FALTER : Die Wochenzeitung aus Wien Leseprobe

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DIE WOCHENZEITUNG AUS WIEN NR. 24 / 23 – 14. JUNI 2023 MIT 64 SEITEN FALTER : WOCHE ALLE KULTURVERANSTALTUNGEN IN WIEN UND ÖSTERREICH TERMINE VON 16.6. BIS 22.6. Falter mit Falter: Woche Falter Zeitschri en GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien WZ 02Z033405 W Österreichische Post AG Retouren an Postfach 555, 1008 Wien laufende Nummer 2905/2023 € 5,50 24 9 004654 046682 ANZEIGE JETZT ABO 2023 24 BUCHEN! 3 × BURGTHEATER – ZYKLUS KLASSIK HEUTE EIN SOMMERNACHTSTRAUM • DER MENSCHENFEIND • DANTONS TOD 3 inhaltlich verbundene Neuinszenierungen, Sekt und Programm inklusive! www.burgtheater.at/abo BURG THEATER BURG THEATER ILLUSTRATION: 123RF/FALTER Wie Politik und Behörden unsere Schulen im Stich lassen. Pädagoginnen, Betreuer und Elternvertreter erzählen NICHT GENÜGEND, SETZEN!
FA LTER
SLOWENIEN. MEINE ART DEM ALLTAG ZU ENTFLIEHEN. #ifeelsLOVEnia #myway #sloveniaoutdoor www.slovenia.info www.slovenia-outdoor.com

FALTER & MEINUNG

4 Leserbriefe

5 Armin Thurnher

6 Nina Brnada, Gerhard Stöger, Franz Kössler

8 P.M. Lingens, Impressum

9 Isolde Charim, Melisa Erkurt

POLITIK

11 Ex-SPÖ-Parteimanager Christian Deutsch im Interview

14 Lehrer, Direktoren, Freizeitpädagogen und Eltern gehen auf die Straße: wieso das System Schule einen Neustart benötigt

18 Reportage aus der ungarischen Fidesz-Denkfabrik, dem Mathias Corvinus Collegium

20 Das politische Buch

21 Forscher zweifeln am Ursprung des Werther-Effekts

MEDIEN

23 Journalistenlegende Peter Rabl ist

75. Ein Gespräch

FEUILLETON

26 Essay: Rockstars und Groupies

28 Interview mit der Tourmanagerin Karin

Tonsern

29 Neue Bücher, neue Platten

30 Autorin Anna Mayr im Gespräch

31 Der neue Film von Wes Anderson

32 Regisseur

Alexander Zeldin. Das Festwochen-Tagebuch

33 FeuilletonSchlussseite

STADTLEBEN

35 Die Türkis Rosa Villa – was war sie damals, was ist sie heute?

38 Wiener Traditionsgeschäft: 200 Jahre

Glaswaren Lobmeyr

39 Café im Tchibo

40 Grätzelrundgang im Mortara-Viertel

42 Kochen für Fortgeschrittene: Kalbsleber mit Balsamico-Kirschen

NATUR

44 Wie geht es nach dem verheerenden Staudammbruch in der Ukraine weiter?

KOLUMNEN

46–47 Phettbergs

Predigtdienst, Doris Knecht, Heidi List, Fragen Sie Frau Andrea

Zurück nach Liesing

Als SPÖ-Bundesgeschäftsführer war Christian Deutsch umstritten. Wie sieht er selbst seine Zeit in der Löwelstraße?

Die Türkis Rosa Lila Villa

Vor 41 Jahren besetzten Schwule und Lesben das Haus an der Wienzeile: Welche Bedeutung hatte es damals, und was ist es heute?

Köpfe der Woche Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe

Vor seinem Urlaub hat Falter-Fotograf Heribert Corn noch kräftig auf den Auslöser gedrückt. Er machte Porträts für die Schul-Geschichte und gestaltete passend zum Sommerbeginn in der Falter:Woche einen Leuchtkasten zu „Sommer in der Stadt“.

SEITE 14 UND

FALTER:WOCHE S. 8

Für diese Falter-Ausgabe haben wir unseren Fotografen Christopher Mavrič ganz schön beschäftigt. Er hatte SPÖ-Politiker Christian Deutsch vor der Linse, zwei Lehrer, ORF-Legende Peter Rabl und die Türkis Rosa Lila Villa.

SEITE 11, 14, 23, 35

Das Schicksal der SPÖ, aus historischer Sicht, beschäftigt diesmal unsere Politisches-Buch-Rezensionsseite. Der Politikwissenschaftler und Historiker Günther Sandner empfiehlt ein neues Buch über Genossinnen und Genossen im Exil, die in Wien niemand so recht zurückwollte.

SEITE 20

Wenn Ihnen im Sommer nicht fad ist, hat der Grund dafür einen Namen: Barbara Fuchs. Die Terminmanagerin der Falter:Woche und das Falter:Woche-Team präsentieren Ihnen im Festival-Falter, der dieser Ausgabe beiliegt, 50.000 Kultursommer-Tipps aus ganz Österreich BEILAGE

Dem Groupie reicht’s

Der Missbrauchsskandal um Till Lindemann rückt Groupies ins Rampenlicht: ihre Unterwerfung und Emanzipation.

Festival in der FALTER : WOCHE

In Linz debütiert das neue PopGroßereignis Lido Sounds. Ein Ausblick. Dazu: die besten Festivals und Konzerte des Sommers.

Nachrichten aus dem Inneren Wir über uns

Vorige Woche kam das Beweisfoto. Das Ahornbäumchen, mit dem wir unsere langjährige Programmchefin Lisa Kiss in die Pension verabschiedet haben, wächst auf einem sonnigen Ehrenplatz auf der ungarischen Hazienda vor sich hin.

Auch im sogenannten Kultur- und Programmzimmer ist der Trauerflor mittlerweile abgehängt worden. Die Programmredaktion hat sich noch mehr in die Arbeit gestürzt. Gemeinsam mit Nathalie Großschädl, Nicolle Odongo, Martin Nguyen und Nahla Hamula hat Falter:Woche-Terminmanagerin Barbara Fuchs den diesjährigen Falter-Kultursommer mit Kunst- und Kulturtipps für ganz Österreich zusammengestellt, eine Beilage, die sich sehen lassen kann. Und das zusätzlich zu all den tollen Tipps, Interviews und redaktionellen Beiträgen, die Sie in der Falter:Woche finden.

Den Betriebsratsjob hat Josef Redl von Lisa übernommen. Also alles wieder in normalen Bahnen, aber daran, dass die Lisa durch die Welt reist, statt täglich ins Kultur- und Programmzimmer zu biegen, haben wir uns noch nicht gewöhnt. Nur einen verwaisten schwarzen Regenschirm und eine Manner-Schnitten-Blechbox hat sie uns dagelassen. Und die ist leer. Liebe Lisa, wenn du einen Regenschirm brauchst, komm uns besuchen!

Aus dem Verlag Neu und aktuell

Auf Schiene Terranes Reisen, also die Fortbewegung zu Erden, ganz ohne Flugzeug, ist der Urlaubstrend. Othmar Pruckner ist mit seinem Buch Trendsetter und versammelt neben 33 Bahnreisen in und um Österreich auch Wanderungen, Radtouren und Städtebesuche.

Der Sommer kann mit Volldampf kommen! 320 Seiten, € 29,90, faltershop.at

INHALT : WIR ÜBER UNS FALTER 24/23 3
PORTRÄT-FOTOS KOLUMNEN UND KOMMENTARE IM HEFT: KATHARINA GOSSOW; FOTOS: CHRISTOPHER MAVRI Č (2) AUTUMN DE WILDE, FLORIAN KLENK, IFK
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FESTIVAL-FALTER
NINA HORACZEK

Post an den Falter

Wir bringen ausgewählte Leserbriefe groß und belohnen sie mit einem Geschenk aus dem Falter Verlag. Andere Briefe erscheinen gekürzt. Bitte geben Sie Ihre Adresse an. An: leserbriefe@falter.at, Fax: +43-1-53660-912 oder Post: 1010 Wien, Marc-Aurel-Straße 9

Betrifft: „Die Leiden des jungen Mannes“ von L. Paulitsch, Falter 23/23

Umgekehrt hört man es ständig, lassen Sie es mich auch hier fragen: Weshalb erklärt eine Frau, wie sich junge Männer fühlen? Sie erkennen nämlich manches richtig, verkennen aber doch das Wesentliche: Junge Männer sind kaum in Machtpositionen, sondern in Ausbildung oder am Beginn der Karriere. Dort gibt man ihnen oftmals nur den schadenfrohen Hinweis, dass sie als Männer ohnehin privilegiert wären. Auch ein Unbehagen vor sich selbst und vor der Sexualität ist allgegenwärtig, anerzogen von einem Umfeld, das Mädchen zum selbstbewussten Zeigen ihres Körpers ermutigte und Buben für jeden Blick darauf pervers schimpfte.

