehrenreich habe ich schon seinerzeit geradezu verschlungen! Apropos verschlungen: Vom Krieg dringt Ehrenreich sehr rasch in profundis vor und widmet sich dem, was in Urzeiten mit unseren fernen Ahnen vorgegangen sein mag, ehe die Hominiden Jagd auf Tiere machten und sich von dem ernährten, was sie sammelten. Da gingen sie noch als potenzielle Beute von Raubtieren durch die Welt und nicht umgekehrt. Die Angst vor dem Verschlungenwerden habe sich tief in unsere menschliche Prägung eingeschrieben. Dies, und nicht erste die jagdliche Praxis, habe uns zur Teamarbeit gezwungen, wollten wir unsere hilflosen Babys beschützen, die noch heute wie am Spieß schreien, wenn man sie einen Augenblick allein lässt. Erst in jüngster Zeit haben wir die Tierwelt so weit in Griff bekommen, dass wir sie sorglos mittels Teddybären, Katzenvideos und allerlei Comics verniedlichen. Ein Hominide, der sich vor dem Schlund von Pantherinae mit und ohne Säbelzähne höllisch fürchtete, würde wohl unsere schnurrigen Hauskätzchen weit

: K L I M AT EC H N O LO G I E

: F I N K E N S C H L AG

ZEICHNUNG (AUSSCHNITT)

MEHR VON CHRISTOPH PONAK: LINKEDIN (CHRISTOPH-PONAK-255112111) | SHIFTTANKS (WWW.SHIFTTANKS.AT)

: H O RT D E R W I SS E N S C H A F T

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: FREIBRIEF

weniger drollig finden als wir. Nun gibt es keinen Hinweis darauf, dass das Anthropozän, das Zeitalter, in dem der Mensch die Erde überformt, sich dem Ende zuneigt – ganz im Gegenteil. Trotzdem oder gerade deshalb braucht es kluge Köpfe wie den französischen Soziologen und Philosophen Bruno Latour, der heuer seinen 75. Geburtstag feiert. Ich möchte ihn als einen der einflussreichsten, aber auch umstrittensten Denker der Gegenwart bezeichnen. Berühmt wurde er vor allem durch seine Kritik der Neuzeit, die er in seiner Schrift „Wir sind nie modern gewesen“ artikulierte. Das Selbstverständnis der Moderne, nach dem wissenschaftliche Wahrheit, Technik und eine funktionierende Ökonomie Garanten des Fortschritts seien, führe auf Dauer in eine gefährliche Sackgasse, ebenso die Trennung von Mensch und Natur, wie er in seinem 2017 veröffentlichten Buch „Das terrestrische Manifest“ zusammenfasste. Der Wissenschaftsjournalist Michael Reitz wird ihm am 22. Juni 2022 im „Salzburger Nachtstudio“ auf Ö1 ein Porträt widmen. Lauschen Sie, streicheln Sie dabei Ihren Stubentiger und seien Sie demütig bei dem Gedanken, dass Ihre Urahnen und Minkas Vorfahren in der Nahrungskette einst andere Rollen eingenommen haben …

HANDGREIFLICHES VON TONE FINK

TONEFINK.AT

„Ganzheitlich“ ist ein Wort, das überraschend oft verwendet wird, um sich abzugrenzen. Insbesondere von der Wissenschaft: Wenn etwa eine „alternative“ Pseudomedizin wie Homöopathie hervorstellen möchte, dass sie viel besser sei als wissenschaftsbasierte Behandlungsmethoden, nennt sie sich „ganzheitlich“ und behauptet, Wissenschaft sei das nicht. In Wahrheit ist das aber nur ein PR-Trick der Esoterik, denn wenn etwas mit Sicherheit ganzheitlich ist, dann die Wissenschaft. Dort hängt, in einer völlig nicht esoterischen Weise, tatsächlich alles mit allem zusammen. Die selben wissenschaftlichen Prinzipien und Grundlagen, die unsere Computer und Handys funktionieren lassen, sagen uns zum Beispiel auch, dass wir so gut wie keine Zeit mehr haben, um die Auswirkungen der Klimakrise zu begrenzen. Wer Aspirin gegen Kopfschmerzen nimmt, profitiert von derselben Wissenschaft, die wirksame Impfungen gegen das Coronavirus entwickelt hat. Die Naturwissenschaft beschreibt ein und dieselbe Welt, und sie lässt sich zwar formal in scheinbar voneinander abgrenzbare Bereiche aufteilen, in der Praxis aber nicht. Wer nun behauptet, die Erde wäre keine Kugel, stellt damit zwangsläufig auch die komplette übrige Wissenschaft in Frage. Wäre die Erde eine Scheibe, dann wäre auch unsere Vorstellung von Gravitation falsch. Ebenso wie die Theorien zur Beschreibung der Kräfte, die Materie zusammenhalten. Was wiederum Auswirkungen auf Biologie, Chemie und Medizin _ hätte. Überspitzt kann man sagen: Weil ein Computer funktioniert, kann die Erde keine Scheibe sein. Oder andersherum: Wer behauptet, die Erde wäre eine Scheibe, sollte gleichzeitig auch eine Theorie parat haben, mit der sich die komplette Naturwissenschaft entsprechend neu formulieren lässt. Diese Ganzheitlichkeit der Wissenschaft wird in der Kommunikation und der politischen Gestaltung von Forschung und Lehre zu wenig berücksichtigt. Die Folge sind Menschen, die einzelne Aspekte aus der Wissenschaft vehement ablehnen, wie Impfungen oder die Klimakrise, doch nie auf die Idee kämen, andere Aspekte wie Computer oder Flugzeuge in Frage zu stellen. Das fehlende Verständnis der Ganzheitlichkeit steht am Anfang jeder Wissenschaftsskepsis. MEHR VON FLORIAN FREISTETTER: HTTP://SCIENCEBLOGS.DE/ ASTRODICTICUM-SIMPLEX


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HEUR EKA 1/22 : N AC H RI C HTEN

NACHRICHTEN AUS FORSCHUNG UND WISSENSCHAFT Seiten 6 bis 9 Wie Wissenschaft in unsere alltäglichen Lebensumstände eingreift und sie verändert

: A RC H ÄO LO G I E

Venus von Willendorf aus Eierstein Österreichs dritte Ikone nach Sisi und Maria Theresia – aus Italien JOCHEN STADLER

Die berühmte niederösterreichische Fruchtbarkeitsstatuette wurde aus norditalienischem „Eierstein“ (Oolith) geschnitzt, berichtet der Wiener Anthropologe Gerhard Weber im Fachjournal Scientific Reports. Ihre einstigen Besitzer legten demnach vor 30.000 Jahren mit der Venus von Willendorf oder dem Ausgangsmaterial einen langen Fußmarsch zurück. Dann ging die Fruchtbarkeitsstatuette den Steinzeitjägern und -sammlern in der Wachau verloren und wurde erst 1908 wiedergefunden. Gerhard Weber durchleuchtete die Venus mit seinem Team am Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien in einem hochauflösenden Mikro-Computertomografie-Gerät (MicroCT). „Wir sahen, dass das Innere ihres einzigartigen Oolith-Materials sehr ungleichmäßig ist“, sagt Weber. So wie Kriminologen die Fingerabdrücke von Verdächtigen jenen am Tatort gegenüberstellten, verglichen die Forscher die inneren Gesteinsstrukturen der Venus mit jener von Oolith-Proben aus ganz Europa. Ihr Material stammt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus der Nähe des Ortes Ala unweit des Gardasees in Norditalien. Demnach hat die Figurine – oder der Steinbrocken, aus dem sie herausgeformt wurde – eine Hunderte Kilometer weite Reise von südlich der Alpen bis zur Donauregion nördlich der Alpen mitgemacht. Diese Wanderung hat wohl viele Jahre oder sogar Generationen gedauert, erklärt Gerhard Weber.

: COMPUTER SCIENCE

: M AT H E M AT I K

Die Sintflut am Computer simulieren: Ein neues Softwaretool macht es möglich

Mathematik für die Medizin

Aus Geländescans, Landnutzungsdaten, Bodenkarten, Daten zum Kanalnetz und zur Bebauung schafft Visdom 3-D-Modelle echter Städte

Die Analyse von Geschlechtsunterschieden bei Atherosklerose

CLAUDIA STIEGLECKER

USCHI SORZ

Mit dem Ansteigen der Durchschnittstemperatur hat sich auch die Wahrscheinlichkeit von Starkregen erhöht. Da solche sintflutartigen Regenfälle oft kurzfristig im Rahmen eines lokalen Unwetters entstehen, sind sie schwer vorherzusagen. Dennoch ist es wichtig, schon im Vorfeld Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Besonders im urbanen Raum, wo viele Böden durch Gebäude und Straßen versiegelt sind und das Wasser nur schwer versickern kann. Mit dem Softwaretool „Visdom“, das am Wiener Forschungszentrum VRVis in Zusammenarbeit mit dem Institut für Wasserbau und Ingenieurhydrologie der TU Wien entwickelt wurde, lässt sich der Verlauf solcher Ereignisse unter Berücksichtigung verschiedener Schutzmaßnahmen simulieren. „Visdom ermöglicht das einfache und schnelle Durchspielen verschiedener Szenarien“, sagt der Physiker Jürgen Waser, Leiter der Gruppe Integrated Simulations am VRVis. Die virtuelle Landschaft im Computerprogramm basiert dabei auf realen Daten: Aus Geländescans, Landnutzungsdaten, Bodenkarten, Daten zum Kanalnetz und zur Bebauung werden 3-D-Modelle echter Städte oder Gemeinden geschaffen. „Das Projekt hat vor rund 13 Jahren mit meiner Doktorarbeit begonnen. Mittlerweile arbeiten Expert*innen aus den Bereichen Computergrafik, Mathematik, Physik, Hydraulik und Hydrologie daran.“ Ähnlich dem Computerspiel „SimCity“, das die Entwicklung einer Stadt unter dem Einfluss unterschiedlichster Faktoren simuliert, kann die Benutzer*in von Visdom Hochwasser simulieren und dabei in die Umgebung eingreifen, um verschiedene Szenarien durchzuspielen. So ist nicht nur die potenzielle Regenmenge einstellbar, per Mausklick können auch Mauern, Wälle oder Erderhöhungen als Schutzmaßnahmen errichtet, kann das Kanalsystem modifiziert oder die Bodenbeschaffenheit angepasst werden. Auch die Logistik für den Aufbau der Schutzmaßnahmen und eine Personenstromsimulierung im Evakuierungsfall sind möglich. Die entscheidende Frage lautet dabei: „Was wäre, wenn?“ Ist die Errichtung eines Damms aus Sandsäcken als Hochwasserschutz sinnvoll?

Sind genügend Einsatzkräfte vorhanden? Kann ein Drainagesystem die Kanalisation unterstützen? „Wir wollten ein interaktives Planspiel schaffen, das Simulation, Analyse und Visualisierung vereint und damit als Entscheidungshilfe für den Krisenfall dienen kann“, erläutert Waser. „Besonders wichtig ist dabei, dass vielschichtige Zusammenhänge visuell leicht verständlich dargestellt werden, sodass eine Gefährdung klar erkennbar wird.“

Jürgen Waser, TU Wien Damit die Simulation in Visdom schnell und ohne Genauigkeitsverlust erfolgen kann, waren viele Optimierungsprozesse notwendig: „Das Durchrechnen eines komplexen Simulationsszenarios kann durchaus Tage dauern, das ist natürlich viel zu lang“, sagt Waser. „Also haben wir einerseits die zugrunde liegende Mathematik entscheidend verbessert, andererseits ist es gelungen, durch direkte Nutzung der extrem hohen Rechenleistung moderner Grafikkarten die Berechnungen stark zu beschleunigen.“ Aktuell wird Visdom ausschließlich auf Stadt- und Gemeindeebene als Entscheidungshilfe angewendet: „Wir arbeiten daran, die Visualisierung noch einfacher zu machen, damit in Zukunft auch Privatpersonen Visdom zur individuellen Risikoanalyse verwenden können.“ Darüber hinaus ist die Berücksichtigung anderer Naturereignisse wie zum Beispiel Hitze geplant. Der Einsatz von Visdom als Prognosetool ist ein weiteres großes Forschungsziel. Ein wichtiges Anwendungsgebiet, abseits von Extremwetterereignissen, sieht Jürgen Waser auch in der wassersensiblen Stadtplanung: „Die Realisierung von Maßnahmen nach dem Schwammstadt-Prinzip wie Gründächer, Grünflächen oder Feuchtgebiete lässt sich ebenfalls simulieren.“ Diese Aktionen zielen auch darauf ab, Regenwasser zu speichern, statt es nur abzuleiten. Sie können so dazu beitragen, das Stadtklima zu verbessern und Katastrophen zu vermeiden.

„Frauen hat man in der Vergangenheit beim Thema Herz-KreislaufErkrankungen eher vernachlässigt“, sagt Lena Tschiderer. „Dabei spielen hier viele frauenspezifische Faktoren eine Rolle.“ Die Mathematikerin ist Postdoc an der Abteilung für Neurologie der MedUni Innsbruck, wo sie Datenmanagementstrategien entwickelt und mathematische Methoden einsetzt, um aus großen Datenmengen Risikofaktoren für bestimmte Krankheiten herauszufiltern. Geschlechtsunterschiede bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Atherosklerose, einer krankhaften Veränderung der Arterien, stehen im Mittelpunkt eines vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekts, das sie seit 2021 leitet. So hat sie vor Kurzem im Journal of the American Heart Association eine Forschungsarbeit publiziert, aus der hervorging, dass Stillen das Risiko für spätere Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Müttern eindeutig senkt. Zugrunde lagen Studiendaten von mehr als einer Million Frauen. Ursprünglich habe sie Medizin studieren wollen, erzählt die 29-jährige Tirolerin, der Reiz der Mathematik sei dann aber doch größer gewesen. „Dass ich heute beide Interessen verbinden kann, finde ich enorm spannend.“ Das gelang, weil sich nach ihrem Diplom in technischer Mathematik die Gelegenheit ergab, im Zuge eines Projekts an der MedUni Innsbruck ein PhD-Studium in Neurowissenschaften zu absolvieren. Im Dezember erhielt Tschiderer für ihre Doktorarbeit den Otto-Seibert-Preis. Kern war eine Metaanalyse von 119 Studien zum Effekt therapeutischer Maßnahmen auf die Gefäßwanddicke der Halsschlagadern. Tschiderer konnte bestätigen, dass das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen in dem Maße abnimmt, in dem medizinische Interventionen eine krankhafte Verdickung der Gefäßwand bremsen. Durch ihre Erkenntnisse lassen sich Wirksamkeitsstudien für neue Medikamente zur Senkung des kardiovaskulären Risikos vereinfachen und optimieren.

