FALTER 45/22

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FA LTER

DIE WOCHENZEITUNG AUS WIEN NR. 45 / 22 – 9. NOVEMBER 2022 MIT 64 SEITEN FALTER : WOCHE ALLE KULTURVERANSTALTUNGEN IN WIEN UND ÖSTERREICH TERMINE VON 11.11. BIS 17.11. Falter mit Falter: Woche Falter Zeitschri en GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1011 Wien WZ 02Z033405 W Österreichische Post AG Retouren an Postfach 555, 1008 Wien laufende Nummer 2876/2022 € 4,90 45 9 004654 046675 ANZEIGE Schenken Sie Musik! Weitere Informationen unter konzerthaus.at/ 2223SSM Stellen Sie Ihr individuelleszusammen!Abo FOTOS: CHRISTINE PICHLER, GEORG WILKE Ehrensache. Jetzt musst du mit bitte beim orf helfen. Rainer Nowak Danke für alles Thomas Schmid Medienkorruption in Österreich SEITE 11 BIS 14

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FALTER & MEINUNG

4 Leserbriefe

5 Armin Thurnher

6 Eva Konzett, Franz Kössler, Benedikt Narodoslawsky

8 P. M. Lingens, Impressum

9 Isolde Charim, Melisa Erkurt

POLITIK

11 Korruption: Was die Chats zwischen

Nowak und Schmid offenbaren

15 Neue Autobiografie von Guardian-Korrespondentin Hella Pick

16 Stimmen aus dem Iran

20 Operation Luxor: Zwei Jahre nach Österreichs größter

Polizeioperation

23 Neue Erkenntnisse rund um Ötzi

MEDIEN

25 Journalismus im Krieg: Daryna Shevchenko vom Kyiv Independent

FEUILLETON

28 André Heller und sein Gesamtkunstwerk

„Luna Luna“

32 Retrospektive im Filmmuseum zu Kiju

Yoshida

33 Dokumentarfilm

über Elfriede Jelinek

34 Neue Bücher, neue Platten

35 Graphic Novel über die Band Ton Steine

Scherben

36 Der afrikanische

Theoretiker Achille

Mbembe im Gespräch

39 Feuilleton

Schlussseite

STADTLEBEN

41 Krawalle zu Halloween: auf

Spurensuche in Linz

44 Vogelgeschichte

1: Die frühen Läufer im MQ

45 Vogelgeschichte 2: Die 19.000 Toten im Museum

46 Grätzelrundgang in Wieden

48 Hipster übernehmen Mader

49 Warum Einkaufslisten die Kreativität behindern

NATUR

51 8.000.000.000

Menschen auf der Erde

KOLUMNEN

54–55 Phettbergs

Predigtdienst, Doris

Knecht, Heidi List, Fragen Sie Frau Andrea

Medienkorruption in Österreich

Mit Rainer Nowak und Matthias Schrom stolpern zwei Chefredakteure über ihren Ehrgeiz und ihre Nähe zur Politik.

Der Lunapark der Avantgarde

Die Affäre um André Heller bekommt eine neue Wendung: Sein Gesamtkunstwerk „Luna Luna“ wird verkauft.

Köpfe der Woche Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe

Lisa Kiss leitet die Programmredaktion des Falter. Einmal jährlich produziert sie mit ihrem Team auch den Kulturwinter.

Nun ist es wieder so weit: Alle österreichischen Veranstaltungs-Highlights der kalten Jahreszeit finden Sie hier kompakt in einem Heft vereint.

BEILAGE KULTURWINTER 2022

Der österreichische Iranist, Osmanist und Islamwissenschaftler Walter Posch schreibt in dieser Falter-Ausgabe über die Revolution im Iran. Er forschte unter anderem zu Untergrundbewegungen des Nahen Ostens.

SEITE 19

Was Soraya Pechtl schreibt, lesen Sie eigentlich täglich im Falter-Morgen. Im Falter schreibt sie aber auch regelmäßig, zuletzt machte sie Undercover-Recherchen in der Welt prekärer Arbeitswelten und die Recherchen zur Altersresidenz.

FALTER-MORGEN

Frisch aus der Karenz zurückgekehrt, verantwortete Falter-Theaterexpertin Sara Schausberger sogleich die aktuelle Covergeschichte unserer Kultur- und Programmbeilage. Sie präsentiert die Wiener Kabarett-Highlights im Herbst, von Toxische Pommes bis Lukas Resetarits.

FALTER:WOCHE

Wie arbeitet man im Krieg?

Der Kyiv Independent ist das wichtigste unabhängige Medium der Ukraine. CEO Daryna Shevshenko im Gespräch.

Schmäh in der FALTER : WOCHE

Der Herbst im Wiener Kabarett punktet durch eine Vielfalt gelungener Programme. Hier finden Sie eine Auswahl.

Nachrichten aus dem Inneren Wir über uns

Jeden Dienstag versammeln wir uns zur Redaktionskonferenz. Jedes Ressort schlägt dort seine Titelgeschichte vor. Das Feuilleton plädierte für André Heller, der Recherche zweiter Teil. Kaum ein Bericht hat international so große Wellen geschlagen wie Matthias Dusinis exklusive Enthüllungen über den Schwindel des Impresarios, der ein von ihm gebasteltes Werk als „Basquiat“ verkaufte und – nachdem die Sache aufgeflogen war –schnell wieder zurückkaufte. Dusini befragte nicht nur Heller, sondern traf sich auch noch mit dessen Anwälten, um die unangenehmen Fakten Punkt für Punkt gegenzuchecken. Dusini war’s nicht gedankt. Heller erklärte, er behalte sich eine Klage vor, da unser Bericht in weiten Teilen falsch sei. Was genau unrichtig sei, wusste Heller nicht zu benennen.

Diese Woche berichtet Dusini erneut über Heller. Der Künstler war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen, trotz mehrmaliger Anfragen. Die Recherche über den Verkauf des Projekts „Luna Luna“ und über Hellers abenteuerliches Leben lesen Sie im Feuilleton.

Das Cover haben wir diese Woche einem anderen wichtigen Thema gewidmet: der Medienkorruption bei Presse und ORF. Barbara Tóth und Josef Redl bieten den großen Einblick in eine Medienszene, die Reform braucht. FLORIAN KLENK

Aus dem Verlag Neu und aktuell

Wien, wie es isst Das praktische Nachschlagewerk enthält über 4000 Lokale von A−Z für jeden Anlass, jede Brieftasche, jede Uhrzeit, jede Laune, jeden Geschmack, für den kleinen wie den großen Hunger. „Wien, wie es isst“ ist kein Sterneverteiler oder Haubenaufsetzer. Es ist ein Speise-Plan der Stadt. 688 Seiten, € 18,50, faltershop.at

INHALT : WIR ÜBER UNS FALTER 45/22 3
PORTRÄT-FOTOS KOLUMNEN UND KOMMENTARE IM HEFT: KATHARINA GOSSOW; FOTOS: CHRISTINA PICHLER, GEORG WILKE, BARBARA TÓTH, CHRISTIAN WIND, JASMIN SCHULLER
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Post an den Falter

Wir bringen ausgewählte Leserbriefe groß und belohnen sie mit einem Geschenk aus dem Falter Verlag. Andere Briefe erscheinen gekürzt. Bitte geben Sie Ihre Adresse an. An: leserbriefe@falter.at, Fax: +43-1-53660-912 oder Post: 1010 Wien, Marc-Aurel-Straße 9

Betrifft: „André Hellers Millionenmärchen“ von M. Dusini, Falter 44/22

Wir bitten um Berücksichtigung der folgenden Punkte in Ihrer Berichterstattung:

1. Der im Falter kolportierte Preis von $ 3.000.000,– für den Rahmen ist nicht richtig. Der Rahmen wurde von uns immer nur zusammen mit dem Bild „Untitled (Head)“ angeboten, niemals gesondert. „Untitled (Head)“ ist ein abgesichertes Werk von Basquiat.

2. Der Rahmen wurde von uns nicht als „selbständiges Kunstwerk“ bzw. als echter „Basquiat­Rahmen“ angeboten. Das wäre rechtlich nicht möglich gewesen, weil der Rahmen nicht zertifizierbar war. Eine Zertifizierung war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Die Zeichnungen, die auf den Rahmen aufgeklebt sind (es sind Fragmente der Entwürfe von Basquiats Beitrag für das Riesenrad des „Luna Luna“­Projekts), sind gesicherte Originalzeichnungsfragmente von Basquiat.

3. Bei der Ausstellung „Boom for Real“ im Barbican Centre London wurde „Untitled (Head)“ ohne Rahmen ausgestellt. Der Rahmen ging zurück an Herrn Heller. Wir haben weder die Zeichnung noch den Rahmen verkauft, sondern haben nur den Kontakt vermittelt. Bitte erlauben Sie uns eine persönliche Anmerkung: Wir haben seit über 25 Jahren immer unsere Sorgfaltspflichten erfüllt.

LUI WIENERROITHER UND

EBI KOHLBACHER

W&K – Wienerroither & Kohlbacher, Wien 1

Anmerkung der Redaktion: Die Falter-Recherchen widersprechen dieser Darstellung. Der Rahmen wurde als echter Basquiat angeboten. Siehe auch Seite 31

Betrifft: „Elon Musk, kosmischer Kotzbrocken, nutzt uns …“ von A. Thurnher, Falter 44/22 Armin Thurnher, eine der letzten heimischen Instanzen glaubwürdigen Widerstands gegen Dummheit, Korruption und Menschenverachtung, bekennt also, lieber dem „kosmischen Kotzbrocken Elon Musk“ die Chance zu geben, „uns zu nutzen“, als sich die Mühe zu machen, sich auf einer weniger verdächtigen Plattform als Twitter eine neue Followergemeinde aufzubauen.

Man kann es ja verstehen, eine etwas traurige Bankrotterklärung ist es dennoch.

OTTO SCHULZ Wien 6

Betrifft: „André Hellers Millionenmärchen“ von M. Dusini, Falter 44/22

Für mich hat das Ganze etwas von Arsen Lupin, gemischt mit dem klassischen Wiener „G’schichtl“, was Herr Heller da vollbracht hat. Nachvollziehbar ist die Freude daran, einen Experten hinters Licht geführt zu haben. Was als bitterer Nachgeschmack bleibt, ist der späte Rückkauf, der dann doch vermuten lässt, dass die noble Geste als Schlussstrich erst angesichts drohender rechtlicher Konsequenzen gemacht wurde.

KLAUS MICHLER 6911 Lochau

Wo ist da der Skandal: ein Besenstiel rund um ein Basquiat­Dings mit dem Angebot, ein bissl viel zu zahlen? Wer es braucht, zahlt schon, Elon Musk vielleicht für sein

WC? Es ist so simpel, die Welt zum Narren zu halten, und dazu kann man André Heller nur gratulieren.

GÜNTHER GSTREIN 5020 Salzburg

Podcast & Falter-TV

Die Galerie Wienerroither & Kohlbacher hat dem Falter zur Causa Basquiat und André Heller eine Stellungnahme übermittelt

Als „abenteuerliche[n] Kunstskandal“ wird die lausbübische Schnapsidee André Hellers, bezeichnet. Ja, womöglich handelt es sich um einen Kunstskandal, aber wird hier nicht vielmehr die Expertise des Kunsthistorikers Dieter Buchhart als spärliche entpuppt? Gerät durch diesen „Skandal“ nicht eher eine Kunstelite ins Straucheln, die die Wertigkeit eines Kunstwerks (in dem Fall eines Rahmens) einzuschätzen glaubt und durch solche nicht bemerkten Fälschungen etwas unglaubwürdig wird? Heller wird von Ihnen als der böse Kunstfälscher dargestellt, was eher nach sensationsdürstender Schlagzeile, als nach dem Aufdecken eines tatsächlichen Kunstskandals klingt.

Zu unserer letztwöchigen Covergeschichte zum Kunstskandal um André Heller haben uns zahlreiche Leserbriefe erreicht

Obschon ein Satz Ihre Argumentation legitimieren würde: „Und warum ist der Joke nicht nur ein Bubenstreich? Weil Heller von der Sache finanziell profitierte“ –der Rahmen wurde tatsächlich um 800.000 Euro verkauft, mit vornehmlichem Wissen des Verkäufers um seine Falschheit, allerdings auch einer Randnotiz, die auf ein „fehlendes Echtheitszertifikat“ hinweist –das Werk wurde später von Heller zurückgenommen, finanziell hat er schlussendlich nicht davon profitiert; natürlich kann jetzt die Frage gestellt werden, ob das alles eine Ausrede war und er den Rahmen tatsächlich verkauft und es dabei belassen hätte. Hätte, wäre, könnte. Wie auch im Alltag werden in dem Fall diese Konjunktive zu unbrauchbaren Hülsen. Hellers Bezeichnung als „Bubenstreich“ klingt zwar euphemistisch, das Ganze aber als „Millionenmärchen“ zu betiteln, bläht die Geschichte, in der es ja um nicht so viel gegangen ist, zu Unrecht auf.

SARAH HAMMERSCHMID Wien 8

Betrifft: „Österreichs Feldzug gegen Atomenergie“ von P.M. Lingens, Falter 44/22 Ich beziehe mich auf die Artikel von Peter Michael Lingens in Ausgaben 44 und 43. In Ausgabe 44 betätigt er sich zum wiederholten Male als Atomkraft­Propagandist, und der Falter gibt ihm zum wiederholten Male dafür eine Plattform. Wessen Interessen stecken dahinter?

www.falter.at/radio

Der Podcast mit Raimund Löw www.falter.tv

Mittwoch, 9. November

Innenansicht auf Putins Krieg. Der russische Investigativreporter Andrei Soldatov analysiert im Gespräch mit Misha Glenny das Machtgefüge des Kreml im Krieg

Leserin Susanne Beschaner ärgert, dass Peter Michael Lingens in seinen Falter-Kommentaren die Nutzung der Atomkraft propagiert

Lingens behauptet, das Endlagerproblem sei technisch gelöst – durch nichts belegt. Ferner behauptet er, der Bau und Betrieb von AKW bedürfe nicht massiver staatlicher Subventionen – durch nichts belegt. Er räumt sogar ein, dass AKW Risikobauten seien; das bleibt bei ihm aber eine Randnotiz. Auch wenn die Behauptungen stimmten, so spricht doch allein die Tatsache, dass AKW – leider mit steigender Tendenz angesichts der Weltlage – durch Kriegshandlungen, Terror­ und Cyberangriffe extrem verwundbar sind und ein verheerendes Zerstörungspotenzial haben, eklatant gegen sie.

Dazu kommt: Europas AKW sind in ihrem Betrieb von Uran aus Russland, von dessen Unternehmen Rosatom abhängig (und somit erpressbar) – nicht von ungefähr wurde dieser Bereich, wie die Gaslieferungen, von den Sanktionen ausgeklammert.

DR. SUSANNE BESCHANER Wien 16 Der

Andrei Soldatov, Maria Moser, Lukas Gahleitner, Franz Schuh

Donnerstag, 10. November im FalterRadio und 19 Uhr und 23 Uhr auf W24

Die Schande. Asylwerber in Zelten. Asylpolitik als Politikum. Es diskutieren Ferdinand Aigner (Bürgermeister von St. Georgen, ÖVP), Maria Moser (Diakonie), Susanne Winkler (Fonds Soziales Wien), Lukas Gahleitner (Asylkoordination) und Nina Brnada (Falter)

Samstag, 12. November

Russische Stimmen gegen den Krieg: Soziologe Grigory Yudin (Moskau, Princeton), Politikwissenschaftlerin Olga Gushchina, LGBTQ-Sprecherin Elena Lipilina, moderiert von Stephanie Fenkart im Karl Renner Institut

Sonntag, 13. November

Machthaber. Was Herrschaft mit den Mächtigen macht und wie das Theater reagiert. Essayist Franz Schuh und Kulturwissenschaftler Walter Müller-Funk mit Theaterleiterin Anna Maria Krassnigg über Van der Bellen, Canetti, Freud und Putin

Bereits online. Scheuba fragt nach … bei Reinhold Mitterlehner.

Florian Scheuba erklärt, warum die ÖVP beim Thema Korruption an einen Opernsänger mit offenem Hosentürl erinnert und René Benkos Vorstrafe plötzlich wieder interessant wird. Ex-Vizekanzler Mitterlehner berichtet über seine Erlebnisse mit den Systemen Fellner, Kurz und Sobotka

4 FALTER 45/22 AN UND ÜBER UNS
Falter Auf allen Kanälen
R adi o DER PODCAST MIT RAIMUND LÖW FOTOS:
FALTER
ANDREI SOLDATOV, DIAKONIE/SIMON RAINSBOROUGH, APA/HERBERT NEUBAUER, TWITTER

Seinesgleichen geschieht Der Kommentar des Herausgebers

Hurra, wir sind medienkorrupt!

Die technische Entwicklung hat das Hinterzimmer digitalisiert und uns alle zu Zeugen gemacht. Ein einziges beschlagnahmtes Handy und dessen gerade noch arschknapp restaurierter Speicher gaben uns Einblicke in das, was seit Jahrtausenden nur Polster, Zeltwände, Tapeten und verschwiegene Kammerdiener zu hören bekamen: Huch, wir sind ja korrupt!

Es ist sinnlos, die Fälle Rainer Nowak und Matthias Schrom kleinzureden. Der Chefredakteur der Presse hat, wenngleich ironisch verklausuliert, versucht, seiner Karriere im Gespräch mit Sebastian Kurzens Generalsekretär der Herzen auf die Sprünge zu helfen; ORF-2-Chefredakteur

Schrom wiederum passte sich der Sprache des Heinz-Christian Strache an, um von diesem verstanden zu werden, was bekanntlich Strache selbst des Öfteren misslang.

Der Wechsel in angesehene bürgerliche Berufe, etwa als Chefredakteure des Kurier, steht nach einem kurzen Anstandsurlaub beiden also fortan offen. Vom Hinterzimmer zum Hinternbiss ist oft ein kurzer Weg.

Wir erleben nun zwei typische Reaktionen. Die einen rufen uns im Stil der pauschalen Selbstbezichtigung auf, doch pauschal in uns zu gehen, denn wir alle seien so. Schnecken!, rufen dagegen die anderen. Mit Floskeln wie „Die Optik ist verheerend“ werde man nichts mehr retten oder wie immer alles zudecken.

Natürlich haben beide recht. Ja, es schaut schlecht aus für die Medien. Nicht erst seit heute. Schwer zu entscheiden, ob sich die Krisenfälle häufen oder bloß die Möglichkeiten zunahmen, sie öffentlich zu beklagen. Dass das geschieht, soll nicht geringgeschätzt werden. Das Strukturproblem konnte man, wenn man wollte, aber schon länger kennen.

Beiden Fällen gleich ist die Verhaberung zwischen Politikern und Medienleuten, eine Zweckfreundschaft, die beide einander nur vormachen, deren Vorteile beide aber zu maximieren versuchen. Im Fall Nowak kam das strukturelle Unding dazu, dass der Chefredakteur der Presse zugleich als deren Geschäftsführer fungiert; die beiden Bereiche, der kommerzielle und der inhaltliche, stehen bei Medien in einem permanenten Wettstreit, und der demokratische Gehalt eines Mediums entscheidet sich oft genug an der Frage, wie weit es bereit ist, von kommerziellen Notwendigkeiten abzusehen. Quoten- und Reichweitenfetischisten müssen jetzt stark sein: Deswegen treffen gute Journalisten oft Entscheidungen gegen die Reichweite.

