HEUREKA 7/21

Page 1

HEUREKA #72021

COLLAGE: MARLIES PLANK

Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien, WZ 02Z033405 W, Österreichische Post AG, Retouren an Postfach 555, 1008 Wien, laufende Nummer 2829/2021

D A S W I S S E N S C H A F T S M A G A Z I N A U S D E M F A LT E R V E R L A G

Wohin entwickelt sich die

Wissenschaft? Transdisziplin mit Bürger*innen Eine wichtige Entwicklungsrichtung der Wissenschaften Seite 12

Ethik und Herzensbildung Geistes- und Humanwissenschaften leisten ihren Beitrag zu unserem Selbstverständnis Seite 14

Denken auf Systemebene Physikalisch beschreiben, wie Personen oder Elemente miteinander agieren Seite 18


FALTER T HiNK-TANK Die neue Arena der jungen, kritischen Intelligenz

Zeitgeschichte

Frauenpolitik

Justiz

Ökonomie

Migrationsdebatt e

Demokratie

Feminismus

Türkis-Blau

FPÖ

Wirtschaft spolitik

SPÖ

Asylkrise Migration

Vergangenheitspolitik

Linke

Rechtspopulismus

Haus der Geschichte – Heldenplatz

Regierung

Flüchtlingskrise

Corona

Mit Rechten reden?

Der FALTER Think-Tank versammelt Meinungen, Kontroversen und Analysen zu den großen Themen der Zeit. Geschrieben von FALTER-Autorinnen und -Autoren und Österreichs jungen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern.

www.falter.at/ThinkTank

In Kooperation mit der


IN TRO D U K TIO N  :   H EU R E KA  7/21   FALTER 48/21  3

CHRISTIAN ZILLNER

A U S D E M I N H A LT

:   E D I TO R I A L

Wandlung Getrennt forschen, vereint Erkenntnis gewinnen  Seite 9

FOTOS: FABIEN MAUSSION, STEFANFUERTBAUER, MARLIES PLANK (2)

Zur Pandemiebekämpfung wird es auch die Geisteswissenschaften brauchen

Kopf im Bild  Seite 4 Cornelia Klein entwickelt ­Modellabbildungen zukünftiger Niederschlagsextreme – besonders für Afrika

Transdisziplin mit Büger*innen  Seite 12

Die Mitarbeit von Laien – als Expert*innen ihrer Lebenswelten – in wissenschaftlichen ­Projekten wird immer wichtiger

Ethik und Herzensbildung  Seite 14

Im Tandem zum Doktorat  Seite 8 FWF-Präsident Christof

­Gatterer über die Zusammenarbeit von Universitäten und FHs

Geistes- und Humanwissenschaften leisten ihren Beitrag zu unserem Selbstverständnis

Licht, Strom und Knowhow für Afrika  Seite 20

Die Ärztin Laura Stachel entwickelte mit ihrem Mann Hal Aronson den „Solar Suitcase“ für stromlose Gegenden

Längst nicht mehr nur graben  Seite 16 Naturwissenschaftliche Methoden und Digitalisierung bringen Dynamik in die Archäologie

Die nächste Pandemie Seite 22

Strategien zu ihrer Vermeidung, etwa auch durch Citizen Science

Denken auf Systemebene  Seite 18 Physikalisch beschreiben, wie Personen oder Elemente ­miteinander agieren

Einst hatten Theologen (und unter ihnen nur sehr wenige Theologinnen) zu bestimmen, was Wissenschaft ist und was nicht. Dann erkämpften sich die Philosophen (es liegt sicher nur an mir, dass mir momentan keine Philosophin einfällt) diese Deutungshoheit. In der Medizin wurde der „Vater der Schulmedizin“ Paracelsus als Kakophrastus verhöhnt und von seinen ­wissenschaftlichen Kollegen (keine Kolleginnen) abgelehnt. Das alles hat sich mittlerweile grundlegend geändert. Heute spielt Science alle Stückeln und sich als die Wissenschaft auf, der Rest sind Humanities, denen irgendwann auch noch die letzten Forschungsgelder zu streichen sind – oder? Die Beiträge in dieser Ausgabe vermitteln ein anderes Bild. Egal ob Pandemieforschung, wissenschaftlicher Kampf gegen die Auswirkungen des Klimawandels oder Fragestellungen der Genetik, alle Beiträge beharren darauf, dass ­Science nicht ohne Humanities auskomme. Was aber, wenn man den Spuren des Geldes folgt? Stößt man da nicht auf ausgemergelte Humanist*innen, die begehrlich auf die reich gedeckten Labortische der Kolleg*innen von den Naturwissenschaften ­starren? Verkommen die Humanities zum „Hausverstand“ der Wissenschaft? „Been Down So Long It Looks Like up to Me“ heißt ein ­Roman von Richard Fariña. Literatur halt.

:   G A ST KO M M E N TA R

Die Ziele der Studienförderung in Österreich

FOTO: STEFAN PINCZOLITS

ALEXANDER MARINOVIC

„Reiche Eltern für alle? ­Stipendien & Beihilfen ausbauen!“ Wer vor der ÖH-Wahl im Mai die Dreiecksständer mit den bunten Wahlplakaten wahrnahm, kam an dem Thema nicht vorbei. Auch die aktuelle ÖH-Vorsitzende sieht „das Thema Studienförderung und damit soziale Durchlässigkeit als eines der wichtigsten in der Hochschulpolitik. Mit einer gut funktionierenden Studienförderung hat man die Mittel in der Hand, dass auch wirklich alle studieren können, die studieren wollen.“ Der Staat investiert jährlich eine Viertelmilliarde Euro in Stipendien. Vor fast sechzig Jahren, als mit dem Studienbeihilfengesetz 1963 erstmals ein Rechtsanspruch auf Studien­förderung geschaffen wurde, lagen die Beweggründe für das neue Gesetz im Wirtschaftswachstum und in der damit ­verbundenen

Vollbeschäftigung – für viele junge Menschen ein Anreiz, attraktive Berufsangebote anstelle eines Studiums zu wählen. Um das wirtschaftliche Niveau zu halten, benötigte man mehr junge Menschen mit Hochschulabschluss. Unter dem Schlagwort „Ausschöpfung der Begabungsreserven“ sollten neue Bildungsschichten jenseits des Mittelstandes erschlossen werden, insbesondere durch die Heranführung von Arbeiter- und Bauernkindern ans Hochschulstudium. Alexander ­Marinovic leitet die Studienförderungsabteilung im Wissenschaftsministerium

In Zeiten eines postsekundären Bildungssystems mit tausend Studienrichtungen hat sich die Problemstellung verschoben. Der Zugang zur Bildung ist zwar kein Privileg mehr, die Finanzierung im Einzelfall jedoch sehr oft. Hier springt die Studienförderung ein, die sich auf das 1969 erstmals erlassene Studienförderungs­ gesetz stützt. Vollzogen wird es von der Studienbeihilfenbehörde, die vor genau fünfzig Jahren gegründet wurde. 1969/70 bezogen 8.514 Studierende eine Studienbeihilfe, im letzten Studienjahr waren es 45.740; vor 50 Jahren gab es zwei Stipendienarten, die Studienbeihilfe und das Begabtenstipendium, mittlerweile existieren elf verschiedene Förderinstrumente. Normalerweise hängt die Höhe der Studienförderung vom Einkommen der unterhaltspflichtigen Eltern ab. Eine markante Ausnahme ist das

elternunabhängige Selbsterhalter­ stipendium, auf das Studierende ­Anspruch haben, wenn sie ­ihren ­Lebensunterhalt mindestens vier Jahre lang aus eigenem Einkommen finanziert haben. Ihre Flexibilität haben Studienförderungssystem und Studienbeihilfenbehörde auch in der Coronakrise bewiesen. Höhere Stipendien gleichen automatisch sinkende ­Elterneinkommen aus; und eine ­Corona-Verordnung hat das pro­ blematische Sommersemester 2020 zum neutralen Semester erklärt, also alle Fristen entsprechend verlängert. So läuft die Studienförderung auch nach fast sechzig Jahren noch gut (nicht zuletzt dank dem ­„Motor“ Studienbeihilfenbehörde). Reparatur- und Wartungsarbeiten werden aber auch in Zukunft nicht ausbleiben.


4 FALTER  48/21  H EUR EKA  7/21  :  T I T ELT H E M A

:  KO P F I M B I L D

STARKREGEN Die Intensität zukünftiger ­Niederschlagsextreme abzu­ bilden ist schwierig. „Die meis­ ten Klima­modelle unterschätzen Stark­regen, da sie wegen gro­ ber räumlicher Auflösung Ge­ witter nicht erfassen können“, sagt ­Cornelia Klein vom Insti­ tut für Atmosphären- und Kryo­ sphärenwissenschaften der Uni Innsbruck. Mit ihrem internati­ onalen Team hat sie am Beispiel der Sahelzone „eine Methode ­erarbeitet, die das Beste aus der Welt der ­Modelle und der Be­ obachtungsdaten zusammen­ führt“. Höhere Rechenkapazitä­ ten machen nun einzelne Simu­ lationen ­möglich, die Gewitter sichtbar machen. Damit könne man die durch den Klimawandel heftigeren Extreme besser ab­ schätzen. „Für Gebiete wie etwa Westafrika, die besonders betrof­ fen sind, sind zuverlässige Infor­ mationen entscheidend.“ Leider sei Klimaforschung im globa­ len Süden stark unterrepräsen­ tiert. „Ich arbeite eng mit afrika­ nischen Forscher*innen zusam­ men“, so Klein. „Nur sie können die neuen Erkenntnisse um­ setzen, sei es in ExtremwetterWarndiensten oder in flutsiche­ rer Stadtplanung.“ TEXT: USCHI SORZ FOTO: FABIEN MAUSSION

:   J U N G FO RS C H E R I N N E N   USCHI SORZ

Martin Kerndler, 33, TU Wien „Wenig betrieblicher Spielraum bei der Lohngestaltung kann an institutionellen ­Faktoren wie Kollektivverträgen oder Kündigungsschutz ­liegen, oft aber auch an Marktmechanismen“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler. Zur Lohnrigidität, wie man diesen Aspekt der Arbeitsmarktökonomie nennt, hat er am Doktoratskolleg „Vienna Graduate School of Economics“ der Universität Wien dissertiert und den Fokus auf individuelle wie auch volkswirtschaftliche Auswirkungen gelegt. Nun ist er Postdoc am Institut für Stochastik und Wirtschaftsmathematik der TU Wien, wo er sich mit Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz befasst. „Die Verteilung von Gesundheitsrisiken und Einkommen zwischen verschiedenen sozioökonomischen Gruppen zeigt, dass hier bestehende Ungleichheiten noch verstärkt werden.“

Nadine Präg, 34, Universität Innsbruck „Wer vom Klimawandel spricht, muss auch über Mikroorganismen reden“, meint die Vorarlbergerin. Sie hat in Innsbruck Biologie und Mikrobiologie studiert und ist nun Senior Scientist an ihrer früheren Alma Mater. „Obwohl diese Winzlinge lebensnotwendig für uns sind, weiß man noch wenig über ihre Diversität in Böden.“ Präg hat untersucht, wie sich Änderungen des Klimas und der Landnutzung darauf auswirken, und dabei ­einen ­Fokus auf den Kreislauf des Treibhaus­gases Methan gelegt. Diesen bestimmen Mikroorganismen entscheidend mit. „Ich konnte ­zeigen, dass steigende Temperaturen einen deutlichen Einfluss auf die Diversität der Mikroorganismen in den Böden der Alpen haben und dass ihre Kapazitäten, Methan aufzunehmen, dadurch beeinträchtigt werden.“

Matthias Hoernes, 32, Universität Wien „In der Archäologie können wir Fragen, die uns heute noch beschäftigen, in ganz anderen kulturellen Kontexten untersuchen“, sagt der Postdoc-Assistent am Wiener Institut für Klassische Archäologie. „Etwa, wie wir Alter, Geschlecht und soziale Ungleichheit konstruieren oder den urbanen Raum gestalten.“ Die unterschiedlichen historischen Denk- und Handlungsoptionen hätten uns immer noch viel zu sagen. Für seiner Dissertation an der Uni Innsbruck hat Hoernes Gräber aus dem 6. bis 4. Jh. v. Chr. im heutigen Apulien erforscht, die wiederholt geöffnet und mehrfach für Bestattungen genutzt wurden. „Dieses Phänomen, das wir auch aus der Gegenwart kennen, mag uns trivial erscheinen, doch zeigen sich komplexe Praktiken des Umgangs mit den Toten, ihren Körpern und Grabbeigaben.“

FOTOS: MARIUS HÖFINGER, PRIVAT, P. Á. MENDIVIL

Wer von der Schulzeit bis zur Dissertation herausragende Leistungen abliefert, promoviert sub auspiciis praesidentis rei publicae. So wie diese drei Nachwuchswissenschaftler*innen


TITE LTH E M A  :   H EU R EKA  7/21   FALTER 48/21  5

CHRISTOPH PONAK

MARTIN HAIDINGER

FLORIAN FREISTETTER

Studie wozu?

Keine lange Bank mehr!

Die Letzten

Wie hoch ist der CO2-Ausstoß ei­ nes Passagierflugzeuges „wirklich“? Diese komplexe Frage versucht eine relativ neue Studie zu Mobili­ tätsformen und deren Fußabdruck zu beantworten. Was ist dem­ nach die „beste“ Form der Fort­ bewegung? Wie immer: Auf zu den Zahlen! In besagter Studie werden dem Zug als Verkehrsmittel am obe­ ren Ende eines breiten Spektrums knapp über 70 g/PKM (Personen­ kilometer) CO2-Ausstoß angelastet, dem Flugzeug 90 g/PKM. ­Einige weitere Aspekte sprechen laut Er­ gebnis nicht für die Schiene, zu­ mindest jedoch, so die Message je­ ner Person, die sie geteilt hat, soll dieser geringe Abstand ­zwischen den beiden Zahlen dazu anre­ gen, altbewährtes Wissen zu hin­ terfragen. Inhalt, Methodik und ­Ergebnisdarstellung (ich bin mit der Ausführung aller drei Aspekte nicht hundertprozentig zufrieden) dieser und anderer Studien ähnli­ cher Natur ungeachtet: Was macht man damit? Ich sehe in Bewertungen die­ ser Art wiederkehrende Muster der Menschen im Umgang mit der ­Klimakrise: Überforderung und zeitliches Verschieben von System­ änderungen auf später. Wir ver­ suchen das „Richtigste“ zu fin­ den und stellen dabei vermeint­ lich „Richtiges“ in jeweils anderem Licht dar, machen jedoch alles un­ verändert falsch. Es ist im Kampf gegen die Erderwärmung, abge­ sehen von plötzlicher technischer Disruption, völlig unerheblich, wie viel Gramm pro Flugkilome­ ter und Person „genau“ ausgesto­ ßen werden, wenn sich die zugrun­ de liegenden flug- und, allgemei­ ner, emissions­verursachenden Sys­ teme nicht ändern. Ich kann nicht mit dem Zug von Österreich nach Japan fahren. Solange ein Ver­ trag bei einem Geschäft irgend­ einer Art zwischen diesen beiden Nationen kulturbedingt eine per­ sönliche Anwesenheit erfordert, ist die genaue Quantifizierung des ­verursachten Schadens fern jeder Relevanz. ­Einen eintägigen Shop­ pingtrip von Frankfurt nach Barce­ lona wird auch die flugentlastends­ te Studie nicht weniger verwerflich machen, und das ­E-Auto wird die Individualmobilität nicht bezüglich ihres Umweltschadens verschönern. Wir müssen Systeme verändern, nicht die Systemgrenzen unserer Berechnungsmethoden.