So gern ich darum jetzt wie viele andere junge Männer eine Zukunft jenseits von Geschlechterrollen mitgestalten würde: Angesichts verfestigter Urteile des modernen Feminismus und der Bildungselite, die im Artikel klar zu Tage treten, scheint das leider noch nicht möglich und ein neuer sinnloser „Geschlechterkampf“ für Jahrzehnte programmiert.

NIKLAS KAPPEL-NOVAK

2500 Baden

V E RLAG

Betrifft: „Im Namen von Karl Marx“ von I. Charim, Falter 23/23

Ich hoffe nur, dass Herr Lingens auch „Im Namen von Karl Marx“ auf der nächsten Seite im Falter von Isolde Charim liest. Aber vielleicht weiß er auch bereits im Vorhinein, dass sie Marx möglicherweise auch nicht gelesen bzw. verstanden hat?

Jedenfalls ist der Beitrag von Frau Charim frei von Polemik und vordergründiger untergriffiger Abwertung. Wieder mal ist ihr Blick auf das Geschehen auf den Punkt gebracht und Grundlage für einen Nachdenkprozess.

VERONIKA HOLZKNECHT Wien 2

Betrifft: „Wo man hinschaut: Gschaftlhuber“ von A. Dusl, Falter 23/23 Woche für Woche lese ich zuallererst Ihre Kolumne, wenn der neue Falter eintrudelt. Woche für Woche bin ich ob Ihrer Wortgewalt, Ihrer treffenden Analysen und Ihrer Formulierungsfähigkeit begeistert!

Diese Woche haben Sie sich selbst übertroffen. Die Beschreibung des Gschaftlhubers ist einfach großartig! Vielen Dank für die jahrelangen „Ahas“ und das einhergehende Schmunzeln.

MAG. SILVIA PILLHOFER Wien 6

Podcast & Falter-TV

www.falter.at/radio

Der Podcast mit Raimund Löw www.falter.tv

Der Falter Auf allen Kanälen

Bereits online Clash der Nationalisten um Kosovo. Wie Serbiens Präsident Aleksandar Vučić und Kosovos Regierungschef Albin Kurti den Nationalitätenkonflikt am Kochen halten. Sie hören den Balkanexperten Vedran Džihić und Falter-Reporterin Nina Brnada

Bereits online

Wie Wladimir Putin und Donald Trump die Welt gefährden. Eine Tour d’Horizon der aktuellen internationalen Situation in der Galerie Eichgraben (NÖ) im Talk zwischen Florian Klenk und Raimund Löw

Dienstag, 13. 6. 2023 Scheuba fragt nach … das große Staffelfinale. Zum Ende der siebenten Staffel

lassen Florian Scheuba und Florian Klenk die vergangenen Monate Revue passieren und werfen einen messerscharfen Blick auf die aktuelle politische Situation in Niederösterreich. Aufgezeichnet bei der Liveshow von der Bühne im Hof in St. Pölten

Donnerstag, 15 .6. 2023 Der Falter einst und jetzt. Wie aus einer alternativen Wiener Stadtzeitung ein führendes Wochenmagazin samt vielseitigem Digitalangebot wurde. Am Wort sind Mitbegründer und Herausgeber des Falter Armin Thurnher, Digitalchef Florian Jungnikl-Gossy, Kolumnistin Doris Knecht sowie Lina Paulitsch, Redakteurin im Ressort Feuilleton

Samstag, 17. 6. 2023 Menschenrechte wild umkämpft. Volker Türk, Österreicher und Hoher Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, zeichnet die Hürden und die Probleme für internationale Menschenrechtspolitik auf. Türk plädiert für soziale Grundrechte und kritisiert die Idee, Asylverfahren außerhalb der Europäischen Union durchzuführen. Ein Gespräch im Karl Renner Institut mit Maria Maltschnig

Als inhabergeführtes Medienhaus mit Sitz in der Wiener Innenstadt betreiben wir eine Vielzahl an elektronischen Medien wie Websites, Newsletter, Apps, Onlineshops und Podcasts und verlegen zahlreiche hochwertige Zeitschriften, Bücher, Magazine sowie Corporate Publishing-Titel. Zur Verstärkung unseres Sales-Teams suchen wir eine:n engagierte:n

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4 FALTER 24/23 AN UND ÜBER UNS
R adi o DER PODCAST MIT RAIMUND LÖW FALTER
BESTEN SEITEN ÖSTERREICHS
FALTER
DIE
FALTER MEDIA

Seinesgleichen geschieht Der Kommentar des Herausgebers

Zum Tod Silvio Berlusconis, Inbegriff der Postdemokratie

Das britische Magazin Economist brachte es in einer Titelzeile unübertroffen trocken – Pardon my French – auf den Punkt: „Der Mann, der ein ganzes Land fickte“ („The man who screwed an entire Country“). Auf Twitter wurde man dazu belehrt, es handle sich um subtilen Doppelsinn. In der Tat, Bunga Bunga und die Zerstörung der Demokratie halten sich in der öffentlichen Wahrnehmung des Mannes die Waagschale; auch hierzulande stolpern verhaltensauffällige Verleger eher über ihre erotischen Abirrungen als über ihr korruptives Wesen. Dass beides in der Öffentlichkeit als gleichwertig und gleich tolerabel erscheint (Korruption neuerdings einen Hauch weniger tolerabel als sexuelle Übergriffe), verdanken wir Silvio Berlusconi. Der Unternehmer, der es bis an die Spitze des italienischen Staates brachte (nur zum Präsidenten brachte er es nicht), bewirkte einen Wandel der öffentlichen Wahrnehmung in diesen Dingen. Man könnte auch sagen, er betäubte das öffentliche Bewusstsein, das jetzt zwar lauter schreit, aber dafür keinen Schmerz mehr spürt.

In der Person Silvio Berlusconi zeigte sich vieles von dem, was unsere postdemokratischen Gesellschaften der Demokratie aus den Armen treibt. Sein schönheitsoperiertes Gesicht wurde zum Emblem einer Massenvertrottelung, die allem anheimfällt, was man Gesellschaften im Spätstadium nachsagt: Sport und Spiele, Verlotterung der Sitten, Filz von organisiertem Verbrechen, Mafia und offizieller Macht. Berlusconi begann als Bauunternehmer. Die Herkunft des Geldes, mit dem er seine Geschäfte finanzierte, blieb im Dunkeln. Mafiaverbindungen konnten nicht nachgewiesen werden, weil der Kronzeuge im Gefängnis mit Zyankali vergiftet wurde. Gerichtlich festgehalten ist, dass Berlusconi in den1970er-Jahren hohe Summen an die Mafia zahlte, seiner Aussage zufolge als Schutzgeld, um sich und die Familie zu schützen.

Nicht nur die Mafia beförderte Berlusconis Karriere, auch die Sozialdemokratie in Gestalt ihres Vorsitzenden Bettino Craxi half mit. Craxi war praktischerweise Berlusconis Trauzeuge, er bog als Regierungschef jenes Gesetz, das Privatfernsehstationen untersagte, mehr als einen Kanal zu betreiben, und so Berlusconis Einstieg ins Mediengeschäft ermöglichte. Craxi wurde später zu 28 Jahren Haft verurteilt, denen er durch Flucht ins tunesische Exil entging.

Berlusconi aber schuf ein Medienimperium, das er mittels Beteiligung an professionellen Sportvereinen (etwa dem AC Milan, später wegen eines Unvereinbarkeitsgesetzes wieder verkauft) und mit seinem Eintritt in die Politik bald zu einem mächtigen europäischen Konglomerat aufbaute. Die rechtspopulistische Partei Forza Italia gründete er auch mit Hilfe seines alten Mitarbeiters Marcello Dell’Utri, der 2010 wegen Verbindungen zur Mafia zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde.