Im Fall Schrom liegt das Problem in der politischen Besetzung von Führungspositionen im ORF. Die Unabhängigkeit, die sich Redakteurinnen und Redakteure dort in langen Jahrzehnten mühsam erkämpfen konnten, ist prekär geblieben und wird, wie nicht nur das Beispiel Schrom zeigt, von oben her erodiert.

Häme ist nun ebenso wenig angebracht wie Empathie. Man muss jetzt auch nicht Kommissionen gründen und institutionalisierte Debatten führen, denn das, obwohl es nicht schadet, kennen wir schon. „Österreich, ein Papierkorb“ (Friedrich Heer). „Der Journalismus hat keine Auswüchse, er ist einer“ (Karl Kraus). Zum Beispiel die Dichands, zum Beispiel die Fellners, zum Beispiel Regionalkaiserdynastien

ARMIN THURNHER ist Mitbegründer, Herausgeber und Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung Falter

Sind wir nicht, aber die Fälle Nowak und Schrom zeigen die Notwendigkeit, das Mediensystem als Ganzes infrage zu stellen

Ihrer Wahl – wer konnte sich im letzten halben Jahrhundert über ihr Treiben Illusionen hingeben?

Das Problem: Die Politik unterscheidet nicht zwischen Medien als Kommerzbetrieben (wichtig für Oligarcherln) und Medien als für die Öffentlichkeit notwendigen Betrieben (wichtig für die Demokratie). Den ORF, der per definitionem am klarsten zur zweiten Gruppe gehört, hindert sie daran, zu seinem Selbstbewusstsein zu finden. Die warmen Worte, mit denen sich ORF-Chef Weißmann von Servus-TVGründer Mateschitz verabschiedete, zeigten, dass er prinzipiell keinen Unterschied zwischen beiden Sendern erkennt. Bei anderen Publikumsmedien, wo sich die beiden Zwecke immer mischen, erspart sich Politik die Unterscheidung, was fördernswert ist und was nicht, und vor allem erspart sie sich die inhaltliche Beurteilung. Sie will sich raushalten, die Politik, und verwickelt sich dadurch immer mehr ins Aufmerksamkeitsgeschäft.

Die Politik weiß Bescheid und sucht in unterschiedlichen Verhältnissen zu Medien ihr Heil, in sogenannter Kooperation, die von der Korruption nicht zufällig nur durch wenige Buchstaben getrennt ist. Die österreichische Misere hat Lokalkolorit, sie ist zweifellos spezifisch. Der Staat und seine Parteien bemächtigten sich der Medien nach 1945 direkt und unverschämt. Als das nicht mehr möglich war, begaben sie sich in Kooperationen, immer in der Hoffnung, durch ihren Zugriff auf den übermächtigen öffentlich-rechtlichen Rundfunk alles zu kontrollieren.

Dagegen erhob sich in den 1960er-Jahren ein Aufstand (Chefredakteure, die noch mit Rückgrat ausgestattet waren, inszenierten ein Volksbegehren), der Grundstein für den modernen ORF war gelegt, aber die Politik (Kreisky, leider) holte ihn bald zurück auf den kooperativen Boden der Parteipolitik.

Presse-Chefredakteur Rainer Nowak stellt seine Funktion ruhend

ORF-2-Chefredakteur

Matthias Schrom trat geschwind einen Urlaub an

Der Autor digital: Tägliche Seuchenkolumne: falter.at Twitter: @arminthurnher

Mit dem Fall des ORF-Monopols kamen neue Medienakteure auf. Sie erhoben Medienkorruption zu einer öffentlichen Kunst. Jeder wusste es, keiner wagte, daran zu rühren. Der ORF tat, was man in Österreich tut: Er kooperierte. Ohne seine Werbetätigkeit wäre das Imperium der Fellners nicht geworden, was es ist, ohne seine Verzahnung mit den Produkten der Mediaprint, gern auch in Personalunion, wäre das Milieu des großen Filzes nicht geworden, was es ist. Bis heute findet offenbar niemand etwas dabei, dass der schätzenswerte Peter Filzmaier in Doppelconférence mit sich selbst in ORF und Krone die Welt erklärt.

Von Viktor Klima und Werner Faymann (beide SPÖ) zum System Kurz war es nur ein Schritt. Kurz radikalisierte, was er vorfand, und perfektionierte die Medienkooperation in Beinschab-Tools, Message-Control und Nullbudgets für Feindmedien.

Auf diesem Boden konnte eine Medienförderung gedeihen, die nun per Gesetz fortgeschrieben werden soll (am 30. November endet die Begutachtungsfrist des von Ministerin Susanne Raab vorgelegten Entwurfs). Was würde helfen? Ein wirklich unabhängiger, entschlossen öffentlich-rechtlicher ORF. Und eine Medienförderung, die den deformierten Medienmarkt nicht festschreibt, sondern entschlossen korrigiert. Davon ein andermal mehr.

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„Übrigens, wir mögen den Falter.“
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FOTOS: IRENA ROSC, DIE PRESSE/PETER RIGAUD, APA/ORF/THOMAS RAMSTORFER

Wer sind hier die Radikalen?

Klimaaktivisten beschmieren Gemälde und legen den Verkehr lahm. Ihre Botschaft droht im schrillen Protest unterzugehen – dabei geht sie uns alle an

KOMMENTAR: BENEDIKT NARODOSLAWSKY

so wenig hörte man den Klimaaktivisten zu. Der Protest war so schrill, dass er ihre Botschaft übertönte: Wir brauchen einen fundamentalen Systemwandel, um eine Katastrophe abzuwenden.

Benedikt Narodoslawsky leitet das Natur-Ressort und ist Autor des Buches „Inside Fridays for Future“

Da Vincis „Mona Lisa“, van Goghs „Sonnenblumen“, Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrring“ – langsam verliert man den Überblick über die Kunstwerke, die Klimaaktivisten wahlweise mit Torte, Tomatensuppe oder Erdäpfelpüree attackierten. Die Meldungen von radikalen Klimaschützern, die sich mit Superkleber auf den Asphalt picken und damit den Verkehr lahmlegen, kommen mittlerweile so regelmäßig wie der Wetterbericht.

Die Klimaaktivisten von „Die Letzte Generation“, „Extinction Rebellion“ oder „Just Stop Oil!“ sind unbequem und stören, plagen Pendler, verärgern die Kunstwelt, verunsichern Bildungsbürger. Rechte äußern bereits offen ihre Gewaltfantasien gegen sie, der Boulevard schimpft sie „Klima-Chaoten“ und „Klebe-Aktivisten“.

Selbst manchem Umweltschützer geht der Protest zu weit. Droht da eine kleine Gruppe die Sympathien der breiten Klimabewegung zu verspielen, die von der Katholischen Aktion bis hin zur Kommunistischen Jugend reicht? Schon präsentiert das Magazin Profil die erste Umfrage: „55 Prozent der Österreicher lehnen die regelmäßigen Straßenblockaden von Klima-Aktivisten, die sich die ‚Letzte Generation‘ nennen, klar ab und fordern härtere Strafen.“

Misst man den Protest an Zeitungsseiten, war er allerdings erfolgreich. Mit minimalem Aufwand erreichten sie maximale Aufmerksamkeit. Während Klimademos mit tausenden Menschen mittlerweile in den Randspalten landen, füllen die wenigen Radikalen mit ihren Aktionen die Titelblätter von Weltzeitungen. Doch so viel man über ihre Aktionsformen diskutierte,

Ausland Die Welt-Kolumne

Klimabesserung aus Lateinamerika

FRANZ KÖSSLER

Die zuversichtlichste Nachricht zum UN-Klimagipfel in Ägypten kommt wohl aus Brasilien.

Vor 30 Jahren hat dort der erste globale Umweltgipfel stattgefunden. In der vergangenen Woche hat dort der linke ExPräsident Luiz Inácio Lula da Silva den rechtsextremen Fanatiker und amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro besiegt.

Ein zentraler Streitpunkt im Wahlkampf war die Zukunft des Amazonas-Regenwal-

Die Folgen der Klimakrise sind so oft beschrieben worden, dass Worte wie Überschwemmungen, Dürre, Klimamigration, Hitzetod und Extremwetter mittlerweile hohl klingen, auch wenn hinter jedem Millionen Menschen stehen, die die Krise mit aller Härte trifft.

Somalis hungern, Pakistanis sind ertrunken, Amerikaner haben ihre Häuser verloren. „Es herrscht Alarmstufe Rot“, sagte US-Präsident Joe Biden, als der Hurrikan Ida über sein Land fegte. „Die Nation und die Welt sind in Gefahr.“ Auch der UN-Ge-

Die Klimaaktivisten wissen, dass jedes Zehntelgrad Erderwämung ein Stück ihrer Zukunft kosten wird

neralsekretär António Guterres warnt eindringlich: „Die fossile Industrie bringt uns um.“ Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen mahnt: „Ich habe den Eindruck, vielen ist noch nicht klar, dass die menschliche Existenz auf dem Spiel steht.“

Gemessen an den Worten der höchsten Würdenträger passiert in Österreich politisch überraschend wenig. Die Bundesländer blockieren nahezu mutwillig die Energiewende, weisen viel zu wenig Flächen für Windkraft- und Solaranlagen aus. Oberösterreich hat zum Nationalfeiertag das erste Windrad seit sechs Jahren in Betrieb genommen. In Vorarlberg, Tirol und Salzburg dreht sich bis heute kein einziges. Auch in der Bundesregierung regiert der Kompromiss. Die türkis-grüne Koalition einigte sich gerade auf das lang erwartete Erneuerbaren-Wärme-Gesetz. Es hätte die grüne Wende beim Heizen einläuten sollen, lässt

aber auf Druck fossiler Lobbyisten die Gasheizungen weiterleben. Der Entwurf eines ambitionierten Klimaschutzgesetzes liegt in der Schublade, aber es kommt nicht. Die Vorschläge des Klimarats, den ein Querschnitt der österreichischen Bevölkerung bildete, sind nahezu vergessen. Mit einer Temporeduktion auf der Autobahn könnte man die klimaschädlichen Gase am billigsten und schnellsten drosseln, in Österreich wird das nicht einmal diskutiert.

In Zeiten der Krise erzeugt Zögern Frust. Und die Erwartungen an die Weltklimakonferenz im ägyptischen Scharm El-Scheich, auf der die Staatengemeinschaft nun zwei Wochen über die internationale Klimapolitik verhandelt? Leider niedrig. Für jeden Erfolg braucht es Einstimmigkeit. Die beiden Machtblöcke China und die USA liegen im Clinch, die Russen sitzen seit ihrem Überfall auf die Ukraine mit blutigen Händen am Verhandlungstisch, über den noch dazu die Energiekrise und die Inflation ihre Schatten werfen. Zugleich gerät das Ziel, die Erderhitzung (gemessen an der vorindustriellen Zeit) auf 1,5 Grad einzudämmen, zunehmend außer Reichweite. Mit 1,5 Grad ließe sich das Schlimmste verhindern. Derzeit steuern die Staaten auf 2,5 Grad zu – und auch nur dann, wenn sie ihre Versprechen einhalten.

Will die Welt das 1,5-Grad-Ziel halten, will Österreichs Regierung wie vereinbart das Land bis 2040 klimaneutral machen, dann ist die Zeit der Kompromisse längst vorbei. Die Klimaaktivisten wissen, dass jedes Zehntelgrad Erderwärmung Menschenleben, Geld und ein Stück ihrer Zukunft kosten wird. Ein verschmierter van Gogh, eine Stunde Stau auf der Autobahn werden bald die geringsten Probleme sein. „Klimaaktivisten werden manchmal als gefährliche Radikale dargestellt“, sagte UN-Chef Guterres heuer, als der wissenschaftliche Bericht des Weltklimarats erschien. „Doch die wirklich gefährlichen Radikalen sind die Länder, die die Produktion fossiler Brennstoffe vorantreiben.“ Selbst die Stimme der Vernunft klingt schon radikal.

des, der für die Zukunft des Weltklimas eine entscheidende Rolle spielt. Das angesehene Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung bezeichnet ihn als einen der Kipppunkte im globalen Klimasystem. Lula hat sich zu seiner Rettung zu „null Abholzung“ verpflichtet, Bolsonaro hatte seiner Zerstörung freien Lauf gelassen.

Lulas Sieg ist im Vergleich mit den Turbulenzen um die Präsidentenwahl in den USA auch eine kräftige Bestätigung der Demokratie im größten Land Lateinamerikas, in dem bis 1988 eine Militärdiktatur regiert hat. Lula hat mit einem Vorsprung von nur 1,8 Prozentpunkten gewonnen. Sein Kontrahent, Trump der Tropen genannt, hatte schon im Voraus Wahlbetrug behauptet –wie sein Vorbild in den USA.

Aber Brasiliens Wahlbehörde bestätigte das Ergebnis der voll digitalisierten Wahl innerhalb weniger Stunden und kam da-

mit langen Streitigkeiten zuvor. Das Militär reagierte nicht auf den Ruf der Bolsonaro-Anhänger nach einer Intervention, und das Höchstgericht ordnete der Polizei an, die Blockaden der Bolsonaro-freundlichen Lastwagenfahrer zu räumen. So schwer es ihm auch fällt, Bolsonaro hat sich mit der Amtsübergabe abgefunden, schreibt die führende Zeitung des Landes, Folha do S.Paulo. Lula baut auf seinen Ruf, den er sich als Präsident von 2003 bis 2010 erworben hatte – bevor ein Korruptionsskandal seine Arbeiterpartei versenkt und auch Lula selbst ins Gefängnis gebracht hat. Unter Lula wurde Brasilien zu einem modernen, liberalen Sozialstaat und schaffte es zur sechststärksten Volkswirtschaft der Welt, dank Industrialisierung und hoher Preise für seine Rohstoffe. Lulas soziale Politik half 20 Millionen Menschen aus der Armut.

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Franz Kössler kommentiert an dieser Stelle das Weltgeschehen

Jetzt hat Lula eine schwierigere Situation zu bewältigen. Das Land ist tief gespalten, die Stimmung von rechtsextremen und evangelikalen religiösen Fanatikern aufgeheizt. Die Wirtschaft leidet unter der Entindustrialisierung, die reaktionäre Agrarlobby hat großen Einfluss. Das Parlament und wirtschaftliche Zentren des Landes werden von Bolsonaro-Anhängern und Lula-Hassern kontrolliert. Um seine Politik durchzusetzen, muss Lula Kompromisse eingehen.

Die auf Klimapolitik spezialisierte Internetseite CarbonBrief zeigt anschaulich, wie die Zerstörung der Amazonas-Region, des größten Regenwaldes der Welt, unter Lula zurückgegangen und unter Präsident Bolsonaro wieder stark zugenommen hat.

Innerhalb von drei Jahren ist eine Fläche groß wie Belgien verloren gegangen, durch Brände und Rodungen für Rinderund Sojafarmen, durch illegale Grabungen

Der komplizierte Fall des Christoph Chorherr

Es ist ein Monsterprozess, der am Dienstag am Wiener Landesgericht (nach Redaktionsschluss) gestartet hat. Zehn Angeklagte sitzen auf der Bank. Darunter prominente Namen wie jene des Immobilienentwicklers Michael Tojner oder des Tycoons René Benko. Dazu kommen Bauherren wie Erwin Soravia sowie Investoren wie Günter Kerbler und Wilhelm Hemetsberger. Und natürlich Christoph Chorherr, der ehemalige Planungssprecher der Grünen. Vorerst sind elf Prozesstage anberaumt.

Eine große Frage steht im Raum: Hat Chorherr von 2011 bis 2018 Flächenwidmungen für lukrative Projekte durchgeboxt, weil Immobilienentwickler Geld für seinen Verein „S2ARCH“ spendeten, jenes Sozialprojekt, das Chorherr in Südafrika betrieb? Zwar hieß die damals zuständige grüne Stadträtin Maria Vassilakou. Es war aber ein offenes Geheimnis, dass sie sich um Verkehrsfragen kümmerte, während Chorherr die urbane Entwicklung managte.

Chorherr ist nun wegen Amtsmissbrauch und Bestechlichkeit angeklagt. Es geht um Spenden in Höhe von 1,6 Millionen Euro. Im Gegenzug dazu soll er sich, so sieht es die Wirtschaftsund Korruptionsstaatsanwaltschaft, bei Bauprojekten wie der Zentrale der Signa-Holding von Benko am Hauptbahnhof, den Triiiple-Türmen von Soravia in Erdberg oder bei Tojners Umgestaltung des Hotel Intercontinental am Wiener Heumarkt für die Wünsche der Spender eingesetzt haben. Er selbst hat das stets zurückgewiesen. Dass Chorherr den Verein schon 2004, also vor der grünen Regierungsbeteiligung, gegründet, die Obmannschaft

nach Gold und Erzen, durch Landraub zulasten von Amazoniens Indigenen. Der Präsident persönlich ermutigte zur Vernichtung des Regenwaldes.

Brasilien verfügt über Ökogesetze, sie wurden unter Bolsonaro praktisch suspendiert, die zuständigen Behörden reduziert oder aufgelöst. Eine politisch gesteuerte Justiz duldete die Illegalität. Aus Protest setzten europäische Länder wie Norwegen und Deutschland ihre Beiträge für den Amazonas-Fonds zum Schutz des Regenwaldes aus und wollen nach der Wahl Lulas jetzt wieder einsteigen. Der Fonds fördert nachhaltige Alternativen zum Raubbau des Regenwaldes für die Bevölkerung.

„Null Abholzung“ sei ein durchaus glaubwürdiges Ziel, sagt Raoni Rajão, Umweltforscher an der Universität Minas Gerais, aber innerhalb eines Jahrzehnts praktisch unmöglich zu erreichen. Eine Studie

aber erst 2018 zurückgelegt hat, wird ihm nun zum Verhängnis.

Fest steht: Bei den Einvernahmen von 16 Beamten der zuständigen MA 21 konnte keiner von direkter Einflussnahme Chorherrs berichten. Fest steht aber auch, dass dem Politiker die hohen Spendeneingänge für seinen Verein ausgerechnet von motivierten Immobilienentwicklern hätten auffallen müssen.

Deshalb hat Chorherr dann auch im August 2021 eine Diversion beantragt. Er wollte eine Einstellung des

Verfahrens gegen eine Bußgeldzahlung oder einen außergerichtlichen Tatausgleich. Das Gericht wies den Antrag damals zurück. Chorherr hätte Verantwortung übernommen für einen Missstand, den er selber erkannt hat.

Was es jetzt braucht, sind klare Compliance-Regeln für Mitglieder des Wiener Gemeinderats. Unbestritten war Chorherr als Obmann des Vereins untragbar.