Erinnern Sie sich noch an Monica Lewinski? Die sexuelle Affäre, die der seinerzeitige US-amerikanische Präsident Bill Clinton mit ihr un­ terhielt, hätte ihn beinahe das Amt gekostet. Damals, in den 1990ern, ging unter uns Journalisten beider­ lei Geschlechts ein kleines Bonmot um: Wenn Frau Lewinsky drüben über dem Großen Teich im Oval Office die Lippen ein wenig zu weit öffnet, hat das am anderen Ende der Welt, in Österreich, zur Folge, dass der Wissenschaftsbeitrag aus dem Ö1-Mittagsjournal fliegt.

„Ich würde gern mehr über die Entwicklungen in der Wissenschaft lernen.“ 35 Prozent der Menschen in Österreich sagen, dass sie die­ ser Aussage nicht zustimmen; bei 14 Prozent ist die Ablehnung be­ sonders stark. Mehr als ein Drit­ tel der Bevölkerung hat also nicht nur kein Interesse an Wissen­ schaft sondern macht sich sogar die Mühe, das Desinteresse in einer Umfrage explizit zu bekunden. Die Studie, in der das festge­ stellt wurde, ist das aktuelle „Eu­ robarometer“ zum Thema Wissen­ schaft. Nun wissen wir: Wir sind Spitzenreiter, was Wissenschafts­ ignoranz angeht, und selbst wenn wir uns auf die Menschen konzen­ trieren, die in der Umfrage ange­ geben haben, sich durchaus für Forschung zu interessieren, wird die Lage nicht besser. Da landen wir mit 41 Prozent gemeinsam mit Kroatien auf dem letzten Platz. Die Eurobarometer-Umfrage hat noch sehr viel mehr Daten er­ hoben. Österreich schneidet so gut wie überall schlecht ab. Mehr als die Hälfte der Menschen hierzu­ lande denkt, dass es nicht wich­ tig für das eigene Leben wäre, über ­Wissenschaft Bescheid zu wis­ sen. Damit liegen wir europaweit auf Platz drei jener Länder, die Wissenschaft für unwichtig hal­ ten. ­Angesichts der Coronapande­ mie oder der Klimakrise ist diese ­Ignoranz erstaunlich. Wir scheinen eine tiefsitzen­ de Abneigung gegenüber der ­Wissenschaft zu haben. Das Wort „ehrlich“ halten nur 47 Prozent der Menschen für passend, um For­ schende zu beschreiben. Auch hier sind wir, einen Prozentpunkt vor Deutschland, die Schlusslichter in Europa. Der Wert der Wissenschaft scheint sich uns nicht zu erschlie­ ßen. „Das Interesse junger Men­ schen für Wissenschaft ist wichtig für unsere Zukunft“ – nur in Ru­ mänien findet man noch weniger Menschen, die dieser Aussage zu­ stimmen, als in Österreich. Zählt man nur diejenigen, die sie expli­ zit ablehnen, sind wir ein weiteres Mal Spitzenreiter. Österreich und die Wissen­ schaft scheinen ein Problem mit­ einander zu haben. Das dringend gelöst werden muss, wenn wir nicht im Sumpf von Provinzialität und Populismus versinken wollen. Die Wissenschaftskommunikation muss sich neue und bessere Strate­ gien ausdenken, um die österreichi­ sche Ignoranz zu durchbrechen.

:   K L I M AT EC H N O LO G I E

Auch andere, viel banalere Kausal­ ketten führten zu dem, was man im alten Reichskammergericht der frühen Neuzeit die „Lange Bank“ genannt hatte. Das war jene Flä­ che, auf der die Akten in der Rei­ henfolge ihrer Dringlichkeit ge­ lagert wurden. Wenn ein weniger wichtiges Konvolut zu lange un­ behandelt blieb, wurde es so lange auf die lange Bank geschoben, bis es am Ende unter den Tisch fiel. Gar nicht so selten mussten wir erleben, dass wir vielversprechende Forschungsergebnisse nicht in den Nachrichtensendungen unterbrach­ ten, weil schon wieder irgendein drittklassiger Politiker Dummhei­ ten absonderte, die unseren Beitrag aus dem Journal kickten. Das war in den 1990ern. Und heute? Meine verehrungswürdige Kolle­ gin Elke Ziegler aus der ­Redaktion

: FREIBRIEF

Aktuelle Wissenschaft des ORF hat heuer als Erste unseres Genres den renommierten Robert-Hoch­ ner-Preis erhalten, und mein groß­ artiger Kollege Günter Mayer wur­ de in seiner Eigenschaft als führen­ der Journalist der aktuellen Wis­ senschaft im ORF-Fernsehen zum TV-Star und bekam 2021 eine „Romy“ im Bereich Information. Gewiss hat die Pandemie bewirkt, dass man ihrem Schaffen mehr Aufmerksamkeit schenkt als früher, aber es sind vor allem ihre hervor­ ragenden Leistungen, die ihnen zu Recht diese Ehrungen einbrachten. Eigentlich müsste die weltweite Coronakrise die Stunde der Wis­ senschaft sein. Noch nie nahmen so viele Menschen auf dem Erden­ rund im eigenen Interesse so ge­ spannt an den Aktivitäten natur­ wissenschaftlicher Forschung An­ teil wie heute. Getrübt wird dieser Effekt allerdings vom Momentum schmerzhafter Dummheit und stu­ penden Aberglaubens, die laut ak­ tuellem Eurobarometer den Men­ schen in Österreich eine blamable Spitzenposition in Sachen Wissen­ schaftsskepsis sichern. Mit anderen Worten: Kaum wo in Europa schert man sich im Volk so wenig um ­Science und Humanities wie hier­ zulande. Trotzdem werden wir uns nicht beirren lassen und nie wieder auf der langen Bank medialer Prio­ ritäten landen – versprochen!

:   F I N K E N S C H L AG   HANDGREIFLICHES VON TONE FINK TONEFINK.AT

ZEICHNUNG (AUSSCHNITT)

MEHR VON CHRISTOPH PONAK: ENGINEERS FOR A SUSTAINABLE FUTURE: WWW.ESFUTURE.AT WWW.SHIFTTANKS.AT

:  H O RT D E R W I SS E N S C H A F T

MEHR VON FLORIAN FREISTETTER: HTTP://SCIENCEBLOGS.DE/ ASTRODICTICUM-SIMPLEX


6 FALTER  48/21  H EUR EKA  7/21  :  NAC H R I C HTE N

Seiten 6 bis 9 Wie Wissenschaft in ­unsere ­alltäglichen Lebensumstände eingreift und sie verändert

: GENETIK

Erste Reitpferde in russischen Steppen Genveränderungen haben aus Wildpferden Reittiere gemacht JOCHEN STADLER

Wo Don und Wolga durch die russische Steppe fließen und im Asowschen sowie Kaspischen Meer münden, galoppierten die ersten modernen Reitpferde, berichtet ein Forscherteam im Fachjournal Nature. Sie hatten zwei Genveränderungen, die sie für die Menschen besonders nützlich machten: Eine davon im „GSDMC-Gen“ stärkte wohl ihren Rücken, damit sie problemlos Reiter und schwere Lasten tragen konnten. Die andere im „ZFPM1-Gen“ machte sie weniger scheu und somit gefügiger. Die neue Pferdelinie verkraftete dadurch lange, schnelle Ritte besser als ihre Vorgänger, man konnte sie vor Kriegswagen spannen und ihnen schwere Packen aufladen, so die Forscher um Ludovic Orlando von der Universität Toulouse (Frankreich). An der Studie waren auch drei österreichische Forschende beteiligt: Gottfried Brem und Barbara Wallner vom Institut für Tierzucht und Genetik der Veterinärmedizinischen Universität Wien sowie Christoph Schwall vom Österreichischen Archäologischen Institut (ÖAI) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien. Die Wissenschaftler*innen untersuchten das Erbgut von 273 Pferdeüberrestefunden aus Regionen, wo man bisher den Ursprung der Pferde vermutete: Darunter waren etwa Iberien, Anatolien und die Steppen Zentralasiens, die alle als Geburtsort der modernen Reitpferde ausschieden. Er war in der westeurasischen Steppe, und von dort breiteten sie sich vor 4.200 Jahren rasant aus.

:   B I O LO G I E

:   M AT H E M AT I K

Feiste Bären haben keine Herz-Kreislauf-Probleme

Vom Bild zum geometrischen Modell

Im Unterschied zu uns Menschen macht den Bären zu viel Fett am Leib keine Probleme, sie sind durch HDL-Cholesterin vor solchen geschützt

Thomas Takacs verbindet Geo­ metrie mit KI-Algorithmen

JOCHEN STADLER

USCHI SORZ

Für den Winterschlaf legen sich Bären umfangreiche Fettreserven zu. Davon werden sie im Gegensatz zu Menschen aber nicht krank, berichtet Sylvain Giroud vom Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Üppige Mengen an „gutem HDL-Cholesterin“ und Antioxidantien verhindern schädliche Prozesse durch die Energievorräte. Wenn sich frei lebende europäische Braunbären (Ursus arctos) massiv Winterspeck anfressen, werden verschiedene Gegenmechanismen gestartet, um sie trotz hoher Blutfettwerte gesund zu halten, berichtet der Forscher im Fachjournal Scientific Reports. Die Tiere haben dann viel mehr Antioxidantien im Blut. Das sind Stoffe, die den Körper vor freien Sauerstoffradikalen schützen. Diese schädlichen Substanzen treten bei übermäßigem Fettkonsum vermehrt auf. Sie fördern Entzündungen und

greifen die Muskeln an. Außerdem wird bei den Bären dann ein Enzym im Körper hyperaktiv, das HDL-Cholesterin stabilisiert. Es gilt als „gutes Cholesterin“, weil es im Gegensatz zu LDL-Cholesterin keine Arterienverkalkung (Arteriosklerose) verursacht.

Sylvain ­Giroud, VetMed ­Universität Wien Durch diese Schutzmaßnahmen können sich die Bären Fettmassen anfressen, die bei Menschen Arteriosklerose, Herzkranzgefäß-Entzündungen, Herzinfarkt und Schlaganfall auslösen würden. Diese Strategien könnte man vielleicht auch kopieren, um Arteriosklerose beim Menschen zu bekämpfen, meint Giroud.

: F RU C H T BA R K E I T S FO RS C H U N G

Ein Sperma bekommt auf Vorsprache eines Herolds Einlass in die Eizelle Es ist wie beim Einzug eines Königs in die Stadt: Ein Herold geht dem Sperma voraus, um Einlass zu bekommen und empfangen zu werden JOCHEN STADLER

Die Spermazellen von Säugetieren sind auf einen Herold angewiesen, um in der von einer massiven Mauer umgebenen Eizelle eine Empfängnis auslösen zu können, taten Wiener Forschende im Fachblatt Pnas kund. Die Vorsprache jenes offiziel-

Andrea ­Pauli, Institut für Molekulare Pathologie IMP, Wien len Boten, der den Namen „SPACA4“ (Sperm acrosome membrane-associated protein 4) trägt, sei bei Mäusen notwendig, damit Spermazellen die Schutzhülle der Eizellen (Glashaut) durchdringen können. Spermazellen ohne SPACA4 zeigten normale Beweglichkeit, eine Empfängnis war bei ihnen jedoch zu-

meist verhütet, fanden die Forschenden um Andrea Pauli vom Institut für Molekulare Pathologie (IMP) in Wien heraus. Jener Herold sei ausschlaggebend, dass die Spermazellen jene Barriere, die durch die Glashaut gebildet wird, durchschreiten können, rapportieren sie. Zuvor hatten sie die Rolle des Vetters „Bouncer“ (engl. „Türsteher“) von SPACA4 in Fischen erkundet. Er steht nicht im Dienste der Spermien, sondern der Eizellen. An deren Pforte mimt er den Wächter, der nur artgleiches Sperma als genehm einlässt. Er weist artfremde Spermazellen ab und bewahrt so die Keuschheit von Eizellen, bis ein genehmer Freier um Einlass bittet. Die Verwandten „Bouncer“ und „SPACA4“ haben gegenteilige Rollen bei Säugern und Fischen: Einmal den Herold zu geben, der um Einlass bittet, ein andermal den Wächter, der für unwürdig befundenen Besuch abweist.

Thomas Takacs’ mathematische Karriere bereitete seine Teilnahme an Schüler*innenolympiaden vor. „Ich war früh begeistert vom Tüfteln an scheinbar simplen Fragestellungen, die aber gar nicht so einfach zu lösen sind“, erzählt der Univer-

Thomas ­Takacs, ­Universität Linz sitätsassistent am Institut für Angewandte Geometrie der Universität Linz. Zur Geometrie zog es ihn, „weil abstrakte Beschreibungen hier eine anschauliche Interpretation zulassen, man aber umgekehrt auch anschauliche Dinge mit einem mathematischen Formalismus beschreiben und damit rechnen kann.“ Sein Forschungsfokus ist die Isogeometrische Analysis. „Für die geometrische Modellierung von Objekten am Computer und die Computersimulation von physikalischen, technischen oder biologischen Prozessen verwendet man meist unterschiedliche Software. Ich möchte diese Bereiche zusammenführen und eine einheitliche mathematische Methode finden, mit der man einerseits die geometrische Form beschreiben und andererseits eine Simulation durchführen kann.“ In einem von ihm geleiteten Projekt am LIT (Linz Institute of Technology) macht sich der 35-Jährige künstliche Intelligenz zunutze, um ein gegebenes Objekt geometrisch so zu beschreiben, dass es für die Simulation eines bestimmten Ablaufs geeignet ist. „Das könnten zum Beispiel eine Motorhaube sein und die Frage, wie sie sich bei einem Aufprall verformt“, nennt er eine potenzielle Anwendungsmöglicheit. „Dann müssen wir die Verformung anhand der physikalischen Daten wie Geschwindigkeit, Material und Fahrtrichtung mithilfe einer Differenzialgleichung berechnen und außerdem das geometrische Modell auf Basis von Fotos oder eines Laser-Scans erzeugen. Um es exakt an die Fragestellung anzupassen, entwickeln wir KI-Algorithmen, die feststellen, wo am Bild etwas passiert. Also wo entsteht ein Knick? Wo verformt sich etwas?“ In einem nächsten Schritt könne dann die Simulation starten.