Lena Tschiderer, MedUni Innsbruck

FOTOS: VRVIS, MEDUNI INNSBRUCK

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: T R I N K WA SS E RV E RS O RG U N G

Im Klimawandel beginnt unsere Wasserkrise Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Wir schon. Können wir uns Trinkwasserknappheit überhaupt vorstellen? MONA SAIDI

In Österreich wird der Trinkwasserbedarf aus Grund- und Quellwasser gedeckt, die Qualität des Wassers anhand von Richtlinien der Trinkwasserverordnung geprüft. Wassermessungen in geklärten Gewässern weisen häufig Spuren von Mikroplastik, Medikamenten, Polyesterfasern, Glitzerstaub, flüssigen Kunststoffen, künstlichen Süßstoffen und Unkrautvernichtern auf. Einige Partikel sammeln sich im Klärschlamm, der verbrannt oder aufs Land und in den Boden gebracht wird. Damit landen die Partikel früher oder später im Grundwasser. Jene, die nicht gefiltert werden konnten, fließen in ein Flusssystem und so ins Grundwasser. Ein Wasserversorgungsunternehmen pumpt dann durch seine Brunnen Grundwasser an die Oberfläche und leitet es an Haushalte weiter. Damit haben wir Stoffe in unserem Trinkwasser, die wir nicht wollen. Die Ursache dafür ist unser Lebensstil: etwa Haarkuren und Duschgels mit flüssigen Kunststoffen als Weichmacher. Die meisten Produkte enthalten Stoffe, die von Herstellern selten auf ihre Umweltverträglichkeit geprüft werden. Nicht nur Kosmetikartikel, auch Arzneimittel hinterlassen Spuren im Wasser: In Deutschland wurde das Schmerzmittel Diclofenac nachgewiesen. „In der Wiener Donau haben wir auffällig hohe Reste einiger Arzneimittel, darunter auch mehrere Antibiotika, gemessen“, berichtet Thilo Hofmann, Professor für Umweltgeowissenschaften an der Universität Wien. Am häufigsten wurde der Stoff Carbamazepin aus Medikamenten für Epilepsie und Depressionen gemessen. Um Arzneimittel in Kläranlagen herauszufiltern, wäre eine vierte Klärstufe zu den bestehenden drei notwendig.

„Die in österreichischen Grundund Trinkwässern vereinzelt nachgewiesenen Gehalte liegen in Konzentrationsbereichen, die keine toxikologischen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit haben“, schreibt das Infoportal Trinkwasser. Ärzt*innen wissen oft nicht, welche Umweltschäden Medikamente auslösen. Daher bestimmt in Stockholm eine Kommission jährlich eine „Kloka listan“, auf der Medikamente zur Behandlung von häufigen Krankheiten empfohlen werden. Die Kriterien bei der Auswahl: Wirksamkeit, Sicherheit, pharmazeutische Zweckmäßigkeit, Kosteneffizienz und Umweltverträglichkeit. Die Liste macht implizit deutlich, dass Medikamentenrückstände in Gewässern das Risiko bergen, Auswirkungen auf Wasserorganismen und Fische zu haben oder eine Resistenzentwicklung bei Menschen zu fördern. Die Pharmaindustrie ist nur eine von vielen, die unser Trinkwasser beeinflussen. Auch die Getränkeindustrie mischt mit. Der synthetisch hergestellte Süßstoff Acesulfam-K wird in Softdrinks als Zuckerersatz verwendet und kann im menschlichen Körper nicht abgebaut werden. So kommt der Stoff in den Wasserkreislauf. Laut Süßstoffverband in so geringen Mengen, dass er für die menschliche Gesundheit unproblematisch sei: „Man müsste täglich 630.000 Liter Wasser trinken, um an die Grenze seines ADI-Wertes (Acceptable Daily Intake) zu kommen – selbstredend ist das schlichtweg unmöglich.“ Ähnlich ist es beim Gehalt von Pestiziden oder Pflanzenschutzmitteln im Trinkwasser. Landwirtschaftlichen Betrieben werden in der Trinkwasserverordnung Höchstgehalte an Pestizidrückständen vorgeschrieben.

Trotzdem projektiert das Land Oberösterreich mit GRUNDWasser 2020 eine Verbesserung der Wasserqualität im Bereich der Landwirtschaft. Dazu „gehört die Durchführung von Bodenuntersuchungen zur gezielteren Steuerung des Nährstoffeinsatzes sowie das Verbot der Herbizidwirkstoffe Metolachlor, Chloridazon, Terbuthylazin, Metazachlor und Bentazon auf Soja, Mais, Zuckerrübe und Raps, da diese in der Vergangenheit punktuell Probleme für die Grundwasserqualität verursachten.“ Das Landwirtschaftsministerium definiert in „Gemeinsam Agrarpolitik“ neun Hauptziele für mehr Nachhaltigkeit in den Bereichen Umwelt, Klima, Markt, Wirtschaft, Gesellschaft und ländlicher Raum bis 2027. Die Maßnahmen im Bereich Ackerbau sollen auf Boden und Gewässer fokussieren. „Gezielte Reduktion von Pflanzenschutz- und Düngemitteln schützt Oberflächengewässer und Grundwasser“, erklärt das Ministerium. Für viele Menschen ist schwer vorstellbar, mit Wasserknappheit zu kämpfen. Doch auch in Österreich könnten die verfügbaren Grundwasserressourcen bis 2050 um bis zu 23 Prozent sinken. Die Wasserspeicher hier sind die Gletscher. Sie haben laut dem Gletscherbericht 2019/2020 des Alpenvereins innerhalb eines Jahres im Schnitt 15 Meter Länge verloren. Das Gletschermessteam des Alpenvereins hat 92 Gletscher österreichweit neu vermessen. 85 davon, das sind 92,4 Prozent, haben sich im Zeitraum 2019/2020 weiter zurückgezogen. Sieben, das sind 7,6 Prozent, sind mit einer Längenänderung von weniger als einem Meter stationär geblieben. „Wir rechnen damit, dass Ende des Jahrhunderts nur mehr etwa zehn

Prozent der Fläche der Alpengletscher übrig sein werden, in den Ostalpen noch etwas weniger. Diese vom anthropogenen Klimawandel getriebene Entwicklung lässt sich nicht mehr aufhalten. Wir müssen also versuchen, die Situation genau zu beobachten, damit wir Probleme frühzeitig erkennen können. Das ließe sich am einfachsten bewerkstelligen, wenn wir alle drei bis fünf Jahre eine Laservermessung der Oberfläche durchführen könnten“, sagt Andrea Fischer vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Innsbruck. Durch das klimawandelbedingte Abschmelzen werden die Gletscher langfristig immer weniger Wasser speichern können. Kurzfristig zeigt sich das im Verlauf eines Jahres so: Im Winter sammelt sich am Gletscher Schnee an, der durch die Kälte liegen bleibt und erst im Sommer freigegeben wird. Aber wenn die Gletscher verschwinden, fehlt im Sommer das Wasser, das derzeit durch die Schneeschmelze zustande kommt. In Hinblick auf die Zukunft würde das bedeuten, dass es im Sommer nur mehr Wasser gibt, wenn es regnet. Die Trockenphasen werden dadurch immer länger und heftiger. Einen kleinen Vorgeschmack davon gab es bereits dieses Jahr im Waldviertel. „Das sich verändernde Klima wirkt sich unter anderem auf Niederschläge aus: Intensität, Dauer und Verteilung über die Jahreszeiten hinweg verändern sich. Dies wiederum beeinflusst die Menge und Qualität des Trinkwassers“, warnt UNICEF. Weltweit haben heute schon rund 2,2 Milliarden Menschen keinen regelmäßigen Zugang zu sauberem Trinkwasser.

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: W I SS E N S C H A F T S KO M M U N I K AT I O N

Dafür sorgen, dass Wissen in der Welt ist Der Wissenschaftler Florian Freistetter über die BMBWF-Initiative gegen Wissenschafts- und Demokratiefeindlichkeit INTERVIEW: WERNER STURMBERGER

In keinem anderen EU-Land mit Ausnahme von Kroatien ist das Interesse an Wissenschaft so niedrig wie in Österreich, ergab eine Eurobarometer-Umfrage des Vorjahres. Das BMBWF hat deshalb ein Maßnahmenpaket gegen Wissenschafts- und Demokratiefeindlichkeit angekündigt, das insbesondere in den Schulen ansetzt. Auch im Bereich Wissenschaftskommunikation will man neue Impulse setzen. Warum die Science Busters, die seit bald 15 Jahren Wissenschaft innovativ und humorvoll auf die Bühne bringen, dabei helfen sollen und können, verrät der Astronom Florian Freistetter. Herr Freistetter, woher kommt die große Skepsis gegenüber den Wissenschaften? Florian Freistetter: Meiner Erfahrung nach hat das Problem oft nicht mit Unwissen zu tun. Das ist eher ein Symptom, aber keine Ursache. Dahinter steht eine Form von Unbehagen, ein Sich-nicht-Wohlfühlen

in der Gesellschaft, das sich manifestiert. Das ist vielleicht selbst gar nicht spezifisch, äußert sich aber in ganz spezifischen Situationen – etwa wenn mir die Regierung sagt, dass ich zuhause bleiben oder impfen gehen soll. Dann sucht man gezielt nach Informationen, die die eigene Haltung unterstützen. Im Internet wird man schnell fündig, während man die eigene Meinung in etablierten Medien nicht wiederfindet. So ist man eher bereit zu glauben, dass Wissenschaft und Journalismus gekauft sind. Man darf auch nicht vergessen, dass Verschwörungstheorien einfache Erklärungen in einer komplexen Welt liefern. Letztlich sind sie auch eine Form von Selbsterhöhung: Ich habe etwas erkannt, was alle anderen nicht verstanden haben. Das fühlt sich gut an und wird darum auch nicht einfach aufgegeben. Was kann man dagegen tun? Freistetter: Ich glaube nicht, dass man irrationalen Überzeugungen mit ratio-

nalen Argumenten begegnen kann. Es lohnt sich trotzdem, Falschinformationen richtigzustellen, damit jene, die nach Informationen suchen, sie auch finden. Man muss bewusst dafür sorgen, dass Wissen in der Welt ist. Ist es das nicht, dann kann man nicht darauf stoßen. Das heißt, Zugänge zu diesem Wissen zu schaffen – von Hochschulvorlesungen bis zu Instagram oder Podcasts. Damit steigt die Möglich-

Florian Freistetter, Astronom und Science Buster

keit, dass auch jene, die stur an irrationalen Überzeugungen festhalten, ins Grübeln kommen. Das muss von jedem selbst kommen. Man kann aber versuchen, das Interesse an „echtem Wissen“ zu wecken. Kommt damit der Wissenschaftskommunikation eine größere Rolle als bisher zu? Freistetter: Forscher*innen, die viel Wissenschaftskommunikation betreiben, werden oft danach gefragt, ob sie noch zum Forschen kommen. Man könnte aber auch fragen, wann kommst du zum Kommunizieren, wenn du nur im Labor stehst? Ich glaube, dass die meisten Forschenden gern von ihrer Arbeit erzählen – und viele auch sehr gut darin wären. Weil es in ihrem Job bislang nicht vorgesehen war, haben aber nur wenige Erfahrungen damit gemacht. Mittlerweile setzt ein Umdenken ein. In vielen Studiengängen finden sich bereits einschlägige Lehrveranstaltungen, um künftige Wissenschaftler*innen besser auf diesen Bereich ihrer Arbeit vorzubereiten.