Wenn das im Vorfeld formal geklärt gewesen wäre, hätten wir uns diese Art von Prozessen sparen können. Und die gefühlte – möglicherweise tatsächliche (dies zu beurteilen ist nun die Aufgabe des Schöffensenats) – Möglichkeit, dass mächtige Immobilienentwickler es sich in der Stadt richten können.

der Oxford University hat errechnet, dass Lula die Entwaldung immerhin um 89 Prozent reduzieren könnte – vorausgesetzt, er kann alle bestehenden Ökobestimmungen auch tatsächlich durchsetzen.

Lulas Umweltpolitik, die jetzt als Wende gefeiert wird, war nicht immer unumstritten. Seine Umweltministerin Marina Silva ist 2008 aus Protest gegen seine Entscheidung zugunsten von Gentechnologie bei Lebensmitteln und von Wasserkraftwerken im Amazonasgebiet zurückgetreten.

Jetzt sei die Lage wesentlich schlechter als damals, sagt Silva: Bolsonaro habe nicht nur alle Öko-Kontrollinstanzen geschwächt, er habe alle Bereiche gefördert, die dem Regenwald und den Indigenen schaden, und den reaktionärsten Elementen des Agrobusiness viel wirtschaftliche Macht gegeben. Die kämpferische Umweltpolitikerin ist jetzt wieder in Lulas Team.

Das Freihandelsabkommen mit Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay liegt wegen mangelnder Klimaschutzgarantien auf Eis. Die EU exportiert Autos, importiert Soja und Rindfleisch – den Regenwald und das Klima belastende Produkte. Umwelt-NGOs fordern Neuverhandlungen

MEINUNG FALTER 45/22 7
EU-Mercosur
DIE POLITOLOGIN UND
OELKER AM 7. 11. IN DER
RUNDSCHAU
In diesen Tagen können wir also wieder die Meldungen gewalttätiger Übergriffe lesen, die sich jetzt auch gezielt gegen Menschen aus der Ukraine richten. Erinnerungen werden wach. Das hatten wir. Zu oft
JOURNALISTIN HADIJA HARUNA-
FRANKFURTER
Die Autorin leitet das Politkressort des Falter Kommentar Der Chorherr-Prozess Tex Rubinowitz Cartoon der Woche
KONZETT
Zitiert Die Welt der Weltblätter
EVA

Lingens Außenblick

Ist ein Kompromissfrieden noch denkbar?

Krieg ist Männersache. Männer wollen in Kriegen Siege (auch wenn sie natürlich auch überleben wollen) − Frauen wollen Kriege überleben (auch wenn sie natürlich auch siegen wollen). Wladimir Putin, Joe Biden und Wolodymyr Selenskij sind Männer. Putin dachte, den Sieg in der Ukraine in wenigen Tagen gegen einen fliehenden Selenskij zu erringen − dass ihm das nicht gelang, lässt ihn nicht am Sieg, sondern an den eingesetzten Mitteln zweifeln. Vorerst mobilisierte er zusätzlich 300.000 Mann, notfalls wird er eine Million in Bewegung setzen. Wenn auch das keinen Sieg bringt, könnte er taktische Atomwaffen einsetzen, obwohl das zu seiner totalen Niederlage führte. Aber er hätte seine Ehre gerettet: wäre keinen Zentimeter von seinem Weg abgewichen. Selenskij hat, statt zu fliehen, Geschichte geschrieben: Er war immer überzeugt, dass seine Truppen sich erfolgreich wehren würden − jetzt ist er von ihrem Sieg überzeugt. Er will keinen Zentimeter ukrainischen Bodens opfern. Biden könnte dank Selenskij einen historischen Sieg über Putin erringen. Ist ein Kompromissfrieden unter diesen Vorzeichen noch denkbar?

Ich halte es für nützlich, die Konsequenzen dieser mannhaften Haltungen anhand der wahrscheinlichen militärischen Entwicklung zu Ende zu denken: In den nächsten Wochen dürften der Ukraine wie bei Cherson weitere Vorstöße gelingen; die Russen werden mit Raketen und Drohnen weiter ukrainische Infrastruktur, voran Kraftwerke, zerstören.

führen und sehr viel mehr Zerstörung anzurichten. Dass er keinen klaren Erfolg erringen dürfte und dass immer mehr Russen in Särgen heimkehren, dürfte den schon jetzt vorliegenden Druck steigern, taktische Atomwaffen einzusetzen. Denn anhaltende militärische Erfolglosigkeit setzt ihn der ernsthaften Gefahr aus, abgelöst, ja des Mordes und der Korruption angeklagt zu werden.

Ich meine, dass dieser möglichen bis wahrscheinlichen militärischen Entwicklung folgende politische Einschätzung ad-

Krieg ist Männersache. Am 15. November trifft Putin auf Biden − sind

Friedensgespräche zur Ukraine noch möglich?

Entscheidet Selenskij, was Ukrainer einem Frieden opfern?

sie das? Eine Volksabstimmung ist unter den gegebenen Verhältnissen nicht möglich. Spricht Selenskij daher tatsächlich für die Bevölkerung, wenn er erklärt, keinen Zentimeter ukrainischen Bodens für einen Frieden zu opfern? Ich stelle dem die auch nicht repräsentative Aussage mir bekannter Ukrainerinnen gegenüber, die nach Rückfrage in ihren kriegsversehrten Heimatgemeinden behaupten: Eine Volksabstimmung, an der auch die geflohenen Frauen teilnähmen, ergäbe eine klare Mehrheit für einen Kompromissfrieden, selbst wenn die Krim und sogar die Städte Donezk und Luhansk bei Russland blieben.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Selenskij einen solchen Kompromissfrieden anstrebt, hält sich in Grenzen: Wie soll er der Bevölkerung, voran Frauen, die ihre Ehemänner, Söhne und Väter in diesem Krieg verloren haben, erklären, dass die umsonst gestorben sind, weil Teile der Ukraine dennoch russisch bleiben? Aber wie erklärt er umgekehrt den Frauen, deren Männer, Söhne und Väter derzeit im Kampf den Tod riskieren, dass er jeden Frieden ausschließt, bei dem die Krim russisch bleibt?

Der Autor war langjähriger Herausgeber und Chefredakteur des Profil und der Wirtschaftswoche, danach Mitglied der Chefredaktion des Standard. Er schreibt hier jede Woche eine Kolumne für den Falter. Siehe auch: www.lingens.online

lingens@falter.at

Impressum

In der Zeit, in der Putin mehr Reservisten an die Front bringt, wird Selenskij mehr überlegene US-Waffen erhalten − das Kräfteverhältnis dürfte sich dadurch kaum zu Putins Gunsten ändern. Meines Erachtens auch nicht durch eine allfällige Generalmobilmachung: Die Russen werden weiter nicht wissen, wofür sie kämpfen − selbst frierende Ukrainer sehr wohl.

Die Überlegenheit der westlichen Waffen dürfte mit der Zeit eher größer werden, weil die Qualität der russischen Waffen unter den Sanktionen leiden dürfte. Dennoch werden die so viel größere Truppenstärke und das vorhandene Waffenarsenal es Putin ermöglichen, sehr lange Krieg zu

FALTER Zeitschrift für Kultur und Politik. 45. Jahrgang

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NATUR: Benedikt Narodoslawsky (Ltg.)

WOCHE: Lisa Kiss (Ltg.) FALTER.morgen: Martin Staudinger (Ltg.), Soraya Pechtl

äquat ist: Es gibt die reale Chance, dass Putin über den Ukraine-Krieg stürzt und Russland einen liberaleren Staatschef erhält, der statt auf Konfrontation auf Geschäfte mit dem Westen setzt − nicht zuletzt hoffen das viele Russen. Dem steht das Risiko eines Atomkrieges gegenüber, von dem niemand weiß, wo er endet. Und dem steht die Wahrscheinlichkeit gegenüber, dass die Ukraine, auch wenn sie siegen sollte, am Ende eines sehr langen Krieges ein Trümmerfeld ist.

In meiner subjektiven Abwägung überwiegen diese beiden Risiken die Chance auf Putins Sturz. Ich verstehe aber, dass man es auch umgekehrt sehen kann, und teile die Meinung Hans Rauschers, dass die Ukrainer nur selbst entscheiden können, was sie einem Frieden vielleicht zu opfern bereit sind. Das Problem ist nur: Wie entscheiden

Ständige Mitarbeiter: POLITIK und MEDIEN: Isolde Charim, Melisa Erkurt, Anna Goldenberg, Franz Kössler, Kurt Langbein, Peter Michael Lingens, Raimund Löw, Markus Marterbauer, Tessa Szyszkowitz

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Auch dass Putin einen Kompromissfrieden anstrebt, ist unwahrscheinlich − wenn auch nicht gleich null: Seine militärische Lage hat sich verschlechtert; er hat den Musk-Plan, der ihm einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem Krieg erlaubte, ein „positives Signal“ genannt; zuletzt hat Außenminister Sergej Lawrow erklärt, dass Putin beim Treffen der G20 am 15. November bereit wäre, „jegliche Vorschläge zu Friedensgesprächen anzuhören“. Meines Erachtens sollte die EU diese Gespräche einfordern. Biden könnte Putin „auf Augenhöhe“ vorschlagen, mit Selenskij Verhandlungen über einen Frieden zu führen, wie ihn vor Elon Musk schon Papst Franziskus skizzierte: Internationale Anerkennung der Annexion der Krim und einer neutralen Ukraine, gegen Abzug aller russischen Truppen; ein Jahr danach international kontrollierte Abstimmungen über den Status von Luhansk und Donezk.

Putins Zustimmung bleibt unwahrscheinlich − aber zumindest hätte man alles versucht.

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Der Falter erscheint jeden Mittwoch. Veranstaltungshinweise erfolgen kostenlos und ohne Gewähr. Gültig: Anzeigenpreisliste 2021.

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8 FALTER 45/22 MEINUNG
Peter Michael Lingens kommentiert hier jede Woche vorrangig das wirtschaftspolitische Geschehen

Nehammer interpretiert Freud

Isolde Charim kommentiert an dieser Stelle wöchentlich politische Zustände

Sag, Karl, wie hast du’s mit der Korruption? Das war wohl die zentrale Frage, die Bundeskanzler Nehammer bei der Sondersitzung des Nationalrats letzte Woche zu beantworten hatte. Immerhin ist ja der Korruptionssumpf, um den es ging, der matschige Boden, auf dem seine Partei, die ÖVP, steht. Oder balanciert. Oder in den sie versinkt. Wie auch immer. Und gerade deshalb war es entscheidend, welche Haltung Karl (Nehammer) dazu einnehmen wird.

Und wenn auch die Opposition hinterher Zweifel anmelden wird – an Kanzler Nehammers Durchgriff, an seiner Entschlossenheit, mit diesen Missständen aufzuräumen –, so muss man eines sagen: Die Rede des Kanzlers übertraf die Erwartungen –zumindest in gewisser Hinsicht. Denn sie lieferte nicht weniger als eine angewandte Hermeneutik, eine anschauliche Lesart einiger psychoanalytischer Begriffe. Wenn auch unintendiert.

es nicht“, dann korrigiert Freud: „Also ist es die Mutter.“ Verneinung ist die Form, in der der Inhalt – in unserem Fall die Korruption – zur Kenntnis genommen, benannt wird. Er wird anerkannt – indem er abgewehrt, eben verneint wird: So bin ich nicht – so sind wir nicht.

Was bleibt übrig, wenn man die verneinende Form abzieht? Eine intellektuelle Annahme des Verdrängten, heißt es bei Freud, bei Fortbestand der Verdrängung. Aber Nehammer bleibt dabei nicht stehen.

hier keine Sonderbehandlung für Eliten“, ist solch eine Realitätsabwehr. Die Weigerung, eine traumatische Wahrnehmung zuzulassen. Man verleugnet eine Realität, die man wahrnimmt. Gerade weil man sie wahrnimmt.

Davon muss man eine Behauptung wie diese unterscheiden: „Es geht nicht, dass der Eindruck entsteht, dass Multimillionäre es sich richten können.“ Das ist klassische Propaganda, die sich nur auf den äußerlichen Eindruck bezieht und nicht auf die tatsächlichen Verhältnisse.

Isolde Charim: Die Qualen des Narzissmus. Zsolnay, 224 S., € 24,70

Die Autorin ist Philosophin, Publizistin und wissenschaftliche Kuratorin charim@falter.at

Erkurt Nachhilfe

Da ist zum Beispiel der Satz: „So bin ich nicht – so sind wir nicht.“ Natürlich ist das eine Wiederaufnahme des Van der Bellen’schen Ausspruchs. Alle haben ja die Beteuerung des Präsidenten noch im Ohr, mit der dieser auf den Abgrund reagierte, den das Ibiza-Video eröffnet hatte. Ein Zitat also. Und dennoch anders. Denn Nehammer ist als Parteikollege und Teil des ExUmfeldes von Sebastian Kurz ganz anders betroffen. Deshalb auch der Zusatz, der Bezug auf sich: „So bin ich nicht.“

Da macht die klassische Form der Verneinung durchaus Sinn. Denn die Verneinung ist eine besondere Form der Abwehr. Wenn der Patient beteuert: „Die Mutter war

Der Korruptionssumpf ist der matschige Boden auf dem die ÖVP steht. Deshalb ist die Haltung von Nehammer dazu entscheidend

Er legt nach mit den Sätzen: „Es gibt hier keine Sonderbehandlung für Eliten. Korruption hat in Österreich keinen Platz.“ Hier wird der heikle Unterschied zwischen Verneinung und Verleugnung deutlich. Letztere ist zwar ebenfalls eine Abwehr –aber in einer anderen Form. Bei der Verleugnung wird die Wahrnehmung einer Tatsache abgewehrt. Auch wenn diese sich in der Außenwelt aufdrängt. Nach den jüngsten Enthüllungen zu behaupten: „Es gibt

Den wahren Gipfel seiner hermeneutischen Leistung erreichte Karl Nehammer allerdings erst mit der Behauptung: „Wenn es solche Vorgänge gegeben hat, dann verurteile ich sie aufs Schärfste.“ Ein lupenreines Kesselargument! Dieses funktioniert folgendermaßen: Als ein Mann vom Nachbar beschuldigt wird, einen geliehenen Kessel beschädigt zurückgegeben zu haben, meint dieser: Er habe den Kessel unversehrt retourniert, außerdem sei er schon vorher löchrig gewesen und überdies habe er nie einen Kessel geliehen.

Diese selbstverständliche Verbindung einander widersprechender Behauptungen ist ein wesentlicher Mechanismus des Traums. Genau dieser Traumlogik folgt auch der Bundeskanzler, wenn er sagt: So sind wir nicht. Korruption und Machtmissbrauch gibt es hier nicht. Und ich verurteile diese Vorgänge aufs Schärfste.

Im Traum heben sich die Widersprüche solch eines Kesselarguments nicht auf. Was aber passiert, wenn wir aus diesem Traum erwachen?

Wen überzeugen Klimaaktivistinnen mit solchen Aktionen?

Melisa Erkurt kommentiert hier wöchentlich bildungspolitische Themen, aber nicht nur

Die Autorin ist Publizistin („Generation Haram“, 2020, Zsolnay) und Journalistin bei „Die Chefredaktion“, einem Medium für die junge Zielgruppe auf Instagram erkurt@falter.at

Eine Radfahrerin ist vergangene Woche bei einem Unfall mit einem Lkw lebensgefährlich verletzt worden. Ein spezielles Rettungsfahrzeug verspätete sich, nachdem Klimaaktivistinnen* sich zuvor auf der Berliner Stadtautobahn an eine Schilderbrücke geklebt und damit einen Stau ausgelöst hatten. Der Aktivist Tadzio Müller twitterte nach dem Vorfall: „Scheiße, aber: nicht einschüchtern lassen. Es ist Klimakampf, nicht Klimakuscheln & shit happens.“ Er hat den Tweet später gelöscht. Die Radfahrerin ist mittlerweile im Krankenhaus verstorben.

Eine Woche zuvor, auf einer anderen deutschen Straße, klagt ein Mann in eine Fernsehkamera, dass er seinen Flug verpassen wird, weil Klimaaktivistinnen die Straße blockieren. Er spricht nicht wie jemand, der viel Geld hat. Seine Tochter sitze deswegen gerade mit Bauchschmerzen im Auto.

Aber was ist ein verpasster Flug schon im Vergleich zu dem, was die voranschrei-

tende Klimakrise anrichtet, und trägt Fliegen nicht ohnehin zur Verschlimmerung bei? Das kann man so sehen oder sich fragen, wen Klimaaktivistinnen mit solchen Aktionen überzeugen? Niemanden, der nicht ohnehin schon vom Klimakampf überzeugt ist, schreibt Yasmine M’Barek in der Zeit. „Sie führen auch nicht zur Einsicht, dass nicht individuelles Konsumverhalten die Lösung sein wird, sondern nur im großen politischen Rahmen die Wende eingeleitet werden kann. Der Protest trifft einzelne Menschen, nicht das System.“

Aktivistinnen aber argumentieren, dass es Aufmerksamkeit für Veränderung braucht, und die erregt man durch Provokation. Genauso macht es auch „Die Militante Veganerin“ auf TikTok, die junge Menschen auf der Straße mit den Konsequenzen des Konsums tierischer Produkte konfrontiert. Sie wirft Protestierenden bei einer Demo gegen den Ukraine-Krieg vor, Heuchlerinnen zu sein, da sie als Fleischesserinnen Krieg gegen Tiere führen, und behauptet, Speziesismus − die Anschauung, dass der

Mensch anderen Lebewesen überlegen sei − sei dasselbe wie Rassismus. Millionen Menschen schauen ihre TikToks, wie viele durch ihre radikalen Vergleiche vegan werden, bleibt offen.

Da Klimaaktivistinnen meist aus gutbürgerlichen Haushalten kommen, hilft es ihrem Image auch nicht gerade, wenn sie, wie zuletzt in London und Potsdam, in Museen Kunstwerke mit Lebensmitteln bewerfen, während aktuell besonders viele Menschen nicht wissen, wie sie sich den nächsten Einkauf leisten können, und schlecht bezahlte Reinigungskräfte, die am allerwenigsten etwas für die Klimakrise können, den Dreck wieder beseitigen dürfen. Die Journalistin Marija Latković bietet auf Instagram eine Alternative: „Proteste gegen das politische und wirtschaftliche Ignorieren der Klimakrise gerne. Aber schmeißt halt was anderes. Mamis teure Luxuscreme.“ Und danach selber wegwischen, bitte.

MEINUNG FALTER 45/22 9
*Männer sind in dieser Kolumne immer mitgemeint

HERO

AMS-CHEF JOHANNES KOPF SAGT, ZUGANG ZU SOZIALHILFE FÜR UKRAINE-FLÜCHTLINGE FÖRDERT DEREN BERUFLICHE INTEGRATION

Vergangene Woche machte Johan nes Kopf, Chef des Arbeits marktservice, einen vernünftigen Vorschlag: Aus der Ukraine Geflüchtete sollen Sozialhilfe oder Mindestsicherung erhalten. So wären sie finanziell abgesichert und auch verpflichtet, sich beim AMS zu melden und Jobs anzunehmen.