Sein Motiv, in die Politik einzusteigen, war zuerst geschäftlich. Er wollte etwas gegen die gesetzlichen Marktbeschränkungen tun, die das Wachstum seines FininvestImperiums behinderten. Nach außen sagte er, er trete der „kommunistischen Gefahr“ entgegen. Zugleich nützte er sei-

ARMIN THURNHER ist Mitbegründer, Herausgeber und Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung Falter

Er war der erste Postdemokrat, der Erste, der mit Korruption und Medienmacht die Demokratie manipulierte

ne TV-Macht für politische Werbung, was erst später gesetzlich eingeschränkt wurde. 1994 gewann er die Wahlen und wurde Ministerpräsident, das Bündnis seiner Forza Italia mit der Lega Nord hielt aber nicht lange. Noch dreimal kehrte Berlusconi an die Macht zurück; das verdankte er seiner Medienmacht und der Selbstauflösung der Christdemokraten sowie der Sozialdemokraten wegen Korruption. Zuletzt spielte seine Forza Italia in der rechten Regierungskoalition von Giorgia Meloni nur mehr eine untergeordnete Rolle.

Man kann Berlusconis Wirken als eine Kette von Machtmissbrauch erzählen. Mit politischem Einfluss verhinderte er für seine Firmen schädliche Gesetze; er hinterzog Steuern in Höhe von etwa einer halben Milliarde Euro, kam jedoch beinahe straffrei davon (er musste ein paar Stunden Sozialarbeit pro Woche leisten); er ruinierte den öffentlichrechtlichen Sender RAI, den mächtigsten Konkurrenten seiner privaten Fernsehkanäle (was dem ORF kaum eine Bemerkung wert ist).

Er ruinierte die RAI nicht nur finanziell, sondern vor allem, indem er sie inhaltlich zerstörte. Berlusconi setzte eine neue Art von Fernsehen durch, die der Definition des Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger recht nahe kam: Fernsehen als Nullmedium, kritikbefreit, voller leichtbekleideter schöner Frauen, schwachsinnigem Klamauk, stumpfsinnigem Glitter. Das diente auch bei der Marktaufbereitung des deutschen Privatfernsehens als Modell, als RTL, angeleitet vom ehemaligen ORF-Juristen Helmut Thoma, seine Reichweiten mit nackten Busen ausweitete.

Mustergültig auch die anstandsbefreite Zusammenarbeit Berlusconis mit finsteren Organisationen, sei es die rechte, an Anschlägen mitbeteiligte Loge P2 oder die Mafia; die undurchsichtigen Finanzierungen seines Imperiums, die Ausnützung rechtlicher Schlupflöcher oder das Abbiegen vernichtender Urteile, und vor allem die Diskreditierung der Justiz, wie wir sie von seinen Nachbildern kennen, von Donald Trump über Boris Johnson bis Sebastian Kurz.

All das meint das Schlagwort „Berlusconisierung“, das darauf hinweist, dass Mächtige mit Medienbündnissen die Demokratie zugunsten ihrer privaten Interessen aushöhlen. Dem österreichische Medienleben hatte ich hier mehr als einmal als „Berlusconisierung ohne Berlusconi“ vorzuwerfen. Das hiesige Bürgertum fand nichts dabei, den PutinFreund Berlusconi als Gesinnungsfreund (Forza Italia ist Mitglied der EVP) und „lieben Silvio“ (Wolfgang Schüssel) zu umschmeicheln. „Als ehemaliger Ministerpräsident Italiens hat Silvio Berlusconi die politische Landschaft unseres Nachbarlandes und Europas geprägt“, schrieb Kanzler Karl Nehammer zum Ableben Berlusconis. Er sagt es, und er sagt damit nichts Gutes.

Der Autor digital: Tägliche Seuchenkolumne: falter.at Twitter: @arminthurnher @thurnher@mastodon.social

Berlusconi war der Prototyp jener Verquickung von Medienmacht, Korruption, Kriminalität, Lüge, Popularitätskauf mittels Sport und Absenkung aller moralischen Standards mittels TV und Promi-Existenz, die mittlerweile in den alten Demokratien des Westens mehr oder weniger zum Standard neuer Eliten zu werden droht. – Vergangenen Montag starb Silvio Berlusconi in Mailand. De mortuis nil nisi bene? De mortuis nil nisi veritatem.

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Silvio Berlusconi, 29. 9. 1936 – 12. 6. 2023 FOTOS: IRENA ROSC, AFP/ANDREAS SOLARO

DIE SCHÖNSTEN BÜCHER FÜR DIE KLEINEN:

Wilde Stadttiere

Vom Stubenkater bis zur Wanderratte: Dieses großformatige Buch (aus Recycling-Pappe und mit umweltfreundlichen Farben bedruckt) ist eine Mischung aus Wimmelbuch und Wörterbilderbuch. Es soll Kindern beibringen, welche Tiere um sie herum leben. Wer wohnt im Park? Wer stöbert in den Mistkübeln der Stadt? Und wer ist auf dem Dachboden zuhause? Besonders nett: Passend zum Buch können Eltern die Tierstimmen aus dem Internet herunterladen.

Murmelnder Wind

Katrin Wiehle: Meine wilden Nachbarn. Beltz, Großformat, 16 S., € 15,50 Ab 2 Jahre

Ein Drache geht unter Ein kleines Drachenmädchen ist frustriert, weil seine älteren Geschwister schon Feuer spucken und fliegen können – und sie nicht. Als sie dann verbotenerweise ins Wasser plumpst, findet sie heraus, was ihr am meisten liegt. Ein schönes Bilderbuch für Kinder, die auch gerne schon mehr könnten.

Gemma Merino: Der kleine Drache, der kein Feuer spucken konnte. Baumhaus, 32 S., € 15,40 Ab 3 Jahre

Fantastische Jäger

Buchhändlerin Schweizer: „Heuer viele traurige, aber schöne Kinderbücher“

Wie vor jedem Weihnachtsfest stellt die Buchhändlerin Franziska Schweizer im Falter die besten Kinderbücher vor. Heuer hat sie sogar einen würdigen Nachfolger für den KinderbuchStar Christine Nöstlinger gefunden

BESUCH: NINA HORACZEK

FOTO: HERIBERT CORN

Diesmal wird unterm Christbaum philosophiert und diskutiert. Jedenfalls dort, wo Kinderbücher die gesellschaftliche Stimmung widerspiegeln. „Heuer gibt es viele sehr traurige Bücher, die trotzdem wunderschön zu lesen sind“, sagt die Kinderbuchhändlerin Franziska Schweizer. Vielleicht liege es ja daran, dass die Pandemie auch bei Kindern Spuren hinterließ.

Seit bald zehn Jahren verkauft die Buchhändlerin in der Kinderbuchhandlung Pippilotta in Ottakring Lesestoff für Junge, vom Stoffbuch zum Anknabbern für Babys bis zur Teenager-Literatur. Aktuell hätten die unsicheren Zeiten auch einige Reminiszenzen an Kinderbuchklassiker hervorgebracht.

Hier ihre Tipps, welche Kinder- und Jugendbücher unter dem Christbaum liegen sollten. F

Eine wunderschöne, fröhlich-bunte Fantasiegeschichte: Hier sind Kinder bei der Oma zu Besuch und machen den ganzen Tag nichts anderes, als im Garten und Wald zu spielen, einen Löwen zu erfinden und in ihrer Fantasiewelt Spaß zu haben.

Ocke Bandixen: Auf Löwenjagd. Carlsen, 32 S., € 13,40 Ab 3 Jahre

Blick durchs Schlüsselloch

Vor Lars Haustür liegt ein Päckchen ohne Adresse und Absender. Auf der Suche nach dem Empfänger läutet der Bub mit seiner Freundin bei allen Nachbarn – und sieht, wie unterschiedlich Lebensformen sein können, dass keine Familie gleich ist und sich doch alle lieben.

Michael Engler, Julianna Swaney: Das alles ist Familie. Ars Edition, 32 S., € 15,50 Ab 4 Jahre

Der Bär ist eigentlich glücklich mit seinem Leben – bis ihn ein Murmeln im Wind auf eine Reise lockt. Also zieht der Bär durch das Land und erlebt Abenteuer, bis er irgendwann merkt, dass die Reise vorbei ist. Und das, obwohl er gar nicht zuhause ankam. Eine einfach schöne Vorlesegeschichte.