FOTOS: MARIE-LAURE GIROUD-COUSTIER, PRIVAT

NACHRICHTEN AUS FORSCHUNG UND WISSENSCHAFT


N AC H R IC H TE N   :   H EU R EKA  7/21   FALTER 48/21  7

:   K L I M AWA N D E L L I T E R AT U R

:   W I SS E N S C H A F T S P O L I T I K

Der Dalai Lama und Greta Thunberg über „Kreisläufe des Klimawandels“

Neuerdings in Österreich möglich: Forschen mit dem Mikrozensus

Der Energieexperte und Autor Roger Hackstock über die literarische Kollaboration von Greta Thunberg und dem Dalai Lama

Um zu einer Problemlage entsprechenden politischen Entscheidungen kommen zu können, sind beforschbare Daten notwendig

ROGER HACKSTOCK

WERNER STURMBERGER

Die Rückkopplungsschleifen des Klimas sind seit Langem bekannt und werden auch vom Weltklimarat IPCC in seinen Berichten immer wieder betont. Daher erscheint die Beschwerde von Greta Thunberg etwas seltsam, dass ihrer Meinung nach niemand über die Klima-Feedback-Loops spricht, wenn es um Lösungen für das Problem des Klimawandels geht. Im Buch jedenfalls sind die FeedbackLoops einfach und verständlich erklärt sowie mit anschaulichen Grafiken untermalt. Leider haben sich in diesem Buch der beiden Medienprofis einige fachliche Fehler eingeschlichen, die das Lesevergnügen trüben. So wird etwa von „wärmespeichernden Gasen“ wie Kohlendioxid, Methan und Stickstoffoxid gesprochen, mit denen wir die Atmosphäre anfüllen, außerdem auch von „natürlichem Erdgas“ (letzteres ist offenbar einer schlampigen Übersetzung des englischen „natural gas“ geschuldet). An anderer Stelle wird erklärt, dass diese Gase die „Energie abprallender Sonnenstrahlung“ aufnehmen und damit die Erde erwärmen würden. Diese Behauptung ist Unsinn, da diese Gase weder ­Wärme ­speichern noch reflektiertes Sonnenlicht aufnehmen, sondern Wärmestrahlung absorbieren und wieder abgeben, die

­ reisläufe des K ­Klimawandels: Wie ­Klima Feedback Loops die Welt zerstören oder retten können

von der Erdoberfläche abgestrahlt wird. Besonders bizarr wird es, wenn im Buch über die Kreisläufe des Klimawandels kategorisch gegen das Fällen von Bäumen gewettert wird. Bäume entziehen über die Fotosynthese der Atmosphäre Kohlendioxid und binden es in Blättern, Ästen und im Holz. So weit, so gut. Daraus den Schluss zu ziehen, Wälder nicht mehr anzutasten, damit sie „ihre Arbeit machen können, Kohlenstoff aus der Luft zu entfernen“, ist eine sehr kurzsichtige Sichtweise. Holz wird als Ersatz für treibhausgasintensive Materialien wie Zement und Stahl beim Bau von Häusern benötigt, wo Treibhausgase nicht nur bei der Produktion vermieden, sondern Holzgebäude auch als langfristiger Kohlenstoffspeicher genutzt werden. Auch das Heizen mit Holz als Ersatz für fossiles Öl, Gas und Kohle wird verdammt, weil „beim Verbrennen von Holz mehr Kohlendioxid entsteht als beim Verbrennen von Kohle“. Dies ist ein altbekanntes Argument aus der Ecke der Klimaleugner*innen, die gegen die Klimawissenschaft argumentieren und dabei absichtlich Äpfel mit Birnen vergleichen. Sie behaupten korrekt, Holz habe eine geringere Energiedichte als Kohle, weshalb pro Energieeinheit eine größere Brennstoffmenge verbrannt werden muss, um denselben Output zu erzielen. Sie verschweigen aber, dass der Kohlenstoff der Kohle aus der Erdkruste stammt und bei Freisetzung den Kohlendioxidanteil der Luft erhöht, wogegen die Emissionen von Holz Teil des natürlichen Kohlenstoffkreislaufs in der Atmosphäre sind. Wieso dieses Argument in einem Buch über Kreisläufe des Klimawandels auftaucht, ist verwunderlich. Trotz der fachlichen Schwächen leistet das Buch einen wichtigen Beitrag, um Menschen das Thema der Klima-Feedback-Loops näherzubringen. Dass dafür die Bekanntheit der beiden Gesprächspartner*innen genutzt wird, hilft bei der Verbreitung. Der ­Dalai Lama und Greta Thunberg sind überzeugt, dass wir uns den Problemen, die mit der Klimakrise auf uns zukommen, bewusst werden müssen, um vom Reden ins Tun zu gelangen. Das Buch endet in der Hoffnung, dass wir einen „Weg in eine Zukunft finden, die wir lieben und auf die wir stolz sein können“.

Wie hoch ist die Impfquote an Österreichs Schulen? Klingt nach einer einfachen Frage, die ebenso einfach mit statistischen Daten zu beantworten sein müsste. Schließlich sind solche Fragen und Daten für die Entscheidungen der Politik und die Arbeit der Verwaltung relevante Informationen. Trotzdem lassen sie sich momantan gar nicht einfach ermitteln. Denn dafür ist es notwendig, öffentliche Datenregister miteinander zu verknüpfen, wobei jedoch gleichzeitig der Datenschutz zu wahren ist. Das bedeutet auch, dass die Ergebnisse nur in Form von Statistiken an einen Auftraggeber übermittelt werden dürfen. So sind keine Aussagen über einzelne Personen möglich. Die Individualdaten liegen bei der Institution Statistik Austria, die solche Analysen für Ministerien durchführt, unter Verschluss. Mit dem Austrian Micro Data Center (AMDC) hat nun die öster-

reichische Bundesregierung ein Forschungszentrum eingerichtet, dessen Arbeit die Beantwortung gesellschaftlich relevanter Forschungsfragen erleichtern wird. Forschende können nach Zustimmung der betreffenden Ministerien auf ausgewählte und für ihre Forschungszwecke notwendige Datenbestände zugreifen. Für die Wahrung der Datensicherheit ist die Statistik Austria verantwortlich, die das Forschungszentrum betreut. Die Daten liegen dabei auf separaten Servern der Statistik Austria und können nicht lokal gespeichert werden. Der Zugriff auf Verwaltungsdaten ermöglicht es heimischen Forscher*innen, innovative Forschungsansätze zu entwickeln und genauere Ergebnisse zu generieren. Die Politik kann so künftig besser gesicherte Entscheidungen treffen und die Auswirkungen getroffener Maßnahmen genauer analysieren.

Wissenschaft als Partner und Begleiter Um sich den Herausforderungen unserer Zeit zu stellen, braucht es nicht nur Technologien, sondern auch gesellschaftliche Veränderungen – soziale Innovationen. Das Team von POLICIES – Institut für Wirtschaftsund Innovationsforschung begleitet und evaluiert soziale Innovationen und unterzieht sie einem »Reality Check«. Das ist gerade für Programme, die Bildung und Forschung betreffen, enorm wichtig. Kontakt: juergen.streicher@joanneum.at | sybille.reidl@joanneum.at

www.joanneum.at/policies

prm ins 21618

Fast eine Million Zuseher*innen waren am 10. Jänner dieses Jahres dabei, als Seine Heiligkeit der Dalai Lama, das 86-jährige Oberhaupt des tibetischen Buddhismus, in einem Onlinelive-Gespräch mit der 18-jährigen schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg diskutierte. Im Zentrum standen die Erderwärmung und Klima-Feedback-Loops, welche die Erwärmung des Planeten von selbst weiter verstärken. Der Dialog der beiden Berühmtheiten ist nun in Buchform erschienen, wobei auch Klimawissenschaftler*innen zu Wort kommen.


8 FALTER  48/21  H EUR EKA  7/21  :  NAC H R I C HTE N

:   O N L I N E VOT I N G

Wahl zum Wissen­ schaftsbuch 2021 Die Shortlist für eine Onlineabstimmung durch die Allgemeinheit Eine Jury, souverän geleitet von ­Michael Schnepf von der Buchkultur, die zur Bewertung stehenden Bücher präzise und übersichtlich präsentiert vom Journalisten und Autor Alexander Kluy, sind folgende Bücher für die Onlineabstimmung ausgesucht worden (wobei in der Kategorie „Junior Wissen“ eine Kinder­ jury aus dem BG/BRG Schwechat mitbestimmt hat):

• • • •

Naturwissenschaft/Technik • Der Semmering. Wolfgang Kos • Alles wird Zahl. Thomas de Padova • Wenn Haie leuchten. Julia Schnetzer • Von singenden Mäusen und quietschenden Elefanten. Angela Stöger • Der Zustand der Welt. Kurt de Swaaf • • • • •

Medizin/Biologie Pandemie sei Dank! Daniela Angetter-Pfeiffer Unsichtbarer Tod. Dirk Bockmühl Die Entdeckung der Medizin. Robin Lane Fox Das Gehirn hat kein Geschlecht. Daphna Joel Noise. Daniel Kahnemann / Olivier Sibony / Cass R. Sunstein

Junior-Wissen • Die große Welt der Winzlinge. Philipp Bunting • Alle Welt zu Tisch. Aleksandra und Daniel Mizielinsky / Natalia Baranowska • Anybody. Dick & Dünn & Haut & Haar. Katharina Von der Gathen / Anke Kuhl • Atlas des Weltalls. Lara Albanese / Tommaso Vidus Rosin • Faszination Krake. Michael Stavarič / Michèle Ganser Die Wahl läuft bis 7. Jänner 2022 auf www.wissenschaftsbuch.at Anklicken und wählen.

FWF-Präsident Christof Gattringer stellt ein neues Forschungsförderungsprogramm vor

:   FO RS C H U N G S FÖ R D E RU N G

Im Tandem zum Doktorat Ein Förderprogramm des FWF unterstützt die Zusammenarbeit in der Forschung zwischen Universitäten und FHs SOPHIE HANAK

Vor etwa einem Jahr wurde das Förderprogramm „doc.funds.connect“ ins Leben gerufen. Nun wurde das Fördervolumen gesteigert. Statt wie ursprünglich fünf Millionen Euro, stellt das Wissenschaftsministerium nun sieben Millionen Euro zur Verfügung. Durchgeführt wird das Programm vom FWF. „Wir möchten mit diesem Angebot die Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Fachhochschulen stärken“, sagt FWF-Präsident Christof Gattringer. „Durch diese Kooperation können vor allem junge Forscher*innen an die Spitzenforschung herangeführt werden.“ Tandems aus FH- und Universitätslehrenden An den Fachhochschulen haben sich in den letzten Jahren sehr leistungsfähige Forschungsaktivitäten eta­bliert. Prinzipiell ist es derzeit dort nicht vorgesehen, Doktoratsstudiengänge anzubieten. Im Zuge des vorgestellten Förderprogrammes soll sich das ändern. Nun können FH-Lehrende gemeinsam mit Kolleg*innen von Universitäten Doktorand*innen und deren Dissertationsprojekte betreuen. Die Kooperationen zwischen den Fachhochschulen und den Universitäten erfolgt immer in Form von Tan-

dems, beispielsweise die FH Salzburg gemeinsam mit der Universität Salzburg oder das FH Technikum Wien mit der Technischen Universität Wien. „Bei dieser Ausschreibung schließen sich fünf Professor*innen an Unis und FHs zusammen, die dann gemeinsam das Projekt beim FWF einreichen“, erklärt Gattringer. Wird das Projekt bewilligt, so werden die Personalkosten für fünf Doktorand*innen übernommen. Die weitere Kooperation ist dann individuell. „Wie die Zusammenarbeit gestaltet wird, ist natürlich abhängig vom Thema. Die Betreuer*innen und ihre Doktorand*innen haben umfangreiche Möglichkeiten.“ Projekte aus allen Wissenschaften unterstützen Wie bei allen anderen Ausschreibungen des FWF können auch bei dieser Anträge aus allen Themenbereichen eingereicht werden. „Das ist mir sehr wichtig zu betonen: Wir sind offen für alle Themen. Der FWF möchte Projekte aus allen Wissenschaften unterstützen“, sagt Gattringer. Bei der ersten Ausschreibung wurden aus den 28 eingereichten Anträgen fünf Doktoratsprogramme von renommierten internationalen

Gutachter*innen ausgewählt. „Wir haben uns sehr über das große Interesse bei den Einreichungen gefreut. Mit der Erhöhung des Fördervolumens können nun in der zweiten Ausschreibung sieben Projekte gefördert werden“, freut sich Gattringer. „Ich fand es sehr spannend zu beobachten, welche Kooperationen entstanden sind. Die Qualität der eingereichten Forschungsprojekte ist sehr hoch. Ursprünglich als Pilotversuche angelegt, ist das Ergebnis der Ausschreibung sehr gut gelungen. Ich bin froh, dass wir auf diese Weise eine neue Tür aufstoßen konnten.“ Das Programm eröffnet neue Forschungsmöglichkeiten für die Fachhochschulen. Außerdem können FH-Studierende von der Erfahrung der Universitäten im Bereich der Doktorand*innenausbildung profitieren. Für die beteiligten Universitäten eröffnet sich die Chance, neue fachliche Expertise zu erschließen und mit berufsorientierter Hochschulausbildung in Berührung zu kommen. Für die Studierenden ist das Programm besonders spannend, da sie gemeinsam an einer Forschungsfrage arbeiten können. Damit lernen sie Teamwork und den Austausch mit Kolleg*innen. Das sollte doch Motivation wie Inspiration fördern.

FOTO: STEFAN FÜRTBAUER

Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaft Das unendliche Meer. David Abulafia Walzer in Zeiten der Cholera. Alexander Bartl Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns. Judy Batalion Die Ermordung des Professor Schlick. David Edmonds Sie nannten es Arbeit. James Suzman


TITE LTH E M A  :   H EU R EKA  7/21   FALTER 48/21  9

:  N AT U R- U N D H U M A N W I SS E N S C H A F T

Das Pingpong der Wissenschaften Die Coronakrise hat den Naturwissenschaften eine neue Bühne gegeben. Aber zur Pandemiebekämpfung braucht es auch die Geisteswissenschaften TEXT: GREGOR SCHWEHR, MONA SAIDI

I

FOTOS: UNIVERSITÄT WIEN/BARBARA MAIR, GERD HASLER

m Zuge der Corona-Pandemie haben die Naturwissenschaften sich selbst übertroffen. Innerhalb von Monaten wurden Daten erhoben und analysiert, um das Unmögliche zu schaffen: Einen Impfstoff auf den Markt zu bringen und der Pandemie ein Ende zu setzen. Und jetzt? Die Infektionszahlen gehen durch die Decke und der Gesundheitssektor ist am Limit. Aber langsam. Wie noch nie zuvor blickt die Gesellschaft gebannt auf Lösungsansätze aus den Naturwissenschaften. Eindämmungsstrategien und Impfstoffe sollen den Ausweg aus einer schier endlos scheinenden Situation weisen. Forscher*innen sind in den Augen der Bevölkerung zu kühlen Analyst*innen geworden, die in einer politischen Welt von FakeNews und parteipolitischem Kalkül nüchtern Zahlen, Daten und Fakten wiedergeben. Es ist keine Frage der Fakten mehr Der öffentliche Diskurs während der Pandemie, der oft im Netz stattfindet, hat viele selbsternannte Virolog*innen und Epidemiolog*innen hervorgebracht. Auch denen müssen die Naturwissenschaften jetzt Rede und Antwort stehen. „Plötzlich findet sich die Naturwissenschaft als eine Stimme unter mehreren wieder und findet auch nicht wirklich Gehör“, sagt Matthias Flatscher vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Sobald Naturwissenschaften den Bereich des Öffentlichen betreten und damit ihr angestammtes Terrain verlassen, müssen sie ihre Erkenntnisse ethischen Reflexionen unterziehen, wie zum Beispiel in der Frage der Impfstoffverteilung oder der Impf-

Naturwissenschaft braucht auch Überzeugungsformen

pflicht. Die Reflexion über die ethischen, rechtlichen wie auch sozialen Implikationen können nur die Geisteswissenschaften leisten. Ein Beispiel dafür sind die traditionellen Rollenmuster, die während des Lockdowns wieder aufgetreten sind. Der aufgrund von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verhängte Lockdown hat die Problematik der Care-Arbeit oder der häuslichen Gewalt verstärkt. Auch wenn die Naturwissenschaften eine Ausgangsbeschränkung als das Ge-

Leidenschaft braucht Wissen. Hol’ dir Infos zu deinem Wunschstudium.