Derzeit ist es so: Im Gegensatz zu anerkannten Asylwerberinnen und Asylwerbern erhalten Ukraine-Flücht linge nur etwa 200 Euro Grundversorgung plus etwas Wohngeld und Familienbeihilfe. Nehmen sie einen Job an, verlieren sie sofort die Grundversorgung. So gesehen ist der Vorschlag des obersten Arbeitsvermittlers Kopf nur vernünf-

tig. Und wurde postwendend von Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) abgelehnt. Aus der Ukraine Geflüchtete sollen in die „Selbsterhaltung“ und nicht in den Sozialstaat überführt werden, meint die Ministerin. Dabei hat die Politik noch nicht einmal die Voraussetzungen geschaffen. Im März kündigte Türkis-Grün an, dass Ukraine-Vertriebene zumindest geringfügig arbeiten dürfen, ohne sofort die Grundversorgung zu verlieren. Umgesetzt wurde diese Ankündigung bis heute nicht.

DOLM POLITIK

WORÜBER ÖSTERREICH…

…REDET

ROTE STAATSBÜRGERSCHAFTSPLÄNE

Vereinfachte Einbürgerungen forderte Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) vergangenes Wochenende. Derzeit darf nur Österreicher werden, wer so viel verdient, dass nach Abzug aller Fixkosten monatlich mehr als 933 Euro übrig bleiben. Bei Kleinverdienern wie Putzkräften oder Hilfsarbeitern ist das finanziell oft nicht drin. Deshalb haben mittlerweile neun von zehn Hilfsarbeitern keinen österreichischen Pass. Die SPÖ will diese finanziellen Hürden senken, damit Menschen, die in Niedriglohnberufen arbeiten, auch Österreicher werden und somit politisch mitbestimmen können.

…STAUNT

MANK BLEIBT DOLLFUSS TREU

Wer so klein ist, dass einen kaum jemand kennt, muss sich etwas Besonderes einfallen lassen, um trotzdem in die Schlagzeilen zu kommen. Die 3000-Einwohner-Stadt Mank im Weinviertel setzt auf den austrofaschistischen Diktator Engelbert Dollfuß. Dem Kanzler, der 1933 das Parlament ausschaltete, ist dort noch immer der „Dr.-Dollfuß-Platz“ gewidmet. Pläne zur faschistenfreien Umbenennung des Platzes verschob der ÖVP-Bürgermeister nun wieder. Stattdessen genehmigt sich Mank nun eine einjährige Nachdenkphase über die Zukunft von Österreichs letztem Dollfuß-Platz.

…REDEN SOLLTE

HEERESREFORM WIRD REFORMIERT

Ein Jahr ohne Heeresreform ist ein verlorenes Jahr. Um auch ohne Budget Tatkraft zu demonstrieren, erarbeitet jeder Verteidigungsminister sogenannte Heeresreformen. Bei Klaudia Tanner (ÖVP) war es ab Juli 2021 so weit: Aus fünf Sektionen wurden drei Direktionen. Das Mastermind, Generalsekretär Dieter Kandlhofer, ist mittlerweile Geschichte, und nun auch seine Reform: Tanner hat Teile des 2021er-Organigramms wieder widerrufen, weil es in der Praxis einfach nicht funktionierte. 2023 steigt das Heeresbudget um 680 Millionen Euro. Hoffentlich geht sie damit weitsichtiger um.

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FOTOS: APA/GEORG HOCHMUTH, APA/HANS PUNZ, APA/HDG…/LORENZ
Du bist unser Küniglberg-Held! Ohne deine Hilfe hätten wir keine Pics bekommen. Danke nochmal. Chat-Affären
erschüttern Medienbranche, Seite 11
PAULUS, BMLV/DANIEL TRIPPOLT
AMS-Chef Johannes Kopf will bessere soziale Absicherung für Ukraine-Flüchtlinge

»In vielen Ländern würde man das, was in Österreich System hat, Korruption nennen"

ALEXANDRA FÖDERL-SCHMID, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG

Die Chefredakteure Rainer Nowak (Presse) und Matthias Schrom (ORF) sind ihre Ämter los. Von der Beziehungspflege zur Beißhemmung, von der Verhaberung zur Korruption: Woran krankt der Politik-Journalismus?

BERICHT:

JOSEF REDL, BARBARA TÓTH

ILLUSTRATIONEN:

PM HOFFMANN

Montag, 9.59 Uhr. Mit einem dürren Statement von gerade einmal drei Sätzen Länge gibt die Tageszeitung Die Presse bekannt, dass ihr Herausgeber und Chefredakteur Rainer Nowak seine Funktionen ruhend stellt. Montag, 11.17 Uhr. Mit einem fast so dürren Statement von gerade einmal acht Sätzen Länge gibt ORF-Generaldirektor Roland Weißmann bekannt, dass der Chefredakteur der ORFFernsehnachrichten Matthias Schrom „ab sofort“ seinen Urlaub antritt.

Rainer Nowak und Matthias Schrom zählen zu den mächtigsten Chefredakteuren des Landes. Nun sind sie selbst Gegenstand der Berichterstattung. Beiden Männern

wird vorgeworfen, dass sie für Spitzenjobs beziehungsweise die Aussicht darauf bereit waren, ihre journalistische Integrität aufzugeben. Zumindest ist das der Eindruck, der aus zahlreichen Chat-Nachrichten entsteht, die von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ausgewertet wurden.

Es waren nicht die Journalisten, die die Aufmerksamkeit der Ermittler erregt hatten, sondern ihre Gesprächspartner. PresseChefredakteur Rainer Nowak pflegte über Jahre hinweg einen vertrauten Umgang mit dem ehemaligen Generalsekretär im Finanzministerium Thomas Schmid. ORFChefredakteur Matthias Schrom tauschte

sich intensiv mit dem damaligen FPÖParteichef und Vizekanzler Heinz-Christian Strache aus.

Nicht nur für Nowak und Schrom, sondern auch für Österreichs innenpolitischen Journalismus wurde dieser Novembermontag zum Wendetag. Die Presse, das bürgerlich-konservative Blatt mit langer Tradition. Und der ORF, Inbegriff des öffentlich-rechtlichen Journalismus im Dienste des gebührenzahlenden Publikums. In ihrem 166 Seiten starken Auswertungsbericht dokumentiert die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft Verhabe-

Fortsetzung nächste Seite

POLITIK FALTER 45/22 11
„Danke für alles“

Fortsetzung von Seite 11

rung, Freunderlwirtschaft, Interventionismus, Willfährigkeit und Schleimerei. Medien, die vierte Macht, die Aufpasser der Politik? Von wegen. Zwei Chefredakteure stehen als Handlanger und Egomanen da, die auf Geheiß der Politik agieren, um Karriere zu machen.

Es ist ein Sittenbild, das dem in Verschwörungstheoretikerkreisen und rechtsextremen Medien immer wieder strapazierten Vorwurf der „Systemmedien“ gefährlich nahekommt. Politik und Medien? Die da oben, die richten es sich untereinander. Es ist auch eine Abrechnung mit der vergleichsweise kurzen Ära Kurz – und der nie eingestandenen Kritiklosigkeit vieler Medien ihm gegenüber. Kurz hat das typisch austriakische Spiel mit Nähe und Distanz nicht erfunden, aber perfektioniert. Er nannte seine Pressekonferenzen fortan „Hintergrundgespräche“, um nur ausgewählte Journalisten einladen zu müssen.

„Der regelmäßige Austausch mit Spitzenpolitikern“ gehöre „auch zum Jobprofil“ von Chefredakteuren, rechtfertigte Schrom sich und seine Kommunikation mit Strache: „Um eine Gesprächsbasis zu erhalten, habe ich mich als Chefredakteur der Tonalität und Sprache meines Gesprächspartners angepasst.“ Trotzdem war es eine Fehlleistung, eines ORF-Chefredakteurs unwürdig. Schrom gab der Politik damit das Gefühl, Übergriffe seien okay.

Matthias Schrom, 49, gebürtiger Innsbrucker, mit Vergangenheit im Privatradio und dann bei Ö3, schaffte es für viele überraschend auf einem FPÖ-Ticket 2018 noch unter Generaldirektor Alexander Wrabetz vom Redakteur zum Chefredakteur, verantwortlich für ORF 2 und damit für die Flaggschiffe der ORF-Information. Als „Blauer“ wäre er am Küniglberg nie aufgefallen. Aber weil er oftmals an Wahlabenden aus der blauen Parteizentrale berichtete, sah die FPÖ im geselligen Kumpeltyp Schrom, ORF-interner Spitzname „Schromsky“, offenbar „ihren Mann“. Aufsteiger Schrom hat durchaus seine Meriten. Er förderte viele junge Talente im Haus, er reichte keine der politischen Interventionen weiter, die auf einen Chefredakteur im ORF tagtäglich einprasseln. Aber um seine exponierte Position zu halten, biederte er sich an.

Konkret liest sich das dann so.

Am 14. Februar 2019, kurz vor Mitternacht, beschwert sich Strache mit einem Link zur TVthek über die „ZiB 24“ dieses Tages bei Schrom. Zu Gast an diesem Abend war Doron Rabinovici gewesen, es ging um das Thema Antisemitismus. „Das ist natürlich unmöglich“, schreibt Schrom Strache prompt zurück, um sich rauszureden: „Du weißt, ich bin ja nur für ORF 2 zuständig. ORF 1 (das noch viel linker ist) gehört ja Lisa Totzauer (und Wolfgang Geier).“ Schrom diffamiert beim Vizekanzler nicht nur seine Kolleginnen, er beklagt sich über Geldmangel und deponiert auch gleich Personalwünsche.

Der Chefredakteur als manipulativer Stichwortgeber der Politik, eine absolute Grenzüberschreitung. „Unser Problem ist ja auf gewisse Weise, dass uns (Hofer & mir) finanzielle Ressourcen weggenommen werden und in ORF 1 gesteckt werden. Also es wird grad mit Gewalt versucht, den maroden Kanal hochzukriegen. Ich wundere mich ja ehrlich schon lange, dass sich darüber, was dort inhaltlich abgeht, keiner aufregt.“ Und weiter: „Es ist schon bei uns ge-

Ich lass mir von niemanden vorschreiben, mit wem ich hock’, mit wem ich sauf, mit wem ich rauch’. Die Grenze ist überschritten, wenn man sich missbrauchen lässt

nug zu tun und jeden Tag mühsam, aber langsam wird’s, und die, die glauben, die SPÖ retten zu müssen, werden weniger.“

Dann geht’s ums Personal. Einen Job für eine Mitarbeiterin habe er „heute fixiert“. Und er empfiehlt Strache, für Moderator und Schauspieler Clemens Haipl bei ORF

1 zu lobbyieren: „Ich glaub, dort könnt sich Steger von Totzauer auch mal was wünschen – sie will ja immerhin Generalin werden.“ „Danke dir!!!!“, antwortet Strache und bittet nun Schrom um Strategieberatung. Wie solle er das bei Steger am besten angehen? Über Schrom oder selber? „Als Vizekanzler persönlich würd ich’s Steger geben, du brauchst ja eventuell noch Eskalationsstufen, bevor was auf Chefebene ist.“ Strache setzt Schroms Rat noch in derselben Nacht um, indem er fast wortgleich seine Nachrichten an Steger weiterreicht.

Jetzt liegt Schroms Schicksal in den Händen des ORF-Ethikrats, dem vier vom Generaldirektor ausgesuchte Journalisten angehören: Klaus Unterberger, Wolfgang Wagner, Eva Ziegler und Gabriele Waldner-Pammesberger. Sie sollen die weitere Verwendung von Schrom prüfen. Am Donnerstag soll der ORF-Redakteursrat ein Vertrauensvortum über Schrom abhalten. Es würde gegen ihn ausgehen. Oder Schrom kommt seiner Demontage zuvor und zieht sich von sich aus zurück.

Ähnlich könnte es auch Rainer Nowak ergehen, dessen Redaktionsrat sein Verhalten am Montag scharf verurteilte. Nowak, 50, stammt aus österreichischem JournalismusAdel. Sein Vater war APA-Chefredakteur, seine Mutter Ö1-Kulturjournalistin. Sich vernetzen, es sich mit allen richten, die Meinungs- und Nachrichtenlage der Hauptstadt in geschliffene Kommentare gießen, all das lernte er von klein auf. Dass er gerne ORFGeneraldirektor geworden wäre, war ein offenes Geheimnis. Wie weit er bereit war dafür zu gehen, weiß die Branche erst seit kurzem, dank des „Auswertungsberichts“ der WKStA. Nach einer anonymen Anzeige stand der Anfangsverdacht im Raum, dass Nowak für sich und seine Lebensgefährtin, die Managerin Valerie Hackl, bei Sebastian Kurz & Co interveniert habe.

Die Korrespondenzen zwischen Nowak und Schmid lesen sich, als wären die beiden nicht Journalist und Politiker bzw. Beamter, sondern „Best Buddies“ in einem schlechten Roadmovie. „Buben-Urlaub!“, frohlockt Nowak an einer Stelle, als ihm Schmid einen Ausflug auf das Weingut des Industriellen Stanislaus Turnauer anträgt. Die Familie Turnauer spendete regelmäßig sechsstellige Summen an die ÖVP, zwischendurch auch an FPÖ-nahe Vereine. Gemeinsame informelle Abendessen, zuerst ohne „Gattinnen“,

dann mit. Eine Geburtstagsfeier in Martin Hos X-Club, eine Geburtstagsparty auf Ibiza, Einladungen zu gemeinsamen Flugreisen. Berufs- und Privatinteressen werden von Beginn an von beiden konsequent vermischt. Ein gemeinsames Foto von Nowak und Kurz, beide sichtlich angeheitert, aufgenommen im Club Pratersauna, dokumentiert das.

Sehr früh beginnt Nowak, für sich selbst als ORF-Generaldirektor zu lobbyieren. Ende Jänner 2017 schreibt Thomas Schmid, damals Generalsekretär im Finanzministerium, an Nowak: „Ich will lieber Geld verdienen, als zu verwalten.“ – „Ich auch!!!“, antwortet Nowak. Nachsatz: „Wobei ORFChef geht schon.“ Schmid antwortet mit zwei Daumen-hoch-Emojis und einer Faust. Am 26. März 2019 erkundigt sich Nowak bei Schmid, wie dessen Hearing für die Funktion des Alleinvorstands der Bundesbeteiligungsholding Öbag gelaufen sei, berichtet der Standard als Erster. „Super“ und „echt gut“, antwortet Schmid „happy“ – was Nowak „sehr freut!!“. Schmid darauf: „Jetzt du noch ORF-Chef. Alter –dann gehts aber ab. Danke für alles.“ Nowak: „Ehrensache. Jetzt musst du mir bitte beim ORF helfen.“ Schmid: „Unbedingt.“

Im Juli 2018 reisen die beiden zu besagter Geburtstagsparty auf Ibiza. Im Vorfeld lästern sie über die Gästeliste. „Sonst noch Leute, die wir kennen? Politik?“, fragt Nowak. „Gott sei Dank keine Politik“, antwortet Schmid. „Aber von Claudia Stöckl bis Tarek Leitner alle da. Was wir niemandem sagen, dass wir mit denen feiern. Sonst sind wir tot bei den Türkisen.“ „Das glaube ich auch.“ „Dead as a Dodo.“ „Aber wir leisten dann Abbitte bei SK (gemeint ist Sebastian Kurz, Anm.).“ „Tarek Leitner hat angeblich bei der Party eine Rolle.“ „Moderiert wohl.“ „Als GD (Generaldirektor, Anm.) wirst ihn dann verräumen.“

Was noch schwerer wiegt als diese ungute Nähe und Eigenpromotion ist Nowaks Illoyalität gegenüber der eigenen Redaktion. Er konterkariert die Recherchen seiner Chefreporterin Anna Thalhammer; gibt Tipps, wie man am besten antwortet, wenn kritische Fragen aus seinem Haus kommen; und wehrt Interventionen nicht ab, sondern setzt sie um. Am 4. April 2018 beschwert sich Schmid bei Nowak wegen einer Online-Slideshow in seiner „Lieblingszeitung“

über die Generalsekretäre der Ministerien, in der er vorkommt. Er fühlt sich „fies“ behandelt. „Extrem gemein in Bezug auf meine Person. Ich habe keine Fachkompetenz?“

Nowak reagiert umgehend. „Rausgenommen die Formulierung!“

Anfang Jänner beschwert sich Schmid erneut über Recherchen Thalhammers zur Nebentätigkeit von Generalsekretären. „Antworte nur, dass es kein Nebenjob ist, sondern ein Aufsichtsratsmandat als Eigentümervertreter mit keinem Gehalt, sondern einfach Sitzungsgeld“, gibt ihm Nowak vor. Schmid war von Juli 2017 bis Juni 2021 Mitglied im Aufsichtsrat der Österreichischen Lotterien.

Aber Schrom und Nowak sind nicht die Einzigen, deren Fehltritte durch die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft jetzt öffentlich dokumentiert sind. In ihrem 166-Seiten-Bericht findet sich auch ein Chat Schmids mit dem damaligen ORF-Finanzdirektor Richard Grasl und der damaligen Fernsehdirektorin Kathrin Zechner vom 27. April 2014. Schmid will

Wo sind all diese Chats zwischen Politikern und Journalisten dokumentiert?

Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft hat Presse-Chef Rainer Nowak einen eigenen „Auswertungsbericht“ gewidmet. Nach einer anonymen Anzeige stand der Anfangsverdacht im Raum, dass Nowak für sich und seine Lebensgefährtin, die Managerin Valerie Hackl, bei Sebastian Kurz & Co interveniert hätte. Dieser Verdacht erhärtete sich nicht, die Ermittlungen werden zurückgelegt. Strafrechtlich sind die Chats also nicht relevant. Aber sie sind ein wichtiges, politisches Dokument. Im 166-Seiten langen Auswertungsbericht finden sich auch die Chat-Auswertungen, die ORF-Chefredakteur Matthias Schrom in Bedrängnis brachten. Und weiters jene Chats, die Kurier-Chefredakteurstellvertreter Richard Grasl und Unternehmer Alexander Schütz geschrieben haben

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Heinz-Christian Strache, Ex-FPÖ-Chef: chattete mit Matthias Schrom und Alexander Schütz über den ORF Thomas Schmid, türkiser Aufsteiger: chattete mit Rainer Nowak, Richard Grasl und vielen anderen
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für seinen damaligen Chef Michael Spindelegger (ÖVP) wohlwollende Berichterstattung. Und Grasl und Zechner funktionieren wie auf Knopfdruck. Grasl ist heute OnlineChefredakteur des Kurier, Zechner berät den ORF nach ihrem Ausscheiden weiterhin. Schmid will damals, dass Spindeleggers Besuch in Rom anlässlich der Heiligsprechung von Johannes XXIII. und Johannes Paul II. mehr Sendezeit in den ORF-Nachrichten bekommt, am liebsten wäre ihm ein Interview mit der Vatikan-ORF-Korrespondentin. Die „ZiB 13“ hat nicht darüber berichtet. Schmid bittet Grasl um Rückruf, der verweist auf Zechner, die ihn beruhigt, dass Spindelegger „groß und explizit“, „mit Handshake Papst“, in der Liveübertragung zu sehen gewesen sei. Schmid will mehr, Spindelegger soll in die wichtigste Nachrichtensendung des Tages, die „Zeit im Bild 1“. Grasl macht’s möglich. „Alles geklappt. ZiB 1 und Foto schon beim Kurier“, textet er an Schmid. Auch Zechner meldet Vollzug. Auch dieser Austausch endet mit typischer Buberl-Schulterklopferei. „Du bist der Beste! Danke dir für deine Hilfe heute. Ich weiß, dass das keine Selbstverständlichkeit ist“, schreibt Schmid. Darauf Grasl: „Für mich schon! That’s my job!“ Und Schmid: „Du bist unser Küniglberg-Held! Ohne deine Hilfe hätten wir keine Pics bekommen. Danke nochmal.“

Diese Episode stammt aus dem Jahr 2014. Damals war die große Koalition im Amt. SPÖ und ÖVP ritterten um Sendezeit im ORF, zur Aufgabe von Pressesprechern wie Schmid gehörte es, zu intervenieren. Dass Redakteure wie Pressesprecher „rote“ und „schwarze“ Auftritte mit der Stoppuhr maßen, war absurder Alltag. Aber der ORF als solcher wurde nicht infrage gestellt. Er galt beiden Volksparteien als willfähriges Instrument. Mit Regierungsantritt von Sebastian Kurz und der FPÖ als kleinem Koalitionspartner 2017 änderte sich das. Die FPÖ wollte den ORF weiter disziplinieren, indem sie die Rundfunkgebühren abschafft und ihn aus dem Budget finanziert – und damit abhängiger von der Regierung macht.