Marianne Dubuc: Bär und das Murmeln im Wind. Carlsen, 72 S., € 15,50 Ab 4 Jahre

Knalliger Wortschatz

Nicht nur ein Bildwörterbuch mit bunten Illustrationen, sondern auch ein Erklärbuch, das jedes Wort verständlich macht (bei „ausgestorben“ steht: „wenn es von einem Lebewesen kein einziges mehr gibt“) und so den kindlichen Wortschatz Tag für Tag erweitert.

Meredith Rowe u.a.: Die kleine Wortschmiede. Insel, 105 S., € 14,40 Ab 4 Jahre

Huhn trifft Wasserschwein

In der Jagdzeit flüchten die Wasserschweine vor den Jägern in den Hühnerstall. Dort treffen sie anfangs auf wenig Begeisterung, aber sie dürfen bleiben. Nur diktieren die Hühner die Regeln. Doch über ihre Kinder nähern sich Hühner und Wasserschweine an und erleben gemeinsam Abenteuer. Als die Jäger schließlich von der erfolglosen Wasserschweinjagd heimkommen, ist der Hühnerstall leer. Ein wirklich lustiges Bilderbuch.

Alfredo Soderguit: Die Wasserschweine im Hühnerhof. Atlantis, 48 S., € 16,50 Ab 5 Jahre

Ein ungewöhnliches Paar

Ein weiteres Buch über eine überraschende Tierfreundschaft, diesmal zwi-

44 FALTER 49 ∕ 21 STADTLEBEN

FALTERS FEINE KINDERBUCHSCHAU

schen einem alten Leoparden und einer jungen Maus im Zoo. Maus Rosa erzählt ihrem gefährlichen Freund Alltagsgeschichten von ihren Streifzügen durch den Zoo, es ergeben sich philosophische Fragen: Was ist Glück? Wie ist es, wenn einem zum Heulen zumute ist? Ein Buch über eine unwahrscheinliche Freundschaft mit doppelseitigen Illustrationen.

Lorenz Pauli und Kathrin Schärer: Als Rigo Mäuse anpflanzte und Rosa die Leoparden erfand. Atlantis, 129 S., € 20,60 Ab 5 Jahre

Vögel mit Handicap

Eine superwitzige Geschichte für junge Leserinnen und Leser: Die lahme Ente und das blinde Huhn gehen auf eine Reise, um einen Ort zu finden, an dem sich ihre Wünsche erfüllen. Das Buch erinnert mich an Janoschs Klassiker „Oh, wie schön ist Panama“, und auch bei diesen beiden Figuren erfüllt sich am Ende ihr Wunsch. Obwohl Ente und Huhn gar nicht wussten, wie der eigentlich lautete.

Ulrich Hub, Jörg Mühle: Lahme Ente, blindes Huhn. Carlsen, 82 S., € 13,40 Ab 8 Jahre

Grammatikalische Hunde

Das ungewöhnlichste Lernbuch des Jahres und eine echte Entdeckung: Dieses Buch erklärt Kindern (und

auch Erwachsenen) die deutsche Grammatik anhand einfacher, schöner Bilder. Jede zweite Doppelseite ist zum Ausklappen: Grammatik muss keine Qual sein, sondern kann, richtig transportiert, superverständlich und sogar spannend sein.

Susanne und Johannes Rieder: Hunde im Futur. Rieder, 128 S., € 31,–Ab 8 Jahre

Ein trauriger Elefant

Dieses Mädchen ist so sensibel, dass es die Traurigkeit anderer in Form eines Tieres sehen kann. Besonders groß ist der graue Elefant, der ihren Vater begleitet, seitdem ihre Mutter gestorben ist. Ein herzerwärmendes, philosophisches Buch über ein Mädchen, das alles probiert, um seinen Vater wieder glücklich zu machen.

me. In seinem neuesten landet ein Nymphensittich auf dem Balkon von Lisbeth und Kali, die mit ihrer alleinerziehenden Mutter sowie Oma und Opa zusammenleben. Die Kinder finden den Besitzer des Vogels in einer Jugend-WG. Dort lebt ein Bub aus Lisbeths Klasse, den sie gar nicht ausstehen kann. Eine Geschichte, die zeigt, dass es auch Kinder nicht immer leicht haben.

Die Retter der Drachen

Ein Großformat mit tollen Illustrationen, das seine Leserinnen und Leser auf eine Expedition mitnimmt. Gemeinsam mit der Hüterin der Drachen und einem Wissenschaftsteam bereisen sie in der Drachenarche alle Kontinente. Sie müssen schließlich Drachen retten, die vom Aussterben bedroht sind, weil der Mensch ihren Lebensraum zerstört. Ein wunderbares Fantasy-Buch, in das Kinder die gesamten Weihnachtsferien abtauchen können.

Michael Roher: Kali kann Kanari. Jungbrunnen, 144 S., € 15,–Ab 9 Jahre

Unzertrennliche Freundschaft

Peter Carnavas: Der Elefant. Hanser, 168 S., € 14,40 Ab 8 Jahren

Fast wie Nöstlinger

Der Kinderbuchautor Michael Roher ist für mich ein würdiger Nachfolger der Kinderbuch-Starautorin Christine Nöstlinger. Auch seine Bücher beschreiben mit viel Humor Familien und ihre ganz normalen Proble-

Wirksame

Die Geschichte einer besonderen Freundschaft von zwei Kindern in Siebenbürgen in den 1930er-Jahren. Das Mädchen wandert zu seinem Vater nach Amerika aus, der Bub ist Jude und wird mit seiner Familie ins Konzentrationslager deportiert. Er überlebt und die beiden finden einander nach dem Krieg wieder. Eine traurige und berührende Geschichte, die auf wahren Erzählungen beruht und von der Tochter der Autorin behutsam illustriert wurde.

Schnupfenprophylaxe für die ganze Familie

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Curatoria Draconis und Tomislav Tomi ć : Die Hüterin der Drachen. Prestel, Großformat, 80 S., € 26,80 Ab 9 Jahre

Kinder an die Macht

Eine klassische Abenteuergeschichte: Während der Sommerferien verzieht sich eine Gruppe von Kindern in den Wald. Sie bauen gemeinsam eine Hütte und beschließen, ihren eigenen Staat zu gründen, in dem Erwachsene nichts zu sagen haben. Die Kinder machen ihre eigenen Gesetze und sogar eigenes Geld. Doch einem Mann im Ort gefällt das gar nicht. Ein spannender Abenteuerroman, der mich an Mira Lobes „Insu-Pu, die Insel der verlorenen Kinder“ erinnert.

Rose & Rebecka

Lagercrantz: Zwei von jedem. Moritz, 115 S., € 14,40 Ab 9 Jahre

Davide Morosinotto: Die Rebellen von Salento. Thienemann, 288 S., € 15,50 Ab 10 Jahre

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können das Risiko einer Infektion und Verbreitung von SARS-CoV-2, (dem Verursacher von COVID-19) stark reduzieren!

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Mit der Kraft des Meeres gegen Erkältungsviren

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Wien, wo es isst Kulinarischer Grätzel-Rundgang

Holzer im Grätzel: Mortara-Viertel

M*Kantine 20., Traiseng. 2/Dresdner Str. 89, Mo–Fr 11–14 Uhr, www.m-eventcatering.at

Heisses Eck 20., Mortarapl. 13, Mo–Fr 8–16 Uhr

Mortara Beisl 20., Mortarapl. 1, Tel. 01/330 45 88, Mo–Sa 9–22 Uhr, www.mortarabeisl.at

Eiscafé La Fonte 20., Traiseng. 17, Tel. 0676/420 21 02, tägl. 10.30–22 Uhr

Shanghai Haus

20., Traiseng. 21, Tel. 01/332 72 89, Di–So 11.30–14.30, 17.30–22 Uhr, www.shanghai-haus.at

Zum Nussgartl 20., Vorgartenstr. 80, Tel. 01/332 51 25, Di–Fr 11.30–14.30, Mo–Fr 17–22.30 Uhr, www.nussgartl.at

4Mevsim 20., Pöchlarnstr. 17, tägl. 8–20 Uhr

Fleischerei Pavlovic 20., Donaueschingenstr. 26, Tel. 01/332 74 70, Di–Fr 7–18, Sa 7–14 Uhr

Gasthaus Kopp 20., Engerthstr. 104, Tel. 01/330 43 92, Mi–So 10–23 Uhr, www.gasthaus-kopp.at

40 FALTER 24/23 ESSEN • TRINKEN
Im „Heissen Eck“ brät der Fleischhauersohn Stefan Vösenhuber Waldviertler Wenn er schöne Erdbeeren liegen hat, kämen auch Österreicher, sagt Ibrahim Parali Vanja und Aleksandar Pavlovic haben in ihrer Fleischerei schöne Selchripperln Das Gasthaus Kopp ist die Gastro-Ikone der Brigittenau (riesige Portionen)
GRAFIK: ARGE KARTO
FOTOS: HERIBERT CORN

Hin und wieder sind die lebensqualitativen Vor- oder Nachteile eines Grätzels ganz offenkundig. Beim Viertel rund um den Mortaraplatz (hinter dem Nordwestbahnhof) scheint die Sache komplizierter.