FH Salzburg 215x63.indd 1

­ atthias M ­Flatscher, ­Universität Wien

bot der Stunde identifizieren, können sie doch keine Aussagen über die damit einhergehenden sozialen Folgen treffen. Die Probleme um traditionelle Rollenverhältnisse oder die Aufteilung von Care-Arbeit lassen sich nicht über die naturwissenschaftliche Methode erfassen, sondern nur über geisteswissenschaftliche. Die Pleite der Geisteswissenschaften Während die Naturwissenschaften einen Höhenflug zu haben scheinen, wirkt der Wert der Geisteswissenschaften viel unklarer. Woran liegt das? Auch im universitären Kontext sind es die Naturwissenschaften, die den Takt vorgeben. „Naturwissenschaftliche Metriken, wie die Zahl der Publikationen, wurden ganz stark in die Geisteswissenschaften importiert,

und dem wurde eigentlich wenig entgegengehalten. Im Gegenteil – sehr viele sind auf diesen Zug aufgesprungen, ohne diese neuen Parameter kritisch zu hinterfragen“, sagt Flatscher. Im geisteswissenschaftlichen Bereich greift, laut Flatscher, eine naturwissenschaftliche Kultur der Messbarkeit und Quantifizierbarkeit um sich, in welche sich geisteswissenschaftliche Forschung nur schwer einfügen kann. Anstatt ihre eigenen Maßstäbe anzulegen, droht das charakteristisch geisteswissenschaftliche Potenzial verloren zu gehen. Dieses sieht Flatscher im Rückgriff auf kontingente Geschichte, das Erarbeiten von Alternativen und die Pflege des Imaginären. „Es wird klar, dass Geschichte immer auch anders hätte verlaufen können. Geschichte ist daher immer auch eine Machtgeschichte, in der sich bestimmte Aspekte durchgesetzt haben und andere zurückgetreten sind. Dadurch gibt es in den Geisteswissenschaften ein viel stärkeres Bewusstsein für die Veränderbarkeit der Gegenwart, als das zum Beispiel in den Naturwissenschaften der Fall ist“, erklärt Politikwissenschaftler Flatscher. Doch gerade im Zuge der CoronaPandemie zeigt sich, dass die beiden Disziplinen aufeinander angewiesen sind und sich gegenseitig ergänzen. So wie Geisteswissenschaften keine Impfstoffe entwickeln können, so können Naturwissenschaften nichts über die ethischen und politischen Implikationen einer Impfpflicht aussagen oder gesellschaftliche Alternativen zur Verhütung künftiger Pandemien liefern. Das Zusammenspiel dieser beiden Wissenschaften hat das Potenzial, zentrale Fragen unserer Zeit einer Lösung näherzubringen.

INFO-SAMSTAG 4. Dezember 2021

OPEN HOUSE 11. März 2022

www.fh-salzburg.ac.at/ info-samstag

17.11.21 12:26


10 FALTER  48/21  H EUR EKA 7/21 :  T I T ELT H E M A

T I T E L- T H E M A WOHIN E N T W I C K E LT S I C H WISSENSCHAFT? Seiten 10 bis 22 Die Künstlerin Marlies Plank erzählt Geschichten, die sie mit verschiedenen Techniken von Fotografie, digitaler Bildmanipulation und Malerei illustriert. So entstanden schon Textilmuster für Valentino, Editorials für Le Monde, Wandbilder mit fliegenden rosa Elefanten in einer Hotellobby in Las Vegas – und die Bildstrecke dieser Ausgabe, in der sie sich humorvoll mit der Zukunft der Wissenschaft auseinandersetzt. www.marliesplank.art

:  AU S G E S U C H T E Z A H L E N Z U M T H E M A ZUSAMMENGESTELLT VON SABINE EDITH BRAUN

33

Prozent der 1.008 österreichischen Befragten für eine Eurobarometer-Studie zur Einstellung gegenüber Wissenschaft und Technik gaben an, Wissenschaftler*innen seien „engstirnig“. In Spanien denken dies 15 Prozent der Befragten, in den Niederlanden 13 und in Malta 10. Im EU-Schnitt sind es 24 Prozent.

2050

soll die EU der erste klimaneutrale Kontinent sein. Die Pkw-Emissionen müssten dazu bis 2030 um 55  Prozent (gegenüber 1990) sinken. „Elektromobilität“ kann man jetzt auch studieren. In Österreich bietet das berufsbegleitende MasterStudium „Green Mobility“ am FHCampus Wien zwanzig Studienplätze.

1.321 Titel umfasst die Liste von „Predatory Journals“. „Räuberverlage“ publizieren gegen Geld wissenschaftliche Artikel, ohne sie einem ordentlichen PeerReview zu unterziehen. 2013 wurde als Experiment ein fehlerhaftes Manuskript bei einer Reihe von Open-Access-Verlagen eingereicht – 60 Prozent nahmen es an.

Personen beteiligten sich heuer an der Zählung von Spechten und Spatzen in Wien. Die insgesamt 1.927 Meldungen umfassten rund 8.500 Vögel. Bei einem anderen „Croudsourcing-Projekt“ transkribierten Interessierte für das Wien Museum rund 2.000 handgeschriebene Postkarten ab dem Jahr 1885.

wissenschaftliche Artikel listet die Onlinedatenbank Directory of Open Access Journals (DOAJ) in insgesamt 17.000 Zeitschriften aus 129  Ländern und in achtzig verschiedenen Sprachen.

Plagiatsverfahren gab es an der Universität Wien seit dem Studienjahr 2005/06. In 32 Fällen kam es zur Nichtigerklärung wissenschaftlichr Arbeiten, in 26 zur Aberkennung von verliehenen Graden. Fünf Fälle wurden nach Berufung in zweiter Instanz abgewiesen, eine Beschwerde beim VwGH wurde als unbegründet abgewiesen. Bis 2019/20 waren drei Verfahren laufend.

2006

1.280

6,74 Millionen

50

gab es an der Universität Wien das erste Masterstudium für Gender Studies in Österreich. 2009 wurden die Universitäten zu einer vierzigprozentigen Frauenquote in allen universitären Kollegialorganen verpflichtet. 2013 gab es an 18 von 22 Universitäten eine institutionell verankerte Koordinationsstelle für Geschlechterforschung. 2015 wurde die vierzigprozentige Frauenquote in Kollegialorganen auf fünfzig Prozent erhöht.

27,5 Prozent bei Männern, 22,3 Prozent bei Frauen. Das ist die Bewilligungsquote für FWF-Einzelprojekte im Jahr 2020. Nach Disziplinen: Naturwissenschaften 30,8 Prozent, Geisteswissenschaften 29,9, Humanmedizin/Gesundheitswissenschaften 18,7. 2010 sah es so aus: Männer 32,5 Prozent, Frauen 26,7, Naturwissenschaften 35,6 Prozent, Geisteswissenschaften 36,5, Humanmedizin/ Gesundheitswissenschaften 26,7.


COLLAGE: MARLIES PLANK

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  7/21   FALTER 48/21  11


12 FALTER  48/21  H EUR EKA 7/21 :  T I T ELT H E M A

Transdisziplin mit Bürger*innen Transdisziplin ist eine wichtige Entwicklungsrichtung der Wissenschaften enn die gesamte Menschheit an jedem Punkt der Erde betroffen ist: Kann man da noch von Interdisziplinarität sprechen? Oder braucht es dann schon eine Universalwissenschaft? Eigentlich steht dieser Begriff für Philosophie und Theologie. Sind „Pandemiewissenschaft“ und „Klimakrisewissenschaft“ die neuen Über-Disziplinen? Oder eher „Zeitdruckwissenschaft“, quasi Forschung in Echtzeit, mit der akuten Notwendigkeit zur Problemlösung als Antrieb? Neues Paradigma „Komplex der Nachhaltigkeit“? „Ich würde das Klima und die Pandemie nicht als zwei Komplexe sehen“, sagt Dorothea Born vom ASF Hub am Open Innovation in Science Center der Ludwig Boltz­ mann Gesellschaft. „Vielmehr handelt es sich um einen großen Komplex der Nachhaltigkeit.“ Born verweist in diesem Zusammenhang auf die „17 Ziele der Nachhaltigkeit“ der UN, die unterschiedliche Bereiche umfassen, von leistbarer und sauberer Energie über Geschlechtergerechtigkeit bis hin zu verantwortungsvoller Konsumation und Produktion. „Es hat ja auch die Klimakrise ihren Beitrag zur Pandemie geleistet“, sagt Born. Auch wenn der Virusursprung noch immer nicht zweifelsfrei geklärt ist, so stehe zumindest fest, dass Fledermäuse so wie viele andere Wildtiere durch den zunehmenden Verlust ihrer Lebensräume immer gestresster und dadurch anfälliger für Übertragungen werden. „Die Coronakrise ist auch Ausdruck des Anthropozäns“, sagt Born, „weil sie den menschlichen Einfluss auf den ganzen Planeten widerspiegelt.“ Auch in das klassische Umweltthema würden viele Themen hineinspielen: Nachhaltigkeit, Leben am Land, Leben am Wasser, Biodiversität, nachhaltige Stadtplanung und vieles mehr. Der Klimaaspekt ist, neben dem Gender­ aspekt, nicht der einzige Paradigmenwechsel, den die Wissenschaft durchlaufen hat. Neben der so wichtigen Interdisziplinarität sei in den letzten Jahren immer mehr die Transdisziplinarität in den Fokus gerückt: Was das bedeutet, erklärt Dorothea Born so: „Auch die Gesellschaft spricht zur Wissenschaft!“ Dies sei vor allem in Bezug auf das Thema Nachhaltigkeit wichtig. Es stelle sich immer auch die Frage, wie etwas zu einem Thema, zu einem wissenschaftlichen Thema gemacht bzw. „gerahmt“ werde – ob etwas als potenziell wissenschaftlich zu lösende „Krise“ bezeichnet werde oder als lediglich „moralisches Problem“ auf die Bevölkerung abgewälzt werde – Stichwort Umweltschutz und Plastikvermeidung. „Wenn etwas zu einem wissenschaftlichen Thema gemacht worden ist, ermöglicht dies ganz andere Handlungsoptionen“, sagt Born. Dies habe nicht zuletzt die Pandemie gezeigt. In Dorothea Borns aktuellem Projekt „Action for Sustainable

TEXT: SABINE EDITH BRAUN

„Es hat auch die Klimakrise ihren Beitrag zur Pandemie geleistet“ DOROTHEA BORN

PROJEKT VON ­D OROTHEA BORN: WWW.DIEANGE WANDTE.AT/ASF

„ÖSTERREICH FORSCHT“ (BOKU): WWW.CITIZENSCIENCE.AT

Daniel Dörler, BOKU Wien

Florian Heigl, BOKU Wien

Future (ASF) Hub“ am Open Innovation in Science Center der Ludwig Boltzmann Gesellschaft in Kooperation mit der Universität für angewandte Kunst geht es um nachhaltige Entwicklungsziele. Transdisziplinarität wird dabei neu gedacht: „Die Wissenschaft bindet die Bürger*innen ein – aber wir drehen das um! In die Umsetzung verschiedenster Projekte wird die Wissenschaft eingebunden, damit es evidenzbasiert ist.“ Keine Trennung in Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik In diesem Impact-Modell sollen Bürger*­ innen als Expert*innen der eigenen Lebenswelt anerkannt werden. Dafür braucht es im Vorfeld Briefings, etwa in Bezug auf die Theorie- bzw. Methodenfindung. Transdisziplinarität in Theorie- und Methodenfindung, im Wissenschaftsprozess selbst, aber auch in der Evaluation sei mittlerweile fast obligatorisch, wenn es etwa um die EU-Förderschiene „Horizon Europe“ geht. Grundlagenforschung werde dadurch aber nicht abgeschafft, so Born, diese bleibe vielmehr legitim und wichtig. Aber die gegebene Form von Forschungsförderung zeige im Übrigen auch, dass eine Trennung von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik auf vielen Ebenen nicht mehr funktioniere. Bekannter ist Transdisziplinarität unter den Begriffen „Crowdsourcing“ bzw. „Citizen Science“. Was ist überhaupt der Unterschied zwischen den beiden – falls es ­einen gibt? „Citizen Science ist mehr! Beim Crowdsourcing geht es darum, Arbeit aufzuteilen oder auszulagern, bei Citizen Science geht es um die Einbindung in ein Projekt von Anfang an, also schon bei Forschungsfrage und Forschungsdesign“, sagt Daniel Dörler. Er hat 2014 gemeinsam mit Florian Heigl neben seinem Studium an der Universität für Bodenkultur Wien die Web­ site „Österreich forscht“ ins Leben gerufen. Früher nannte man so etwas „Laienforschung“, Stichwort: Schmetterlinge zählen, aber Citizen Science klingt zugegebenermaßen besser. „Österreich forscht“ war anfangs ein unbezahltes und ungefördertes Freizeitprojekt. „Wir schrieben damals alle möglichen Vereine an, aber auch andere Universitäten“, ergänzt Florian Heigl. Dies erklärt die weite Bandbreite an sowohl abgeschlossenen als auch laufenden Projekten, die auf der Homepage zu finden sind. 2018 erkannte das neue Rektorat an der BOKU Wien das Potenzial der Website, und die beiden erhielten unbefristete Stellen. „Wir hatten Glück – bis dahin haben wir ohne Perspektive gearbeitet“, sagt Daniel Dörler. Wissenschaftliche Mitarbeit, spielerisch leicht gemacht Was kann nun ein „Citizen Scientist“ machen? Einige Projekte muten recht spielerisch an, etwa Picture Pile, ein Projekt des International Institute for Applied Sys-