: E R N Ä H RU N G SW I SS E N S C H A F T

Elf Millionen sterben jährlich am Essen Falsche Ernährung bringt viele Menschen um. Daher raten Wissenschaftler*innen zu einem Speiseplan, der Planetary Health Diet

500 Gramm Obst und Gemüse, 250 Gramm Milchprodukte, 14 Gramm rotes Fleisch: Wer sich daran hält, bleibt nicht nur gesund, sondern schützt auch den Planeten. 2019 veröffentlichte die EAT-Lancet-Kommission die Planetary Health Diet, einen Speiseplan, der von 37 Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen entwickelt wurde. Das Ziel: Ein nachhaltiges Ernährungssystem für eine steigende Weltbevölkerung innerhalb planetarer Grenzen. Richtiges Essen kann 62 Prozent der CO2-Emissionen einsparen Die Ernährung macht laut Weltklimarat in Summe zwischen elf und 37 Prozent aller vom Menschen verursachten Treibhausgasemissionen aus. Gleichzeitig sterben elf Millionen Menschen pro Jahr an den Folgen einer schlechten Ernährung. „Hier gibt es also großes Einsparungspotenzial“, betont Martin Schlatzer, Ernährungsökologe am Forschungsinstitut für Biologischen Landbau in Wien. Wür-

den sich die Einwohner*innen wohlhabender Länder an die Empfehlungen der Planetary Health Diet halten, könnten laut aktueller Studie 62 Prozent der landwirtschaftlichen Emissionen eingespart werden. „Durch die weltweite Umstellung auf pflanzenbetonte Ernährung würde außerdem zusätzliches Land frei werden, das Treibhausgase aus der Atmosphäre speichern kann“, erklärt Schlatzer und fügt hinzu: „So könnte jene Menge gespeichert werden, die dem 81-Fachen der jährlichen Treibhausgasemissionen der gesamten landwirtschaftlichen Produktion für reichere Länder entspricht.“ Österreich isst um zwei Drittel zu viel Fleisch „Je weniger tierische Produkte, umso größer der Beitrag für das Klima“, sagt der Ernährungsexperte. Bei der Planetary Health Diet liegt die Empfehlung bei 5 Kilogramm Fleisch pro Jahr. Das entspricht einem Rindfleischburger pro Woche oder einem Steak pro

Monat. „Wir essen in Österreich jährlich ca. 61 Kilogramm Fleisch pro Person, das sind schon um zwei Drittel zu viel Fleisch, als gesundheitlich von der Österreichischen Gesellschaft für Ernährung empfohlen wird.“ Im Falle eines reduzierten Rindfleischkonsums wären die Auswirkungen auf das Klima am frühesten zu sehen, da dieser mit Methanemissionen verbunden ist. Schlatzer: „Die Lebenszeit von Methan, einem sehr klimawirksamen Treibhausgas, beträgt 12,4 Jahre. Im Vergleich dazu sind bei CO2 nach 1.000 Jahren noch rund 15 bis vierzig Prozent in der Atmosphäre übrig.“ Schneller sichtbar wären Co-Benefits wie die Reduzierung der RegenwaldMartin Schlatzer, Forschungsinstitut für Biologischen Landbau, Wien

abholzung für Futtermittel und Rindfleisch in Südamerika oder die Steigerung der Ernährungssicherheit und Gesundheit. Rein pflanzliche Ernährung verringert verfrühte Todesfälle Die Ernährung hat einen wesentlichen Einfluss auf die Erreichung des Pariser Abkommens. Allerdings stellt sich die Frage, ob es angesichts der derzeitigen Klimasituation noch radikalere Ernährungspläne als die Planetary Health Diet braucht. „Eine weltweit vegane Ernährung würde zirka die doppelte Menge an den gesamten Treibhausgasemissionen einsparen, die die Europäische Union pro Jahr emittiert“, erklärt Schlatzer. Ein Ergebnis von rein pflanzlicher Ernährung würde sich an der Zahl der vermiedenen verfrühten Todesfälle zeigen: „Die könnte sich auf rund 8,1 Millionen belaufen – das ist fast das Doppelte der Einwohner*innenzahl von Kroatien.“

FOTO: FRANZI SCHÄDEL/CC-BY-SA 4.0, MUTTER ERDE / THOMAS JANTZEN

LISA SCHÖTTEL


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: K Ü N ST L I C H E S F L E I S C H

Den eigenen Lachs in der Küche drucken Revo Foods, ein österreichisches Start-up, macht es vor: urbane Lebensmittelerzeugung ohne Töten von Tieren und Umweltbelastung ORTRUN ANDREA VEICHTLBAUER

Um die Nahrungsmittelversorgung in Zukunft zu gewährleisten, werden dazu unter anderem Makroalgen, Mangrovenquallen, Halophyten, Insekten, zellbasiertes In-vitro-Fleisch, aber auch durch 3-D-Druck hergestellte essbare Formen aus flüssigen oder halbfesten Lebensmittelmaterialien herangezogen.

Gefühl, etwas zu vermissen. In unserem Fall ist besonders die Überfischung ein Thema, und wenn unsere Produkte dazu beitragen, dass weniger Fische aus dem Meer gefangen werden, dann haben wir unser Ziel erreicht.

So stellt das von Robin Simsa 2020 gegründete Wiener Start-up Revo Foods veganen „Lachs“ im 3-DBiodruckverfahren her. Simsa hat an der Wiener Universität für Bodenkultur, in Frankreich und Spanien studiert und in Schweden und den USA an „cultured meat“ geforscht. Nun druckt er „Lachs“ im 3-D-Drucker. Dieser basiert auf Extrusion, d. h., eine bewegliche Düse extrudiert eine essbare Masse in einem durch ein 3-DModell vorgegebenes Muster, um aus pflanzlichen Zutaten fischähnliche Texturen herzustellen.

Die persönlichen Hebel bedeuten für Konsument*innen weniger heizen, weniger fliegen, weniger tierische Produkte. Wie passt Ihr Produkt in einen klimafreundlichen Speiseplan? Simsa: Unsere Produkte sind deutlich klimafreundlicher als konventionelle Fischprodukte. Sie stoßen in der Produktion bis zu 75 Prozent weniger Treibhausgase aus, sparen bis zu fünfzig Prozent Energie und bis zu neunzig Prozent Frischwasser. Außerdem wird die Biodiversität im Wasser erhalten. Fleisch- und Fischalternativen sind in jeder Hinsicht nachhaltiger als tierische Produkte – daher auch ihr große Potenzial.

Herr Simsa, wie würden Sie den Beitrag von Revo Foods für die Entwicklung einer nachhaltigen und krisenresilienten Gesellschaft beschreiben? Robin Simsa: Menschen lieben den Geschmack von Fleisch, was den Umstieg auf eine fleischlose Ernährung schwierig macht. Hier setzen Fleischalternativen an: Sie bieten Geschmack und Nährwert ohne das

Aus was besteht der Revo-Lachs? Simsa: Der Revo-Lachs besteht vorrangig aus Erbsenproteinen, Algenextrakten und pflanzlichen Ölen. Damit erzielen wir auch einen hohen Omega-3- und Proteingehalt, selbstverständlich ohne Schadstoffe wie Quecksilber oder PCBs, die oft in konventionellem Fisch enthalten sind. Da Menschen den Geschmack von Fisch

Simsa: Definitiv. Die Meere machen über 70 Prozent der Erdoberfläche aus und sind auch für das Überleben der Menschen essenziell.

Robin Simsa produziert Lachs im 3-D-Drucker statt im Meer

lieben, ist es wichtig, genau diesen Geschmack auch in veganen Lebensmitteln anzubieten, um eine tierfreie Ernährung zu erleichtern. Das Essen ist kulturell geprägt, viele Rezepte basieren auf tierischen Produkten. Damit sich Menschen nicht an neue Ernährung gewöhnen müssen, sollen unsere Produkte genauso wie die tierischen Produkte in Rezepte eingearbeitet werden können. Trägt das zum Schutz aquatischer Ökosysteme bei?

Revo Foods ist ein Beispiel für urbane Nahrungsmittelproduktion. Wie wird die Transformation in diesem Bereich weitergehen? Fischdrucken in Geräten für den innerstädtischen Hausgebrauch? Simsa: In Zukunft ist der 3-D-FoodPrinter für den Hausgebrauch vorstellbar ähnlich wie eine Mikrowelle oder ein Backofen. Man kauft einige Grundzutaten, und der Drucker produziert daraus in kürzester Zeit eine warme Speise. Im Idealfall kann so jeder ohne viel Aufwand eine wohlschmeckende und gesunde Mahlzeit erhalten. Auch hat man eine große Flexibilität bei der Auswahl von Gerichten. Wird es gelingen, künftige Generationen mit ausreichend gesunden Nahrungsmitteln zu versorgen? Simsa: Von tierischen Lebensmitteln wegzukommen würde einen riesigen Beitrag zu einer nachhaltigen Ernährung leisten, daher ist ein Fokus darauf erforderlich. Wir können definitiv auch zukünftige Generationen ernähren. Unsere und auch andere Firmen wollen dazu einen großen Beitrag leisten.

: B O D E N E RO S I O N

Dürre, Regen und die Ernte im Südsudan Durch Abholzen der Wälder gibt es in Trockenphasen kaum mehr Wasserreserven im Boden. Und Starkregen schwemmt das Saatgut weg

FOTOS: THOMAS SEIFERT, REVO FOODS

LISA SCHÖTTEL

„Die lange Regenzeit im Südsudan dauert normalerweise von März bis Juli. Heuer kam es hier bereits im März zu drei starken Regengüssen. Die Bauern begannen mit der Aussaat, doch in weiterer Folge blieb der Regen aus und das Saatgut vertrocknete“, erzählt Matthias Fettback, technischer Berater für Ernährungssicherung der Caritas Österreich im Südsudan. Die Regenzeiten verschieben sich, trockene Böden und Kurzzeitdürren verhindern das Auflaufen des Saatguts, und sobald es aufgelaufen ist, wird es durch Überflutungen wieder weggeschwemmt. Bernhard Freyer, Leiter des Instituts für Ökologischen Anbau an der BOKU Wien: „Durch

die Abholzung der Wälder gibt es in den Trockenphasen kaum mehr Wasserreserven im Boden. Bei Starkregen ist der Boden wiederum nicht in der Lage, das Wasser aufzunehmen.“ Hauptursache dieser geringen Speicherfähigkeit der Böden sei das Fehlen der nährenden Humusschicht: „Das ist vor allem auf die Abholzung der Wälder zurückzuführen. In man-

Bernhard Freyer, BOKU Wien

chen Regionen liegt der Waldanteil bei nur mehr drei Prozent. Das hat verheerende Auswirkungen auf die Landwirtschaft.“ Der Lateritboden wird außerdem von der Sonne so stark aufgeheizt, dass heißer Wind nach oben steigt und die Wolkendecke auseinanderreißt. „Das erzeugt Wolkenlöcher. Der Regen fällt nicht mehr flächendeckend“, erklärt Matthias Fettback. Wie ein Turbo für diese Wolkenlöcher wirken Buschbrände. „Früher haben diese Brände nichts ausgemacht, weil die Regenwälder noch feucht und dicht waren. “ Um die Bevölkerung vor möglichen Ernteausfällen zu schützen, er-

stellte der Tropenlandwirt aktuelle landwirtschaftliche Kalender mit integrierten Frühwarnsystemen. „Dabei ist es wichtig, auch traditionelle Frühwarnsysteme wie die Beobachtung von Grundwasserspiegel und Pegelständen miteinzubeziehen.“ Die Ausweitung des Ackerbaus durch integrierte Tierhaltung sei für die Bevölkerung des Südsudans lebensnotwendig geworden. Freyer plädiert für eine rasche Transformation hin zur Ökolandschaft, um durch den Einsatz von humusnährenden Methoden die Nutzfläche zu regenerieren. Hier muss allerdings schnell gehandelt werden, denn, so Freyer: „Viele Böden sind schon jetzt irreversibel zerstört.“


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Verhungernde? Nicht hinschauen! Bis zu 811 Millionen Menschen hungern. Medien nehmen davon nur am Rande Notiz aut dem Welternährungsbericht der Vereinten Nationen ist die Zahl der chronisch Hungernden im Jahr 2020 weltweit auf 720 bis 811 Millionen Menschen gestiegen. Mit rund 418 Millionen gibt es die meisten chronisch Hungernden in Asien, gefolgt von Afrika mit 282 Millionen sowie Lateinamerika und der Karibik mit 60 Millionen. Damit hungert etwa jeder zehnte Mensch auf der Welt. Mehr Menschen sterben hungers als an Aids, Malaria und TBC zusammen Über zwei Milliarden Menschen leiden an Mangelernährung. Alle dreizehn Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Hunger. Das sind pro Jahr fast 2,5 Millionen Kinder. Das World Food Programme der Vereinten Nationen macht deutlich, dass jährlich mehr Menschen „an den Folgen des Hungers sterben […] als an Aids, Malaria und Tuberkulose zusammen.“ Diese Tatsache wird in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen oder medial thematisiert. So auch in der Nachrichtensendung mit der größten Reichweite im deutschsprachigen Raum, der Hauptausgabe der deutschen „Tagesschau“ um 20 Uhr, die im Jahr 2020 im Mittel täglich von fast 12 Millionen Menschen gesehen wurde. Im gesamten Jahr 2020 griffen lediglich neun der insgesamt über 3.000 ausgestrahlten Beiträge (ohne Sport und Wetter) das Thema Hunger auf. Zum Vergleich: Mit der Coronapandemie beschäftigten sich im selben Zeitraum fast 1.300 Beiträge. Die Berichte zum Thema Hunger sind häufig nicht nur sehr kurz, sondern werden in der Regel auch nur in der zweiten Sendungshälfte ausgestrahlt. Dabei hat sich die Situation weiter zugespitzt. Die Auswirkungen der Sars-CoV-2/ Covid-19-Pandemie haben die Zahl der Hungernden ansteigen lassen. Die Welthungerhilfe sprach von einer „stillen Tragödie“, die immer mehr in den Hintergrund rücke. Der Exekutivdirektor des World Food Programme warnte in einer medial wenig beachteten virtuellen Sitzung des UN-Sicherheitsrates vor einer „Hungerpandemie“ im Schatten der Coronapandemie. Am 13. Juli 2020 verwiesen die Vereinten Nationen in ihrem Welternährungsbericht auf die drohende Zunahme der Zahl der Hungernden um 130 Millionen Menschen. Entgegen der Dramatik der Lage berichtete die deutsche „Tagesschau“ darüber in einem 35 Sekunden langen Beitrag. Der Bericht über die Auszeichnung des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen mit dem Friedensnobelpreis am 9. Oktober 2020 wurde als letzter von insgesamt acht Beiträgen ausgestrahlt. Es handelt sich hierbei um keinen Ausnahmefall, die Vernachlässigung des Themas hat Routine. Denn ebenso verhielt es sich bereits im Jahr 2011, als eine Hungersnot am Horn von Afrika in Somalia

TEXT: LADISLAUS LUDESCHER

„Mit einem Aufwand von vierzig Milliarden Dollar bis 2030 könnte der Hunger aus der Welt geschafft werden“ GERD MÜLLER, EHEMALIGER DEUTSCHER ENTWICKLUNGSMINISTER