Während das offizielle Regierungsprogramm nur von einer „Erarbeitung von Leitlinien für ein ORF-Gesetz neu“ spricht, steht in einem geheimen Sideletter: „Es gibt Einvernehmen darüber, dass die ORF-Gebühren unter Voraussetzung budgetärer Machbarkeit in das Budget des Bundeshaushaltes übergeführt werden. Den Zeitpunkt vereinbaren die beiden Koalitionspartner gemeinsam.“ Die ÖVP sah ihre Chance gekommen, den ORF einzuschwärzen, weil die Blauen zu wenig ihnen nahestehende Journalisten zur Postenbesetzung aufbieten könnten. In einem türkis-blauen Sideletter waren die Postenbesetzungen am Küniglberg durchpaktiert: „Geschäftsführung bei gesamter Neubestellung: 3:2 (GD (Generaldirektor, Anm.) +2 VP, 2 FP)“; nach einem neuen ORF-Gesetz, das sich Türkis-Blau vorgenommen hat: „VP:GD (mit Dirimierungsrecht) + 1, FP: 2“.

Für ORF Online sei ausgemacht, dass zuerst Gerhard Jelinek (ORF), danach Johanna Hager (Kurier) Chefredakteurin werden sollen, schreibt Herbert Kickls Kabinettschef Anfang Mai 2019 an Strache. Von Nowak als ORF-General ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr die Rede. Er war der FPÖ suspekt, weil er „seinen Zivildienst freiwillig beim Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands abgeleistet hat“,

wie der damalige ORF-Stiftungsratsvorsitzende Norbert Steger (FPÖ) empört in einer blauen Chat-Gruppe schreibt.

Die Ermittler widmen dem „Zufallsfund ORF“ reichlich Raum, wohl auch im Bewusstsein, was für eine demokratiepolitisch bedenkliche Gesinnung sich hier zeigt. Der Hass auf den ORF reicht nicht nur tief in blaue Kreise, sondern auch ins sogenannte Bürgertum. Im März 2019 gratuliert Alexander Schütz – Investor und ÖVP-Großspender – dem damaligen FPÖ-Chef und Vizekanzler Heinz-Christian Sprache zu dessen ORF-Politik. „Das rote Zeckenparadies geht allen auf die Nerven“, schreibt Schütz an Strache. „Und die APA (Austria Presse Agentur, Anm.) gehört auch aufgeräumt!“ Das Ehepaar Schütz verwirklichte seine Medienambitionen auf andere Art.

Schütz’ Frau Eva gründete Anfang 2021 das rechtskonservative Onlineportal Exxpress.

Kurt Vorhofer, langjähriger Leiter der Wiener Redaktion der Kleinen Zeitung und Namensgeber eines renommierten innenpolitischen Journalistenpreises, den Rainer Nowak übrigens 2013 erhielt, beschrieb dieses Verhältnis 1994 so: „Sicherlich gibt es keine allgemein gültige Formel für die Beziehungspflege zwischen Politikern und Journalisten. Die Realität ist hier sehr bunt, und in gewissen Fällen mag es auch so etwas wie eine Symbiose geben.“ Auf dem Wiener Parkett kennt jeder jeden. Viele Journalistinnen und Journalisten sind mit Politikern per Du. Aus ehemaligen „Kofferträgern“ werden mächtige Beamte, wie im Fall Schmid. Alexander Schallenberg war binnen fünf Jahren der zweite Kanzler, dessen Karriere als Pressesprecher begann. Der erste war Christian Kern. Man kennt einander über Jahrzehnte, das Du-Wort wurde irgendwann in den Anfängen bei einem Kennenlern-Kaffee oder After-Work-Drink gegeben, die Grenzen zwischen beruflicher und privater Konversation verschwimmen.

„Beziehungspflege“, wie es Vorhofer nannte, war über Jahrzehnte hinweg Teil des Jobs, vor allem im innenpolitischen Journalismus. Bevor soziale Medien wie Twitter zum Marktplatz der Meinungsbildung wurden und man gewissermaßen auf dem Bildschirm mitlesen konnte, was sich Akteure über ein Ereignis gerade dachten, gehörte der persönliche Kontakt zur Pflichtübung für angehende Politikjournalisten. Wer Hintergründe erfahren wollte, die bei der Einordnung helfen, oder an Geschichten rankommen wollte, die andere noch nicht hatten, musste sich ein eigenes Informantennetzwerk aufbauen.

Wenn dabei das Du-Wort ausgetauscht, einmal über die Familie oder Urlaubspläne geplaudert wird, führt das noch nicht zur Verhaberung. Sie beginnt, wenn beide – Journalist wie Politiker – wie im Falle Nowak/ Schmid ihr Rollenverständnis überschreiten. Wenn nicht mehr Informationen und Interessen gehandelt, sondern gemeinsame Pläne geschmiedet werden. „Ich lass’ mir von niemandem vorschreiben, mit wem ich hock’, mit wem ich sauf’, mit wem ich rauch’. Die Grenze ist überschritten, wenn man sich missbrauchen lässt“, formulierte es der Ex-ORF-Informationsdirektor Elmar Oberhauser einmal im Falter-Interview. „In vielen Ländern würde man das, was in Österreich System hat, Korruption nennen“, kommentiert das die langjährige StandardFortsetzung nächste Seite

Rainer Nowak, suspendierter Presse-Chef: besprach persönliche Karrierewünsche mit politischen Machthabern

Matthias Schrom, suspendierter ORFInfo-Chef: gab Strache mitternächtliche Tipps, wen er im ORF protegieren soll

Richard Grasl, stellvertretender KurierChefredakteur: nahm Interventionen von Schmid anstandslos entgegen

Wolfgang Fellner, Österreich-Chef: Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Österreich-BeinschabTool

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FOTOS:
ILLUSTRATION: PM HOFFMANN
APA-OTS/GEORG WILKE, APA/HARALD SCHNEIDER, DIE PRESSE/CHRISTINE PICHLER, APA/ORF, /THOMAS RAMSTORFER, APA/GEORG HOCHMUTH, APA/ HERBERT NEUBAUER,

Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid, heute in der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung.

Es ist eine staatlich hochgepäppelte Korruption. Denn die üppigen Inserate aus öffentlicher Hand, für die Steuerzahler aufkommen und die Politiker verteilen, fördern dies. Daran ändert die eben in Begutachtung verschickte Novelle zum Medientransparenzgesetz nichts. Inserate müssen jetzt nur ab dem ersten Euro dokumentiert werden, eine Deckelung oder einen Systembruch bringt die Reform nicht.

„Dazu trägt bei, dass manche Chefredakteure in Österreich gleichzeitig die Geschäftsführer ihrer Zeitungen sind und neben publizistischer auch kommerzielle Verantwortung tragen“, so Föderl-Schmid. „Und bitte macht noch einmal die Akademie mit uns. Ist für die 17er Bilanz wichtig“, textet Rainer Nowak im August 2018. „Akademie – ok!!“, antwortet Thomas Schmid. Dabei dürfte es sich um eine Kooperation zwischen der Presse und dem Finanzministerium handeln.

Das Aufräumen in Österreichs kleiner Medienpolitikblase stand schon lange an. Es fällt in eine prekäre Phase. Das Vertrauen in die Medien ist im letzten Krisenjahrzehnt gesunken, parallel zum Aufstieg von Direktmedien, den idealen Plattformen für Verschwörungserzähler, für die Medienkritik ein wichtiges Agitationsfeld ist. Ihre Propaganda wirkt. Immer mehr Menschen fühlen sich von der „Elite“, die sie als Klüngel von Politik und Medien wahrnehmen, nicht mehr verstanden. In der Flüchtlingskrise 2015 entfremdeten sie sich wegen des anfänglichen „Wir schaffen das“-Schulterschlusses von Regierung und Qualitätspresse. In der Pandemie fühlten sie sich von der „Systempresse“ bevormundet. Nur vier von zehn Befragten sagen laut einer Studie der Oxford-Universität, dass sie den Nachrichten die meiste Zeit vertrauen. Österreich liegt im Durchschnitt. Aber auch hier glaubt jeder Fünfte, man könne Berichterstattung „kaufen“. Als Ursache dafür nennen die Forscherinnen und Forscher mutmaßlich gekaufte Umfragen und Berichte bei Wolfgang Fellners Medium Oe24.

Zuletzt – mit der Invasion Russlands in die Ukraine sowie Teuerungs- und Energiekrise – kam ein neues Phänomen dazu: das der Nachrichtenvermeidung, aus Überforderung, Erschöpfung, oder weil es emotional belastet. Mit der Medienkorruption ist es nicht viel anders als mit Politikkorruption. So wichtig Aufdecken und Aufarbeiten sind, am Ende wenden sich noch mehr Menschen ab. Es steigen die Politikverdrossenheit und dazu auch der Medienfrust. „Die sind alle so“, bleibt über.

Nach Ibiza war es zuerst vor allem die FPÖ, die sich rechtfertigen musste. Hatte doch FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache auf Ibiza vor der falschen Oligarchin geprahlt, wie er mit ihrem Geld die Kronen Zeitung auf Linie bringen würde und dann das ganze Land. Die Krone warf jenen Journalisten, den Strache ostentativ gelobt hatte, aus dem Haus. Sein Name: Richard Schmitt, mittlerweile Chefredakteur des Exxpress. Damit schien das Blatt der Familie Dichand fürs Erste aus dem Spiel.

Die Staatsanwaltschaft ermittelte weiter und stieß auf 300.000 Chat-Nachrichten, die der Vertraute des damaligen ÖVP-Chefs Sebastian Kurz, Thomas Schmid, an das Who’s who des Wiener Parketts geschrieben hatte. Sie wiesen den Weg zum zwei-

ten großen Komplex, diesmal traf es Kurz’ engstes Umfeld und die ÖVP und den größten Konkurrenten der Dichands am Boulevardmarkt: Wolfgang Fellner und sein Blatt Österreich. Umfragen fälschen, beim Fellner platzieren und mit Inseraten bezahlen, all das aus den Töpfen des Finanzministeriums. Das sogenannte „Beinschab-Österreich-Tool“ brachte Kurz politisch zu Fall und machte Fellner, schon zuvor nach Vorwürfen sexueller Belästigung unter Druck, endgültig zum Paria der Branche. Sein Lebenswerk, immerhin ist er einer der erfolgreichsten Medienunternehmer des Landes: zerstört.

Nowak, Schrom, Fellner sind nicht die letzten Chefredakteure, für die Chats mit hochrangigen Politikern und Bürokraten sehr unangenehm werden könnten. Die Ermittlungen im Ibiza-Komplex laufen noch. Nach drei Jahren sind sie im Zentrum der österreichischen Medienwelt angekommen. „So sind wir nicht!“, das geflügelte Wort, mit dem Bundespräsident Alexander Van der Bellen nach Ausbruch der Affäre im Mai 2019 das Land in Schutz nahm, lahmt. So sind wir, zumindest einige von uns.

Diese Chefredakteure sind der Beweis für grobe Schwächen im österreichischen politmedialen System. Es beginnt bei einer europaweit einzigartigen öffentlichen Anzeigenpolitik und endet beim nach wie vor fatal verpolitisierten ORF. Zusammen mit der Überschaubarkeit des Landes, in dessen Hauptstadt die handelnden Personen sich alle kennen wie in einem Bergdorf, ergibt das den besten Humus für Korruption. Es bräuchte mehr als Suspendierungen und Aufrufe zur Besserung. Es bräuchte einen Reset bei Sitten und Kultur. „Mani pulite“, in der Politik wie in den Medien.

Die Debatte, was jetzt und wie weiter, beginnt gerade erst. Nach den herrschenden ORF-Gesetzen, Compliance-Regeln, EthikKodizes und Redaktionsstatuten war das Verhalten von Nowak, Schrom, Grasl & Co schon bisher verboten. Österreichs Journalistenvereinigungen diskutieren nun, ob sie selektiven Hintergrundgesprächen geschlossen fernbleiben sollen und stattdessen – ähnlich wie in Deutschland bei der Bundespressekonferenz – selbst Politikerinnen und Politiker zu Pressekonferenzen einladen, statt eingeladen zu werden.

Die Journalistengewerkschaft verlangt, dass Redaktionen in ihren Statuten das Recht bekommen sollen, Chefredakteure nicht nur zu wählen, sondern auch abzuwählen. In vielen Redaktionen gibt es nicht einmal ein Redaktionsstatut. Im ORF wünscht man sich schon lange ein kritisches Medienmagazin, so wie „Doublecheck“ auf Ö1. Und Talkrunden wie die „Runde der Chefredakteur:innen“ wollen ihre Einladungspolitik überdenken. „Reporter ohne Grenzen Österreich“ richtet eine Art WhistleblowerPlattform ein, in der Journalisten Missstände in ihren Häusern anonym melden können. Der Standard startet einen Blog namens „So sind wir“, in dem die Redaktion interne Zweifel offenlegen will.

Mehr Selbstbewusstsein und Korpsgeist unter den Medienmenschen ist aber nur ein Ansatz. Derzeit verhandeln ÖVP und Grüne über eine Reform des ORF. Dabei geht es um Fragen der Digitalisierung. Das Gebot einer echten Entpolitisierung des ORF, vor allem seines Stiftungsrates, der immer noch von der Politik beschickt wird, war noch nie so evident. F

Alexander Schütz, Unternehmer: lobte Strache dafür, im „roten Zeckenparadies ORF“ und „APA aufzuräumen“

Und sonst noch?

Einen Monat nach der Präsentation schickte die Regierung vergangenen Freitag ein Mediengesetzespaket in Begutachtung. Am umstrittensten ist sicher die Einrichtung einer Journalismusschule im Kanzleramt. Im Entwurf wird die Wiener Zeitung zu einem „Aus- und Weiterbildungsmedium“ umdefiniert. Vorgesehen dafür sei die Einrichtung eines „Media Hub Austria“, der Ausbildungs- und Weiterbildungsprogramme sowie Praxisplätze bereitstelle, um „(angehende) Journalistinnen und Journalisten auf zukünftige Erfordernisse des Medienmarkts vorzubereiten“.

Der Presseclub Concordia lehnt die Pläne der Bundesregierung für die Wiener Zeitung ab. Der Kern des Entwurfs bestehe in der Einrichtung einer staatlich kontrollierten Aus- und Fortbildung von Journalisten sowie der unzulässigen Vermischung von amtlicher PR mit journalistischer Arbeit

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ILLUSTRATION:
PM HOFFMANN FOTO: C-QUADRAT
Fortsetzung von Seite 13

Auf Du und Du mit Who’s who und trotzdem verloren

Trotz einer erfolgreichen Karriere als diplomatische Korrespondentin des Guardian bleibt Hella Pick auch mit 93 ein entwurzeltes Kind

REZENSION: TESSA SZYSZKOWITZ

Am 3. Dezember 1989 wartete Michail Gorbatschow auf dem sowjetischen Kreuzfahrtschiff Maxim Gorki vor Malta auf US-Präsident George Bush senior. Da dieser wegen hohen Seegangs nie eintraf, plauderte der Sowjetreformer eben mit seiner Frau Raissa. Und mit Hella Pick. Mit wem auch sonst.

Wer die Memoiren der britisch-österreichischen Journalistin liest, lernt schnell: Hella Pick war im Laufe ihrer langen Karriere als diplomatische Korrespondentin der britischen Tageszeitung The Guardian überall, wo auf diesem Globus Außenpolitik gemacht wurde. Dass sie in diesem Job die erste Frau war, macht ihre Karriere umso bemerkenswerter. Ihre Autobiografie „Unsichtbare Mauern“ ist gerade erschienen –einfühlsam von Jacqueline Csuss ins Deutsche übersetzt.

Einzelne Kapitel lesen sich wie ein Who’s who der Weltpolitik während des Kalten Krieges: Willy Brandt, Lech Wałęsa, Nicolae Ceaușescu – mit dem rumänischen Diktator war sie in der Downing Street beim damaligen britischen Regierungschef James Callaghan zum Mittagessen eingeladen. Der polnische General Wojciech Jaruzelski überraschte sie mit einem Strauß roter Rosen.

Es war ihr nicht in die Wiege gelegt worden, eine der wichtigsten Journalistinnen des Vereinigten Königreichs zu werden. Geboren wurde Hella Pick in eine jüdische Familie in Wien. Ihre Mutter schickte sie im März 1939 mit einem Kindertransport nach England. Nach dem antijüdischen Pogrom im November 1938 hatte die britische Regierung zugestimmt, jüdische Kinder aufzunehmen, die von britischen Familien oder Organisationen gesponsert wurden. 10.000 Kinder wurden so gerettet.

Die elfjährige Hella kam mit der Nummer 4672 in der Liverpool Street in Lon-

don an und begrüßte ihre Leihfamilie mit dem einzigen Wort, das sie auf Englisch kannte: „Goodbye.“

Dem Kind war nicht bewusst, dass es noch Glück im Unglück gehabt hatte. Die ersten Jahre waren hart. Ihre Mutter Hanna konnte ihr bald nach England folgen. Hanna musste sich als Köchin bei einer Familie verdingen. Höhere Bildung für die Tochter war nicht vorgesehen. Doch Hella setzte sich mit eisernem Willen durch. Sie studierte an der London School of Economics und fand ihren ersten Job als Journalistin beim Magazin West Africa. Ab 1960 arbeitete sie für The Guardian, das Flaggschiff des linksliberalen Qualitätsjournalismus. Zuerst als UN-Korrespondentin in New York, dann als diplomatische Korrespondentin.

„Mein Gedächtnis ist ein Sammelsurium aus Scherben und Schnipseln“, bekennt die heute 93-jährige Doyenne des britischen Journalismus. Dabei arbeitet sie immer noch. Alan Rusbridger, der sie in seiner Zeit als Chefredakteur des Guardian 1996 in den Ruhestand zwang, ist inzwischen selbst abgelöst worden. Er leitet jetzt das Monatsmagazin Prospect Magazine und Pick liefert ihm spezielle Features. Letztens war sie bei Edmund de Waal im Studio, dem ebenfalls austrobritischen Autor von „Der Hase mit den Bernsteinaugen“.