tems Analysis (IIASA) in Laxenburg. Das Ziel: globale Landschaftsdatensätze zu verbessern zur Erforschung von Klimawandelschäden, Entwaldung oder Artenvielfalt. Man sortiert dabei Fotos auf dem Smartphone, dem Tablet oder Computer. Zu ­einem angezeigten Bild wird eine Frage gestellt, z. B.: „Ist Ackerland auf dem Bild sichtbar?“ Um die Frage mit Ja oder Nein zu beantworten, wird das Bild nach rechts oder links geschoben. Picture Pile ist ein Teil des 2009 begonnenen Projekts „Geo-Wiki“, auch „Novel Data Ecosystems for Sustainability“ (NODES). Aktuell sind 15.000 Citizens beteiligt. Wer lieber selbst draußen forscht, kann beim Projekt „Roadkill“ der BOKU mitmachen. Hier soll mit wissenschaftlichen Methoden ein Überblick geschaffen werden, wo welche Tiere im Straßenverkehr überfahren werden und warum. Man erstellt ein „Roadkill“-Konto, dann kann ein totes Tier fotografiert werden. Um welche Tierart es sich handelt, wird ebenso vermerkt wie Funddatum und Standort. Der so entstehende Datensatz soll helfen, die Anzahl von Roadkills zu vermindern. Bei so viel Engagement: Besteht da nicht die Gefahr der Ausbeutung? „Die Frage nach Bezahlung taucht zwar schon immer wieder auf, aber wir zwingen niemanden zum Arbeiten“, sagt Florian Heigl. „Auch die Motivation, warum sich jemand bei ­einem Projekt beteiligt, ist ganz unterschiedlich.“ Eines sei aber schon klar: „Wer versucht, Citizens auszubeuten, wird bald keine Citizens mehr haben!“ Kommunikation zwischen Citizen Scientists ist wichtig Nicht alle Themen eignen sich für Citizen Science, am wenigsten solche, die mit komplizierten oder teuren Apparaturen oder sogar gefährlichen Chemikalien verbunden sind. Eine weitere wichtige Voraussetzung, so Daniel Dörler: „Es muss menschlich passen!“ Denn Citizen Science ist auch Zusammenarbeit mit anderen Menschen, und das ist mit sehr viel Kommunikation verbunden. Kommunikation hat aber auch noch eine ganz andere praktische Auswirkung: „Es hält die Datenqualität auf einem hohen Level.“ Daniel Dörler meint damit, dass bei Unstimmigkeiten nachgefragt werden müsse, ob es sich lediglich um einen Tippfehler handelt oder aber um ein Verständnisproblem. „Die Beteiligten helfen sich nicht nur untereinander, sondern sie lassen es auch uns wissen, wenn in der App etwas nicht passt oder sonst etwas unklar ist“, ergänzt Heigl. „Sie sagen uns, woran sie bestimmte Dinge erkennen – so kann eine App weiterentwickelt und verbessert werden. Denn die Citizens sind zum Teil Menschen, die sich schon jahrzehntelang mit einer bestimmten Sache auseinandersetzen, das ist ein Schatz, den es zu heben gilt.“

FOTOS: MORITZ NACHTSCHATT, PRIVAT

W


COLLAGE: MARLIES PLANK

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  7/21   FALTER 48/21  13


14 FALTER  48/21  H EUR EKA 7/21 :  T I T ELT H E M A

Ethik und Herzensbildung Geistes- und Humanwissenschaften leisten ihren Beitrag zu unserem Selbstverständnis n vordem unvorstellbar kurzer Zeit sind Impfstoffe gegen eine grassierende Seu­ che entwickelt worden. Computergesteuerte Analysen riesiger Datenmengen geben Auf­ schluss über deren Verläufe. Ständig werden neue Technologien zur nachhaltigen Ener­ giegewinnung gefunden, umweltschonende­ re Formen der Mobilität und des Individu­ alverkehrs entwickelt und Konzepte erstellt, um die fortschreitende Erderwärmung unter Kontrolle zu bekommen: Die großen Pro­ bleme unserer Zeit scheinen den Naturwis­ senschaften überantwortet. Nicht gefragt dagegen sind offenbar Wissenschaften, die sich mit menschlichen Werken, Handlun­ gen und Befindlichkeiten befassen. „Huma­ nities“ nennt sie der international gebräuch­ liche Anglizismus, für dessen deutsche Ent­ sprechung sich der Terminus „Geisteswis­ senschaften“ eingebürgert hat. Sind die „Humanities“ gleich den „Humanwissenschaften“? Zunächst gilt es zu klären, ob diese Ana­ logie überhaupt legitim ist. Ja, meint, so wie alle für diesen Artikel befragten Wissenschaftler*innen, Julian Reiss, Lei­ ter des Instituts für Philosophie und Wis­ senschaftstheorie an der Universität Linz. „Wenn auch Philosophen etwas andere, grundsätzlichere Fragen stellen als Wissen­ schaftler, gibt es doch viele Überschneidun­ gen, etwa was Kausalität, Methoden oder Begriffsbildung betrifft“, erklärt Reiss, der in den 1990er-Jahren an dem von Karl Pop­ per begründeten Lehrstuhl in London Wis­ senschaftsphilosophie studiert hat. „In die­ ser Tradition intellektuell aufgewachsen, ist mir der deutsche Begriff der Geisteswissen­ schaften, der die Gemeinsamkeiten mit den Natur- und Sozialwissenschaften betont, sehr recht.“ „Das englischsprachige ‚Humanities‘ kann als ein allgemeinerer Begriff angese­ hen werden, der auch sozialwissenschaftli­ che Fächer umfasst“, erläutert der Sprach­ wissenschaftler Lars Bülow vom Wiener Ins­titut für Germanistik. „Sicher jedoch verwenden wir ,Humanities‘ auch als Sy­ nonym zum Begriff ‚Geisteswissenschaften‘. Man findet im Deutschen allerdings auch den Begriff der ,Humanwissenschaften‘, der die beiden Teilbereiche Geistes- und Sozi­ alwissenschaften umfasst und dem Begriff ,Humanities‘ eigentlich gerechter wird.“

TEXT: BRUNO JASCHKE

„Geisteswissenschaftler*innen eignen sich gut zur Moderation interdisziplinärer Dialoge“ JULIAN REISS, UNIVERSITÄT LINZ

Lars Bülow, Universität Wien

Martin Kusch, Ethische Fragen der Gentechnik Universität Wien bleiben den Humanities Das Problem der Geisteswissenschaften ist gewiss nicht ihr deutscher Name, son­ dern dass sie keine so spektakulären Er­ rungenschaften wie die Naturwissenschaf­ ten anbieten können. Bisweilen wird daher ihre Legitimität in Frage gestellt. „Das wird natürlich auch gern von Politik oder Wirt­ schaft aufgenommen und ausgenützt“, be­ merkt Martin Kusch, Wissenschaftsphilo­ Bernhard Söllradl, soph an der Universität Wien. Universität Wien

Dennoch können große Diskurse nicht ohne Beitrag der Geisteswissenschaften aus­ kommen. Selbst bei wesenhaft technokrati­ schen Entwicklungen ist ihr Input gefordert. Das zeigt sich etwa bei Fragen der Gen­ technik: Es ist zwar möglich, Lebewesen zu klonen, ob es auch ethisch vertretbar ist, will man aber lieber von Philosoph*innen, Theolog*innen oder Anthropolog*innen als von Gentechniker*innen behandelt wissen. Herausforderungen solcher Art warten, wie Reiss erklärt, auf die Geisteswissen­ schaften in vielen Bereichen: „Nehmen wir den Klimawandel. Um zukünftige Schäden mit den heutigen Kosten von Maßnahmen vergleichbar zu machen, brauchen wir einen Diskontfaktor, das heißt, eine Art von Zins­ satz, mit dem man den heutigen Wert zu­ künftiger Geldströme berechnen kann. Was ist ein guter Faktor? Das ist keine rein öko­ nomische Frage, sondern eine, die auch po­ litische, ethische und viele andere Kompo­ nenten hat. Wegen ihrer abstrakteren und ganzheitlicheren Sicht auf die Dinge eig­ nen sich Vertreter*innen der Geisteswissen­ schaften hervorragend als Moderator*innen von interdisziplinären Dialogen.“ Corona ist nur zu einem Teil ein medizinisches Problem Auch die Coronakrise wirft Fragen auf, die nicht mit Wirkstoffen und statistischen Be­ rechnungen zu klären sind. In der Pande­ mie sieht Kusch die Philosophie besonders gefordert. „Philosophische Arbeit hat zu ei­ nem besseren Verständnis von wissenschaft­ lichen Modellen für die Vorhersage, die in der Pandemie sehr wichtig sind, beigetra­ gen. Dann gibt es vielfältige philosophische Ansätze, Phänomene wie Fake News, Un­ wissen, Fehlinformation, soziale Medien etc. besser zu verstehen. Philosoph*innen haben sich bemüht, die Rolle des Staates und demokratischer Institutionen in Pan­ demiezeiten zu analysieren.“ Sprachwissenschaftler Bülow hat die öf­ fentliche Krisenkommunikation und die da­ rin geäußerten Geltungsansprüche im Vi­ sier: „Die Angewandte Sprachwissenschaft kann Erkenntnisse zur Verfügung stellen, wie Diskurse in unterschiedlichen kommu­ nikativen Zusammenhängen strukturiert sind und wie man ‚effektiv‘ kommuniziert. Wir können untersuchen, welche sprach­ lichen Faktoren bei der Weiterleitung von textuellen Artefakten, etwa Internet-Me­ mes, zur Coronakrise eine Rolle spielen.“ „Corona ist eben nur teilweise, und ich meine zu einem relativ geringen Teil, ein medizinisches Problem“, erklärt Reiss. „Die Krise hat auch eine politische, gesellschaft­ liche, ökonomische, kulturelle und ethische Seite, und sie ist auch eine Krise der Bil­ dung und Erziehung und wahrscheinlich sogar eine der nationalen Sicherheit. Viel­ leicht braucht es die etwas ganzheitliche­ re Sicht der Geisteswissenschaften, um das zu erkennen.“

Weitere dringende Agenden wie Gender und Migration warten auf Antworten der Geisteswissenschaften. Und neue Heraus­ forderungen zeichnen sich ab. „Da fällt mir spontan die Digitalisierung ein“, sagt Reiss. „Auch eine extrem komplexe, alle Aspek­ te des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens berührende Entwicklung. Die Geis­ teswissenschaften sind dringend gefordert, Beiträge zu leisten, damit Chancen genutzt und Risiken abgefedert werden können.“ Neue Formen der Geschichtsbetrachtung nehmen zu Was künftige Trends angeht, sieht Reiss die sogenannte Alternative History auf dem Vormarsch und in den eigenen Reihen Wiedergutmachung angesagt. „Noch in den 1960er-Jahren war es in der Geschichtswis­ senschaft verpönt, sich der Frage ,Was wäre, wenn …?‘ zu widmen: Was, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte? Diese Fragen galten als zu spekulativ für die stark positivistisch beeinflusste Geschichtswissenschaft. Heu­ te ist man wieder spekulativer, das Gen­ re der kontrafaktischen oder virtuellen Ge­ schichte blüht. In meiner eigenen Disziplin ist man bemüht, vergangenes und aktuel­ les Unrecht zu benennen und wiedergutzu­ machen. So wird ein Forschungsantrag, der explizit Themen wie Rasse, Ethnizität und Rassismus behandelt, größere Erfolgsaus­ sichten haben. Das war vor einem halben Jahrhundert kaum denkbar.“ „Ein wiederkehrendes Thema ist die Fra­ ge nach den besten methodischen Zugän­ gen in der konkreten Analyse geisteswis­ senschaftlicher Untersuchungsgegenstände. Unter dem Schlagwort ‚Digital Humanities‘ wird etwa der Einsatz von computergestütz­ ten Recherchemethoden, Datenbanken etc. forciert, da diese den Vorteil quantifizierbarer, per Mausklick nachprüfbarer Ergebnisse bie­ ten. Die exakte Beschreibung des Materials ist aber nicht das Ergebnis, sondern die Ba­ sis von Forschung“, meint Bernhard Söllradl vom Institut für Klassische Philologie, Mit­ tel- und Neulatein an der Universität Wien, der aus seinem „antiken“ Forschungsgebiet eine interessante Erklärung für den (Stel­ len-)Wert der Geisteswissenschaften ableitet: „In der klassisch-philologischen Forschung haben wir es mit Texten zu tun, die mehre­ re Hundert oder gar Tausend Jahre alt sind. Wenn ich die Themen, Fragen und Proble­ me nachvollziehen möchte, die dort verhan­ delt werden, ist es notwendig, mich in Wer­ tehorizonte und Weltanschauungen hinein­ zuversetzen, die mir zunächst vielleicht völlig fremd sind. Man könnte von der Notwen­ digkeit ‚philologischer Empathie‘ sprechen. Von hier lässt sich der Bogen zur Gegenwart spannen: Wenn man einen Zweck geistes­ wissenschaftlicher Studien definieren woll­ te, könnte man also vielleicht von ihrem Bei­ trag zur Herzensbildung sprechen, die uns dazu befähigt, zeitaktuellen Problemstellun­ gen in angemessener Weise zu begegnen.“

FOTOS: EUROPEAN ACEDEMY OF SCIENCES, INSTITUT F. GERMANISTIK UNI WIEN, PRIVAT, UNIVERSITÄT WIEN/TOBIAS STEINMAURER

I


COLLAGE: MARLIES PLANK

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  7/21   FALTER 48/21  15


16 FALTER  48/21  H EUR EKA 7/21 :  T I T ELT H E M A

Längst nicht mehr nur graben D

ie Schädel der drei Jugendlichen, die in einem Grab im Osten Kroatiens gefunden wurden und aus dem fünften oder sechsten Jahrhundert nach Christus stammen, sind seltsam verformt. Diese Tradition der sogenannten Turmschädel wurde vermutlich von den Hunnen nach Europa gebracht. Nun lieferten DNA-Analysen der Knochen aber ein überraschendes Ergebnis: Die drei gemeinsam begrabenen Menschen waren unterschiedlicher Abstammung, die auffällige Schädeldeformierung dürfte demnach primär als Erkennungsmerkmal einer bestimmten Volksgruppe gedient haben. Führt Naturwissenschaft zur Simplifizierung? So sorgte die DNA-Analyse wieder einmal für ein unerwartetes Ergebnis. Multidisziplinäres Arbeiten ist in der Archäologie nichts Neues, doch die rasante Entwicklung naturwissenschaftlicher Methoden bringt eine große Dynamik, sagt Sabine Ladstätter, geschäftsführende Direktorin des Österreichischen Archäologischen Instituts an der Akademie der Wissenschaften (ÖAW). „Allerdings auch zu gewissen Simplifizierungen, etwa wenn Bevölkerungszusammensetzungen rein biologisch betrachtet werden sollen.“ Daher sei inzwischen eine Komplementärbewegung entstanden, die unter anderem wieder stärker auf kulturelle Identitäten achtet. Peter Trebsche, Leiter des Instituts für Archäologien der Universität Innsbruck, ist ein Verfechter der neuen Methoden. Doch es liege in der Verantwortung der Archäologie, die Erkenntnislimits darzustellen. „Zudem dürfen wir uns nicht in Details verlieren, inzwischen können wir vieles auf atomarer Ebene untersuchen. Doch der Anspruch muss sein, alles wieder zu einem großen Ganzen zu vereinen.“ aDNA (alte DNA) ist ein gutes Beispiel für den Grat, auf dem Archäologie derzeit wandert: Dieses Erbgut von Menschen, die vor Hunderten oder Tausenden Jahren gelebt haben, wird in menschlichen Skeletten gefunden. Neben ethischen Fragen werden auch die Schlussfolgerungen entsprechender Forschungen heiß diskutiert. „Bei Untersuchungen zur aDNA wird oft fälschlicherweise angenommen, dass kulturelle Identität mit dem Genom zusammenhängt“, sagt Trebsche. Doch soziale Identität habe nicht zwingend etwas mit der Blutsverwandtschaft zu tun. „Die Archäologie ist da ein Anwender, aber wir müssen verstehen lernen, wo die Limits solcher naturwissenschaftlicher Methoden liegen bzw. wie diese mit den Geisteswissenschaften in Einklang gebracht werden können.“ Nicht nur am Boden, auch aus der Luft wird heute geforscht: Als Superstar der Satellitenarchäologie gilt die US-Archäologin ­Sarah Parcak, Professorin für Anthropologie der Universität von Alabama. Mit Hilfe von Satellitenbildern konnte sie wich-