Ladislaus Ludescher

fast 260.000 Menschenleben forderte, unter denen die Hälfte Kinder unter fünf Jahren waren. In den wichtigsten Medien wie der „Tagesschau“ wurde hierüber nur am Rande berichtet. Im kollektiven Gedächtnis des Westens ist dieses dramatische Ereignis nicht existent. Nahezu jedem ist die Kernreaktorkatastrophe von Fukushima bekannt, die sich ebenfalls 2011 ereignete, aber kaum jemand verbindet mit diesem Jahr auch den Hungertod von über einer Viertelmillion Menschen am Horn von Afrika. Noch nie ist der globale Hunger in den politischen Talkshows wie „Anne Will“, „Hart aber Fair“, „Maybrit Illner“ oder „Maischberger“ zum Diskussionsthema gemacht worden, obwohl jeden Tag Millionen von Menschen hiervon betroffen sind. Der Hungertod von Tausenden Menschen täglich nicht berichtenswert? Fast scheint es, dass der Hungertod von Tausenden Menschen, der sich tagtäglich ereignet, für alltäglich genommen wird und daher seinen Status als „berichtenswert“ verloren hat. In der „Tagesschau“ übertrifft die Sendezeit für Sportergebnisse diejenige für den Globalen Süden ohne die sogenannte MENA (Middle East & North Africa)-Region. Wie eine Studie mit dem Titel „Vergessene Welten und blinde Flecken“ zeigt, spielt der Globale Süden in sogenannten Leitmedien kontinuierlich eine sehr untergeordnete Rolle. Die fortgesetzte Langzeituntersuchung, die mittlerweile rund 5.500 Sendungen der „Tagesschau“ aus den Jahren 2007 bis 2021 sowie andere sogenannte Leitmedien ausgewertet hat, gelangt zu dem Schluss, dass der Globale Süden in diesen massiv vernachlässigt wird. Während der Coronapandemie ist der Globale Süden in der Aufmerksamkeit noch weiter in den Hintergrund gerückt. In den Jahren 2020 und 2021 berichtete die „Tagesschau“ in lediglich etwa vier Prozent ihrer Sendezeit, die sich mit den Auswirkungen der Pandemie beschäftigte, über die Lage in den Ländern des Globalen Südens. Von den insgesamt 54 Staaten, die in der „Tagesschau“ im Jahr 2021 kein einziges Mal erwähnt wurden, gehören 52 zum Globalen Süden. Obwohl es nicht an negativen Ereignissen in Bezug auf die globale Hungersituation mangelte (so beispielsweise im Zusammenhang mit der katastrophalen Ernährungslage in Syrien, Afghanistan, Madagaskar oder im Jemen), schaffte es das Thema Hunger nicht in die Topmeldungen. Die aktuelle Hungersituation ist zweifelsfrei besorgniserregend, aber besonders aufwühlend erscheint, dass es sich hierbei um ein durchaus lösbares Problem handelt. In der Tat bezeichnet das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen Hunger als „das größte lösbare Problem der Welt“.

So gehen Schätzungen davon aus, dass die aktuellen Rekordernten ausreichen würden, um bis zu 14 Milliarden Menschen zu ernähren. Die Kosten des größten lösbaren Problems der Welt Die Berechnungen, wie viel Geld notwendig wäre, um den Hunger auf der Welt zu besiegen, divergieren und richten sich auch nach den jeweiligen konkreten Zielsetzungen. Laut dem International Institute for Sustainable Development (IISD) werden global jährlich zwölf Milliarden Dollar zur Hungerbekämpfung ausgegeben. Zusätzliche 14 Milliarden Dollar pro Jahr könnten, so einer im Jahr 2020 vorgestellten Berechnung des kanadischen Instituts in Kooperation mit dem International Food Policy Research Institute (IFPRI) und der Cornell University zufolge, bis 2030 rund 500 Millionen Menschen aus Hunger und Fehlernährung befreien. Der ehemalige deutsche Bundesentwicklungsminister Gerd Müller, der Hunger wiederholt als Mord bezeichnete, bezifferte die notwendige Summe zur Beendigung des Hungers bis zum Jahr 2030 auf 40 Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr. Er machte deutlich, dass Hunger ein Skandal sei, da sowohl das Wissen wie auch die Technologie zur Verfügung stehen, um alle Menschen auf der Welt zu ernähren. Mag diese Summe auch hoch erscheinen, verblasst sie doch neben den vom schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI auf 1.984 Milliarden Dollar geschätzten globalen Militärausgaben im Jahr 2020. SIPRI wies darauf hin, dass die Ausgaben trotz Pandemie gegenüber dem Vorjahr um 64 Milliarden Dollar gestiegen sind und einen Höchststand seit Beginn der Erhebungen im Jahr 1988 markieren. Die Medien könnten durch eine konsequente Berichterstattung das öffentliche Bewusstsein für die Problematik schärfen und sie in den Fokus des gesellschaftlichen Diskurses bringen. Denn wie lange könnte sich die internationale Politik der Lösung des „größten lösbaren Problems der Welt“ verweigern, wenn der globale Hunger zu einem Topthema in den Medien und damit auch in der Öffentlichkeit gemacht werden würde? Die entscheidende Frage lautet daher nicht nur, wie viel Geld uns eine Welt ohne Hunger wert ist. Es geht vor allem auch darum, wie viel unserer medialen Zeit und Aufmerksamkeit wir dafür einsetzen. Die vollständige Studie „Vergessene Welten und blinde Flecken“ über die mediale Vernachlässigung des Globalen Südens, eine Videozusammenfassung, eine Unterschriftenpetition sowie Informationen zu einer auf der Untersuchung beruhenden PosterWanderausstellung können kostenlos eingesehen beziehungsweise heruntergeladen werden auf: WWW.IVR-HEIDELBERG.DE

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FOTO: GREGG SEGAL

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Kawakanih (9) lebt mit ihrem Stamm, den Yawalapiti, im Xingu-Nationalpark, einem Naturschutzgebiet im Amazonasbecken von Brasilien, umzingelt von Rinderfarmen und Sojabohnenkulturen. Ihre Ernährung ist sehr einfach und besteht hauptsächlich aus Fisch, Maniok, Brei, Obst und Nüssen

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Wir essen zu viel Fleisch Das schadet unserer Gesundheit, unserer Lebenserwartung, dem Klima und den Tieren s gibt viele Menschen, die glauben, es sei ungesund, sich ohne Fleisch zu ernähren“, sagt Martin Schlatzer vom Forschungsinstitut für Biologischen Landbau (FiBL) in Wien. „Wir essen in Österreich und den anderen Industriestaaten zwei Drittel mehr Fleisch, als es für die Gesundheit verträglich wäre. In Österreich rund 65 Kilogramm pro Person und Jahr. Weltweit sterben durch diese Art der Ernährung pro Jahr elf Millionen Menschen vorzeitig“. Covid-19 verursachte 5,5 Millionen Todesfälle in zwei Jahren. „Es geht mir nicht darum, die Zahl der Covid-Toten zu relativieren, noch will ich die Ernährungsproblematik dramatisieren.“ Der Vergleich soll verständlich machen, warum Wissenschaftler*innen von einer „stillen Pandemie“ sprechen, die eine auf tierische Lebensmittel ausgerichtete Ernährungsweise verursacht. „Fünf Millionen Menschen würden pro Jahr weniger sterben, wenn sie nur ein- bis zweimal pro Woche eine kleine Portion Fleisch oder Wurstprodukte konsumieren.“ „Es gibt mittlerweile genügend harte Daten, die zeigen, dass ein hoher Fleischkonsum der Gesundheit nicht zuträglich ist“, erklärt auch Kurt Widhalm, Leiter des Österreichischen Akademischen Institutes für Ernährungsmedizin (ÖAIE) in Wien. Er erhöht die Risiken und Fallzahlen der HerzKreislauf-Erkrankungen, Schlaganfälle, für erhöhten Blutdruck, Krebs und neurologische Probleme. „Studien zeigen, dass Menschen, die weniger Fleisch essen, eher nicht dazu neigen, dement zu werden.“ Unser Fleischkonsum verstärkt auch den Klimawandel Es ist mittlerweile auch unumstritten, dass die Fleischerzeugung maßgeblich zur globalen Erwärmung beiträgt. „Die Ernährung verursacht 25 bis 30 Prozent aller klimarelevanten Emissionen in Österreich“, bezieht sich Schlatzer auf eine Studie von ihm. Rindfleisch verursacht pro Kilogramm Lebensmittel bis 30 Tonnen CO2, Schweinefleisch bis zehn Tonnen und Geflügel bis sieben Tonnen. Käse bis zu 13 Tonnen CO2 pro Kilogramm. Zum Vergleich: Bei Gemüse beträgt sie 0,2 Tonnen und bei Getreideprodukten 0,7 Tonnen pro Kilogramm. Laut Berechnungen von Schlatzer und seinem Kollegen Thomas Lindenthal emittiert eine Person in Österreich durchschnittlich eineinhalb Tonnen CO2 pro Jahr durch fleischlastige Ernährung. Zwei Drittel weniger Fleisch und Wurst würde sie um 28 Prozent verringern, bei Bio-Kost sogar um 41 Prozent. „Biologische Landwirtschaft bewirkt bei den meisten Lebensmitteln eine Reduktion der Treibhausgasemissionen pro Kilogramm Produkt vor allem durch das Verbot, chemisch-synthetischen Stickstoffdünger einzusetzen“, erklärt Schlatzer. Eine vegetarische Kost ohne Verzicht auf Milchprodukte und Eier verursacht halb so viel

TEXT: JOCHEN STADLER

„Studien zeigen, dass Menschen, die weniger Fleisch essen, eher nicht dazu neigen, dement zu werden“ KURT WIDHALM, ÖSTERREICHISCHES AKADEMISCHES INSTITUT FÜR ERNÄHRUNGSMEDIZIN

Emissionen wie die derzeitige Ernährung, vegane Kost aus Bio-Anbau um 76 Prozent weniger. Auch der in Österreich exzessive Landverbrauch würde durch eine fleischärmere Ernährung eingedämmt. Derzeit nimmt jede Person für ihre Ernährung 1.832 Quadratmeter bewirtschaftete Fläche in Anspruch. Bei einer fleischreduzierten Kost wären es 1.266 Quadratmeter, bei vegetarischer 1.069, bei Veganismus 629. Damit würden in Österreich Flächen für naturnahe Strukturen wie Wälder, Wildstreifen und Erholungsgebiete frei. Widhalm verweist auf Daten aus der EAT-Lancet-Studie (siehe Seite 8), die zeigen, dass auch der Wasserverbrauch gesenkt würde. Da in Zukunft sauberes Trink- und Nutzwasser immer kostbarer wird (siehe Seite 7), wäre dies ein weiterer immenser Vorteil einer vorwiegend pflanzenbasierten Kost. „Tierische Nebenprodukte“ sind insgesamt nur nebensächlich Nebst Fleisch, Milch und Eiern gewinnen die Menschen aus der Tierzucht auch noch sogenannte tierische Nebenprodukte: Leder für Schuhe und Kleidung, Knochen und Knorpeln (etwa von Ohren und Schweinsrüsseln) für Gelatine und Tiernahrung, Horn aus Hufen und Schweineborsten für Bürsten. Gelatine findet sich unter anderem in Gummibärchen und Tortentoppings, in Medikamentenkapseln, Shampoos und sogar auf Fotopapier wieder. „Für Österreich und Länder des Globalen Nordens würde ich ausschließen, dass ein relevanter Teil der Tiere für solche Nebenprodukte gehalten wird“, erklärt Stefan Hörtenhuber vom Institut für Nutztierwissenschaften der BOKU Wien. Daten darüber ließen sich kaum finden. Auch im Rest der Welt würde Vieh „entweder primär als Nahrungsquelle genutzt“, teils als Hobby gezüchtet oder aus traditionellen bis religiösen Gründen ohne direkte Verwendung gehalten. „Das Anfallen von Nebenprodukten wirft je nach Tierart und Region durchaus einen finanziellen Beitrag ab, der die Erzeugung billiger tierischer Nahrung stützen kann“, sagt Hörtenhuber. Sie erhöhen also die Gewinnmargen der Tierhaltung für Nahrungsmittel, machen sie teilweise vielleicht erst rentabel. „Den Nebenprodukten bis hin zu Schlachtabfällen kann man wohl nur einen recht kleinen Beitrag an den CO2-Äquivalenten zuschreiben. Die weitaus größeren Umweltwirkungen kommen von Fleisch, Milch und Eiern.“ Tiere sind fühlende Lebewesen mit dem Vermögen zu leiden, mit Gerechtigkeitsempfinden und Empathie. Das haben in den vergangenen Jahrzehnten Forscher wie der niederländische Biologe Frans de Waal nachgewiesen. So ist vor allem die Massentierhaltung ethisch immer eine Gratwanderung zwischen Tierleid und Nutzen für Menschen. Selbst in reichen, prinzipiell

sehr gut regulierten Industrieländern wie Österreich kommt es zu Skandalen, die zeigen, dass Tierwohl meist nebensächlich ist. So lässt sich die intensive Tierhaltung ethisch kaum rechtfertigen. Auch wenn die offiziellen Regularien eingehalten werden, kann man kaum von „Tierwohl“ sprechen, wenn etwa einem Schwein laut EU-Vorgabe 0,65 Quadratmeter Stallboden zustehen und die Tiere nie Sonnenlicht sehen. Als Alternative werden von der Wissenschaft Retortenfleisch aus dem Labor und Insekten als Nahrung für Menschen genannt (siehe Seite 9). „Ich glaube aber, dass die Hemmschwelle bei beidem sehr hoch ist“, meint Martin Schlatzer. Fleisch aus dem Labor sei „eher negativ assoziiert“. Man hätte wohl sehr viel Überzeugungsarbeit zu leisten, damit es in Europa in nennenswerten Mengen akzeptiert wird. Außerdem müsste man sich bei Herstellung in größerem Maßstab „die Ökobilanz genauer anschauen“. Derzeit sei die Fleischzucht im Reagenzglas noch sehr energieintensiv. Als Positiva nennt er, dass man Retortenfleisch „gesundheitlich verträglicher“ gestalten könnte als herkömmliches und die Gefahr von Pandemien durch von Tier auf Mensch übertragbare Erkrankungen reduziert wird. Außerdem gäbe es bei „Fleisch aus der Laborschale“ kein Tierleid, denn es werden dazu lediglich einzelne tierische Stammzellen verwendet. Soziale Normen verhindern eine vernünftige Ernährung Wenn es sich um eine fleischreduzierte „flexitarische“, eine ovo-lakto-vegetarische oder vegane Ernährung handelt (und wenn das Fleisch aus dem Labor kommt), sprechen Expert*innen von einer Gewinnsituation in dreifacher Hinsicht: für das Klima, die Gesundheit und das Tierwohl. Man kann also zu diesen drei Bereichen etwas Positives beitragen, indem man einfach deutlich weniger Fleisch isst. Die stark reduzierten Fleischportionen auf unseren Tellern sollten außerdem aus weniger intensiver Landwirtschaft stammen. Noch ist nicht eindeutig bewiesen, dass Bio-Produkte wirklich gesünder für die Konsument*innen sind, für das Klima, die Umwelt und das Tierwohl sind die Vorteile von Biolandbau jedoch belegt. Doch wie bringt man österreichische Schweins-Cordon-Bleu-Aficionados dazu, auf Zellerschnitzel umzusteigen? „Bei der Umstellung auf klimafreundliche Ernährung sind sie sozialen Normen der wichtigste Faktor“, erklärt Sibel Eker vom Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse in Laxenburg in einer Studie. Ist es in einer Gesellschaft wie der österreichischen üblich, oft Fleisch zu essen, werden es die meisten tun. Ist es verpönt, machen es die wenigsten. Es bräuchte eine Trendwende der sozialen Normen. Wer diese bewerkstelligen kann? Am schnellsten junge Leute und hier vor allem Frauen, erklärt uns die Forschung.