So verbindet Hella Pick alles, was ihr lieb ist: den Journalismus und ihre beiden Heimaten Großbritannien und Österreich. „Meinem Bündel an Identitäten sind die greifbaren Prioritäten abhanden gekommen“, bekennt sie am Ende ihrer Erinnerungen. Österreich hat sie als Jüdin verfolgt, der Brexit hat sie als Europäerin abgestoßen, das Jüdische hat ihr nie den Anker gegeben, den sie vor 2016 als Britin hatte. Die Unsicherheit des entwurzelten Kindes ist ihr geblieben. So schließt Picks Buch, wie es begann. Hinter unsichtbaren Mauern, die sie trotz aller Erfolge nie hat einreißen können.

Hella

Gelesen Bücher, kurz besprochen

Österreich den Spiegel vorgehalten Wenn Paul Lendvai über Österreich schreibt – und das macht er häufig –, dann ist es eine Hommage an das Land, das ihn 1957 nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands aufgenommen hat. Nach der Lektüre seines neuesten Buches „Vielgeprüftes Österreich“ ist die Beziehung zwischen dem Autor und Österreich deutlich abgekühlt.

Zuletzt hat es zu viele negative politische Entwicklungen gegeben, die Lendvai nicht hinnehmen will: Es war vor allem die Ära von Sebastian Kurz, die den international bekannten Journalisten, Publizisten und Fernseh-Moderator empört. Er fragt sich, was vom begabten Politiker Kurz, der die ÖVP in einen Rauschzustand versetzt hatte, übrig geblieben ist.

Es war „ein Spiel mit dem Nichts“, zitiert Lendvai den Schriftsteller Thomas Stangl. Das Kapitel über den ehemaligen Polit-Star beendet Lendvai mit der Feststellung: „Das Endkapitel der Ära Kurz wird von den Gerichten geschrieben.“

Veranstaltungshinweise: Buchpräsentation im Jüdischen Museum am 10. 11., 18.30 Uhr. Wiener Vorlesung im ORF RadioKulturhaus am 24. 11., 19.00 Uhr

FEUILLETON Neue Bücher 34

Die besprochenen Bücher können Sie über Ihre Buchhandlung, aber auch über unsere Website erwerben, die alle je im Falter erschienenen Rezensionen bringt www.falter.at/ rezensionen

Der Autor analysiert nicht nur den aktuellen Zustand der Republik, sondern spannt einen inhaltlichen Bogen vom HabsburgErbe über die Erste Republik bis hin zur Zweiten Republik mit ihren prägenden politischen Akteuren und Persönlichkeiten.

Auch über die Zeit nach Ende des Zweiten Weltkrieges zieht der ehemalige Financial Times-Korrespondent eine zwiespältige Bilanz. Zu lange habe sich Österreich Zeit gelassen, seine Nazi-Vergangenheit zu thematisieren, zu einer Identität zu finden und sich mutig international zu öffnen. Bruno Kreisky, mit dem Lendvai engen Kontakt pflegte, würdigt er als Ausnahme. Positiv bewertet er auch das politische Wirken von Hannes Androsch sowie Franz Vranitzky. Vonseiten der ÖVP hebt er besonders Alois Mock, Erhard Busek und Erwin Pröll hervor sowie die Machtpolitik und die „politischen Meisterstücke“ von Wolfgang Schüssel. Überraschend viel Lob gibt es für die grünen Regierungsmitglieder in der Koalition mit der ÖVP. Euphorisch äußert sich Lendvai über Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Zahlreiche Anekdoten aus dem langen Leben Lendvais bereichern die Lektüre.

MARGARETHA KOPEINIG

Paul Lendvai: Vielgeprüftes Österreich. Ecowing, 307 S., € 26,–

IHR THERAPIESYSTEM FÜR ALLE SCHWEREGRADE DES TROCKENEN AUGES

Intensive und langanhaltende Befeuchtung dank hochwertiger Hyaluronsäure* Hoch ergiebig (mind. 300 Tropfen*) – garantiert niedrige Therapiekosten

Konservierungsmittel- und phosphatfrei 6 Monate nach Anbruch verwendbar

POLITISCHES BUCH FALTER 45/22 15
Pick: Unsichtbare Mauern. Autobiografie. Czernin, 440 S., € 28,–
Hersteller: , Industriestraße 35, 66129 Saarbrücken; Vertrieb Österreich: URSAPHARM Ges.m.b.H., 3400 Klosterneuburg, www.ursapharm.at URSAPHARM Arzneimittel GmbH Informationen, Tipps & Tricks unter hylo.at *bei Augentropfen

Als die Schleier im Iran Feuer fingen

Am 16. September starb die 22-jährige Iranerin Mahsa Amini in Polizeigewahrsam. Seither hat eine gewaltige Protestwelle die Islamische Republik erfasst. Der Falter hat junge Frauen, Aktivisten und ehemalige Häftlinge quer durch den Iran befragt, was sich für sie seither geändert hat. Protokolle aus einem hoffnungsvollen Land

Da ist zum Beispiel dieses Video, das sich die Iranerinnen und Iraner gegenseitig schicken, in denen sich junge Männer an spazierende Mullahs in wallenden Gewändern heranschleichen. Sie stoßen ihnen ihre Turbane vom Kopf und rennen, so schnell sie nur können, davon. Verschiedene Straßen, verschiedene Burschen, verschiedene Mullahs. 2:20 Minuten Filmaufnahmen, unterlegt mit dem Lied „I Want to Break Free“ von Queen.

Oder Frauen, die ohne den obligatorischen Hijab auf die Straße gehen.

Oder Schülerinnen, die ihre langen Zöpfe zeigen und den Konterfeis der islamistischen Revolutionsführer den Mittelfinger entgegenstrecken.

Oder junge Frauen, die auf der Straße tanzen und musizieren. All das ist strengstens verboten in der Islamischen Republik. Sie tun es trotzdem. Es ist ziviler Ungehorsam, Widerstand gegen das islamistische Regime. Manche reden gar vom möglichen Beginn einer Revolution.

Den Ursprung nahmen die Proteste, nachdem Mahsa Amini in Gewahrsam an

den Folgen polizeilicher Misshandlung gestorben war. Sie soll ihren Hijab, ihr Kopftuch, nicht korrekt getragen haben. Der Aufruhr am 16. September verwandelte sich in eine Bewegung ohne Führung, aber mit einem klaren Ziel: das islamistische Regime zu stürzen.

Der Falter hatte mit fünf Iranerinnen und Iranern aus verschiedenen Landesteilen Kontakt. Teils auf Englisch, teils mithilfe einer Dolmetscherin erzählten sie von ihrem Alltag und davon, wie sich ihr Leben seit dem Tod Mahsa Aminis geändert hat. Der Austausch fand unter der Zusicherung von Anonymität statt, denn den Iranerinnen und Iranern ist es verboten, mit ausländischen Medien in Kontakt zu treten.

Aus Sicherheitsgründen dürfen weder ihre Namen noch ihre Wohnorte oder andere Details genannt werden.

Ihre Geschichten stehen stellvertretend für viele Menschen, die für Freiheit ihr Leben riskieren, es sind Augenzeugenberichte über die Brutalität in einem unterdrückten Land. F

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PROTOKOLLE: NINA BRNADA
FOTOS: SOCIAL MEDIA/ZUMA/PICTUREDESK.COM; ESTEBAN FELIX/AP/PICTUREDESK.COM
Iranerinnen und Iraner bei den Protesten gegen die Sittenpolizei und das islamistische Teheraner Regime

ich das Haus tagtäglich ohne Hijab“

Aus Protest schneiden sich die Iranerinnen ihre Haare öffentlich ab

Einzelhaft bedeutet ein kleiner Raum ohne Klo. Wenn du aufs Klo musst, musst du klopfen und rufen. Dann werden dir die Augen verbunden, und du darfst nur flüstern.

Du hast vier Wände und drei Militärdecken. Auf einer liegst du, mit einer deckst du dich zu und eine verwendest du als Kopfkissen. Politische Gefangene foltern sie physisch nicht mehr, der Druck internationaler Organisationen wie Amnesty International hat das, soweit ich weiß, größtenteils abgestellt.

Das gilt jedoch nicht für die Jungen, die heute frisch auf der Straße verhaftet werden. Du liegst also da und denkst an all die vielen Menschen, die vor dir hier lagen, in deiner Kammer gefoltert und ermordet wurden.

Sie kommen zu unterschiedlichen Zeiten, um dich zu holen und dich zu befragen, immer und immer wieder. Sie wollen dich dazu bringen, dass du aussagst. Sie wollen, dass du dein Handypasswort verrätst, damit sie sehen, wen du und wer dich kontaktiert hast. All die Monate haben sie es bei mir probiert, aber nicht geschafft.

Nach einem Monat kam ich zu den anderen Frauen, wir waren zu fünfzigst in drei Zimmern auf Stockbetten. Alle depressiv, alle voll mit Beruhigungstabletten. Jene, die Geld haben, kaufen sich Nahrungsmittel in einer Art Gefängnisshop. Alle anderen werden krank vom Gefängnisessen.

Wenn du rauskommst, bist du depressiv, und die Depression bleibt ein Teil von dir. Du findest nicht mehr ins normale Leben zurück. Du findest keine Arbeit mehr, weil du vorbestraft bist, das heißt, du hast kaum Geld. Niemand will bei dir anstreifen, du bist sozial isoliert. Einzig mit denjenigen, die auch im Gefängnis waren, deinen Mitstreiterinnen, bleibst du eng.

Eine Person, die mir sehr nahe steht, wurde zu mehreren Jahrzehnten Haft verurteilt. Sie blieb mehr als ein halbes Jahr in Einzelhaft. Ein halbes Jahr ist die Grenze des Wahnsinns. Dieser Mensch braucht medizinische Hilfe, doch die kriegt er nicht. Anstatt ihn zu behandeln, wurden ihm neun Zähne gezogen. Sein Zahnfleisch ist stark infiziert.

Seit Mahsa Aminis Tod haben sich die Haftbedingungen verschlechtert, Besuche sind kaum möglich. Bei den Telefonaten ist diese Person aber dennoch heiterer als sonst. Die Häftlinge bekommen mit, was draußen passiert, auch durch die neuen Insassen.

Die Freiheit ist nicht mehr weit entfernt, sagen sie, wenn sich jetzt sogar die Schülerinnen und Schüler auflehnen. Jetzt sagen sie: „Es ist nicht die Zeit, Angst zu haben.“

Es war einer der letzten Tage des Sommers, mein Mann und ich machten mit Freunden einen Ausflug in einen Vorort von Teheran. Ich denke, es war mein Mann, der als Erster die Meldung von Mahsa Aminis Tod auf Instagram entdeckte. Wir fingen alle zu weinen an. Seither hatten wir keinen normalen Tag mehr. Seither läuft bei uns den ganzen Tag der Fernseher, der Kanal Iran International, den wir aus London über Satellit empfangen. Wir können kaum schlafen, wir fühlen keine Freude, den Geburtstag meines Mannes haben wir nicht gefeiert. Wir sind traurig wegen Mahsa, wir sind traurig, weil unsere Regierung junge Demonstranten tötet.

Früher ging ich nie zu Protesten, ich war nie politisch aktiv, ich war stets eine pflichtbewusste Bürgerin. Jetzt aber gehe ich auf die Straße, und bei all unseren Familientreffen reden wir nur über Revolution.

Früher war ich wegen der Blicke der Sittenpolizei stets besorgt, wenn ich in der Öffentlichkeit war. Zwar wurde ich niemals aufgehalten, das Kopftuch trug ich stets korrekt. Aber ich spürte immer diese Anspannung in mir. Heute jedoch verlasse ich das Haus tagtäglich ohne Hijab.

Bisher hat mich niemand darauf angesprochen. Der Polizei scheint der Hijab dieser Tage egal zu sein. Ich habe trotzdem Angst. Uns drohen Gewalt und Gefängnis. Ich fühle die Angst, aber zugleich auch Mut. Denn ich sehe auch all die anderen Frauen auf der Straße, die so sind wie ich, auch ohne Hijab; die genauso wie ich zeigen wollen, dass sie Teil der Bewegung sind. Wir lächeln einander zu und wir fühlen uns mächtig. Es gibt kein Zurück.

EHEMALIGE GEFÄNGNISINSASSIN, 53 JAHRE ALT Fortsetzung nächste Seite

Weltweit schneiden sich Frauen als Geste der Solidarität mit den Iranerinnen die Haare ab

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„Heute jedoch verlasse
„Jetzt ist nicht die Zeit, Angst zu haben“
FOTO: FERNANDO SANCHEZ/ZUMA/PICTUREDESK.COM

Wenn sie dich verhaften, setzen sie dich psychisch unter Druck. Sie sagen, dass sie zu deiner Familie gehen werden, dass sie deine Frau vergewaltigen und ihr den Kopf abhacken werden.

Viele meiner Freunde wurden gefoltert, ich selbst nur einmal verprügelt. Es passierte, nachdem ich bei einer Versammlung verhaftet worden war. Sie zwangen mich, Wassermelonen in rauen Mengen in mich hineinzustopfen. Ich musste schließlich dringend auf die Toilette, doch sie ließen mich nicht. Ich hämmerte an die Tür, der Harndrang wurde dermaßen stark, dass ich vor Schmerzen geschrien habe. Dann kamen sie herein und droschen mir mit Fäusten und Füßen in die Eier, auf die Nase und in den Bauch. Ich habe mich eingenässt, und genau das war es, was sie wollten – die psychische Erniedrigung.

Aber wer jetzt zuhause bleibt und nicht zu den Protesten geht, ist ein Verräter. Ein Verräter an sich selbst und am gesamten iranischen Volk.

Als die Nachricht von Mahsa Aminis Tod kam, ging ich sofort auf die Straße. Dort waren vor allem Frauen. Die Menschen haben es satt, dass ihre Töchter und Söhne misshandelt und ermordet werden.

Wir alle sind viel offener und mutiger als vorher, wir reden in der Öffentlichkeit viel mehr über das, was passiert, bei der Arbeit, auf der Straße. Besonders die Frauen schreiten voran, sie rennen jetzt ohne Hijab auf der Straße, unter den Augen der Polizei. Früher wäre das alles undenkbar gewesen.

Wir sind wie Glut unter der Asche. Wir gehen auf die Straße, wenn es Aufrufe gibt, und wir gehen auch auf die Straße, wenn uns niemand aufruft.

Seit 15 Jahren bin ich politisch aktiv, ich prangere vor allem fehlende Arbeitnehmerrechte an. Vielerorts werden die Menschen für ihre Arbeit nicht bezahlt, darauf versuche ich mithilfe von anderen Aktivisten aufmerksam zu machen. Es ist quasi unmöglich, sich auf herkömmliche Weise zu organisieren, also sind wir vor allem im Internet aktiv.

Die Menschen im Iran informieren sich sehr viel übers Internet, und sie schauen per Satellit ausländische Fernsehsender, etwa BBC Persian oder Iran International. Eigentlich sind Satellitenschüsseln und der Empfang fremder Sender verboten, früher wurden sie auch von den Behörden regelmäßig von den Dächern abmontiert und eingesammelt. Doch das hat vor Jahren aufgehört. Sie kommen nicht mehr nach, also drücken sie beide Augen zu. So ähnlich war es früher auch mit dem Verleih von VHS-Kassetten – wenn man einen Film schauen wollte, rief man eine Art Zustell-Videothek an und bekam bald darauf die Box mit dem Streifen vor die Haustür geliefert. Das war illegal, doch irgendwann tat das Regime so, als würde es das alles nicht mitbekommen.

AKTIVIST, 36 JAHRE ALT

Seit Jahren bin ich Lehrergewerkschafter, meine Kollegen und ich waren schon bei vielen Protesten dabei. Ich wurde verhaftet, einmal fielen sieben oder acht Polizisten über mich her. Sie haben mich dermaßen misshandelt und mit einer Wucht an mir gezerrt, dass dabei mein Hosengürtel gerissen ist.

Doch so eine Bewegung, wie wir sie jetzt sehen, hat es noch nie gegeben. Heute lernen wir Lehrer von unseren Schülern, was Mut und Standhaftigkeit bedeutet. Was wir Alten früher indirekt gefordert haben, fordern unsere Jungen heute ganz direkt. Sie skandieren „Frauen, Leben, Freiheit“, sie fordern den Tod des Diktators, sie reißen die Bilder des Revolutionsführers Chomeini und des jetzigen Obersten Führers Chamenei in den Klassenzimmern herunter. Die Mädchen noch mehr als die Burschen.

Ich selbst unterrichte nur Burschen. Spätestens mit der sechsten Schulstufe werden Schülerinnen und Schüler in nach Geschlechtern getrennten Klassen unterrichtet, Männer dürfen nur dann Schülerinnen unterrichten, wenn sich nicht genug Lehrerinnen für die Mädchenklassen finden. Meine Schüler sind kompromisslos. Sie gehören einer Generation an, die keine Reformen akzeptieren will. Sie fordern den Sturz der Islamischen Republik. Was sie wollen, lese ich in ihren Schulaufsätzen. Sie klagen darin über die Teuerungen, die hohe Arbeitslosigkeit bei den Jungen, die fehlenden Wohnungen, die hohen Mieten, die fehlenden Arbeitsplätze auch für jene, die eine gute Ausbildung haben. Auch meine männlichen Schüler verlangen in ihren Aufsätzen, dass die Kleidung selbstbestimmt gewählt werden soll. Und sie schreiben, dass die Führer weg müssen, damit sie nicht die Kinder ihrer Kinder ermorden können.

Es ist ein einmaliges Momentum in unserer Geschichte. Zum ersten Mal gehen völlig unterschiedliche Volksgruppen und religiöse Minderheiten gemeinsam auf die Straße. Hunderte junge Menschen werden tagtäglich verhaftet, und trotz der Brutalität der Regierung geht es immer weiter. Mehr als 40 Jahre Unterdrückung und Armut heben nun erstmals die Spaltung unserer Gesellschaft auf.

Meine Schüler fordere ich auf, Mut zu haben. Im Unterricht reden wir viel miteinander, deshalb sind sie gerne bei mir. Wie lange noch, ist fraglich. Ich weiß, dass ich bald wegen meines gewerkschaftlichen Engagements ins Gefängnis wandern werde. Verurteilt wurde ich bereits zu einigen Monaten.

In Anbetracht dessen, dass so viele junge Menschen ermordet worden sind und ich als Lehrer nichts dagegen unternehmen konnte, ist es für mich der Preis, den ich zahlen muss und will für eine bessere Zukunft meiner Schüler. Ich schulde es ihnen und meinem Land.

LEHRER, 42 JAHRE ALT

Am 16. September starb die 22-jährige Mahsa Amini in Gewahrsam der iranischen Polizei. Sie wurde von der Teheraner Sittenpolizei festgenommen, weil sie angeblich den Schleier nicht vorschriftsgemäß getragen habe. Die iranischen Behörden behaupten, Amini sei an den Folgen einer Vorerkrankung gestorben. Ihre Familie ist jedoch überzeugt, dass Polizisten sie misshandelten und die junge Frau den Verletzungen erlegen sei.