TEXT: ROBERT PRAZAK

„Vieles von dem, das heute diskutiert wird, wurde in Europa früher anders gelöst“ PETER TREBSCHE, UNIVERSITÄT INNSBRUCK

Sabine Ladstätter, Österreichische Akademie der Wissenschaften

tige historische Stätten finden, beispielsweise Itj-taui in Ägypten, Hauptstadt unter Pharao Amenemhet im Mittleren Reich. Davor hatte die Suche nach der verschollenen Stadt jener nach der Nadel im Heuhaufen geglichen. „Archäologie soll offener und zugänglicher werden“, sagt Parcak, und dazu könnten neue Technologien wie der Einsatz von Satellitenaufnahmen beitragen, aber auch Kartierung mit Hilfe von Drohnen. Auch in Österreich finden sich Beispiele für den Einsatz moderner Methoden in der Archäologie. So erkundet das Ludwig-Boltzmann-Institut für Archäologische Pros­pektion und Virtuelle Archäologie durch den kombinierten Einsatz von Scannern in Flugzeugen und Magnetometer- sowie Radarsystemen am Boden archäologische Landschaften. Auf diese Weise wurden beispielsweise ein Schiff sowie Grabstätten und Gebäude der Wikinger in Norwegen gefunden. Das Wiener Institut war zudem an den neuesten Erkenntnissen der Stonehenge-Forschung beteiligt, die aufgrund neu gefundener Monumente und Hausfundamente die Bedeutung des Orts als Zentrum weitreichender Beziehungen zeigt. Digitale Technologien verändern die Archäologie Digitale Technologien tragen zum Wandel der Archäologie bei. So wird unter dem Oberbegriff der Virtuellen Archäologie etwa Virtual Reality verwendet, um reale Objekte in einer virtuellen Welt zu zeigen. Ein Beispiel ist das europäische Projekt Virtual Arch, zu dem das virtuelle, dreidimensionale Erkunden des Salzbergwerks in Hallstatt gehört. Sabine Ladstätter sieht jedoch eine Hürde: „Das ist aufwendig, und im derzeitigen System der Wissenschaften ist die Beschäftigung damit selten karrierefördernd.“ Man könne das aber etwa über Förderungen steuern. Die Digitalisierung insgesamt bietet zweifellos Chancen, etwa über die Bilderkennung. Damit wird etwa die Bestimmung von Münzen erleichtert: Arbeitsschritte, die derzeit manuell durchgeführt werden, laufen automatisiert ab. Wichtiger wird darüber hinaus das Gebiet der Heritage Sciences, bei dem das kulturelle Erbe im Mittelpunkt interdisziplinärer Forschung steht. Ein Bereich, der in Österreich durchaus Aufholbedarf hat. „Einerseits sehen wir uns als Kulturnation, andererseits ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Kulturerbe nicht allzu ausgeprägt“, meint Ladstätter. Neues an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Vor dem Hintergrund solcher Entwicklungen ist auch die Zusammenlegung von drei Instituten der ÖAW zu sehen: Das Archäologische Institut wurde mit dem Institut für Kulturgeschichte der Antike und jenem für

Orientalische und Europäische Archäologie vereint. Die bisherigen Institutsleiter übernehmen im Wechsel die Geschäftsführung für jeweils drei Jahre, den Anfang macht Sabine Ladstätter. Die Institute an der ÖAW sind traditionell gewachsen, der Zusammenschluss sei logische Konsequenz dieser Entwicklung. „Es sollen Synergien bei den Inhalten und der Infrastruktur genutzt werden, um die Entwicklung der Archäologie im technischen und naturwissenschaftlichen Bereich zu vollziehen.“ Widerstand gebe es keinen, meint sie, aber gewisse Ängste. „Ich sehe da meine Rolle, in dieser ersten Fusionsphase nach innen zu arbeiten.“ Das Institut hat nun 200 Mitarbeiter*innen, das entspricht zehn Prozent aller Angestellten der ÖAW. Der Standort Wien soll dadurch gestärkt werden, heißt es. „Wir wollen gemeinsam mit anderen großen Instituten zusammenarbeiten, um Wien für die Archäologie gut zu positionieren.“ Zwei Komponenten zeichnen Wien aus: Erstens war der naturwissenschaftliche Aspekt immer schon wichtig, nicht nur DNA-Forschung und Biologie, sondern etwa auch Materialforschung, zweitens die Verschränkung der traditionellen historischen Wissenschaften. Aber Österreich steht insgesamt in der Archäologie sehr gut da, ­siehe etwa Ephesos oder die Forschungsarbeit in Hallstatt. Peter Trebsche sieht indes die schlechte Verankerung der archäologischen Denkmalpflege als Problem. „Das Bundesdenkmalamt leistet zwar sehr gute Arbeit, doch die Mittel sind begrenzt, und es fehlt vor allem die gesetzliche Verankerung des Verursacherprinzips.“ Soll heißen: Wenn jemand archäologische Denkmäler zerstört, müsste auch für deren Rettung bezahlt werden, so ist das beispielsweise in Frankreich geregelt. Ebenso ist die rasante Versiegelung von Flächen in Österreich ein Thema, das nicht nur Umweltschützer beschäftigt. Alle Flächen müssten vor der Verbauung zumindest archäologisch sondiert werden, fordert Trebsche. „Das könnte recht effizient mittels Luftbildarchäologie, Magnetprospektionen oder Feldbegehungen geschehen.“ Die Bedeutung der Archäologie ist und bleibt nicht nur wegen der zunehmenden Vernetzung mit anderen Wissenschaften und dank neuer, teils noch zu erprobender Methoden eine der spannendsten Wissenschaften. „Das Lernen aus der Vergangenheit ist Ziel jeder Geschichtsschreibung“, sagt Trebsche. Wichtig sei beispielsweise die Konfrontation mit anderen Kulturen, weil dadurch Lösungsansätze aufgezeigt werden. Und wir könnten Alternativen zu unserer jetzigen Lebensweise erkennen. „Vieles von dem, das heute diskutiert wird, wurde in Europa früher anders gelöst, etwa die Arbeitsorganisation, die Trennung von Arbeit und Freizeit oder die Nahrungsmittelproduktion.“

FOTOS: INTERFOTO, ÖAW/D. HINTERRAMSKOGLER

Naturwissenschaftliche Methoden und Digitalisierung bringen Dynamik in die Archäologie


COLLAGE: MARLIES PLANK

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  7/21   FALTER 48/21  17


18 FALTER  48/21  H EUR EKA 7/21 :  T I T ELT H E M A

Denken auf Systemebene Physikalisch beschreiben, wie Personen oder Elemente miteinander agieren ch bin beides, ein Wissenschaftler für Netzwerke und ein Physiker“, sagt Federico Battiston, Assistenz-Professor an der Central European University (CEU). Der Fokus auf Netzwerke hat ihn an die CEU geführt, wo er mit einem interdisziplinären Team aus den Fachbereichen Soziologie, Wirtschaft, Ökologie, Physik und Informationstechnologie am Department for Network and Data Science forscht. Weltweit ist dies das erste Department, das sich ausschließlich der Netzwerkforschung widmet, seit 2015 gibt es dort das europaweit erste PhD-Programm in Network Science. Lange Zeit hat der Reduktionismus dominiert, Forschende aus verschiedenen Disziplinen haben sich darauf konzentriert, die Eigenschaften der Grundelemente eines Systems zu verstehen. Dazu erklärt Battiston: „Bei der Erforschung des Gehirns etwa hat man sich beschäftigt, wie Neuronen funktionieren. Aber das reicht nicht aus, um zahlreiche Phänomene in komplexen Systemen zu verstehen, denn viele Informationen kommen aus der Interaktion der Elemente.“ Wenn man zwar einzelne Neuronen erforscht hat, aber nicht weiß, wie diese in Paaren oder Gruppen interagieren, dann werde man keinen epileptischen Anfall verstehen. Allgemeiner betrachtet gebe es eine Reihe von Systemen, deren emergentes Verhalten wir nicht verstehen können, wenn wir uns nur auf die Eigenschaften der einzelnen Einheiten konzentrieren und Wechselwirkungen vernachlässigen. Dies sei auch der Kern der Arbeit von Giorgio Parisi: Der Nobelpreisträger für Physik 2021 hat zur Theorie komplexer Systeme mit der Entdeckung von Gesetzmäßigkeiten hinter scheinbar völlig zufälligen Phänomenen beigetragen, ausgehend von der Untersuchung des aggregierten Verhaltens von Spins in komplexen Materialien wie Gläsern. Battiston, der im Rahmen seines Masterstudiums an der Universität Sapienza in Rom bei Parisi Kurse belegt hat, erklärt weiter: „Netzwerke sind sehr mächtig, sie ermöglichen uns, vom Reduktionismus zum Denken auf Systemebene überzugehen.“ Warum die Relevanz von Netzwerken steigt Netzwerkforschung leistet heute Beiträge, um die Auswirkungen der Covid-Pandemie zu analysieren. Das starke wissenschaftliche Interesse an Netzwerken liegt jedoch viel weiter zurück. Während in den 1970er-Jahren im CERN auf Quarks, die kleinsten Teilchen der Materie, fokussiert wurde, publizierte zur selben Zeit der Materie-Physiker Philip Warren Anderson in der Fachzeitschrift Science das erste Mal über komplexe Systeme und propagierte den Wechsel vom linearen, reduktionistischen Denken zum Systemdenken. Seit Ende der 1990er-Jahre treibt Big Data die ­Netzwerkwissenschaft:

TEXT: MICHAELA ORTIS

„Mit Interaktionen höherer Ordnung können wir Modelle verbessern und dynamisches Verhalten erklären“ FEDERICO BATTISTON, CENTRAL EUROPEAN UNIVERSITY CEU

Die Flut verfügbarer Daten ermöglicht, die Struktur von sozialen und biologischen Netzwerken oder vom Internet zu erforschen. Weil Physiker*innen bei großen Experimenten schon immer Big Data genutzt haben, bringen sie ihr Wissen auch in anderen Disziplinen ein. Bemerkenswert ist für Battiston die frühe Rolle der Soziologie in der Netzwerkforschung. Schon 1967 hat Stanley Milgram das „Kleine-Welt-Phänomen“ formuliert, wonach jeder über sechs Kontakte jeden Menschen auf der Welt erreichen kann. Zur Beschreibung von Interaktionen in Netzwerken werden jeweils zwei Elemente mit einem Graphen verbunden. Diese paarweisen Beziehungen entsprechen nicht der realen Welt, wo oft in Gruppen interagiert wird. Wenn z. B. die drei Wissenschaftler*innen Alice, Bob und Claire jeweils in Paaren ein Paper schreiben, entstehen drei Paper, und ihre Zusammenarbeit kann mit einem Dreieck dargestellt werden. Wenn Alice, Bob und Claire zu dritt schreiben, entsteht ein Paper, und die Darstellung ihrer Zusammenarbeit entspricht wieder einem Dreieck, obwohl sie anders verlaufen ist. „Das heißt, wenn nur Graphen verwendet werden, geht Information verloren, nämlich die Dynamik in der Gruppe“, sagt Battiston. Der Graph stellt eine ZweiWege-Interaktion dar (Interaktion 1. Ordnung), die in statistischen Modellen verwendet wird. Das Dreieck ist eine Drei-Wege-Interaktion (Interaktion 2. Ordnung). Battiston hat daher im Oktober 2021 in Nature Physics seine Forschungen, gemeinsam mit Beiträgen von internationalen Forschenden, unter dem Titel „The physics of higher-order interactions in complex systems“ veröffentlicht. Drei Herausforderungen beim Modellieren Interaktionen höherer Ordnung zeigen ein neues dynamisches Verhalten. Bei Infektion mit einer Krankheit wird A von B mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit angesteckt, später wird A von C mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit angesteckt – die biologischen Ansteckungen je Kontakt sind unabhängig. Anders ist die Dynamik bei ­sozialen Ansteckungen wie der Verbreitung von Gerüchten: A erfährt etwas von B, und später erfährt A das auch von C  – nun wirkt der Gruppendruck: Wenn alle Freunde von A etwas glauben, dann glaubt A das auch. Was neu ist, zeigt sich beim kritischen Punkt. Wenn man Ansteckung modelliert, zählt man die Infizierten und untersucht, wie sich eine veränderte Ansteckungswahrscheinlichkeit auf die infizierte Bevölkerung auswirkt. Je nachdem wie hoch sie ist, kann bei einer biologischen Infektion die Krankheit verschwinden, oder sie wird ab einem kritischen Punkt zur Epidemie, wobei der

Wechsel kontinuierlich erfolgt. Bei einer sozialen Infektion passiert bei Erreichen des kritischen Punkts ein plötzlicher Wechsel im Status des Systems von Nicht-Erkrankung zu Erkrankung. Dazu Battiston: „Nur mit Interaktionen höherer Ordnung kann man Massenphänomene in sozialen Systemen erklären. Ein typisches Beispiel ist MeToo, zuerst gab es kaum Verbreitung, aber plötzlich war die Kampagne überall auf Twitter zu finden.“ In Experimenten werden Daten häufig als paarweise Interaktion erfasst, d. h., von einem Netzwerk höherer Ordnung wird auf ein System erster Ordnung projiziert. Aufgrund der Missing Links kann man nicht erkennen, wie die Elemente untereinander agieren, und das führt zur Herausforderung der Rekonstruktion. Battiston empfiehlt, die Statusänderung eines Elements über eine Zeitspanne zu sehen und mit seinen Nachbarn zu vergleichen: „Wenn beispielsweise eine Person ihren Status von gesund auf infiziert ändert und ihre Nachbarn tun dasselbe, können wir ableiten, welche Interaktionen höherer Ordnung waren.“ In der Dynamik der Links liegt die dritte Herausforderung. Im Normalfall wird die Dynamik bei den Knoten eines Systems beobachtet, etwa ob Neuronen feuern bzw. ob Personen gesund oder krank sind. Aber auch die Verbindungen zwischen den Knoten können einer Dynamik unterliegen, sowohl Paarbeziehungen, die sich ändern, als auch Beziehungen von Dreiecken oder größeren Gruppen. „Dynamisch ist nicht nur der Knoten selbst, sondern auch die Beziehungen, und wenn sich so eine Beziehung ändert, dann wirkt sich das auf die Knoten aus. Für diese vielversprechende Forschungsrichtung haben wie eine Topologie dynamischer Denkansätze und eine Literatursammlung erstellt“, sagt Battiston. Der Nutzen der Forschung für alle Disziplinen Als nächster Schritt wird das theoretische Framework in vielfältigen Forschungsfragen angewendet. Geplant ist, die Organisation von Interaktionen höherer Ordnung im Gehirn zu untersuchen, ebenso die Bildung und Teilung von Gruppen im sozialen Kontext. Gerade forscht ein PhD-Student von Battiston an Escape Rooms, um zu erkennen, welche Netzwerkdynamik Gruppen erfolgreich macht. Physiker*innen arbeiten sehr pragmatisch, fasst Federico Battiston seinen Zugang zusammen: „In der Ausbildung hat man uns gelehrt, die Essenz eines Pro­blems zu erfassen, um dann ein Modell zu finden, das eine Erklärung liefert. Mit dem neuen Framework, das wir im Geiste der Physik entwickelt haben und das universell einsetzbar ist, können Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen ein möglichst einfaches Erklärmodell entwickeln.“