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FOTO: GREGG SEGAL

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Yusuf (9) lebt in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Seine Mutter kam aus Irland nach Dubai, um als Konditorin und Chocolatier zu arbeiten. Yusuf liebt die Küche seiner Mutter, Eierspeise und Toast kann er sich allerdings schon allein zubereiten


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Da ist der Wurm drin In vielen Teilen der Welt ist Insektenessen Tradition, in Europa ein Tabu in Blick ins Kühlregal zeigt: Protein ist in! Viele Sorten an High-ProteinJoghurts, Molkeprodukten oder isländischem Skyr stehen zur Wahl. Rund elf Gramm Eiweiß pro 100 Gramm sind es bei Skyr, etwa 25 Gramm bei einem Riegel. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt täglich mindestens 0,8 Gramm Eiweiß pro Kilo Körpergewicht. Bei 60 Kilo wären das 48 Gramm. Dafür ist der Griff zu teurem Lifestylefood nicht notwendig, es geht auch günstiger: 23 Gramm Eiweiß pro 100 Gramm bringen Linsen, Bohnen 21 und Eier 13 Gramm Eiweiß pro 100 Gramm. Linsen und Bohnen müssen angebaut und bewässert, für Eier müssen Hühner gehalten werden. Insekten haben nicht nur mehr Eiweiß, auch ihre Aufzucht ist effizienter. Daher kommen sie oft als Ausweg aus einer drohenden Nahrungsmittelknappheit ins Spiel. Rund 60 Gramm Eiweiß pro 100 Gramm hat die Grille, 56 Gramm die Wanderheuschrecke und etwa 45 der Mehlwurm – ein riesiger Topf voller Krabbeltiere! Stattdessen mischt man sie gefriergetrocknet und pulverisiert dem Mehl bestimmter Nudeln, Hamburger-Bratlingen oder Brot bei oder fügt sie in einschlägigen Restaurants bestimmten Speisen zu: „Kalorienarme PestoZoodles mit Chili-Würmchen“, „KurkumaPorridge mit Mehlwurm-Crunch“ oder „Erfrischendes Beeren-Nuss-Eis mit Insektenprotein“, lautet dann etwa die Speisekarte. Drei „neue“ Lebensmittel auf der Liste der Europäischen Union „Einfach so“ darf ein Lebensmittelproduzent oder Restaurant das nicht machen. Was in der EU als essbare Neuheit verkauft wird, muss von dieser genehmigt sein. Darüber entscheidet die Novel-Food-Verordnung, also die Verordnung über neuwertige Lebensmittel. Als solche gelten jene, „die vor 1997 unabhängig von den Zeitpunkten der Beitritte von Mitgliedstaaten zur Union nicht in nennenswertem Umfang in der Union für den menschlichen Verzehr verwendet wurden“. Dazu gehören Nanomaterial bei der Produktion, geklonte Tiere und Insekten. Derzeit stehen der Mehlwurm, die Europäische Wanderheuschrecke und die Hausgrille auf der Zulassungsliste der EU: gefroren, getrocknet oder in Pulverform. Bevor sie durch Einfrieren getötet werden, müssen sie einer 24-stündigen Futterkarenz unterzogen werden – dann ist ihr Darm wirklich leer. 2018 stellte eine niederländische Firma bei der EU den Antrag über die Hausgrille („Acheta domesticus“) „zur Verwendung als Snacks und Lebensmittelzutat“. In den Niederlanden scheint das Interesse an Speiseinsekten groß: So hat die Universität von Wageningen 2017 eine globale Liste von 2.111 essbaren Insekten erstellt: Käfer, Fliegen, Motten, Bienen, Skorpione, Spinnen,

TEXT: SABINE EDITH BRAUN

„Die essbare Stinkwanze liefert zwölf Aminosäuren und enthält viel Rohprotein und Fette“ BALDWYN TORTO, INTERNATIONAL CENTRE OF INSECT PHYSIOLOGY AND ECOLOGY NAIROBI

Linktipps (für Unerschütterliche): www.herold.at/ blog/insektenessen-in-wien https:// foodinsects.de

die „essbare Stinkwanze“ („Encosternum delegorguei“) u. v. m. Die Stinkwanze, ein sehr wertvolles Nahrungsmittel Eine Studie des International Centre of Insect Physiology and Ecology (ICIPE) in Nairobi hat die ernährungsphysiologische Bedeutung der Stinkwanze bestätigt: „Wir fanden heraus, dass der Käfer eine reiche Quelle an Fettsäuren ist, darunter sieben, die als wesentlich für die menschliche Ernährung und Gesundheit gelten. Das Insekt enthält auch einige Flavonoide, eine Nährstoffgruppe, die vor allem für ihre antioxidative und entzündungshemmende Wirkung bekannt ist“, schreibt der Ökologe Baldwyn Torto. „Die essbare Stinkwanze liefert zwölf Aminosäuren, von denen zwei in der überwiegend auf Getreide basierenden Ernährung, die in vielen Teilen Afrikas konsumiert wird, oft fehlen. Das Insekt enthält auch viel Rohprotein und Fette, und obwohl es keine großartige Quelle für Mineralien ist, enthält es Phosphor in relativ hohen Mengen.“ In Südafrika, Malawi und Simbabwe werden Stinkwanzen seit Generationen gegessen. Im südafrikanischen Volk der Venda in der Provinz Limpopo sowie bei den Mapulana in der Provinz Mpumalanga gelten sie als Delikatesse. Wie schmackhaft sie sind, hänge jedoch vom erfolgreichen Entfernen der bitteren und stinkenden Abwehrsekrete ab. Dies geschieht durch mechanisches Auspressen nach dem Köpfen (bei toten Wanzen) bzw. durch das Rühren in heißem Wasser (bei lebenden Wanzen), wie es auf der Homepage des South African National Biodiversity Institute (SANBI) in einem Eintrag zum „Tier der Woche“ heißt. Wenn einem beim Lesen solcher Sätze übel wird, liegt dies daran, dass Entomophagie, oder korrekter: Anthropo-Entomophagie, also der Verzehr von Insekten durch Menschen, in Europa ein Nahrungstabu darstellt. Ob etwas als essbar oder als besonders gut gelte, sei kulturell bedingt, sagt die Kultur- und Sozialanthropologin Gabriele Weichart. Auch Abscheu und Ekel seien stark kulturell bedingt. Sie selbst hat Anfang der 2000er ein Jahr auf der indonesischen Insel Sulawesi „am Land“ gelebt und dort alles gegessen, was auf den Tisch kam: also Wildschwein, Schlangen, Waldratten, Fledermäuse – und Maden. „Die waren ausgezeichnet“, sagt sie, „außen crunchy, innen weich.“ Aber wonach schmecken sie? „Es ist ein nussiger Geschmack.“ Käse ist doch nur schlecht gewordene Milch, oder? Die aus Europa mitgebrachte Marmelade hat der indonesischen Gastfamilie übrigens nicht geschmeckt. „Das war ihnen zu sauer.“ Auf der anderen Seite war die Familie von der von Weichart zubereiteten klassischen Guacamole irritiert. „Avocados werden dort

ausschließlich mit Zucker und Kondensmilch oder auch Schokolade gegessen“, sagt sie. Apropos Milch: In Südostasien standen Käse und Joghurt bis vor Kurzem nicht auf dem Speiseplan, da sie als schlecht gewordene Milch gelten. Auch heute werden sie nur von einer Minderheit der urbanen Mittel- und Oberschicht konsumiert. Essen basiert also in erster Linie auf Sozialisation. Aber wie lange dauert es, bis ein Tabu fällt? „Ich glaube, das kann schnell gehen – innerhalb von einer Generation“, sagt Weichart. Es hänge von der Bereitschaft ab, sich auf Neues einzulassen, bzw. vom Willen, über den Tellerrand zu blicken. Dieser sei in der Stadt stärker ausgeprägt als auf dem Land. So findet man in Europa Lokale für Speiseinsekten im urbanen Raum – und kaum im Dorf. Die Anthropologin glaubt nicht, dass Europa künftig auf Insekteneiweiß zurückgreifen muss: „Wir essen längst nicht alles, was wir eigentlich essen könnten. Weil permanent alles verfügbar sein muss, wird viel zu viel weggeworfen.“ Weichart hält in diesem Semester an der Universität Wien mit einer indonesischen Kollegin das Seminar „Anthropology of Food“ ab. Übrigens: Auch in Europa gibt es vereinzelte Traditionen von Anthropo-Entomophagie. Selbst hierzulande wurde bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts „Maikäfersuppe“ gegessen. Rezept Maikäfersuppe (1882) „Morgens in der Frühe gesammelte Käfer – auf einen Teller Suppe rechnet man 15 Stück – werden in ein feines Sieb gethan und mehrmals schnell mit kochendem Wasser überschüttet. Dann werden sie getrocknet, und hierauf in einem Mörser zu Brei gestoßen. Dieser Brei wird gesalzen, mit Fleischbrühe ans Feuer gesetzt, das Ganze noch nach Geschmack gewürzt und schließlich die Suppe durch ein feines Sieb getrieben. Kenner versichern, daß diese Maikäfersuppe weder in Aussehen, noch Geruch und Geschmack sich von der Krebssuppe unterscheide.“ (aus: „Neuigkeits-Welt-Blatt“, 16. 5. 1882) Tequila mit Wurm: Vom Marketing-Gag zum Mythos Der Wurm in der Flasche geht auf den mexikanischen Schnapsbrenner Jacobo Lozano Páez zurück. Der hat in den 1950ern mit unterschiedlichen Agavensorten experimentiert und dabei entdeckt: Am besten schmeckt der Schnaps jener Agaven, deren Blätter von der Schmetterlingsraupe befallen waren. Zur Kennzeichnung legte er einen Wurm in die Flasche. Dieser Marketing-Gag machte seine Brände bekannt – und den Wurm zum Mythos. Der ist zwar heute mehr Ausnahme als Regel, aber in „Gusano Roja Mezcal“, „Lajita Mezcal“ und „Oro de Oaxaca“ ist tatsächlich noch der Wurm drin.

FOTO: ICEPE

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Im Garten von Alexandra (9) und Jessica (8) in Altadena, USA, wachsen Bananen, Granatäpfel, Guaven, Brombeeren, Trauben, Feigen und Pfirsiche. Außerdem hält die Familie Hühner, deren Eier sie täglich essen. Jessica liebt Süßigkeiten und Pizza, Alex’ Lieblingsgericht sind Makkaroni mit Käse

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Mehr als Wasabi aus Europa Eine Food-Trend-Forscherin über die Veränderung unseres Konsumverhaltens durch die Pandemie ragt man Hanni Rützler, ob sie als Food-Trend-Forscherin den schönsten Beruf der Welt habe, ist ihre Antwort ein herzliches Lachen. Sie hat sich diesen Beruf selbst geschaffen und dabei eine Art Ernährungssoziologie entwickelt. Schon seit Jahrzehnten fasziniert sie das Reflektieren über Lebensmittel, Nahrungskreisläufe und die Kultur des Essens. Heute gilt sie als Pionierin auf diesem Gebiet. Wer in ihrem aktuellen Food-Report 2022 auf Empfehlungen für bestimmte Lebensmittel oder eine ultimative Trendernährung hofft, wird enttäuscht. Sie schreibt über globale Megatrends wie Ernährungssicherheit, den Erhalt der Biodiversität oder Food Waste, die die Lebensmittelbranche auf allen Ebenen durchziehen und bis in unseren Alltag hinein prägen, was und wie wir essen. Forschung und neue Technologien rücken dabei immer näher mit der traditionellen Kulinarik zusammen. Das setzt neue Maßstäbe für die Zukunft unserer Ernährungsgewohnheiten. Corona hat all dies beschleunigt und verstärkt. The New Normal: Ein neues Werteparadigma beim Essen Laut Rützlers Ernährungsreport essen wir in Zukunft nicht nur für den Gaumen oder unsere Gesundheit sowie ein gutes Gewissen. Künftig essen wir für die Gesundheit des ganzen Planeten und die Ernährungssicherheit künftiger Generationen. Weg vom Ich hin zum Wir, einschließlich der Natur, verlangt ein neues Werteparadigma. Das bedeutet ganzheitliche, soziale und ökologische Nachhaltigkeit, Genuss und Wohlbefinden. Den passenden Speiseplan haben Wissenschaftler der EAT-Lancet-Kommission in der Planetary Health Diet schon berechnet (siehe Seite 8). Auch das Verständnis von Gesundheit greift weiter als die reine Optimierung durch bestimmte Nährstoffe. Im Food-WellBeing-Konzept werden emotionale, soziale, psychische und spirituelle Aspekte eingeschlossen. In ihrem Report kategorisiert die Lebensmittelsoziologin die Trends der vergangenen Jahre unter den Schlagworten Beyond Plastic, Transparency, Biodiversity, Plant Based. Shrimps und Kurkuma aus der Region: Local Exotics Regionale Lebensmittel, das Gute und Gesunde aus der Umgebung haben uns nicht nur satt gemacht, sondern während der Lockdown-Isolation auch Nähe und Verbundenheit vermittelt. Dabei sind neue „Locals“ entstanden: Neben saisonalem Obst und Gemüse kann man inzwischen auch exotische Produkte kaufen, die bisher nicht in unsere Breiten angebaut wurden. Etwa Reis aus Österreich, der als Trockenreis angebaut, geerntet, in eigener Reismühle geschält und poliert wird. Dazu Kurkuma, Gojibeeren und Ingwer aus