Die Fassaden renoviert, die Straßen breit und hell, viele alte Alleen, kein Durchzugsverkehr, viele Kindergärten, 100-jährige Fabrikshallen schreien quasi nach urbaner Nutzung, mit der U6 oder der Schnellbahn sind sie ausgezeichnet erreichbar. Stellenweise erinnert das Mortara-Viertel an den Prenzlauer Berg.

Nur: Im Gegensatz zum Berliner Szeneviertel gibt es hier kaum Läden, kaum Lokale, ganz zu schweigen von hippen Plätzen, an denen es Craft Beer, Natural Wine oder nach Ribisel schmeckenden Espresso zu tanken gibt. Im Mortara-Viertel sind ein paar Tschocherln und türkische Kulturvereine, in denen alte Männer Karten spielen und böse schauen.

Ist diese Gegend wirklich so abgehängt? Erste Station: Die Kantine im so genannten Big-Biz-Gebäudekomplex, in dem sich auch das Patentamt, die Bundes-Buchhaltungsagentur und das Haus der Tierzucht befindet. Hier betreibt der Caterer M*Eventcatering eine recht moderne Kantine, die öffentlich zugänglich ist.

Nein, die Atmosphäre lädt nicht ein, aber Tagesangebote wie Kalbsrahmgulasch mit Butternockerln (auf der Seite „frisch vom Grill“ leicht deplatziert), Couscous und Rote-RübenFalafel oder gefüllte Hühnerbrust samt Spargelrisotto um 8,90 Euro sind jetzt kein schlechtes Angebot.

Wüste in der Heimat Traditioneller, sehr viel traditioneller geht’s am Mortaraplatz weiter (benannt übrigens nicht nach Edgardo Mortara, einem Entführungsopfer des Vatikans im 19. Jahrhundert, sondern nach der Stadt Mortara, wo Österreich-Ungarn einen militärisch unwichtigen Sieg errang). Denn hier betreibt Stefan Vösenhuber sein Würstelstandel mit dem originellen Namen Heisses Eck.

Vösenhuber entstammt einer Fleischhauer- und Wirtsfamilie aus dem allersüdlichsten Waldviertel, weshalb Wurst für ihn Ehrensache ist. Die Rohware bezieht er von einem befreundeten Fleischhauer in Nöchling, und obwohl die „Waldviertler“ somit wirklich aus dem Waldviertel stammt, essen Kunden am liebsten Käsekrainer, sagt Vösenhuber.

Das Mortara-Beisl hat gerade wegen Renovierung geschlossen, man kann nur hoffen, dass das der Wahrheit entspricht und die letale Grundstimmung nicht auf das urige Balkan-Beisl überschlägt, schon um den schönen Schanigarten unter den Alleebäumen wäre es schade.

Das Eiscafé La Fonte macht einen recht vitalen Eindruck, der große

Gastgarten in der Vorgarten-Zeile der Vorgartenstraße ist sicher einer der angenehmsten Orte im Grätzel, die Eissorten sind recht farbenfroh, Kinder nehmen am liebsten das türkisfarbene „Bubble“ oder „Bueno“, erfährt man, als Erwachsener darf man auch klassische Sorten wählen.

Apropos klassisch: Das Chinarestaurant Shanghai Haus entspricht leider dem Klischeebild. Das kulissenhafte Interieur verbreitet eine gewisse 70er-Jahre-Melancholie, die Speisekarte mit Chop Suey und Acht Schätzen scheint auch aus der Zeit zu stammen. Warum nicht ein bisschen was Spannendes, Authentisches? Einen durchaus bemerkenswerten Schanigarten mit leichtem Dschungel-Appeal gäb’s auch hier.

Grüße an die Heimat

Das beste Essen im Grätzel findet sich dann in der Vorgartenstraße, im Gasthaus zum Nussgartl, das David Herbich 2009 aus einer Gasthaus-Ruine formte. Seither ging es zwar einmal in Konkurs und statt Herrn Herbich leitet jetzt Silvia Lhotak das Lokal, der schattige Garten ist aber nach wie vor ein Traum, gekocht wird ein bisschen italienischer als früher.

Eine Gasse weiter übernahm Ibrahim Parali vor zwei Jahren den seit 20 Jahren bestehenden Grätzel-Greißler Burak, beließ das Konzept, nannte ihn aber halt in 4Mevsim um.

Der Supermarkt vorne an der Engerthstraße sei keine Konkurrenz, sagt Ibrahim, zu ihm kämen Leute aus dem Grätzel, die lieber in einem kleinen Geschäft einkaufen, „vor allem vom Balkan, aber wenn ich schöne Erdbeeren draußen hab’, kommen auch die Österreicher“.

Würste aus der Heimat Dann noch einen Abstecher rüber zum Allerheiligenplatz, wo Aleksandar Pavlovic Ende des vorigen Jahres die Fleischerei übernommen hat und da jetzt schöne Selchripperln, handgesalzenes Landgeselchtes, Speck und auf Vorbestellung Spanferkel anbietet.

Und er macht ganz ausgezeichnete Würste: feste Hauswürste in drei Geschmacksrichtungen und weichere Rohwürste in mild oder scharf, Letztere hab ich in Gemüseragout gargezogen, war super.

Und natürlich das rustikale Gasthaus Kopp, gastronomische Ikone der Brigittenau und berüchtigt für die riesigen Portionen Hausmannskost – und erst die Schnitzel. Die Karte hat sich in den vergangenen 30 Jahren nicht sehr verändert, allerdings musste sogar der Kopp mittlerweile zwei Schließtage einführen. Wacht das Viertel irgendwann einmal auf oder schläft es gänzlich ein? Schwer zu sagen.

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ESSEN • TRINKEN FALTER 24/23 41
Florian Holzer begibt sich auf die Suche nach kulinarischen Mikrokosmen in Wiener Grätzeln
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PETERS TIERGARTEN

HINTERNWÄLDLER

F reie Fahrt für freie Bürger“, war 1974 der Slogan des ADAC in Deutschland, um gegen ein Tempolimit auf Autobahnen mobilzumachen. Schon damals wirkte der Spruch angesichts des hohen Blutzolls auf den Straßen wie von gestern. Verwutlich (pun intended) deswegen verwendete die Partei der Ewiggestrigen diesen Kampfruf auch noch im Jahr 2020, als Norbert Hofer im FPÖ-TV gegen „Schikanen der neuen schwarz-grünen Regierung“ polemisierte. Und jetzt hält der Bundeskanzler Österreich für „das Autoland schlechthin“, in dem niedrigere Tempolimits keinen Platz haben.

Geschwindigkeitsbegrenzungen gab es schon für Pferdegespanne, die an manchen Orten nur in Schrittgeschwindigkeit laufen durften. Später regelte man zum wirtschaftlichen Schutz der Pferdefuhrwerke gegenüber den neu aufkommenden Automobilen die Geschwindigkeiten auf maximale 6 km/h. In Österreich wurde erst nach der Ölkrise im Mai 1974 die noch heute gültige Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 km/h auf Autobahnen festgelegt.