FOTOS: PRIVAT

I


COLLAGE: MARLIES PLANK

TITE LTH E M A   :   H EU R E KA  7/21   FALTER 48/21  19


20 FALTER  48/21  H EUR EKA 7/21 :  T I T ELT H E M A

Licht, Strom und Know-how für Afrika Die Ärztin Laura Stachel entwickelte mit ihrem Mann Hal Aronson den „Solar Suitcase“ für stromlose Gegenden KRISTIN SMITH CAHN VON SEELEN UND DOROTHEE NEURURER

S

chlagartig beendete ein Bandscheibenvorfall die Karriere von Laura Stachel. Die Gynäkologin und Entbindungsärztin liebte es, Kinder zur Welt zu bringen. Am Nullpunkt ihrer Karriere schaffte die Mutter von drei Kindern einen Neuanfang. Einen Lebensplan hatte sie nicht. Disziplin und die Fähigkeit, sich auf die wechselnden Phasen im Leben einzustellen, war sie von klein auf aus dem Klavier- und Tanzunterricht gewohnt. Präzises Arbeiten während ihrer klinischen Praxis machte sie zu einer genauen Beo­bachterin für die Bedürfnisse anderer. „Ich hatte das Glück, in dieser Situation eine liebevolle Familie um mich zu haben und

einen Mann, der mich unterstützte. Ich war wissbegierig und hatte Freude am Lernen. Geburtsstationen ohne Strom 2004 begann Stachel ein Graduiertenstudium im Fach „Öffentliches Gesundheitswesen“ an der Universität von Kalifornien, Berkeley. In Nigeria, einem Land mit der vierthöchsten Müttersterblichkeit der Welt, untersuchte sie für ihre Dissertation die Bedingungen der Entbindungspflege. Dabei verbrachte sie bis zu 14 Stunden täglich auf Geburtsstationen. Ein Großteil der Arbeit fand ohne Licht statt. „Ich war schockiert, dass Frauen in völliger Dunkelheit um ihr Über-

Auch die Ausbildung von Jugendlichen gehört mittlerweile zum Projekt

leben kämpften und Geburtshelferinnen versuchten zu arbeiten. In Krankenhäusern, in denen 150 Frauen pro Monat ihre Kinder gebaren, gab es zwölf Stunden am Tag einfach keinen Strom. Ich spürte eine tiefe emotionale Verbundenheit zu den Patientinnen, Krankenpfleger*innen und Ärzt*innen. Ich dachte, dass es doch einen Weg geben müsse, diese Bedingungen zu verändern und sicherer zu machen.“ Empathie ist Stachel von Natur aus gegeben. Das nötige Verständnis für das Problem brachte sie als erfahrene Entbindungsärztin und Mutter mit. „Als ich nach Hause zurückkam, tüftelte mein Mann Hal sofort an ei-

ner Solarstromlösung für Kreißsäle.“ Das Paar nutzte die anwendungsorientierte Methode des Design-Thinking zur Lösung komplexer Probleme. Beide arbeiteten an der Ideenfindung und am Design, bis sie den Prototyp ­eines „Solar Suitcase“ entwickelt hatten, eine mobile Solarstromlösung in Rollkoffergröße für energiearme Regionen und Krisengebiete. Tests des Solarkoffers in Afrika Das Testen stellte für die Perfektionistin eine Herausforderung dar. Als Medizinerin darauf getrimmt, Fehler zu vermeiden, widerstrebte ihr das Silicon-Valley-Credo vom „Scheitere früh und oft.“ Stachel verstand, wie wich-

:  VO N A B I S Z

Die „heißesten“ Gebiete der Wissenschaft: Das Glossar Altersforschung  Untersucht, wie biologische Prozesse Menschen im Laufe ihrer Lebensspanne verändern, sodass sie von energiegeladenen Jungspunden zu betagten Erwachsenen mit immer mehr körperlichen Wehwehchen und nachlassender Geisteskraft werden. Ziel: Den Verfall verlangsamen oder aufhalten. Astronomie  Findet einen um den anderen Planeten in anderen Sonnensystemen, auf denen Leben ähnlich jenem auf der Erde möglich wäre. Batterieforschung  Um zukünftige Elektromobile mit genügend Strom ausstatten zu können, erforschen Ingenieure, wie man kleine Batterien mit viel Kapazität aus umweltfreundlichen Materialien herstellen kann. Biodiversitätsforschung  Nach dem Motto: Erfasse sie, solange es sie noch gibt, kartieren Forscher die biologische Vielfalt auf der Erde und erörtern, wie man sie zumindest teilweise

über den Klimawandel retten könnte. CO2-Abscheidung und -Speicherung  Weil die Menschen offensichtlich unfähig oder unwillig sind, ihren CO2-Ausstoß zu mindern, und dadurch den Klimawandel weiter antreiben, forschen Wissenschaftler*innen, wie man den Kohlenstoff bei Auspuffen und Schloten abfangen oder künstlich aus der Atmosphäre saugen und für immer einbunkern kann. Demenzforschung  Immer mehr Leute erreichen glücklicherweise ein hohes Alter, kommen damit aber in jene Lebensphase, wo das Gehirn massiv abbaut. Mediziner*innen untersuchen, welche Mechanismen dafür verantwortlich sind und wie man sie bremsen könnte. Gehirnforschung  Inspiziert den Aufbau und die Funktionsweise des Zentralnervensystems, um zu verstehen, wie eines der kompliziertesten und am meisten vertrackten Dinge des

bekannten Universums funktioniert: das menschliche Gehirn. Genetik/Vererbungslehre  Erforscht, wie Gene weitergegeben und gesteuert werden. Dadurch kann man zum Beispiel die Ursachen von Erbkrankheiten und Krebs finden und Therapien entwickeln. Gentechnik  Verändert das Erbgut von Pflanzen, Tieren und Mikroben. Damit können Feldfrüchte schädlingsresistenter und vitaminreicher gemacht werden – solche Eingriffe sind hierzulande aber verpönt. Mit gentechnisch veränderten Tieren studieren Forschende die Ursachen von Krankheiten. Mikroben mit maßgeschneidertem Erbgut produzieren etwa Enzyme für Waschmittel, Medikamente wie Insulin und Bier. Impfstoffforschung  In der Covid19-Pandemie brauchten Forschende nach der Identifizierung des Erregers kein Jahr, um effektive Impfstoffe zu

entwickeln. Mit den neuen Methoden wie der mRNA-Technologie versuchen sie nun auch, etwa ein Serum gegen HIV zu entwickeln, bei dem es 28 Jahre nach der Entdeckung noch keine schützende Impfung gibt. Kognitionswissenschaften  Erforschen, wie Menschen sich und ihre Umgebung wahrnehmen, Handlungsentscheidungen treffen und wie Gefühle wie Motivation, Freude sowie Unlust entstehen. Krebsforschung  Krebs entsteht, wenn Zellen sich auf Kosten anderer unbegrenzt teilen und ausbreiten. Mediziner*innen verstehen immer genauer, welcher Mechanismen sich die bösartigen Zellen dabei bedienen. Sie können bei vielen Krebsarten schon gezielt eingreifen und die Geschwüre bekämpfen. Künstliche Intelligenz  Computerwissenschaft, die aus „Blechtrotteln“ intelligente Maschinen machen will,


FOTOS: WE CARE SOLAR/ MOMANYI ROGERS/COLETTE ROBINSON

TITE LTH E M A ≠   :  H EU R E KA  7/21   FALTER 48/21  21

tig es war, den Solar Suitcase unter realen Bedingungen auszuprobieren. „Hal gab mir einen Schnellkurs in Fotovoltaik und baute mir ein Demo-Kit, das ich in meinem Koffer nach Afrika mitnehmen konnte.“ So ausgerüstet sammelte sie in Krankenhäusern in Nigeria und später in Haiti auf Hispaniola zwei Jahre lang Erfahrungen, die Aronson unterdessen zu Hause in Kalifornien in neue Modelle umsetzte. Als das Potenzial des Solar Suitcase bekannt wurde, wandelte sich das Nebenprojekt zur Vollzeitbeschäftigung. Stachel und Aronson gründeten „We Care Solar“. Die NGO liefert heute in über 6.200 Gesundheitszentren in dreißig Ländern Strom. In Uganda, wo der Solar Suitcase als Teil eines umfassenden Interventionsprogramms implementiert wurde, kam eine Dreijahresstudie zum Ergebnis, dass die Müttersterblichkeit um 53 Prozent zurückgegangen war. Im Kongo erklärte Jacques Sebisaho, Chefarzt einer kleinen Klinik, in der alle 122 Patient*innen dank des Solar Suitcases einen Choleraausbruch überlebten: „Wenn Dunkelheit in der Notfallmedizin den Tod bedeutet, erleben wir jetzt, was Licht bewirken kann.“ Dass der Solar Suitcase bis heute so viele Menschen erreicht hat, liegt am Mix von Empathie, technischer Expertise, Eloquenz, Gewissenhaftigkeit und Beharrlichkeit, die das Paar in seine Arbeit einbringt. Allein 2020 kam Strom in über 1.000 Gesundheitszentren. Beide hoffen, diese Zahl trotz der Einschränkungen durch Covid-19 auch 2021 zu erreichen. 2020 wurde We Care Solar vom amerikanischen Gütesiegel Charity Navigator mit 97 von hundert Punkten bewertet. Unter den vielen Auszeichnungen ist

auch das mit einer Million US-Dollar dotierte „Powering the Future We Want“-Stipendium der UN. Es wird für saubere Energielösungen und die Betreuung und Pflege von Müttern in energiearmen Ländern vergeben. Stachel hat vor der WHO und anderen internationalen Foren gesprochen. Dieses Jahr wurde sie von Forbes in „50 über 50“ gewählt, eine Liste von Frauen in der zweiten Lebenshälfte, die zeigen, dass Erfolg kein Alter, kein Geschlecht und keine Grenzen kennt. Das Projekt und die Familie Das Wachstum der NGO ist mit der Beziehung zwischen der Ärztin Stachel und dem Ingenieur Aronson verbunden. Konnten sie sich anfangs nicht ausmalen, professionell zusammenzuarbeiten, haben sie inzwischen ein Jahrzehnt engsten beruflichen Austausches sowie eine Familiengründung hinter sich. „Ich liebe die Tatsache, dass wir die Welt des anderen so gut verstehen“, sagt Stachel. „Aber es gibt natürlich auch belastende Situationen.“ Während Covid zum Beispiel, als beide zu Hause arbeiteten. „Es ist wichtig, sich Zeit zu erlauben, in der man nicht arbeitet. Wir haben uns gegenseitig unterstützt und Gelegenheiten gefunden für Pausen, Sport und Natur.“ Die vielen Reisen während der Anfangszeit waren schwierig, räumt Stachel ein. Vor allem für die Kinder, wenn sie über längere Zeit von der Familie getrennt war. Obwohl Videokonferenzplattformen heute vieles erleichtern, betont Stachel, dass Technologie nur ein Teil der Lösung für eine gute Work-Life-Balance sein kann. Man muss sich auch Zeit und Aufmerksamkeit für die Kinder nehmen.

JOCHEN STADLER

die ähnlich Menschen eigenständig denken und Probleme lösen. Klimawandelforschung  Seit Jahrzehnten legen Klimaforschende mit immer größerem Detailwissen dar, wie der Treibhausgasausstoß der Menschen die Temperaturen auf der Erde drastisch erhöht, wie sich der katastrophale Effekt etwa durch Auftauen der Dauerfrostböden selbst verstärkt und welche Auswirkungen dies auf die Lebenswelt und Zivilisation hat. Mittlerweile ist dieses Wissen in die Bevölkerung und Politik durchgedrungen, bewirkt aber wenig. Modellierung  Simuliert Prozesse wie den Klimawandel und die Ausbreitung von gefährlichen Viren, um die Folgen abschätzen sowie Gegenmaßnahmen erarbeiten zu können. Pflanzenforschung  Entwickelt Ackerfrüchte, die trotz versalzter, ausgetrockneter und ausgelaugter Böden gedeihen, um die Menschen mit den

nötigen Kalorien zu versorgen. Quantenforschung  Erkundet die bizarr anmutende Quantenwelt, in der Folgeerscheinungen oft unberechenbar und aktuelle Zustände nicht eindeutig festgelegt sind, wo Objekte gleichzeitig die Eigenschaften von Teilchen und Wellen haben und jegliche Beobachtung den Zustand des Objekts verändert. Damit kann man Botschaften sicher verschlüsseln, winzigste Computerteile bauen und Zustände von La Palma nach Teneriffa beamen. Raumfahrt  Mit Raumschiffen wollen Menschen in sehr naher Zukunft zum Mond reisen, um ein Dorf aufzubauen, und sogar ohne Retourreisemöglichkeit zum Mars fliegen. Robotik  Konstruiert Maschinen, die nicht nur selbstständig staubsaugen und Rasen mähen, sondern auch alte und kranke Menschen versorgen, verunfallte Atomkraftwerke dekontaminieren und Krieg führen können.

Laura Stachel mit einem von ihr mitentwickelten Solar Suitcase

Ein Solar Suitcase beim Einsatz in einer Geburtshilfestation

Mehr Information unter: www.wecaresolar.org

Jugendausbildung in Afrika Aus dem Projekt, Zugang zu verlässlicher, bezahlbarer und nachhaltiger Energie zu schaffen, entsprangen weitere Projekte, die ineinandergreifen und mehrere UN-Nachhaltigkeitsziele abdecken: Zugang zu Energie, globale Gesundheit, Ausbildung und Gleichstellung. Ein Beispiel ist die Ausbildung von Frauen zu Solartechnikerinnen. „Zuerst haben nur Männer die Installationstrips begleitet“, erklärt Stachel. „Das war auf Geburts­­ sta­tionen, wo Frauen Intimsphäre benötigen, problematisch. Wir wollten ­jedoch, dass Frauen nicht nur Hilfsempfängerinnen unserer Programme sind, sondern selbst das Energiethema in die Hand nehmen können.“ Das Ehepaar hat sich auch Gedanken darüber gemacht, welche Ausbildung und Fertigkeiten Kinder für eine bessere Zukunft rüsten. So entstand direkt in Afrika und mit strategischer Priorität für die NGO das Schulungsprogramm „We Share Solar“. In Klassenzimmern Tausende Kilometer vom Silicon Valley entfernt lernen Schüler MINT-Fächer und Design-Thinking, praxisnah und anwendungsorientiert, um lokale Probleme gegebenenfalls mit Solarenergie zu lösen. Stachel ist überzeugt: „Innovation und Kreativität finden überall auf der Welt statt.“ Sie wünscht sich, dass wir das lebens­ rettende Potenzial dieser einfachen Einsicht erkennen.