TEXT: DOROTHEE NEURURER

Hanni Rützler arbeitet im Forschungsfeld Ernährungssoziologie und erstellt Megatrends zu weltweiten Ernährungsgewohnheiten

Österreich, Deutschland und der Schweiz. Quinoa kommt nicht mehr nur aus Lateinamerika und Wasabi nicht mehr nur aus Japan, sondern auch aus Europa. Diese Local Exotics werden von Bauern in ihren Regionen mit viel Einsatz und Risikobereitschaft als zusätzliches Standbein angebaut, mit der Absicht, die heimische Produktpalette zu erweitern und so die Landwirtschaft zu stützen. Dabei erfüllen gleich mehrere Kriterien das neue Werteparadigma: Sie sind frisch, gesund und dank kurzer Transportwege nachhaltig produziert. Technologieaffine Jungunternehmer*innen in Tirol, Bayern oder dem Kanton Schaffhausen züchten heute Shrimps oder Alpengarnelen mit nachhaltigen Energiekonzepten. Für die Ökobilanz ihrer Produkte ernten sie Innovations- und Nachhaltigkeitspreise. Auch regionale Hülsenfrüchte wie die Ackerbohne oder die Berglinse, bisher nur auf einem Bruchteil der hiesigen Ackerfläche angebaut, werden als nachhaltige und proteinreiche Alternativen zu Soja aus Lateinamerika und Asien wiederentdeckt. Diese Local Exotics sollen die globale Abhängigkeit reduzieren, zu einer regional besseren Ökobilanz führen. T-Shirts aus saurer Milch – die Zero-Waste-Strategie 2.0 Im neuen Werteparadigma haben Abfallvermeidung und Kreislaufwirtschaft eine besondere Bedeutung und ein neues Niveau erreicht. Längst geht es nicht mehr nur darum, etwas aus dem Unverpackt-Laden im Stoffsackerl nach Hause zu tragen. Abfallvermeidung und Kreislaufwirtschaft bedeuten, dass die Nachhaltigkeit im gesamten Herstellungsprozess gewährleistet sein muss. In diesem Zusammenhang stellt Food Waste eines der drängendsten Probleme dar. Allein in der EU landen pro Jahr 88 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll, nachdem sie CO2-Emissionen, Biodiversitätsverlust sowie Land- und Wasserverbrauch verursacht haben. Die Food-Branche sucht auf verschiedenen Ebenen nach Lösungen für diese Probleme. So sollen klimaneutrale und plastikfreie Biokisten direkt zu den Kund*innen kommen, übrig gebliebene Lebensmittel und Speisen per App einer Verwertung zugeführt werden und Take-away-Anbieter Bring-back-Lösungen statt Kunststoffverpackungen anbieten. Und wenn schon Verpackung, dann umweltfreundliche Alternativen aus Zuckerrohr, Stärke oder Bambus. Auf Produktebene entstehen aus Gemüseüberschüssen mit 3-D-Druckern Snacks, aus altem Brot wird das erste ökologisch zertifizierte Zero-Waste-Bier gebraut. Als zukunftsweisendes Upcycling gilt etwa, wenn vergorene Milch zur Produktion von T-Shirts eingesetzt wird. Pro Jahr werden etwa in Deutschland 1,9 Millionen Tonnen

Milch entsorgt. Da sind einige T-Shirt-Kollektionen drin. Durch die steigende Nachfrage nach fair produzierter und natürlicher Mode hat die Bekleidungsbranche die Kaseinfaser als ökologische Alternative zu Baumwolle entdeckt. Real Omnivores – statt Veganer versus Fleischesser? Über den Fleischverzehr führen Karnivoren, Flexitarier und Veganer eine hitzige Debatte. Die „Real Omnivores“ der jüngeren Generation könnten das Potenzial haben, das Schisma bei der Fleischfrage zu überwinden. Ausgewogen, mit Vernunft und Maß, offen für Food-Tech und sich der sozialen, ökologischen Nachhaltigkeitsaspekte bewusst, essen die Real Omnivores alles, was Genuss bereitet und die Probleme des Welternährungssystems verringert. Fleisch „From Nose to Tail“ und Milchprodukte aus Bio-Haltung, aber auch deren Plant Based und Cultured Alternativen sollen das leisten. Herkömmliches Getreide, aber auch die Pseudogetreide Quinoa, Buchweizen und Amaranth, Algen, Nüsse und Pilze sowie Insekten (siehe Seite 14) dienen als Proteinquelle. Real Omnivores achten auf Vielfalt. Undogmatisch und pragmatisch zeigen sie, was beim Essen alles möglich und nachhaltig ist – natürlich ohne Verzicht. E-Food – statt Lieferdienst, Community und Partizipation Die Digitalisierung ermöglicht neue Vertriebskanäle und Bestellservices. Die FoodDelivery-Branche hat während Corona enorme Wachstumsraten erzielt und neue Businessmodelle entwickelt. Darüber hinaus gibt es ein soziokulturelles Phänomen: E-Food als Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeit über die Nahrung als Teil unserer sozialen Bedürfnisse. Communities zu gemeinsamem Kochen und Backen werden wichtiger. Nicht nur zum Austausch von Rezepten. Sie inspirieren zum Ausprobieren und zu sozialem Austausch. Food-Sharing-Plattformen verwerten nicht nur Lebensmittel, sondern sind auch Ausdruck einer Wertegemeinschaft. Während man in Gesellschaft Käse, Wein oder Schokolade im Wohnzimmer genießt, wird zugleich auch mit einem Käsemeister, Sommelier und Chocolatier online gechattet. Es sind Mitmach- und Verbraucherinitiativen entstanden, etwa „C’est qui le Patron?!“ in Frankreich oder „Du bist hier der Chef “ in Deutschland. Sie wollen mit verändertem Konsumverhalten und neuen Verkaufskanälen die Landwirtschaft nachhaltig beeinflussen. Onlineplattformen ermöglichen es den Konsument*innen und Produzent*innen, Produkte und Preise gemeinsam zu gestalten und die direkte Verantwortung für eine Kaufentscheidung einzugehen. E-Food bedeutet so im Rahmen des neuen Werteparadigmas Nähe, Vertrauen und Partizipation.

FOTO: JULIETTA KUNKEL

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Beryl (8) lebt mit ihren Eltern und zwei Brüdern in einer ruhigen Wohngegend von Kuala Lumpur, Malaysia. Auf dem Balkon baut sie Pak Choi und Spinat an, ihre Eltern wollen nicht, dass sie Limonaden trinkt. Beryls Leibgericht sind Spaghetti Carbonara, aber sie weigert sich, Ingwer zu essen

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Wir werden anders essen müssen Wie in mittlerer Zukunft mehr Menschen ernährt werden können icht nur ethisch und humanitär ist Russlands Angriffskrieg in der Ukraine eine Katastrophe. Er trifft auch die Welt an vitalen Punkten. Zu deren gravierendsten gehört die Lebensmittelversorgung. Russland und die Ukraine liefern gemeinsam fast ein Drittel des weltweit gehandelten Weizens. 2020 war Russland mit 37,3 Millionen Tonnen der weltgrößte Weizenexporteur, die Ukraine mit 18,1 der fünftgrößte. Länder, die Probleme haben, ihre Bevölkerung ausreichend zu ernähren, wie Indonesien, Ägypten, die Philippinen oder Brasilien, sind auf diese Exporte angewiesen. Besonders dramatisch wirken die Folgen des Kriegs auf die globale Landwirtschaft: Russland ist der weltgrößte Exporteur von Stickstoffdünger und der zweitgrößte Produzent von Kalium- und Phosphordünger. Nun sind die Exporte gedrosselt worden und die Preise für Dünger gestiegen. Diese Entwicklung hat bereits vor dem Krieg durch stark gestiegene Preise für Erdgas begonnen. Es kommt bei der Produktion von Düngern in großen Mengen zum Einsatz. Russland war wegen seiner großen Erdgasvorkommen in der Lage, billigen Dünger zu liefern. Durch die Sanktionen fehlt dieser nun am Weltmarkt. Das trifft neuerlich Brasilien. Es importiert 84 Prozent seiner Düngemittel, was wiederum Folgen für die ganze Welt hat. Brasilien ist einer der wichtigsten landwirtschaftlichen Produzenten, bei Soja, das vor allem in der Massentierhaltung als Futter verwendet wird, der weltgrößte. Muss das Land seine Produktion infolge Düngermangels zurückfahren, sind kleinere Ernten und steigende Lebensmittelpreise die Folge. Die Lebensmittelproduktion ist ein komplexes Bedingungsgefüge mit nervösem Sensorium für Verwerfungen aller Art. Über zwei Milliarden Menschen sind mangelhaft ernährt „Die Weltbevölkerung wächst, vor allem aber wächst der Wohlstand in asiatischen und afrikanischen Ländern, die in der Folge in ihren Ernährungsgewohnheiten häufig ,verwestlichen‘“, sagt Martin Wagner, wissenschaftlicher Leiter des Österreichischen Kompetenzzentrums für Futter- und Lebensmittelsicherheit und Leiter der Abteilung für Lebensmittelmikrobiologie an der VetmedUni Wien. „Durch den hohen Verbrauch an tierischen Proteinen in entwickelten Ländern geraten die Produktionssysteme kontinuierlich unter Druck. Aufkommende Tier- und Nutzpflanzenseuchen, aber auch die zunehmende Anzahl von Konflikten und Kriegen wirken auf das System schlagartig disruptiv.“ Derzeit leben auf der Erde annähernd acht Milliarden Menschen. Von ihnen ist mehr als ein Zehntel chronisch mit Nahrung unterversorgt: Auf ungefähr 811 Millionen wird die Zahl der Menschen, die dauerhaft Hunger leiden, geschätzt (siehe

TEXT: BRUNO JASCHKE

„Preiswerte Lebensmittel nehmen wir als unabänderliche Konstante wahr. Unser Konsumverhalten verursacht all die Probleme mit“ MARTIN WAGNER, VETMEDUNI WIEN

Katrin Fischer, esserwissen.at

Seite 10). Über zwei Milliarden Menschen leiden an Mangelernährung. Fast ebenso viele, 1,9 Milliarden, laborieren demgegenüber an Übergewicht und krankhafter Fettleibigkeit. Nahrung, um die ganze Welt satt zu machen, ist genug da. Auch noch 2050, wenn die Weltbevölkerung Prognosen zufolge auf neun Milliarden Menschen angewachsen sein wird. Voraussetzung dafür ist freilich, dass Essen gerechter verteilt und der bedenkenlosen Ausbeutung von Nahrungsressourcen Einhalt geboten wird. Menschen werden ihre Ernährung umzustellen haben. Die Landwirtschaft muss auf schonendere Produktionsmethoden umsteigen: Diese zwei Voraussetzungen sind für den Mainstream an Nahrungsexpert*innen essenziell, um die wachsende Weltbevölkerung flächendeckend mit Essen zu versorgen. Außerdem wird als unabdingbar erachtet, den Fleischverzehr zu reduzieren (siehe Seite 12). Abgesehen von ethischen Aspekten der Massentierhaltung verschleißt die Fleischproduktion viele pflanzliche Nahrungsmittel für Tierfutter. Nur gut die Hälfte aller weltweit produzierten pflanzlichen Kalorien wird vom Menschen (direkt) verbraucht, mehr als ein Drittel dient als Tierfutter. Rund ein Zehntel wird zu Kraftstoff und Industrieprodukten verarbeitet. Über drei Viertel der globalen landwirtschaftlichen Nutzfläche dienen der Tierhaltung. Rein vegane Ernährung ist auch keine Lösung Eine Fleischproduktion, für die kein Tier in engen Boxen gehalten und getötet wurde, ist möglich (siehe Seite 9). Für künstlich erzeugtes Fleisch, 2013 vom Maastrichter Physiologieprofessor Mark Post in Form eines „Labor-Burgers“ erstmals öffentlich präsentiert, werden einem Tier Stammzellen entnommen, die sich in Zellkultur vermehren. Auch das geschmacksbildende Fettgewebe lässt sich in Labors züchten. „Anzumerken ist hierbei, dass es für Kunstfleisch auch hochwertiges ,Futter‘ wie etwa Glucose oder Aminosäuren braucht“, sagt Katrin Fischer, Ernährungswissenschaftlerin der Wissensplattform esserwissen.at. Noch sind für In-vitro-Fleisch die Produktionskosten zu hoch, um es zur Marktreife zu bringen. Längst im Geschäft sind dagegen Fleischimitate und vegane Nahrungsmittel ohne tierische Bestandteile. Eine rein vegane Lebensmittelproduktion wäre allerdings auch keine Lösung: Ein Kilo veganes Lebensmittel erzeugt mindestens vier Kilo Biomasse, die der Mensch nicht essen kann. „Durch den Verzicht auf die Verfütterung der Biomasse entsteht ein Verlust an Nahrung, der größer ist als die vegane Produktion selbst“, erklärt Fischer und gibt zu bedenken: „Nutztiere fördern die Pflanzenproduktion und erzeugen