Seither gibt es quer durch das Land Proteste, die von verschiedenen Bevölkerungsgruppen getragen werden: Männern und Frauen, Schülern und sunnitischen Extremisten aus der Provinz, dazu Jugendlichen aus der Teheraner Oberschicht.

Festnahmen, Verletzte und Tote stehen an der Tagesordnung. Besonders brutal geht das Teheraner Regime gegen die Protestierenden in den Provinzen Kurdistan und Belutschistan vor. Demonstrationen in Kurdistan wurden gar bombardiert, Dutzende Menschen in Belutschistan gezielt erschossen.

Die OnlineKommunikation ist phasenweise stark eingeschränkt, das Internet gedrosselt, manche HandyApplikationen wie etwa Instagram hat das Regime abgedreht, sie sind bis heute schwer verfügbar.

Allein in Teheran wurden mehr als 1000 Menschen wegen der Teilnahme an den Protesten angeklagt

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Fortsetzung von Seite 17 FOTO:AFP
„Aber wer jetzt zuhause bleibt und nicht zu den Protesten geht, ist ein Verräter“
„Meine Schüler fordere ich auf, Mut zu haben“

„Wenn du diese Kraft einmal gefühlt hast,

schimpft und sie in ihre Autos zerrt, nur weil sie angeblich den Hijab falsch tragen. Auch wenn man es selbst nicht erlebt hat, jede von uns hat Freundinnen und Frauen in der Familie, denen es passiert ist. Diese Gewalt ist unser aller kollektives Trauma.

Mein Mann wird ins Gefängnis gehen. Er hat regierungskritische Postings über Social Media verbreitet und wurde daraufhin zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Ich muss nun gut auf mich selbst aufpassen und mich jetzt sehr intensiv um mich kümmern. Ich denke, ich werde mir psychologische Hilfe suchen, eine Therapie, zu der ich regelmäßig gehen kann.

Mir ist vollkommen bewusst, dass wir uns im Krieg befinden, und im Krieg passieren solche Dinge eben. Es ist Krieg in jeglicher Hinsicht, denn sie töten uns. Ich weiß, dass der Preis der Freiheit hoch ist. Du bezahlst ihn, indem du dich von deinen Freunden und den geliebten Menschen verabschieden musst. Das alles wird erst dann vorüber sein, wenn wir eines Morgens aufwachen und feststellen, dass das Regime weg ist.

Alle Menschen im Iran, aber vor allem die Frauen, waren stets Repressionen ausgesetzt. Überall die Sittenpolizei, die Frauen be­

So wie viele andere Iranerinnen hatte auch ich jahrelang meine eigenen, privaten Formen des Protests. Wenn ich auf der Straße ging, habe ich beispielsweise immer wieder einmal den Hijab in den Nacken geschoben. Es waren meine Zeichen des zivilen Ungehorsams, mein persönlicher Widerstand, nicht organisiert, sondern völlig individualisiert und spontan. Mahsa Aminis Tod hat das alles verändert.

Abends um 18 Uhr nach dem Bekanntwerden ihrer Ermordung stand ich also auf der Straße, nicht mehr allein, sondern in einer Menschenmenge, zusammen mit mir fremden Frauen. Wir alle trugen den Hijab nicht nur nicht mehr auf dem Kopf, sondern auch nicht mehr um den Nacken. Wir hielten ihn jetzt fest in unseren Händen, streckten ihn zum Himmel empor und wedelten damit wild hin und her.

Wenn du so etwas erlebst, wenn du diese Kraft einmal gefühlt hast, dann bist du nicht mehr derselbe Mensch wie davor.

STUDENTIN, 24 JAHRE ALT

Was die Mullahs am meisten fürchten

Warum der Tod von Mahsa Amini das Ende der Islamischen Republik bedeuten könnte

50 Tage ist der Tod der jungen Iranerin Mahsa Amini bereits her. Die Proteste, die er entfachte, reißen jedoch nicht ab. Zwar gibt sich das Regime wie von jeher von Demonstrationen unbeeindruckt. Doch unterscheidet sich diese von vorangegangenen Protestwellen: Erstmals werden drei Formen der Diskriminierung gleichzeitig hinterfragt: die islamistische Misogynie, der persische Chauvinismus und die schiitische Intoleranz. Mahsa Amini vereinte sie alle: Sie war Frau, Kurdin und Sunnitin. Ihr Fall ist, wenn man so will, das Prisma der iranischen Gesellschaftsordnung, auf dem sie basiert und an dem sie zerbrechen könnte.

Als Frau wurde Mahsa Amini Opfer, weil sie verpflichtet war, den islamischen Kleidungsvorschriften zu folgen. Obwohl eine Mehrheit der Iranerinnen den Kopftuchzwang ablehnt, hält das Regime daran fest.

Indem nun Frauen protestieren und ohne Kopftuch auf die Straße gehen, wurde zunächst ein Stück individueller und bürgerlicher Freiheit zurückgewonnen. Das Regime rächt sich mit staatlich gedeckten Morden und Vergewaltigungen. Bislang konnten sie aber nichts gegen die Welle an Solidarität ausrichten, die über die Geschlechter­, Konfessions­ und Volksgruppengrenzen hinausgeht.

In Kurdistan, der Heimatregion Aminis, waren die ersten Proteste besonders heftig. Sie nahmen sogleich

ANALYSE: WALTER POSCH

auch einen ethnischen und konfessionellen Charakter an, denn die Mehrheit der iranischen Kurden sind Sunniten – wie es eben auch Mahsa Amini war und darüber hinaus ein Drittel der iranischen Bevölkerung.

Das erklärt, warum Revolutionsführer Ali Chamenei durch seinen Repräsentanten der Familie Aminis kondolieren ließ und in einer Ansprache ihren Tod bedauerte. Sein Kalkül: nur ja einen konfessionellen und ethnischen Aufstand verhindern. Diesen fürchtet das Regime mehr als die feministischen Proteste.

Doch Kurdistan im Nordwesten des Landes an der Grenze zum Irak ist längst eine Hochburg dieser konfessionell­ethnischen Proteste; die zweite liegt nahezu 2000 Kilometer südöstlich davon entfernt, an den Grenzen zu Afghanistan und Pakistan. Es ist Belutschistan, die ärmste Region des Iran. Die Balutschen leben vom Schmuggel, nicht nur geografisch, auch kulturell und sozial an den Rändern der Gesellschaft. Wie sehr die Balutschen diskriminiert werden, zeigt allein ein Blick in die Statistik der Hinrichtungen: 2021 war jeder fünfte Hingerichtete ein Balutsche, dabei machen sie gerade einmal zwei Prozent der Gesamtbevölkerung aus.

nander zu tun haben, teilen vier Gemeinsamkeiten, die für die Proteste entscheidend sind: Beide Gruppen sind ethnische Minderheiten, beide mehrheitlich Sunniten, beide werden deshalb von der schiitischen Führung in Teheran legistisch und rassistisch diskriminiert, und beide lehnen sich nun gegen das persische, schiitische Teheran auf.

Als Sunniten sind sie vom Polizeidienst ausgeschlossen. Wenn es also hart auf hart kommt, haben sie niemanden, der zu ihren Gunsten intervenieren könnte – der Fall Amini ist dafür exemplarisch.

Der Autor ist Iranist an der Landesverteidigungsakademie

Bemerkenswert ist, welcher Geisteswandel derzeit auch unter sunnitischen Islamisten offenkundig wird: Maulana Abdulhamid Ismailzahi, der wichtigste sunnitisch­fundamentalistische Kleriker aus Belutschistan, wurde mittlerweile von allen dortigen Stämmen als politischer Führer anerkannt und prangert die Willkür und Brutalität der Sicherheitsbehörden an.

Ein Land könne mit Unglauben, nicht jedoch mit einem Tyrannen leben, außerdem seien alle Iraner Brüder, Sunniten, Schiiten, Derwische, Christen, Juden und Bahais!

staatlicher Gewalt, selbst wenn diese islamisch motiviert ist.

Die Achse Kurdistan–Belutschistan wurde auch sichtbar, als Sicherheitskräfte am Freitag, den 30. September, mindestens 50 Gläubige in Zahedan, der größten Stadt Belutschistans, gezielt erschossen. Im kurdischen Sanandadsch kam es sofort zu Solidaritätskundgebungen. Seither reißt die Kritik an Chamenei in den sunnitischen Moscheen des Landes nicht ab.

Das Besondere an den jetzigen Protesten ist, dass die unterschiedlichsten Schichten und Gruppen sich gegenseitig stärken in ihrem Wunsch nach Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und in der Kritik am Revolutionsführer, die bis zu Rücktrittsforderungen geht. Damit wäre eine evolutionäre Bewegung möglich, an deren Ende wenig vom Regime übrig bliebe.

Doch seit dem Anschlag vom 28. Oktober, bei dem in der Großstadt Schiras sunnitische Fundamentalisten 15 schiitische Pilger erschossen, ist das Regime noch weniger an Dialog interessiert.

Dass noch nicht mit aller Härte zugeschlagen wurde, ist der Einsicht Chameneis geschuldet, dass es, anders als bei früheren Krisen, dieses Mal das Land entlang der Konfessionsgruppen zerreißen kann.

Kurden und Balutschen, zwei Minderheiten, die ansonsten wenig mitei­

Derlei Aussagen bedeuten einen Paradigmenwechsel, denn erstmals rufen religiöse Fundamentalisten nach Menschenrechten und einem Ende

Der Tod Aminis hat damit jene Bruchlinien offengelegt, die das Regime mit Brutalität und Propaganda bisher verdeckt hatte. F

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FOTO: HBF/BUNDESHEER
dann bist du nicht mehr derselbe Mensch wie davor“

ZWEI JAHRE IHRES LEBENS

Mit der Großrazzia „Operation Luxor“ wollte die Justiz den radikalen Islam in Österreich aushebeln. Verwertbare Ermittlungsergebnisse bleiben bis heute aus. Ins Visier gerieten Unschuldige, etwa Osama und Mansor Abu El Hosna

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Osama Abu El Hosna (links) und sein Bruder Mansor in Wien im November 2022

Einer, der in Gaza-Stadt aufgewachsen ist, erkennt ein Maschinengewehr sofort am blechernen Laut, der braucht es gar nicht zu sehen. Und so glaubt Osama Abu El Hosna nicht an Böller, als er am 2. November 2020 die Salven des IS-Attentäters Kujtim F. vernimmt. Er, der McDonaldsMitarbeiter steht da gerade unten in der Tiefgarage des Wiener Schwedenplatzes.

Abu El Hosna hat Kisten in der Hand, um die McDonalds-Filiale für den am nächsten Tag in Kraft tretenden Lockdown vorzubereiten. Was er nicht ahnt: Über ihm mordet der Dschihadist Kujtim F..

Osama Abu El Hosna geht die Treppen rauf. Er will nachschauen, was da los ist. Er öffnet die Tür der Tiefgarage und sieht, wie Kujtim F. den Lokalbesitzer Qiang Li durch die Glasscheibe erschießt. Dann richtet er den Gewehrlauf auf ihn, Osama.

Fünf Menschen sterben an diesem 2. November 2020 in der Wiener Innenstadt zwischen Jerusalemstiege und Franz-JosefsKai. Vier Opfer und der Attentäter selbst. Ein Polizist überlebt schwerverletzt, weil Osama Abu El Hosna, der es gerade noch hinter einen Baumstamm geschafft hat, den Beamten im Kugelhagel vom Tatort weg zu den Sanitätern schleppt. „Der Polizist hat mir gesagt, ich solle abhauen, aber ich blieb“, so erzählt es Osama heute. Er erhält die Rettungsmedaille des Landes Wien, überreicht von Bürgermeister Michael Ludwig persönlich. Dankende Worte vom Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen. Inoffizieller Beifall der Polizisten und eine offizielle Ehrung. Der Palästinenser ist der unerwartete Held. Die Antithese zum Terroristen.

Was sie alle damals nicht wussten: Abu El Hosna, der dem Polizisten das Leben rettete, galt in dieser Zeit selbst als terrorverdächtig. Er sei ein Geldwäscher, ein Mitglied der verbotenen radikalislamischen Organisation Hamas und der Muslimbruderschaft, so der Verdacht der Staatsanwaltschaft Graz. Der Grund: Osama Abu El Hosna hatte ein paar Stunden bei dem kleinen Hilfsverein International Hope Association mitgearbeitet. Sein Bruder Mansor hatte den Verein aufgebaut und als ausgebildeter Buchhalter die Funktion des Kassiers übernommen.

Die Staatsanwaltschaft Graz beschuldigte nun beide Brüder und weitere Mitglieder des Vereins, nicht nur Hilfspakete mit Essen und Hygieneartikeln in den Libanon geschickt, sondern dort auch die Hamas finanziert zu haben. Die Vorwürfe sind schwer: Terrorfinanzierung, Geldwäsche, Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation.

Der Verein Internationale Hope Association habe Gelder in ein „mögliches Einflussgebiet der terroristischen Vereinigung Hamas“ weitergeleitet, was eine „Finanzierung Hamas-naher Gruppierungen“ möglich erscheinen ließ, so schreiben es die Ermittler. Dass im Libanon die schiitische Hisbollah und nicht die sunnitische Hamas als eigentlicher Machthaber regiert? Dass die Familie Abu El Hosna nach Österreich aus dem Gazastreifen ausgerechnet vor der Hamas geflüchtet war? Das fand keine Berücksichtigung im Akt.

Eine Woche nach dem Terroranschlag, am 9. November 2020 um fünf Uhr, steckten Polizisten eine sogenannte „Sicherstellungsanordnung“ in den Türschlitz des Vereinssitzes am Gruschaplatz im 14. Wiener Gemeindebezirk. Damit wurde das Bankkonto des Vereins gesperrt. Der Beschuldigtenstatus der beiden palästinensischen

BERICHT: EVA KONZETT

FOTO: CHRISTOPHER MAVRI Č

Flüchtlinge Osama Abu El Hosna und Mansor Abu El Honsa, beide berufstätig, geboren in Gaza-Stadt, 25 und 26 Jahre alt, offiziell staatenlos, seit neun Jahren in Wien ansässig, er war jetzt offiziell.

Sie waren an diesem 9. November nicht die einzigen, die Besuch von der Polizei erhielten. Mehr als 930 Beamte rückten in den Morgenstunden aus. Bei den Brüdern hinterließen sie nur einen Zettel, bei anderen klopften maskierte Beamte mit geladenen Gewehren an die Wohnungstüren, weckten die Familien, beschlagnahmten die Computer. Bei einem Beschuldigten ließen die Beamten sogar eine Patronenhülse vor dem Fenster fallen. Eine Drohung? Oder nur eine Panne?

Beamte der Spezialeinheiten Cobra, Wega, des Bundeskriminalamts, der Flugpolizei und Bargeldspürhunde waren bei den Hausdurchsuchungen im Einsatz. Außerdem der Verfassungsschutz. Es war eine der größten Razzien der Zweiten Republik.

Die beiden Sachverständigen, die Politikwissenschaftler Heiko Heinisch und Nina Scholz, auf deren Ausführungen über die Muslimbruderschaft wesentliche Teile der Ermittlungen basierten, erklärte das Gericht für befangen und zog sie ab. Das Gericht zog ihre Unabhängigkeit unter anderem in Zweifel, weil sich Heinisch öffentlich vor dem Verfahren zur Rolle eines Beschuldigten geäußert hatte. Im Dezember 2021 wurden dann auch noch die Ermittlungen gegen einen prominenten Mann, den ehemaligen Präsidenten der Islamischen Glaubensgemeinschaft, Anas Schakfeh, eingestellt. Zahlreiche weitere folgten. Was war da eigentlich passiert?

Die Brüder Abu El Hosna kamen 2013 gemeinsam mit ihrer Mutter und den Geschwistern nach Wien. Der Vater war davor schon geflohen. Für Aufsehen sorgte die Familie, als sie 2019 ein Haus im niederösterreichischen Weikendorf kaufen wollte. Der Bürgermeister versuchte, die Ansiedelung zu verhindern. Der Kauf ging durch. In dem Haus lebt bis dato niemand.Teile des Hauses hätten keine Baubewilligung, sagen jetzt die Behörden

Der Einsatz trug den Code-Namen „Operation Luxor“. Das Ziel: „Die Wurzeln des politischen Islam zu bekämpfen“, so jedenfalls erklärte es Innenminister Karl Nehammer, ÖVP, bei einer anschließenden Pressekonferenz.

Er hatte, was höchst ungewöhnlich ist, die Razzia persönlich beaufsichtigt. Auf Bildern sieht man ihn wie Inspektor Columbo inmitten der Spezialkräfte. Die Behörden gingen gegen die Muslimbruderschaft vor, die grenzübergreifend islamistische Organisationen bündelt, eine vielschichtige millionenstarke Bewegung, die sich in Europa aber gewaltlos gibt. Und die Behörden hatten die Hamas im Visier, die als bewaffneter Arm der Muslimbruderschaft gilt.

Die Ermittler durchsuchten Wohnungen, Vereinslokale und Moscheen in der Steiermark, Kärnten, Niederösterreich und Wien. Die Regierungsmannschaft gefiel sich in der Rolle des Durchgreifers, in einer Zeit, als das Versagen im Falle des Terroristen Kujtim F. längst öffentlich diskutiert wurde. „Als ich die Kontosperre durchgelesen habe, habe ich geweint“, erzählt Mansor Abu El Hosna. Schlafen, das konnte er dann zwei Wochen lang nicht.

Die Brüder Osama und Mansor Abu El Hosna waren nur zwei von insgesamt 70 Beschuldigten. Sie wurden nicht verhaftet, aber die psychischen Folgen wiegen schwer. Waren sie ein verkraftbarer Fehler in einer sicherheitspolitisch notwendigen Aktion? Der Kollateralschaden in dem „entscheidenden Schlag gegen die Muslimbruderschaft und die Hamas“ (Karl Nehammer)?

Alles begann mit einem falschen Hitlergruß 2019. Im August dieses Jahres wurde die Staatsanwaltschaft Graz auf das FacebookVideo eines „NAZI-Treffens“ von 2014 aufmerksam gemacht, so steht es in einem Anlassbericht der Landespolizeidirektion Steiermark, der dem Falter vorliegt. Dem Bericht sind Bilder beigelegt: Eines zeigt ein paar Dutzend Männer mit hochgestrecktem rechtem Arm, eine Szene, die den „Anschein einer Nazi-Veranstaltung mit dem Zeigen eines Hitlergrußes erwecken“ kann, wie die Ermittler schreiben. Das ist einigermaßen verwunderlich.

Im Hintergrund sind ägyptische Fahnen zu erkennen. Die ausgestreckten Arme können leicht als „R4bia-Gruß“ mit eingeknicktem Daumen identifiziert werden, das ist der Gruß der Anhänger der Muslimbruderschaft.