22 FALTER 48/21  H EUR EKA  7/21  :  T I T ELT HE M A

Die nächste Pandemie Strategien zu ihrer Vermeidung, etwa auch durch Citizen Science ls am 16. März 2020 der österreichweite Lockdown zur Eindämmung der SARS-CoV-2-Pandemie ausgerufen wurde, hätte sich wohl niemand erwartet, dass erst im Herbst 2021 die höchste Anzahl an Neuinfektionen verzeichnet werden würde. Seit etwas weniger als zwei Jahren kämpfen nun also Österreich, Europa und die Welt gegen das Virus. Trotz mehrerer Lockdowns, FFP2-Maskenpflicht, Dis­ tance-Learning-Konzepten, Home­office und Impfstoffen haben wir die Pandemie noch immer nicht bewältigt. Mit einer Regierung, die es müde geworden scheint zu regieren, blicken wir auf unausgegorene Vermeidungsstrategien, unzureichende Kommunikation und ein ständiges Zuwarten auf den nächsten Infektionsrekord. In einer Pandemie gefangen, die sich anfühlt wie die neueste „Black Mirror“-Folge, erscheint es fast absurd, vorsichtig zu fragen, wie wir denn die Klimakrise bewältigen wollen. Der rasant fortschreitende Klimawandel, gepaart mit globalisiertem Handel und Personenverkehr, lässt allerdings ähnliche oder schlimmere Pandemien in steigender Frequenz befürchten. Corona ist das Resultat der Klimakrise Für Dan Brooks, Experte für emergente Infektionskrankheiten, ist die SARS-CoV2-Pandemie bereits ein Resultat der Klimakrise. Man muss sich nur den Ursprung der meisten Infektionskrankheiten vor Augen halten. Dass eine neue „Killermutante“ innerhalb eines Wirtsspektrums durch plötzliche Mutationen (die etwa die Infektiosität oder Letalität drastisch erhöhen) auftritt, ist ein statistisch höchst unwahrscheinlicher Sonderfall. Viel wahrscheinlicher und dadurch gefährlicher ist es, wenn sich die Lebensräume, sogenannte Habitate, zweier Krankheitswirte zu überschneiden beginnen. Brooks und Kolleg*innen bezeichnen dieses Phänomen als StockholmParadigma: Das Wechseln des Wirtes ist für die meisten Krankheitserreger physiologisch gesehen nicht allzu schwer. Das Einzige, was sie davon abhält, ist das Nichtüberlappen von Wirtshabitaten. Erst durch das Überschneiden von Habitaten ist es also möglich, dass ein bestimmter Erreger den Wirt wechselt und dadurch eine potenzielle Gefahr für den Menschen darstellt. Doch was muss passieren, dass Habitate sich überschneiden? Die Gründe sind vielfältig, aber Globalisierung, die Erschließung von bisher unbewohnten und ungestörten Ökosystemen sowie das milder werdende Klima und die damit einhergehende Migration von Krankheitswirten gehören zu den meistgenannten Gründen. Genau so ist auch die Emergenz der SARS-CoV-2-Pandemie einzuordnen. Daher muss die Coronakrise nicht als Vorbote, sondern als Resultat der Klima­ krise gesehen werden.

TEXT: SOPHIE JULIANE VEIGL & MARKUS DELITZ

Orsolya Bajer-Molnar, Konrad-LorenzInstitut für Evolutions- und Kognitionsforschung

Wissen wird im Labor und am Bergbauernhof erzeugt

Daniel R. Brooks, Professor emeritus, Universität Toronto

Für Dan Brooks braucht es nicht das nebulöse Endzeitszenario der Klimakrise. Er ist überzeugt, dass eine immer höhere Frequenz an SARS-CoV-2-ähnlichen Pandemiewellen der Menschheit schon früher ein Ende machen wird. Gelinde gesagt, ist das von Brooks gezeichnete Szenario unbequem. Aber gemeinsam mit dieser Hiobs­ botschaft präsentieren er und sein Team auch Ansätze und Möglichkeiten, die bevorstehende Krise abzuwenden. Wie man die Pandemie hätte verhindern können Die von Brooks und Kolleg*innen entwickelte Strategie lautet „DAMA“, ein Akronym aus den Worten „document“ (dokumentieren), „analyze“ (analysieren), „monitor“ (beobachten) und „act“ (handeln). Das DAMA-Protokoll ist als auf Landesebene zu implementierendes, aber auf globale Vernetzung bauendes Projekt konzeptualisiert. Der Grundgedanke, so seine Kollaborationspartnerin, die Evolutionsbiologin Orsolya Bajer-Molnar, ist einfach: „Find them before they find us.“ Potenzielle Krankheitserreger müssen identifiziert werden, lange bevor sie kurz davorstehen, eine Pandemie auszulösen. Bajer-Molnars Diagnose ist selbstsicher: Wäre DAMA schon implementiert gewesen, hätte es keine SARSCoV-2-Pandemie gegeben. So ist bekannt, dass ein SARS-CoV2-ähnlicher Erreger schon 2005 beschrieben wurde. 2007 war erwiesen, dass dieser Säugetiere infizieren konnte. Es fehlte also nicht an wissenschaftlichen Daten. Es fehlte an der Transformation von wissenschaftlicher Erkenntnis in politisches Handeln. Bajer-Molnars derzeitiges Projekt befasst sich mit der Umsetzbarkeit von DAMA. Dafür arbeitet sie mit politischen Entscheidungsträger*innen auf EU- sowie nationalen Ebenen. Auch liegt DAMA bereits dem ungarischen Parlament zur Abstimmung vor. Ein besonderer Aspekt des DAMA-Protokolls ist sein Bottom-up-Konzept der Wissensbeschaffung. Es geht nämlich weit über das in Universitäten und Forschungsgruppen produzierte „wissenschaftliche“ Wissen hinaus, denn für DAMA sind vor allem die Wissenskulturen fernab der „Academia“ essenziell. Eine Voraussetzung des Protokolls ist die Einbeziehung der oft nicht beachteten lokalen Expert*innen: Betriebe wie Fischerei, Landwirtschaft, Jagd und Forstwirtschaft können auf langjährige und profunde Expertise zurückgreifen, wenn es darum geht, Änderungen in Ökosystemen wahrzunehmen. Etwa merkt es eine Bergbäuerin als eine der Ersten, wenn bestimmte Insektenarten plötzlich einhundert Höhenmeter höher vorkommen als noch vor zwanzig Jahren. Genau das sind Habitatsverschiebungen, die potenziell zu Wirtswechseln führen könnten und daher besonders relevant sind, wenn man zukünftige ­Pandemien

­vermeiden will. Entscheidend ist, lokale Expertise mit Analyse- und Vorhersagemethoden innerhalb der „Academia“ zu verbinden. DAMA beruht auf Citizen Science, einem Ideal von wissenschaftlicher Partizipation, in dem Erkenntnisgewinn nur durch das Einbinden von Nichtakademiker*innen voranschreiten kann. Citizen Science macht nicht nur lokale Wissenspraxen zu legitimen und sogar essenziellen Bestandteilen von Wissensgewinnung und politischem Handeln, auch wird Wissenschaft nachvollziehbarer für jene, die nicht mit Wissenschaftskreisen vertraut sind. Der Prozess zwischen einer lokalen Beobachtung bis hin zum politischen Handeln aufgrund dieser Beobachtung wird gestaltbarer und somit greifbarer. Ohne tiefgreifende Präventionsstrate­gien kommt die nächste Pandemie bestimmt. Und Prävention, also jene Strategien, die verhindern, dass eine Pandemie überhaupt ausbricht, ist summa summarum um einiges günstiger als Vermeidungsstrategien, also Strategien wie Lockdowns und Impfpläne, die die Verbreitung eines Krankheitserregers einschränken sollen. Das DAMAProtokoll bietet nicht nur eine innovative Strategie, potenzielle Pathogene zu identifizieren, bevor sie gefährlich werden, sondern hilft auch eine oft vergessene Kontinui­tät zwischen diversen Formen von „Laien­ expertise“, wissenschaftlicher Erkenntnis und politischem Handeln zu vermitteln. Citizen Science als entscheidender Faktor Aus der derzeitigen Impfskepsis und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Spaltung ergibt sich eine weitere Perspektive für Citizen Science. Die Corona-Impfung ist nicht das erste techno-wissenschaftliche Produkt, das zu Dissens führt. Der Angelpunkt derartiger Debatten ist Glaubwürdigkeit: Welche Interessensvertreter*innen sind in welchem Kontext glaubwürdig? In derartigen Situationen reicht der Nimbus der Wissenschaftlichkeit nicht mehr. Gründe von Impfskepsis sind vielfältig und reichen von allumfassenden Verschwörungstheorien und berechtigten Bedenken gegen Big Pharma zu punktuellen traumatisierenden, oft klassenbezogenen, sexistischen oder rassistischen Erfahrungen mit der Medizin. Daher gibt es auch keine Standardlösung für das Vertrauensbzw. Glaubwürdigkeitsproblem. Citizen Science sitzt an Hebeln der Aushandlung von Glaubwürdigkeit. Zum einen macht es klar, dass wissenschaftliche Erkenntnis keine Einwegstraße ist: Wissen ist von den und für die Menschen. Zum anderen „glokalisiert“ Citizen Science Wissensgewinn. Wissen wird im Labor und am Bergbauernhof erzeugt. Der eine Ort der Wissensproduktion validiert den anderen. Wo „science in action“ sichtbar gemacht werden kann, kann auch Glaubwürdigkeit neu ausgehandelt werden.

FOTOS: INSTITUTE OF ADVANCED STUDIES KŐSZEG /IASK, PRIVAT

A


Z U G U TE R L E T Z T   :   H EU R E KA  7/21   FALTER 48/21  23

: GEDICHT

ERICH KLEIN

K A STA N I E N

:  WA S A M E N D E B L E I BT

Ohne Sense Julian Schutting, 1937 in Amstetten geboren, Ausbildung zum Fotografen, Studium der Germanistik und Geschichte, freier Schriftsteller. Seit 1973 ca. 60 Buchveröffentlichungen. „Kastanien“ stammt aus dem im Otto Müller Verlag 2021 erschienenen Gedichtband „Winterreise“.

Der kleine Kastanienbaum, auf den von deinen Fenstern wie von dem meinen früh aufgewacht am schönsten zu schauen war, erscheint im Morgenlicht über Nacht stattlich herangewachsen – also hat mein Blick ihn gemieden, seit deine Fenster sich anderswo befinden. hat weiß Gott wie oft unbemerkt weiß geblüht, strotzt, von Miniermotten unberührt geblieben, voller junger Kastanien, von denen dir bald einmal eine mitgebracht und als ein leichtgewichtiges Rätsel in die Hand gelegt gehört.

COLLAGE: MARLIES PLANK

AUS: KASTANIEN

:   I M P R E SS U M Medieninhaber: Falter Verlagsgesellschaft m. b. H., Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T: 0043 1 536 60-0, E: service@falter.at, www.falter.at; Redaktion: Christian Zillner; Fotoredaktion: Karin Wasner; Gestaltung und Produktion: Andreas Rosenthal, Reini Hackl, Raphael Moser; Korrektur: Ewald Schreiber; Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau; DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz ist unter www.falter.at/offenlegung/falterverlag ständig abrufbar.

HEUREKA ist eine entgeltliche Einschaltung in Form einer Medienkooperation mit

Frühe Schreibversuche aus den 1950er-Jahren wolle er nicht mehr publiziert wissen, meinte der Autor und Architekturhistoriker Friedrich Achleitner (1930– 2019) einmal. Amüsiert erinnerte er sich an die Reaktion des Redakteurs, dem er seine Texte vorgelegt hatte. „Was Sie mir da zeigen“, beteuerte der Mann, „ist entweder noch keine Dichtung oder es ist keine Dichtung mehr.“ Im Wien der Nachkriegszeit fand Achleitner rasch seinen Weg in die Literatur: mittels literarischer „Montagen“ und „Konstellationen“ und vor allem durch eine neue Sprache, die eigentlich eine ganz alte war, Dialekt: „oa moe / oa moe richdög / oa moe richdög schaissn // auf an boisdaddn brödl / auf an boisdaddn.“ Er war Teil der „Wiener Gruppe“. Sie löste sich ebenso schnell wieder auf, wie sie zusammengefunden hatte, der Architekt wechselte zu Architekturkritik und -geschichte, 1973 erschien „quadratroman“, da war die Jahrzehnte später abgeschlossene Arbeit an der Geschichte der „Österreichischen Architektur im 20. Jahrhundert“ schon in Angriff genommen. Von der literarischen Qualität, die sein vierbändiges Opus magnum, auch besitzt, wollte der Autor wenig wissen. Explizit zur Literatur kehrte Achleitner mit über siebzig und Kurzprosa zurück. Die fünf Bände von „einschlafgeschichten“ (2003) bis „wortgesindel“ (2015) gehören zum Besten, was während der letzten Jahrzehnte in Österreich geschrieben wurde. Wortwitz aus dem Geist von Lichtenberg und Nestroy. Achleitners Texte, die sich immer an Norm und Regeln gehalten hatten, begannen nun im Dschungel der Sprache zu wildern. Besonders trifft das auf die „innviaddla liddanai“ und die späten Kurzgedichte mit dem Titel „ohne sense“ zu. Der Untertitel letzterer („mach keine sprüche“) wird geflissentlich missachtet, wenn es da heißt: „träume nicht / von niedren zwecken / du endest sonst / beim eierpecken“. Die Texte bewegen sich, spektakulär ob ihrer unaufgeregten Abgründigkeit, am Rand zum Verschwinden: „gib acht / es ist bald neun“. Und es geht noch kürzer: „eimer für alle“. Form und Inhalt werden in sich verdreht: „fröhlichkeit ist nur ein schutz / gegen schlanz und schlonz und schlutz“. Fast war es, als träfe der ratlose Befund vom Anfang jetzt tatsächlich zu. Darauf Achleitner: „tut mir leid / das ist mir z’gscheit“.


WANDERN IM WIENERWALD Peter Hiess | Helmuth A .W. Singer

D ie 30 schöns ten Wanderungen in und um Wien. Mit Routen b eschreibungen, Tipps zur A nfahr t sowie E inkehrmö glichkeiten. 256 Seiten, € 22,90

WANDERN IM WALDVIERTEL P. Hiess | H. Singer | K. Bliem

D ie 33 schöns ten Wanderungen führen zu dichten Wäldern, kühlen Fluss t älern und sonnenb eschienenen Ho cheb enen. 304 Seiten, € 29,90

faltershop .at | 0 1/5 36 60-928 | In Ihrer Bu chhand lu ng

WAN DER LUST


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.