So weit, so unlustig. Unterhaltsamer ist die urbane Legende, nach der sich die weltweit meistverwendete Normalspurbreite der Eisenbahnen mit ihren unrunden 1,435 Metern von der Breite zweier Pferdehinterteile vor römischen Streitwagen herleitet. Das ist eine schöne, in den Social Media häufig geteilte Geschichte zur Beharrlichkeit bürokratischer Normen. Aber Recherche killt die besten Storys.

Ein Pferd ist 80 cm breit, nebeneinander eingespannt vor einem Wagen würden sie jedenfalls mehr als 1,6 Meter Platz benötigen. Und die Spurbreiten der Eisenbahnen waren ursprünglich auch nicht genormt, sondern lokal durchaus unterschiedlich. Erst als die Schienennetze miteinander verbunden werden sollten, hat sich jene Breite durchgesetzt, von

ZEICHNUNG: GEORG FEIERFEIL

der bereits mehr Gleise vorhanden waren. Dafür wiederum war der britische Zivilingenieur George Stephenson verantwortlich, der dies beim Bau seiner ersten Eisenbahnstrecke als Maß einfach so festgelegt hatte.

Und dann gilt: Was einmal eingeführt worden ist, wird auch so schnell nicht wieder geändert. Auch dann nicht, wenn eine Temporeduktion ganz wesentlich zur CO2-Reduktion beitragen würde.

Die laut Straßenverkehrsordnung erlaubte maximale Breite von Pkw ist 2,55 Meter. Warum gerade dieses Maß festgelegt wurde, bleibt im Dunkeln. Vielleicht werden sich zukünftige Generationen auch einmal fragen, wieso ihre Teleportationsmaschinen nur maximal 2,55 Meter breit sein dürfen. Pferdeärsche kann man jedenfalls dafür nicht verantwortlich machen.

NATUR

Die Diskussion über Geoengineering wird kommen, weil sie die Verlockung eines schnellen, billigen Fixes bietet.

HIMMEL HEIMAT HÖLLE

Senegal-Löwen bekamen Nachwuchs. Die LöwenUnterart ist näher verwandt mit dem Asiatischen als mit dem Afrikanischen Löwen, es gibt nur noch vier Populationen von ihr. Die Babylöwen, die im senegalesischen Niokolo-Koba-Nationalpark zur Welt kamen, geben Hoffnung im Kampf gegen das Aussterben der Unterart.

Wird das Platzertal ein Naturschutzgebiet? Das durch einen Kraftwerksbau bedrohte Tal beherbergt eine große Moorlandschaft, in der seltene Arten wie der Hochmoorbläuling leben. Die Umweltorganisation WWF beantragte nun gemeinsam mit Wissenschaftlern bei der Tiroler Landesregierung, die Moorlandschaft zu schützen.

Riesiger Ölteppich breitet sich im Pazifik aus. Vor zwei Wochen sank vor der philippinischen Küste ein Öltanker mit 800.000 Litern Industrie-Öl an Bord. Laut dem Gouverneur der philippinischen Provinz Oriental Mindoro sind nicht nur Meeresökosysteme von der Umweltkatastrophe betroffen, sondern auch mehr als 100.000 Menschen.

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Manchmal tauche ich in Debatten ein und denke mir: Oida?,
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Peter Iwaniewicz fordert: Schwächt die Pferdestärken!
FOTO: AFP/PCG FOTO: SEBASTIAN FRÖHLICH FOTO: AFP/WIKUS DE WET

Schon einmal hat Marc Elsberg einen Thriller geschrieben, den die Realität schnell einholte: Nach „Blackout“ nun „Celsius“. Wie der Mensch das Klima steuern könnte, was das mit Weltpolitik zu tun hat und warum Klimaaktivisten umdenken müssen

Draußen stürmt es, in der Brasserie Palmenhaus im Wiener Burggarten erhitzt die Sonne die Luft auf gut 30 Grad. Bestseller-Autor Marc Elsberg zieht seinen Pullover aus und krempelt die Ärmel seines Hemdes auf. Wie passend. In seinem neuen Science-Fiction-Thriller „Celsius“ führt die Klimakrise in eine Art Weltkrieg und dann in die totale Katastrophe. Gekämpft wird mit den Methoden des Geoengineerings: mit Drohnen, die Partikel in die Stratosphäre einbringen, und Spiegelflächen im All. Das ist ein technisch mögliches Szenario, aber wird es sich auch verwirklichen?

INTERVIEW:

KATHARINA

KROPSHOFER UND

BARBARA TÓTH

FOTO:

HERIBERT CORN

Falter: Herr Elsberg, Sie sind bekannt als akribischer Rechercheur. Wo haben Sie sich über das Thema Geoengineering informiert? Marc Elsberg: Für einen Thriller-Autor wie mich war das wie im Paradies: Es gibt wahnsinnig viel Theoretisches, wahnsinnig viel Quatsch, aber bislang keine praktische Forschung, Experimente. Viele Dinge, auf die ich gestoßen bin, kamen mir vor wie Prototypen auf Automessen: Sie sind nur zum Aufsehenerregen da und werden nie verwirklicht, weil sie zu teuer und völlig absurd sind. Es wird wohl nie Mondstaub zwischen Sonne und Erde geblasen

Erderhitzung, Klimakrieg, Völkerwanderungen: Marc Elsberg lässt kein Schreckensszenario der Klimaforschung aus. Was klischeehaft ausgehen könnte, funktioniert dank Elsbergs Expertise und Dramaturgie bestens. Und alles über die Klimakrise und ihre Folgen weiß man am Ende dann auch. (°C – Celsius. Blanvalet, 608 S., € 26,–)

werden. Aber zu „Solar Radiation Management“ (siehe Marginalie Seite 45), das in meinem Buch die Chinesen anwenden, gibt es inzwischen einen ganzen Haufen wissenschaftlicher und pseudowissenschaftlicher Papiere da draußen…

Mit „da draußen“ meinen Sie das Internet? Elsberg: Ja. Es sind vor allem theoretische Berechnungen. Man versucht, manche Ansätze auch in Klimamodellen zu simulieren, wobei ausgerechnet Luftbewegungen und

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„ Manchmal tauche ich in Debatten ein und denke mir: Oida?“

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Wolkenbildungen bislang eine Achil lesferse der Klimamodelle sind – die können das noch nicht ordentlich.

Manche Papiere sind vorveröf fentlicht, manche schaffen es durch eine Peer-Review und manche erschienen sogar in angesehenen Fachpublikationen wie Science, Nature und Co. Die Diskussionen unter diesen Prognosen und Simulationen zu verfolgen, fand ich besonders spannend. Geoengineering boomt, aber bis heute ist es reine Theorie, es gibt keine Empirie – was natürlich für einen Autor für mich ideal ist. Weil es durchaus einmal sein könnte, aber noch nicht ist.

Sie mussten das Buch in der Pandemie schreiben, hat es das für Sie einfacher gemacht?

Elsberg: Schreiben kann ich nur, wenn ich Ruhe habe. Das geht nicht, wenn ich so wie jetzt auf Lesereise gehe oder zu Vor trägen oder Diskussionen eingeladen wer de, auch zu Wirtschaft und Politik, was ich kurioserweise oft werde …

… weil Sie seit Ihrem Bestseller „Blackout“ Expertenstatus haben …

Elsberg: … ja, und was ich auch gerne mache, weil ich sonst nur zu Hause säße und im eigenen Saft koche. Aber jedenfalls: Mich hinsetzen und fünf, sechs Seiten pro Tag schreiben, das ginge derzeit nicht. Ich kann plotten – also einen Plot, eine Handlung ausdenken –, ein Exposé entwerfen, mir Figuren überlegen.

Sie bauen Ihre Bücher ganz so, wie man sich das vorstellt, mit einer Pinnwand mit vielen Zetteln und Fäden drauf?

Elsberg: Genau. Ich bin ein Architekt, wie die Angelsachsen sagen würden. Für Celsius haben wir im Buch erstmals vorne drin ein Personenverzeichnis angelegt, weil es so viele Figuren gibt. So breit angelegte Geschichten kann man nicht einfach drauflosschreiben, davon bin ich überzeugt. Manchmal bin ich ungeduldig und will losschreiben, wenn ich weiter hinten beim Plotten nicht weiterkomme, aber das ist bei mir die Garantie dafür, um in eine Schreibblockade zu laufen.

Sind Sie so diszipliniert, weil Sie aus der Werbung kommen?