zusätzlich Lebensmittel. Denn Wiederkäuer können Milch und Fleisch ohne Nahrungskonkurrenz zum Menschen erzeugen.“ Die Landwirtschaft verursacht mehr Treibhausgase als der motorisierte Verkehr. Ihrem schier endlosen Bedarf an Weide- und Ackerland fallen Wälder, Grünflächen und Lebensräume zum Opfer. Sie ist der größte Verbraucher von Süßwasser, ihre Abflüsse von Kunstdünger und Gülle verpesten Gewässer und Ökosysteme (siehe Seite 7). Die Landwirtschaft bedarf zu ihrem Funktionieren eines hohen Verschleißes an Arbeitskraft, Technologie, Rohstoffen und Naturraum. „Vor allem die Urproduktion von Milch und Fleisch, aber auch die Rohstoffverarbeitung und die Produktion der boomenden Ersatzprodukte sind arbeits- wie auch ressourcenintensiv“, sagt Martin Wagner. „Sowohl die bäuerliche Seite wie auch die Rohstoffverarbeiter ringen um Ressourcen, Boden, Wasser und Produktionshilfsmittel. Die immer stärkeren Konsequenzen des Klimawandels stressen zusätzlich das Produktionssystem, führen zu Ernteeinbußen, stressen Nutztiere und bringen neue Pflanzen- und Tierkrankheiten. Lösungsvorschläge sind häufig interessensgetrieben und bilden die Komplexität des Lebensmittelherstellungssystems nicht ab.“ Fünf Punkte zur Besserung, aber nichts geschieht 2014 hat der renommierte Umweltwissenschaftler Jonathan Foley, Direktor des Instituts für Umwelt und Professor für Fragen globaler Nachhaltigkeit an der Universität St. Paul, Minnesota, im Magazin National Geographic fünf Punkte formuliert, wie mehr Nahrung geschaffen werden und gleichzeitig Schaden durch die Landwirtschaft vermindert werden kann. Eine Umstellung der Ernährung ist darin ebenso vorgesehen wie ein sofortiger Stopp des zusätzlichen Flächenverbrauchs durch die Landwirtschaft. Erträge bestehender Betriebe sollen durch verbesserte Anbaupraktiken und ökologische Verfahren gesteigert, Wasser und Dünger effizienter genutzt werden. Der Verschwendung von Lebensmitten ist Einhalt zu gebieten. Keine dieser Agenden ist bisher auch nur ansatzweise realisiert worden: Nach wie vor werden Regenwälder abgeholzt, um Flächen für den Anbau von Tiernahrung, Palmölplantagen oder Biosprit zu gewinnen. Um die Landwirtschaft effizienter zu gestalten, fehlen gerade bedürftigen Regionen Know-how und Mittel. Von einer Umstellung der Ernährungsgewohnheiten ist global nichts zu bemerken: Während der Fleischkonsum, der sich weltweit in den letzten zwanzig Jahren mehr als verdoppelt hat, in Westeuropa eine minimal rückläufige Tendenz zeigt, steigt er in vielen Fortsetzung Seite 20

FOTOS: VETMEDUNI/MICHAEL BERNKOPF, FEMTECH

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Meissa Ndiaye (Dakar, Senegal, 11 Jahre) teilt sich mit seinen Eltern und seinem Bruder ein Zimmer in einem baumlosen und sandigen Vorort Dakars. Meissa liebt Ziegenfleisch und süße Speisen wie Porridge. Er isst gern französisches Brot, gefüllt mit Spaghetti, Erbsen oder Bratkartoffeln


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Fortsetzung von Seite 18 Schwellenländern signifikant an. Über vier der fünf Punkte herrscht Uneinigkeit unter Expert*innen, sie tragen oft erbitterte Auseinandersetzungen darüber aus. Doch beim Thema Verschwendung gibt es keine zwei Meinungen. Verschwendung wird von allen verurteilt. Nur kaum etwas dagegen getan. „Eine kritische Haltung von oft sehr engagierten Konsument*innen setzt vor allem tierische Verarbeitungssysteme und somit die landwirtschaftlichen Traditionen unter Druck“, konstatiert Wagner. „Die viel näherliegende Konsequenz, die Produktionssysteme ebenso wie die eigene Geldbörse durch die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung zu entlasten, trifft interessanterweise auf lahme Resonanz. Wahrscheinlich, weil die Versorgung mit preiswerten Lebensmitteln als unabänderliche Konstante wahrgenommen wird. Konsument*innen sind sich oft ihrer Rolle als Mitverursachende der Problematik nicht bewusst oder ignorieren sie selbst betreffende Konsequenzen.“

Gudrun Obersteiner, BOKU Wien

Wegwerfen von Lebensmitteln macht alles schlimmer Weltweit wird ein Drittel aller Lebensmittel nicht verzehrt, sondern weggeworfen. Österreich vernichtet jährlich über eine Million Tonnen an Lebensmitteln, die zum Zeitpunkt ihrer Entsorgung noch uneingeschränkt genießbar sind oder es bei rechtzeitiger Verwendung gewesen wären. Mehr als die Hälfte der Abfälle, nämlich 521.000 Tonnen, wird von den Haushalten verursacht. 175.000 Tonnen Lebensmittelabfall produziert die Außer-Haus-Verpflegung durch Gastronomie, Beherbergung, Großküchen etc., 167.000 Tonnen werden der Landwirtschaft zugerechnet. Allerdings

ist hier die Datenlage lückenhaft, wie die BOKU Wien in dieser Aufstellung einräumt. 121.800 Tonnen Wegwerfware entstehen in der Produktion, 89.500 gehen auf das Konto des Handels. Viele Initiativen sind in den letzten Jahren gestartet worden, um die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren. Das Unternehmen „Unverschwendet“ verarbeitet Kräuter, Obst und Gemüse für Mistkübel zu Chutneys, Marmeladen, Aufstrichen, Sirup oder Senf. Über Foodsharing werden Lebensmittel aus der Gastronomie umverteilt, bei TooGoodToGo übrig gebliebene Produkte von Bäckereien, Handel und Gastronomie über eine App zu vergünstigten Preisen angeboten. Längst etabliert sind Organisationen wie die Wiener Tafel als Empfänger und Verteiler von Lebensmittelspenden. „Dennoch ist“, sagt Gudrun Obersteiner vom Institut für Abfallwirtschaft an der BOKU Wien, „zumindest in den Haushalten die Tendenz zu Lebensmittelverschwendung eher steigend. Der Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums und zu große Portionen, mit deren Resten man nichts anzufangen weiß, gehören zu den häufigsten Ursachen, warum im privaten Bereich Lebensmittel weggeworfen werden.“ Zugrunde liegen schlechte Planung beim Einkaufen, falsche Lagerung und generell mangelndes Wissen über Produkte. „Immer wieder hören wir: Ich schmeiß’ nichts weg“, erzählt Obersteiner. „Oder wenn, dann nur schimmliges Brot, das kann man ja nicht mehr essen. Das Bewusstsein fehlt, dass das Brot ja im Vorfeld gegessen oder eingefroren oder einfach weniger davon gekauft hätte werden sollen. Es herrscht große Verunsicherung darüber, was noch ge-

nießbar ist und was nicht. Ist jede kleine braune Stelle schon als Schimmel zu werten? Ist ein Joghurt nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums giftig? Viele Menschen handeln hier ,auf Nummer sicher‘ und entscheiden sich für die Entsorgung. Zusätzlich sind die Kenntnisse über Haltbarmachung verloren gegangen.“ Es bedarf einer Bildungsoffensive zum Thema Lebensmittel: „Heutzutage ist man zwar in der Lage, ein spezielles Rezept von einem Fernsehkoch nachzumachen, Ideen für die Reste fehlen jedoch ebenso wie Kenntnisse über die richtige Lagerung. So ist den meisten Menschen nicht bewusst, dass sich fast jedes Obst und Gemüse im Kühlschrank und in der Originalverpackung viel länger hält als in der Obstschale.“ Wissensvermittlung propagiert auch Katrin Fischer für einen sorgsamen Umgang mit Lebensmitteln: „Ernährungsbildung sollte im Schulbereich etabliert und die Sinnhaftigkeit eines Kochunterrichts erkannt werden. Denn wer selbst zubereitet, weiß, was er isst, und hat in Sachen Lebensmittelherkunft die Wahl.“ Wie aber könnte eine über bloße Appelle hinausgehende Änderung der Ernährungsgewohnheiten angestoßen werden? „Verpflichtende Herkunftskennzeichnung bei tierischen Produkten in der Gastronomie und bei allen Produkten im Lebensmittelhandel! Förderungen für Innovationen in der Lebensmittelproduktion. Verbot für Mengenrabatte auf Fleisch. In der Gemeinschaftsverpflegung sollte das Angebot an Fleischspeisen reduziert werden, und dafür sollte qualitativ hochwertiges Fleisch gekauft werden. Regionalen Produkten den Vorzug geben und den Bioanteil erheblich erhöhen“, sagt die Ernährungswissenschaftlerin.

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JOCHEN STADLER

Allesfresser/Omnivore Schweine, Bären und Menschen, die unterschiedliche Mischungen von Pflanzen, Pilzen und anderem Getier verzehren. Binge-Eating Regelmäßiger Kontrollverlust über das Essverhalten, Bio-Essen Ist besser für die Natur und das Klima als konventionell hergestellte Kost, aber (noch) nicht nachgewiesenermaßen für die Verzehrer. BMI/Body Mass Index Die Körpermasse dividiert durch das Quadrat der Körpergröße. Normalgewicht hat man bei 18,5 bis 25, Übergewicht bis 30, Fettleibigkeit darüber. Magersucht unter 17,5; unter 12 besteht Lebensgefahr. Bulimie/Ess-Brech-Sucht Erkrankung, bei der die Betroffenen Wechselbäder zwischen Ess- und Abnehmsuchtverhalten zeigen. Clean Eater Meidet industriell verarbeitete Lebensmittel. Ernährungspyramide Zeigt auf, welche Mengen welcher Lebensmittelgruppe verzehrt werden sollen. Neu-

erdings besteht die breite Basis der österreichischen Version aus Wasser, Tee und Fruchtsaft, überschichtet von Obst und Gemüse, dann Kohlenhydraten, auf denen sich Milchprodukte und Pflanzenöle stapeln, darüber Fisch und Fleisch bis hin zum Süßigkeiten-Topping. Essstörungen Psychische Probleme rund um die Nahrungsaufnahme wie Binge Eating, Bulimie und Magersucht. Fast Food Nach dem Motto „Speed kills“ hergestellte Lebensmittel. Fettleibigkeit Zivilisationskrankheit, die sich mittels übermäßiger Kalorien-Zufuhr erreichen lässt. Flexitarier Meidet Fleisch so oft wie möglich, ohne es komplett zu ächten. Frutarier Diese Menschen ernähren sich am liebsten vom Nährgewebe, das Pflanzensamen umgibt, und den Samen (also Pflanzenembryos) selbst. Gentechnik Darüber spricht man nicht. Hauptsache: „Österreich ist (halbwegs) frei!“ Hunger Subjektives Gefühl, das den Organismus zur Nahrungsaufnahme antreibt.

Hungertod Immer noch stirbt laut dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef ) weltweit im Schnitt alle zehn Sekunden ein Kind den Hungertod. Inhaltsstoffe Alles, was in einem Lebensmittel natürlich enthalten ist oder zugesetzt wurde, um es etwa süßer, bunter, geschmackvoller und haltbarer zu machen. Junkfood Qualitativ minderwertiges, der Gesundheit abträgliches Menschenfutter. Kalorien Veraltete Maßeinheit für Energie, unter anderem auch jener durch Nahrung dem menschlichen Organismus zugeführte. Wird dann in Kilokalorien angegeben. Kohlenhydrate Aus Zuckermolekülen. Kurzkettige Kohlenhydrate wie Trauben- und Fruchtzucker schmecken süß. Mehrfachzucker sind in Getreide, Kartoffeln und Hülsenfrüchten enthalten. Kochen Macht Nahrungsmittel für Menschen bekömmlicher, wodurch sie mehr Energie daraus schöpfen und manches erst verzehren können.

Locovore Verspeist vorzugsweise, was in seiner lokalen Umgebung geboren und gewachsen ist. Magersucht Essstörung, bei der die Betroffenen krankhaft abnehmen wollen. Mangelernährung Entsteht, wenn dem Körper zu wenig Energie oder zu wenig von speziellen Nährstoffen wie Eiweiß, Vitaminen und Spurenelementen eingeflößt werden. Pescetarier Essen kein Fleisch, aber Fisch und vor allem Pflanzen. Slow Food Mit Weile zusammengestelltes, zubereitetes und verzehrtes Gericht. Übergewicht Betrifft jeden zweiten Österreicher über 15 Jahren. Untergewicht Betrifft jeden fünfzigsten Österreicher. Veganer Essen keinerlei tierische Produkte und hüllen darin auch ihren Körper nicht ein. Vegetarier Essen nichts von getöteten Tieren, aber sehr wohl ihre Eier und Ausscheidungen wie Milch und Honig.