Elsberg: Nein, das war in der Werbung schon ähnlich. Es gibt verschiedene Arten von Kreativität. Zu hundert Prozent bin ich nicht durchgeplant, im Schreibprozess drehen sich auch mal Dinge. Aber einfach draufloskreieren, ohne sich genau mit dem Produkt zu beschäftigen, das macht doch keinen Sinn.

Tauchen Sie auch in Verschwörungssphären ein zur Recherche? Geoengineering ist dort ja auch ein Riesenthema, im Sinne von: Die Klimakrise wird im Geheimen von den USA angetrieben.

Elsberg: Ich tauche nicht so tief rein, weil dann wirst du wahnsinnig. Auf der anderen Seite ist es natürlich faszinierend mitzuverfolgen, was da abgeht. Dank Blackout habe ich auch ein paar Fans aus diesem Spektrum gewonnen, aus der Prepper-Szene –also jener Szene, die sich auf einen Weltuntergang vorbereiten will. Man kann sich

ja nicht aussuchen, wer seine Bücher liest. Manchmal tauche ich in Debatten ein und denke mir: Oida? Aber ich will auch verstehen, wie diese Menschen ticken. Wenn ich als Autor gelesen und gehört werden möchte, muss ich mich in andere hineinversetzen können. Was treibt sie an? Aber wie bei jedem Rabbit Hole muss man aufpassen, dass man auch wieder rauskommt.

Welche konkrete Inspiration finden Sie dort?

Elsberg: Um eine gute Heldin zu haben, brauche ich einen richtig guten Bösen. Die „Bösen“ sind eigentlich die viel interessanteren Gestalten, über die man sich auch zuerst Gedanken machen muss. In Wahrheit sind die Helden zumindest in der ersten Hälfte der Geschichte immer Getriebene. Da passiert irgendwas und sie müssen darauf reagieren. Auch in Celsius ist der Böse aus seiner Sicht nicht böse, auch aus meiner nicht. Er hat Motive, warum er so handelt. Und manches davon finde ich in Verschwörungsforen. Dabei muss man immer vorsichtig sein. Vieles ist völliger Schwachsinn. Aber nicht alles: Als ich in den späten Nullerjahren für Blackout recherchiert habe, ließ ich mich von IT-Sicherheitsleuten beraten. Sie gingen davon aus, dass alles, was an digitaler Kommunikation passiert, mitgehört wird. Damals war das eine Verschwörungstheorie. Fünf Jahre später kam dann Edward Snowden – und es zeigte sich, sie hatten recht gehabt.

Aber gerade beim Geoengineering gibt es derzeit mehr Kritik als Zuspruch –wieso glauben Sie, dass es in Zukunft funktionieren kann?

Elsberg: Technisch durchführbar sind die meisten Ideen, sogar Mondstaub. Aber praktisch machbar und finanzierbar sind sie eher nicht. Wenn man sich – so wie ich – viel damit beschäftigt, wie man Szenarien in eine nahe oder weitere Zukunft weiterentwickelt, darf man nicht der Versuchung erliegen, die Vergangenheit linear fortzuschreiben. Das passiert leider auch in der Klimadebatte zu oft. Das nimmt uns Möglichkeiten und macht uns pessimistisch.

Was meinen Sie?

Elsberg: Ideen wie: Wenn das so weitergeht wie bisher mit der Erhitzung, dann kommt der Weltuntergang. Aber ich glaube, wir werden Mittel und Lösungen finden, die momentan noch nicht absehbar sind. Technologische, ökonomische oder soziale, die uns vielleicht völlig neue Perspektiven eröffnen. Die Diskussion über Geoengineering wird kommen, und sie wird immer heftiger werden, weil sie die Verlockung eines schnellen, billigen Fixes bietet. Sie ist alles andere als eine Dauerlösung, aber politisch attraktiv. Die Frage ist immer auch: Welche Risiken hat sie?

In Ihrem Buch erpresst China den globalen Norden, indem es Geoengineering einsetzt. Sie halten das für realistisch?

Marc Elsberg wurde 1967 in Wien geboren. Er war Strategieberater und Kreativdirektor für Werbung in Wien und Hamburg sowie Kolumnist des Standard. Heute lebt und arbeitet er in Wien. Er ist Autor von sechs Büchern, die in viele Sprachen übersetzt wurden

Elsberg: Die Prämisse des Buches ist: Was passiert, wenn die Opfer der Klimakrise, der globale Süden, sagen: „Es reicht. Wir tun jetzt wirklich was. Auch wenn es euch nicht passt. Jetzt seht ihr mal, wie es einem geht, wenn man keine Rücksicht nimmt."? Und es geht noch weiter: Laut Studien gibt es so etwas wie ein ökonomisch optimales Klima. Es ist kein Zufall, dass alle derzeit erfolgreichen Volkswirtschaften wie die USA, Europa, China, Japan in den gemäßigten Klimazonen mit einer Durchschnittstemperatur von 13 bis 15 Grad liegen. Und dass Kanada, Mittel- und Nordeuropa und Russland potenziell vom Klimawandel profitieren könnten.

Weil die Wirtschaft sich dann dorthin verlagert?

Elsberg: Genau. Das deutsche BIP könnte mit der Klimaerhitzung sogar steigen. So gesehen ist es ziemlich bizarr, dass eine der stärksten Klimaschutz-Bewegungen global gesehen in Deutschland entstanden ist.

In „Das Ministerium für die Zukunft“ von Kim Stanley Robinson setzt Indien Geoengineering ein, in „Don’t Look up“ wird die Klimakrise als tödlicher Asteroid paraphrasiert. Beide fiktiven Werke gelten als Bibeln der Klimabewegung. Hat Sie das inspiriert?

Wiener Stadt-Gespräch mit Marc Elsberg

initiiert von Falter und Arbeiterkammer Wien

Wer kontrolliert das Klima? Marc Elsberg im Gespräch mit Barbara Tóth

Dienstag, 21. März 2023, 19 Uhr AK-Bildungszentrum 4., Theresianumgasse 16–18, Eintritt frei, Anmeldung unter www.wienerstadt gespraech.at

Elsberg: Als das herauskam, war ich schon mitten im Schreiben. Robinson behandelt das Thema Geoengineering ja nur nebenbei. Aber natürlich habe ich es mir dann sofort angeschaut. Mir ist es ein bisschen zu langsam erzählt und zu linear, zu didaktisch. Auch den Film „Don’t Look up“ fand ich klischeebeladen und langweilig.

Dabei geben beide, Buch wie Film, die gängige Erzählung der Klimabewegung wieder: Aufwachen, es ist schon fast zu spät, wenn wir nicht handeln, gehen wir unter. Schlechtes Storytelling?

Elsberg: Die Klimakrise ist im Wesentlichen zu einer Kommunikationskrise geworden. Und das wurde bewusst von Konzernen herbeigeführt. In den Nullerjahren, man kann es genau festmachen. Es begann mit diesem Rechner für den eigenen ökologischen Fußabdruck.

Der von BP popularisiert wurde.

Elsberg: Und damit ist es gekippt. Davor war die Bewusstseinswerdung eigentlich auf einem guten Weg. Sie fand in der Mitte der Gesellschaft statt. Erinnern wir uns: In Österreich gab es die Idee einer ökoso-

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FOTO: HERIBERT CORN

zialen Marktwirtschaft, sie kam direkt aus der ÖVP. In den USA schrieb Al Gore Bestseller. Und dann kam das neue Narrativ: Wir als Politiker und als Wirtschaft können gar nichts machen, solange ihr nicht anfängt, weniger Fleisch zu essen, Rad zu fahren, nicht mehr zu fliegen! Damit wurde die Verantwortung abgeschoben, die Schuld individualisiert.

Und die Klimaaktivisten haben das zum Teil übernommen?

Ja, leider. Sich auf die Straße zu kleben, halte ich für einen strategisch kommunikativen Fehler. Damit signalisiere ich: Nicht die Politik oder der OMV-Chef ist verantwortlich, sondern alle, die im Stau stehen. Paradoxerweise erzählen diese Aktivistinnen das Narrativ der fossilen Industrie aus den Nullerjahren weiter und machen sich letztendlich zu deren Handlangern.

Aber gibt Ihnen der PR-Erfolg nicht recht?

Wir reden so viel wie noch nie über das Klima, seit es radikalere Aktionen gibt.

Elsberg: Bad News are good news? Nein. Im Lärm um die Aktion, in dieser Kakophonie gehen die an sich guten Anliegen wie Tempo 100 unter. Ziel der Aktionen muss die Politik, die Wirtschaft sein. Ganz ehrlich: Die Aufmerksamkeit für das Thema ist ohnehin da. Im Gegenteil: Wir sind so übersättigt, dass wir gar nicht mehr hinhören und -schauen wollen.

Welche Rolle sollte die Kunst – im weitesten Sinne – im Kampf gegen die Klimakrise spielen?

Elsberg: Meine Aufgabe als Thriller-Autor ist nicht Aktivismus. Ich will unterhalten. Wenn dadurch Aufmerksamkeit für das Thema erzeugt wird, wäre das ein interessanter Nebeneffekt. So wie Blackout scheinbar tatsächlich die Gesetzgebungen beeinflusst hat. Oder „Silent Spring“ von Rachel Carson, die mit ihrem Buch mehr oder minder im Alleingang die Umweltbewegung in den USA losgetreten hat. Das konnte sie aber nicht ahnen – und leider auch nicht mehr miterleben.

Man könnte andersherum sagen: Als Thema wurde die Klimakrise in der Literatur und der Filmwelt eher verschlafen.

Elsberg: Das würde ich nicht sagen. Es gibt seit Jahren tonnenweise Literatur dazu: Es gibt ein eigenes Genre, Climate-Fiction, jährliche Kongresse und Messen. Auch Frank Schätzings Buch „Der Schwarm“, das gerade verfilmt wurde, würde ich zu diesem Genre zählen. So gesehen gibt es schon sehr lange Geschichten dazu.

Sind Sie eigentlich hoffnungsvoll, dass wir die Erderhitzung auf 1,5 Grad Limit oder zumindest zwei Grad begrenzen können?

Elsberg: 1,5 Grad werden wir nicht schaffen. Beziehungsweise schon, aber dann ist die Frage: Wollen wir das mit Methoden, wie ich es im Buch beschreibe? Dann hätten wir in fünf Jahren sogar vorindustrielle Temperaturen. Nur ist das Symptombekämpfung. Trotzdem wird dieses Thema kommen: Der Patient ist inzwischen so krank, dass wir zuerst einmal das Fieber runterbringen müssen, sonst krepiert er uns, bevor wir die Ursachen behandeln können. Das ist der klassische Zwiespalt: Die einen, die sagen, Technologie wird uns retten. Andere sagen: Wir haben bereits die Lösungen, warten wir nicht auf irgendwelche Technologien.

Was ist Schwarmintelligenz?

Diese Frage beantwortet Katharina Kropshofer

– mit Blick auf Frank Schätzings Buch

„Der Schwarm“, das als Serie verfilmt wurde, im aktuellen NaturNewsletter – kostenlos anmelden unter falter.at/natur

Elsberg: Genau. Wenn man über die Folgen von Geoengineering nachdenkt, sollten wir genauso über Mobilitäts- und Wohnkonzepte sprechen. Sich in Ländern gerade wie Österreich fragen, ob jeder sein eigenes Hüttel einen Kilometer neben seinem Nachbarn stehen haben muss. Wir wissen, dass in Wahrheit die Stadt das klimatechnisch günstigste Wohnmodell ist, weil die Wege kurz sind. Das sind Überlegungen, die über Technologien weit hinausgehen. Aber wo liegt eigentlich die Grenze zwischen Geoengineering und anderen menschlichen Eingriffen? Zum Beispiel die Renaturierung von Mooren: Das passiert nicht von alleine. Da muss der Mensch Technologie anwenden. Wir experimentieren jetzt schon mit großen Algen und Kelp-Wäldern (die CO2 speichern sollen, Anm.), Plantagen im Meer oder in Becken an Küsten. Auch das ist hochtechnologisch, selbst wenn das eingesetzte Material weniger technologisch wirkt wie Aerosole, die man in der Atmosphäre ausbringt.

Sie haben gemeint, Sie sehen Ihre Arbeit nicht als Aktivismus. Aber glauben Sie trotzdem, dass Leute das so verstehen? Als Call to Action?

Elsberg: Kann sein. Aber es ist nicht mein Impetus. Wir wissen alle, dass wir etwas tun müssen. Aber einen Call to Action würde ich es nicht nennen. Ich beschäftige mich schon ewig mit dem Thema Klima, früher nannte man es Umwelt. Schon bei meinen Eltern stand „Die Grenzen des Wachstums“ im Bücherregal und irgendwann hat man da auch mal reingeschaut. Ich versuche eher,

eine neue Perspektive reinzubringen. Nicht zuletzt aufgrund globaler Machtverschiebungen. Wir sehen das schon jetzt im Ukrainekrieg, viele Länder aus dem globalen Süden mischen sich da auch nicht ein. Und in diese Richtung wird sich auch die Klimadebatte entwickeln. Allein aufgrund der Bevölkerungsentwicklung werden sich Machtverhältnisse ändern.

Für Blackout sind Sie ein gefragter Vortragender für Politik und Wirtschaft. Werden Sie jetzt auch zum Klima-Erklärer?

Elsberg: Bei Blackout war das eine große Überraschung für mich, ein interessanter Nebeneffekt. Damals gab es so gut wie niemanden, der sich damit beschäftigt hatte. Beim Klimathema ist das anders, da haben wir einen kompletten Overkill. Ob man da zusätzlich einen alternden Mitteleuropäer braucht? Ich glaube nicht. Außerdem: Die Lösungen liegen ja alle bereits auf dem Tisch.

Über Ihr nächstes Projekt wollen Sie noch nicht sprechen, aber ein Thema schließen Sie aus: Es geht nicht um eine „Plandemie“?

Elsberg: In meinem nächsten Buch wird es wieder um ein Thema gehen, das uns alle im Alltag beschäftigt – und dem wir viele positive Seiten abgewinnen können. Über die Pandemie braucht man jetzt nicht mehr zu schreiben, nachdem wir sie alle erlebt haben. Und zum Glück erleben mussten, dass sie im Vergleich zu den Romanen und Filmen in der Realität um einiges fader war als erwartet: Auf der Couch warten, bis sie vorbei ist. F

Geoengineering erklärt

Solar Radiation Management Um die Erderhitzung einzudämmen, reflektiert man Sonnenstrahlen zurück ins All. Indem man Oberflächen weiß anstreicht (einfach), reflektierende Folien über die Wüste spannt (teuer und störend), lichtzerstreuende Partikel, Aerosole, in die Atmosphäre einbringt (gefährdet die Ozonschicht) oder riesige Spiegel im Weltraum platziert (teuer und unrealistisch)

Carbon Dioxide

Removal Hier soll CO 2 aus der Atmosphäre gezogen werden: biologisch (Aufforstung, Ozeandüngung oder Algenfarmen) oder geologisch (Kohlendioxid in Gestein oder im Meeresuntergrund speichern). Das Risiko: Ein Leck, wodurch es ins Grundwasser oder in den Boden gelangt

Weitere

Cli-Fi-Empfehlungen:

„Das Ministerium für die Zukunft“, Kim Stanley Robinson (2021), Heyne; 720 S., € 17,95

„Die Parabel vom Sämann“, Ocatvia E. Butler (1993), Heyne; 450 S., €15,–

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Diese Information ist Werbung, sie stellt weder ein Angebot zum Verkauf noch eine Aufforderung zur Abgabe eines Angebots zum Kauf von Wertpapieren dar. Ein öffentliches Angebot von Anleihen erfolgt ausschließlich aufgrund des dem KMG entsprechenden, von der FMA im Februar 2023 gebilligten Prospekts sowie allfälliger Nachträge. Diese Unterlagen sind auf der Website anleihe2023.web.energy sowie am Firmensitz der WEB Windenergie AG kostenlos erhältlich. Die Billigung des Prospekts durch die FMA ist nicht als Befürwortung der W.E.B Anleihe 2023 zu verstehen. Potenzielle Anleger sollten den Prospekt lesen, bevor sie eine Anlageentscheidung treffen, um die potenziellen Risiken und Chancen der Entscheidung, in die W.E.B Anleihe 2023 zu investieren, vollends zu verstehen.

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