FOTO: BOKU

Genug und gut zu essen? Das Glossar


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Rosalie (10) lebt in Nizza, Frankreich, und ernährt sich sehr gesund. Auf ihrem Speiseplan steht oft frischer Fisch wie z. B. Sardinen. Ihr Vater ist Gastronom und hat ihr beigebracht, Crêpes, Salate und ihr Lieblingsgericht Linsen mit Würstchen zu kochen. Ratatouille, Spinat und Gurken mag sie nicht


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HEUR EKA 1/22 : KLI M AWAN DEL

Der Sinn von sozialem Träumen Warum utopisches Denken und Handeln uns für den Klimanotstand etwas bringt n der öffentlichen Debatte hat der Klimanotstand zwei Reaktionen hervorgerufen: entweder Resignation, Trauer und Depression oder ein selbstbewusstes, ja arrogantes Vertrauen in die Fähigkeit innovativer Wissenschaft und Technologie, unsere Spezies vor sich selbst retten zu können. Aber wie Donna Haraway zu zeigen vermochte, wird uns keine dieser Reaktionen weiterbringen. Gefragt ist indessen eine realistische Auseinandersetzung mit jenen politischen und sozialen Herausforderungen, die noch vor uns liegen; eine Auseinandersetzung, die auf der anderen Seite Raum für die „begriffene Hoffnung“ (Ernst Bloch) schafft, dass unsere Zukunft noch nicht vorherbestimmt ist. Zur Erreichung dieses Zieles sind utopische Denk- und Handlungsformen von größter Bedeutung. Welche Rolle könnten Utopien im Umgang mit dem Klimanotstand spielen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir ein Missverständnis hinsichtlich des Zwecks von Utopien aus dem Weg räumen. Viele werden vermuten, dass die utopische Vorstellungskraft ungeeignet erscheinen muss, um die Realitäten einer Welt im Klimawandel zu beleuchten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet kommt das utopische Handeln und Denken einem Eskapismus gleich, den wir dringend zu vermeiden haben, sofern wir es mit den auf uns zukommenden Herausforderungen ernst meinen. Der Vorwurf, dass Utopien verführerische Alternativen konstruieren, ohne jedoch zu klären, wie man diese realisieren könnte, besitzt eine philosophische Vorgeschichte. Schon Karl Marx und Friedrich Engels attackierten die sogenannten utopischen Sozialisten aufs Schärfste, weil diese dem revolutionären Subjekt, dem Proletariat, im Übergang zum Kommunismus viel zu wenig Aufmerksamkeit schenkten. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass die Autoren des „Kommunistischen Manifests“ das Ideal einer klassenlosen Gesellschaft, welches die utopischen Sozialisten anstrebten, keineswegs in Frage stellten. Es ging Marx und Engels viel eher darum aufzuzeigen, dass der alleinige Fokus auf den ersehnten Endpunkt der Geschichte einer radikalen Politik im Weg stünde. Marx und Engels hatten bis zu einem gewissen Grad recht. Es gibt viele Arten von utopischen Visionen, die nichts als Trost spenden. Sie machen eine schwierige Situation ein wenig erträglicher, indem sie Lesende auf magische Weise in eine wunderbare Zukunft transportieren. Solche Utopien lassen nicht nur die zentrale Frage des Übergangs von der Gegenwart in die Zukunft unberührt, sie schränken auch die Freiheit derer ein, die dazu aufgerufen sind, sich in diese schöne neue Welt hineinzuversetzen – ein Einwand, der von liberalen Denkerinnen und Denkern verschiedener Couleur, von Karl Popper bis Raymond

TEXT: MATHIAS THALER

Mathias Thaler studierte Philosophie und Politikwissenschaften in Wien, Paris und Berkeley. Nach Forschungsaufenthalten in Toronto, Coimbra und Oxford lehrt er Politische Theorie an der Universität Edinburgh in Schottland Sein neues Buch No Other Planet: Utopian Visions for a Climate-Changed World erscheint 2022 bei Cambridge University Press

Aron, gegen den gewalterzeugenden Aspekt des Utopismus erhoben wurde. Doch nicht alle Utopien verabsäumen es, darüber zu reflektieren, was praktisch zur Überwindung gegenwärtiger Hindernisse getan werden sollte. Nicht-perfektionistische Entwürfe sind sich der Gefahren utopischer Visionen bewusst. In den Worten Miguel Abensours besteht ihr Ziel darin, unser Begehren nach anderen Seins- und Lebensweisen zu erziehen und kreativ in bestimmte Richtungen zu lenken. Der Interpretationsfehler, den Kritiker*innen begehen, besteht darin, dass sie diese Erziehungsfunktion von Utopien ausschließlich im Sinne von perfekten und statischen Repräsentationen anderer Welten deuten. Die pädagogischen Interventionen des Utopismus können jedoch auch anders vollzogen werden. In den 1970erJahren etwa begannen Science-FictionAutorinnen wie Ursula K. Le Guin, Marge Piercy oder Octavia Butler in ihren eigenen Vorstellungen der Zukunft den kollektiven Wunsch nach sozialer Transformation kritisch zu hinterfragen. Zweifel und Konflikt sind in diesen komplexen Erzählungen allgegenwärtig. Das utopische Wunschdenken entpuppt sich dadurch als das komplette Gegenteil eskapistischer Fantastereien. Die kreative Erziehung unseres Verlangens nach alternativen Seins- und Lebensweisen stellt ein kompliziertes Unterfangen dar, das stets Gefahr läuft, in totalitäre Unterdrückung umzuschlagen. Obwohl Utopien zweifelsohne problematische Auswirkungen haben können, bedeutet das gerade nicht, dass wir sie auf dem Misthaufen der Geschichte entsorgen sollten. In der jetzigen Situation überwiegt das Risiko, sich nicht auf soziales Träumen einzulassen, bei Weitem: Wie der jüngste Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) zu verschiedenen Klimaszenarien festhält, wird jeder Versuch, in diesem Moment äußerster Notlage am Business as Usual festzuhalten, mit Gewissheit einen noch katastrophaleren Zusammenbruch des planetaren Ökosystems zur Folge haben. Welche Lehren könnte die eben genannte Lesart von Utopien für unsere Welt im Klimawandel bereithalten? Ich schlage vor, zwischen drei fundamentalen Mechanismen utopischen Denkens und Handelns zu unterscheiden: verfremden, mobilisieren und warnen. Utopien zielen darauf ab, ihre Kritik am Status quo mittels dieser Funktionen auszuüben. Dies kann durch einen Blick auf Debatten in der politischen Theorie veranschaulicht werden, die sich direkt mit den vielfältigen Facetten des Klimawandels auseinandersetzen. Beginnen wir mit dem Mechanismus der Verfremdung. Wenn Utopien das Außergewöhnliche normal und alltäglich erscheinen lassen, versuchen sie, unseren gesunden

Menschenverstand auszuhebeln, und eröffnen so Möglichkeiten zur individuellen und gesamtgesellschaftlichen Transformation. Dementsprechend besteht eine Lesart von Bruno Latours Gaia-Konzept darin, dieses als eine utopische Figur zu entschlüsseln, welche anthropozentrische Sichtweisen des Planeten entzaubert. Latour entwirft eine politische Ökologie, die den binären Gegensatz von Natur und Kultur vollkommen außer Kraft setzt. Daraus entwickelt sich eine andere, zutiefst seltsame Vorstellung der Erde, in der die menschliche Handlungsfähigkeit durch andere Lebensformen permanent in Frage gestellt wird. Mobilisierende Theorien bemühen andere utopische Visionen. Diese beschreiben radikale Alternativen mit dem Zweck, optimistische Perspektiven auf die Zukunft freizulegen. Im zeitgenössischen Umweltdiskurs bringt der „Ökomodernismus“ diese Strategie zum Einsatz, vor allem aufgrund der provokativen These, dass innovative Wissenschaft und Technologie eine „Entkopplung“ menschlicher Bedürfnisse von natürlichen Ressourcensystemen beschleunigen könnten. Ein Vertreter dieser Ansicht ist etwa Steven Pinker, der sich zuletzt verstärkt um eine Rehabilitierung des Erbes der Aufklärung bemühte. Schließlich warnen uns Theorien, die auf einem düsteren Urteil beruhen: Sollten wir unsere eingefahrenen Seins- und Lebensweisen nicht vollständig umstellen, so diese Sichtweise, wird sich die Apokalypse nicht abwenden lassen. Dystopische Geschichten verfolgen diese Argumentationslinie, indem sie gefährliche Trends ausloten, welche gegenwärtig noch verborgen bleiben. Kommentatoren wie Roy Scranton oder David Wallace-Wells stellen etwa die Behauptung auf, dass wir so gut wie nichts zu tun vermögen, um den planetaren Zusammenbruch und den endgültigen Untergang unserer Spezies aufzuhalten. Diese drei Beispiele zeigen, dass die utopische Vorstellungskraft der öffentlichen Debatte über den Klimawandel Wichtiges hinzuzufügen hat. Beim Erforschen von Alternativen geht es freilich nicht nur um die Modellierung neuer Seins- und Lebensweisen, sondern auch um das Anspornen widerständiger Handlungsperspektiven. Soziales Träumen beschränkt sich somit nicht auf abstrakte Gedankenexperimente, es beabsichtigt auch eine Umstrukturierung des menschlichen Verhaltens und erweist sich dadurch als zutiefst praktisch. Der Klimanotstand hat unter anderem eine Krise der Vorstellungs- und Handlungskraft ausgelöst. In diesem Zusammenhang und trotz berechtigter Sorgen über die problematischen Aspekte des sozialen Träumens können wir es uns heute nicht leisten, die von Utopien erzeugten Effekte der Verfremdung, der Mobilisierung und der Warnung einfach zu ignorieren.

FOTO: MIHAELA MIHAI

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Z U G U T E R L E T Z T : H EU R E K A 1/22

: GEDICHT

Wie die Wolle des Jaks an dem Kies schleift. Und ins bläuliche Fleisch fährt ein Messer. Die verwilderte Ebene hinzeigt, wo die Dämmerung nie wird zur Helle. Die Gewölbe, unbewohnt, fließen über Zellen, die zwecklos geworden. Dem Skelett eines Klosters entsprießen statt Nirvana nur Steine hier oben.

: WA S A M E N D E B L E I BT

Kultur. Krieg.

Voller Scharten die Fresken, wie Wolken, selbst die Felsen sind nicht von Dauer, und man könnte beginnen zu hoffen, dass der Krieg endlich aus sei.

(Aus dem Litauischen von Cornelius Hell)

AUS: TOMAS VENCLOVA: VARIATION ÜBER DAS THEMA ERWACHEN. GEDICHTE, HANSER VERLAG 2022

: B I G P I C T U R E AU S B U DA P E ST LÁSZLÓ LÁSZLÓ RÉVÉSZ (AUSSCHNITT)

: I M P R E SS U M Medieninhaber: Falter Verlagsgesellschaft m. b. H., Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T: 0043 1 536 60-0, E: service@falter.at, www.falter.at; Redaktion: Christian Zillner; Fotoredaktion: Karin Wasner; Gestaltung und Produktion: Andreas Rosenthal, Reini Hackl, Raphael Moser; Korrektur: Ewald Schreiber; Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau; DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz ist unter www.falter.at/offenlegung/falterverlag ständig abrufbar.

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ERICH KLEIN

TO M A S V E N C LOVA : AU S D E N C H I N E S I S C H E N N OT I Z E N

Tomas Venclova, geb. 1937 in Klaipeda, litauischer Dichter und Übersetzer, wuchs in Vilnius auf, wo er Lituanistik studierte. In den 1970er-Jahren Gründungsmitglied der litauischen Helsinki-Gruppe, 1977 Emigration in die USA, wo er an der Yale University russische und osteuropäische Literatur lehrte. Bücher: „Gespräch im Winter. Gedichte“ (2007), „Der magnetische Norden. Erinnerungen“ (2017).

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HEUREKA ist eine entgeltliche Einschaltung in Form einer Medienkooperation mit

Mark Belorusets – Übersetzer (Kiew), 6. März 2022 Eine Bande von Mördern, Vergewaltigern und Plünderern kam aus Russland zu uns, um uns zu erobern. Sie schießen auf unbewaffnete Menschen, töten Kinder, Alte und Frauen, verwandeln unsere Städte und Dörfer in Ruinen. Vor uns erschien ein neues Putin-Russland. Dieses Russland hat das Recht auf die russische Kultur verloren. Heute kämpfen Tschaikowsky und Schostakowitsch, Tolstoi und Tschechow, Bunin und Platonow, Mandelstam, Pasternak und Achmatowa Seite an Seite mit uns in der ukrainischen Armee und in den territorialen Verteidigungskräften. Olga Sedakowa – Dichterin (Moskau), 12. März 2022 Wolnowacha. Heute habe ich erfahren, dass es diesen Ort nicht mehr gibt. Zum Glück hat man alle evakuiert. Was dort blieb, wurde zerstört. Dass es einen Ort mit dem Namen „Wolnowacha“ gibt, erfuhr ich im Alter von zehn. Meine Freundin Tonja Tsyganok fuhr jeden Sommer zu ihrer Großmutter dorthin – bis September schrieben wir einander dann Briefe. Wie oft habe ich auf ein Kuvert geschrieben: „Wolnowacha“! Tonjas Eltern haben auch in Moskau nie aufgehört, Ukrainisch zu sprechen. Sie schenkten mir „Kobsar“ (Gedichtband des ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko), und Tonja erklärte mir, wie alles zu lesen sei, und übersetzte mir, was ich nicht verstand. Die Sprache erschien mir unglaublich schön. Tonja war die Güte in Person, und in ihrer Familie herrschte eine ganz andere Freundlichkeit als in der Umgebung: Alles war liebevoll, umarmend, einhüllend, heimelig. Moskauer Unterhaltungen waren im Vergleich dazu kalt. Tonya und ich haben damals Gedichte geschrieben – den Briefen aus Wolnowacha und nach Wolnowacha war immer auch etwas Gereimtes, entweder Eigenes oder ein Lieblingsgedicht, beigelegt. Also, Wolnowacha. Jeder hat in der Kindheit Städte und Ortschaften, die nur aus deren Namen bestehen, bloß aus Lauten. Genau das war für mich Wolnowacha. Ich weiß nichts darüber außer den Namen. Etwas Weites, wie die Steppe im Wind oder der gleichförmige Wellengang des Meeres. Heute haben sie Wolnowacha vollständig zerstört. Die Nachricht darüber wurde in meine Kindheit geschickt. Und Tonja und ihrer Mama Lidia Gordejewna in eine andere Welt.


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