»Wie viel Energie und Mittel die Polizisten und die Staatsanwaltschaft für uns verschwendet haben. Für nichts

MANSOR ABU EL HOSNA, EHEMALIGER TERRORVERDÄCHTIGER

Die vorliegenden Ergebnisse erzählen eine andere Geschichte. Denn heute, zwei Jahre nach der Razzia, sind die Resultate blamabel. Das „Ermittlungssubstrat“ der Hausdurchsuchungen blieb strafrechtlich dünn. So dünn, dass das Oberlandesgericht Graz gar die Hausdurchsuchungen in mehreren Fällen im Sommer 2021 für rechtswidrig erklärte. „Einen beweismäßig genügenden, Verallgemeinerung dahin zulassenden Hinweis, jeder Muslimbruder weltweit könnte (...) ein Mitglied oder Förderer einer terroristischen Vereinigung mit entsprechender Zweckausrichtung gewesen sein vermag das Beschwerdegericht in den aktenkundigen Verfahrensergebnissen (...) nicht auszumachen.“ Übersetzt: Ohne eindeutige Verdachtslage einfach einmal ins Schilf zu schießen und zu hoffen, dass sich was bewegt, das darf man im Rechtsstaat nicht.

Die Ermittler machen also keine Neonazis, sondern hochrangige Mitglieder von Grazer Moscheevereinen in dem Video aus. Die Staatsanwaltschaft ließ den Neonazismus-Vorwurf fallen und entdeckte den Terrorparagraphen. Sie verdächtigte die Personen, sich auf die Errichtung eines „nach radikal islamistischen Grundsätzen ausgerichteten Gottesstaates unter der Bezeichnung Vereinigte Staaten von Arabien mit der Hauptstadt Jerusalem durch Terroranschläge“ eingeschworen zu haben und diese durch „Informationen und Vermögenswerte“ zu unterstützen. Von Österreich war keine Rede. Der Anlassbericht trägt das Datum des 30. August 2019. Noch am selben Tag ordnete der Grazer Staatsanwalt Johann Winklhofer Ermittlungen an. Hatte man den Neonazi-Schwenk gebraucht, um ermitteln zu können? Warum war man von 2014 bis 2019 untätig geblieben, wenn die auf einer öffentlichen Plattform geteilten Inhalte dermaßen brisant waren? Warum zog die Staatsanwaltschaft Graz den Fall an sich und nicht die Wiener? Die Staatsanwaltschaft Graz gibt darauf keine Antwort. Aber: Es könnte mit der Person des Johann Winklhofer zu tun haben.

Winklhofer ist kein Unbekannter. Der Staatsanwalt klagte den Briefbomben-Mörder Franz Fuchs an. Er hat sich als Terroristenjäger und Feind politischer Radikaler sein Renommee aufgebaut. Er hat den ISHassprediger Mirsad Omerovic hinter Gitter gebracht. Auch die Identitäre Bewegung versuchte Winklhofer, als kriminelle Organisation zur Strecke zu bringen. Vergebens. Winklhofer sei einer, der ganze „BeneOrdner“ auswendig kann, sagt ein Kollege. In der Sache mit den Islamisten habe Winklhofer sich aber verrannt. Und Mansor Abu El Hosna sagt: „Wie viel Zeit sie mit uns verschwendet haben!“

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Denn die Razzia „Operation Luxor“ ist nicht der Anfang, sondern nur ein Kapitel in jahrelangen Ermittlungen. Der Razzia selbst gingen Telefonüberwachungen und Observationen voraus. Von 21.000 Überwachungsstunden und mehr als 1,2 Millionen Bildern von Treffen sowie Zusammenkünften verdächtiger Personen sprach Karl Nehammer am 9. November 2020. Die Ermittler beobachteten davor schon Moscheen in Graz und Wien, folgten Unternehmern bei Restaurantbesuchen im Kuchelauer Hafen, am 24. November 2020 verwies die „Sondereinheit Observation“ darauf, trotz eines „großen Lauschangriffs“ keine Ergebnisse im Falle eines Politikwissenschaftlers vorlegen zu können. Mehr als eine halbe Million Euro haben alleine die Telefonüberwachungen gekostet. Ein Beispiel aus dem Akt: Errichtung der Telefonüberwachung: 128 Euro. 221 Tage Überwachung: 5525 Euro. 105 weitere Tage der Überwachung, inklusive Samstag, Sonntag und Feiertag: 2625 Euro. Sekretariatspauschale 15,20 Euro. Nur wofür? Die Ermittlungen haben bis dato zu keiner Anklage geführt. Keiner der Beschuldigten kam in Untersuchungshaft.

Vielleicht kann man es so sagen: Die Ermittler haben eben doch einmal ins Schilf geschossen, um zu schauen, was dann erschreckt hochfliegt. „Grenzwertig“, nannte es einmal ein BVT-Ermittler gegenüber dem Falter, „aber letztlich abgesegnet von einem Richter“.

Ein Hinweisgeber könnte die ägyptische Interpol gewesen sein, also vielleicht auch ägyptische Geheimdienstler. Im November 2020 schrieb ein „Brigade General“ an die österreichischen Kollegen: „Don’t hesitate to contact us.“ Da ging es um den Hauptbelastungszeugen des Verfahrens, der gleichzeitig Beschuldigter war. Dessen Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft haben die ägyptischen Verfassungsschützer dann bestätigt. Nur dass deren Interessen anders liegen: In Ägypten ist die Muslimbruderschaft offiziell als Terrororganisation eingestuft. In Österreich ist das nicht der Fall.

Seit dem 9. November 2020 kommt Mansor Abu El Hosna nicht mehr zur Ruhe, er muss Medikamente nehmen. Sein Arzt gibt dem Stress die Schuld dafür. Die Einbürgerungsanträge, die beide staatenlosen Brüder Abu El Hosna schon 2020 gestellt hatten, kommen nicht vom Fleck. Ein Be-

schuldigter darf nicht Österreicher werden. Sein Bruder Osama hat vor zwei Jahren geheiratet. Kinder will er keine, „solange ich nicht wirklich angekommen bin“. Es ist ein Leben nur auf Sicht.

Dabei hat das Oberlandesgericht Graz im Oktober die Ermittlungen gegen die beiden, gegen den Verein International Hope Association und gegen alle seine Mitglieder eingestellt. Es könne „den vorliegenden Verfahrensergebnissen kein Substrat entnehmen, das (...) den in Rede stehenden Verdacht tragen würde“. Es sei außerdem nichts ersichtlich, was „eine Intensivierung eines derartigen Verdachts möglich erscheinen ließe“. Will heißen, da war nichts. Und da wird nichts sein.

In der Operation Luxor sind wechselseitige Interessen zusammengekommen. Zum einen war da die politische Inszenierung, getrieben davon, die Schmach des nicht verhinderten Terroranschlags zu kaschieren, getragen von einem markigen Auftreten gegenüber dem Islam, wie die ÖVP es sich damals unter dem neuen Parteivorsitzenden Sebastian Kurz zugelegt hatte. Die Ermittlungen geführt hat ein Staatsanwalt, der prononciert gegen alle Formen des Terrorismus auftritt, oder das, was er dafür hält. Ermittelt haben Beamte, die das Vorfeld des gewalttätigen Dschihad einmal

Der entscheidende Schlag gegen die Muslimbrüderschaft und gegen die Hamas in Österreich hat das Ziel, die Wurzeln des politischen Islam zu bekämpfen

DER DAMALIGE INNENMINISTER

KARL NEHAMMER

AM 9. NOVEMBER 2020

aufwirbeln wollten, also ein mitunter durchaus antidemokratischer Hummus, selbst wenn sich seine Proponenten an die Gesetze halten. „Legalistischer“ Islamismus nennen das die Verfassungsschützer und meinen damit Gruppierungen, die auf legalem Wege versuchen, Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen, und letztlich danach trachten, den demokratischen Rechtsstaat auszuhöhlen.

Am 24. Oktober 2022 wurde in dem Verfahren ein neuer Sachverständiger bestellt, um die beiden wegen Befangenheit entlassenen Sachverständigen Heinisch und Scholz zu ersetzen. Noch will Staatsanwalt Winklhofer weitermachen. Zuvor hatte er gegen Beschuldigte wegen Nötigung ermitteln lassen, als diese sich gegen die Aussagen des Belastungszeugen zur Wehr gesetzt hatten.

Am 2. November 2022 haben die höchsten Vertreter der Republik offiziell der Opfer des Terroranschlags gedacht. Darüber, dass der Verfassungsschutz die Vorbereitungen zu dem Attentat übersah, weil er maßgeblich mit der Operation Luxor beschäftigt gewesen war, sprach niemand mehr. Osama Abu El Hosna, jener falsch verdächtigte Palästinenser, der in der Terrornacht unter Einsatz seines Lebens ein anderes rettete, war nicht eingeladen.

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F FOTO: APA/BMI
Daniel Jokeschs „Krisencomic“ Folge 33: Die Sache und das wachsende Gras
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Karl Nehammer inmitten von Spezialkräften während der „Operation Luxor“ in Wien

Heiß, kalt, Ötzi

Wie starb der berühmteste Eismann der Alpen? Ein neues Puzzlestück liefert auch Aufschlüsse zur Zukunft des Klimawandels

Labi, Simi oder Ötzi? Es ist der 26. September 1991, eine Woche zuvor haben Wanderer am Tisenjoch, einer Passhöhe am Similaungletscher in den Ötztaler Alpen, eine mumifizierte Leiche entdeckt. Der zuständige Gerichtsmediziner in Innsbruck will die namenlose männliche Mumie, die niemand vermisst, bestatten lassen; sicherheitshalber wird dann doch der Archäologe Konrad Spindler hinzugezogen. Der sieht sofort: Die Leiche ist alt, richtig alt.

Der Fund erregt Aufsehen, und in der Redaktion der Arbeiter-Zeitung in Wien berät der damalige Chronik-Ressortleiter Nikolaus Glattauer mit dem Journalisten Karl Wendl, welchen Spitznamen der Mann aus dem Eis bekommen soll. Labi nach dem nahen Hauslabjoch, Simi, um an den Gletscher zu erinnern, oder Ötzi?

Drei Jahrzehnte später herrscht beim Spitznamen der berühmtesten Leiche der Alpenregion längst keine Uneinigkeit mehr. Sehr wohl aber, was das Leben, den Tod und das Leben nach dem Tod des Mannes betrifft, der vor rund 5100 Jahren starb. Generationen von Wissenschaftlern arbeiteten sich an Ötzi ab, der im Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen ausgestellt ist. „Außergewöhnliche Umstände“ hätten dazu beigetragen, dass die Mumie so lange erhalten geblieben ist, schreibt das Museum auf seiner Homepage.

Genau diesem Narrativ widerspricht Andrea Fischer. Sie ist Gletscherforscherin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Norwegen und der Schweiz hat sie am Montag, dem 7. November im Fachjournal The Holocene einen Artikel veröffentlicht. Sie haben die Erkenntnisse der letzten Jahre zusammengetragen und um Datenanalysen erweitert. Es bringt das, was wir in der Volksschule über den Mann im Eis lernen, durcheinander.

Der mittlerweile verstorbene Archäologe Spindler hatte Mitte der 90er eine Theorie aufgestellt: Ötzi sei im Herbst aus dem Tal auf den Pass geflohen, seine Ausrüstung war beschädigt. Er starb entkräftet in einer eisfreien Rinne. Durch den Wintereinbruch wurde seine Leiche „gefriergetrocknet“, das Klima blieb kalt. Erst im ungewöhnlich warmen Sommer 1991 taute das Eis. Die Rinne sei eine „Zeitkapsel“ gewesen, so Spindler. Seine sogenannte „Desaster-Theorie“ wurde von einer Pfeilspitze unterstützt, die man 2001 in Ötzis Schulter fand.

Der plötzliche Kälteeinbruch und die durchgehende Vereisung passten aber nicht zu dem, was Fischer und ihre Co-Autoren von vergleichbaren Gletschern kannten. Die meisten Gletscher bewegen sich und zermalmen mit ihrer Masse mögliche Fundstücke. „Aus glaziologischer Sicht war immer die Grundsatzfrage, warum Ötzi nicht zerstört wurde“, sagt Fischer. Die Rinne lag zwar quer zur Fließrichtung; dass sich Ötzi darin jahrtausendelang retten konnte, wäre dennoch höchst ungewöhnlich. Fischer sah sich historische Messreihen der Alpengletscher an und entnahm Proben nahe der Fundstelle. Was sie fand, deckt

sich mit einer plausibleren Erklärung, die vor ihr auch andere Forscher vertraten: Das Eis, das sich um Ötzi bildete, war maximal 20 Meter dick – zu wenig, um schnell zu fließen und dabei die Mulde auszuschürfen. Ötzi starb nicht in der Mulde, sondern außerhalb. Er starb nicht im Herbst, sondern im Frühling. Seine Konservierung verdankt er nicht einem plötzlichen Kälteeinbruch, sondern Temperaturschwankungen über tausende Jahre.

Schon in den 1990ern waren im Darm von Ötzi Hopfenbuchenpollen gefunden worden, die im Frühjahr fliegen. Vermutlich starb er also in dieser Jahreszeit, in der die Rinne noch unter Schnee vergraben war. Der Winter kam, es schneite, die Leiche fror. Im Sommer taute die Leiche wieder ab. Die Schneeschmelze verlagerte Ötzi und seine Ausrüstung, er sank ab, in die Rinne hinein. Dabei ging möglicherweise die Ausrüstung kaputt – während das Schmelzwasser einen Konservierungsprozess in Gang setzte: die Fettwachsbildung.

Ist ein Körper länger im Wasser, quellen die Hautzellen. Auf der äußersten Hautschicht bilden sich Runzeln, die Waschhaut, die man von langen Bädern kennt. Das geschieht auch bei Toten. Bei alpinen Außentemperaturen löst sich die Waschhaut nach einigen Tagen ab, gemeinsam mit den Fingernägeln und Haaren. So war es auch bei Ötzi. Wird die Wasserlagerung fortgesetzt, verwandelt sich das Fettgewebe in eine mörtelartige Substanz, das Fettwachs. Das wirkt konservierend und hebt die Form der Fettläppchen hervor. Auch das sieht man an Ötzis Gesicht.

„In den ersten 2000 bis 2500 Jahren nach seinem Tod gab es immer wieder Klimaphasen, in denen er teilweise abgetaut sein muss“, sagt der Wiener Gerichtsmedi-

Fettwachsbildung hat Ötzi, der im Südtiroler Archäologiemuseum ausgestellt ist, konserviert. Eine Nachbildung des Mannes, links, und der Fundort am Tisenjoch 1989. Die Stelle ist heute eisfrei

Die Gletscher in den Ostalpen werden auf jeden Fall in den nächsten 30 Jahren abschmelzen. Aber können sie danach wieder vereisen? Weil spontane Umschwünge eben unwahrscheinlich sind, wird es sehr lange dauern

ziner Christian Reiter, der in den 1990ern ein Hautstück aus der linken Hüftregion Ötzis untersuchte. Das Auf und Ab belegen auch andere Funde. Blätter und Äste wurden später in die Mulde geweht, also in Perioden, als sie nicht zugefroren war.

Dass Ötzi nicht durch einen plötzlichen Kälteeinbruch für Jahrtausende im Eis konserviert wurde, sondern der Schnee immer wieder abschmolz, ist auch für die Klimaforschung eine relevante Erkenntnis: Ötzi lebte vor rund 5000 Jahren am Ende einer Wärmeperiode.

Passieren Umstellungen auf kältere Klimaperioden also sprunghaft? Die Theorie des plötzlichen Kälteeinbruchs würde das bejahen, die aktuellen Daten deuten eher auf ein Nein hin. Das, sagt Fischer, spiele eine Rolle für die Zukunft des Klimas – und zwar in einem Szenario, in dem es gelingt, die CO2-Emissionen zu bremsen. Dann würde es nämlich, nachdem sich die Erde in den nächsten Jahrzehnten weiter erwärmt, zu einer Abkühlung kommen. Es gäbe also wieder das Klima, in dem Ötzi starb. F

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FOTOS: SÜDTIROLER ARCHÄOLOGIEMUSEUM/EURAC SAMAD, SOUTH TYROL MUSEUM OF ARCHAEOLOGY, GERNOT PATZELT
BERICHT: ANNA GOLDENBERG

BLATTKRITIK

DAS SPORTMAGAZIN

ERIKA IST MONOTHEMATISCH, DIE ERSTE AUSGABE STEHT UNTER DEM MOTTO „ANDERS“

Die Idee war schon lange in den Köpfen von Harald Triebnig und Matthias Köb, erzählt Triebnig in einem Telefongespräch mit dem Falter. Denn es gebe wenig bis gar nichts am österreichischen Sportmedienmarkt, das über die Berichterstattung der Sportergebnisse und einige Expertenanalysen hinausgehe. Natürlich, sieht er ein, es gebe da das Red Bulletin. Aber so wolle man eben nicht sein.

Also machten Triebnig und Köb alles genau anders, als sie es bisher gesehen hatten. Die Macher von Erika wollen keine Geschichten, in denen es „immer höher, schneller, weiter, größer“ sein muss. Son-

Das neue Sportmagazin Erika erscheint am 9. November

dern Geschichten, in denen sich die Sportler wiederfinden. Und sie wollen, dass sich auch Nichtsportler dafür begeistern. Coole Sache. Für die erste Ausgabe sprach Erika etwa mit dem Basketballer Jakob Pöltl, Österreichs einzigem Spieler in der US-amerikanischen NBA, über sein Leben in den USA. Oder fuhren an den Weißensee, an dem jeden Winter die niederländischen Eisläufer trainieren. Und trafen die Schwestern Anna und Eva Gasser, beide sehr erfolgreiche Sportlerinnen. Mit ihnen redeten die Redakteure von Erika über Geschwisterliebe, Unterschiede und Neid. Stimmt schon, es sind Geschichten, die man auch woanders schon gelesen haben könnte. Aber man darf sich darauf freuen, dass sie hier noch einmal anders erzählt werden.

Die meiste Zeit über haben wir keinen Strom. Wir sind ständig in Bewegung, um Internet zu haben.

MEDIEN

WATCHDOG

FUSSBALL UND INSERATE

Gerhard Milletich, Präsident des Fußballbundes und Verleger mit besten Kontakten zu SPÖ, Stadt Wien und neuerdings auch SPÖ Burgenland (Falter 7/22), soll seine ehrenamtliche Funktion an der Spitze des ÖFB dazu benutzt haben, um von Sponsoren in sehr direkter Art und Weise Inserate zu keilen, recherchierte der Kurier. Und zwar von solchen, mit denen sein Unternehmen vorher keine Geschäftsbeziehungen gehabt hatte. Milletich droht dem Kurier mit Klage, berichtet das Ö1-Medienmagazin „Doublecheck“. In einem Podcast hat Milletich aber eingeräumt, dass er als ÖFB-Präsident leichter Zugang zu Inserenten bekomme.

ERSCHEINUNG

NEUER KLIMANEWSLETTER

Warum die deutschen Klimaziele Bullshit sind – so direkt startet der neue Newsletter „Onboarding Klimajournalismus“ des Netzwerks Klimajournalismus Deutschland. Jeden ersten Montag im Monat verkünden Leonie Sontheimer und Katharina Mau via Mail, welche Klimadebatten aktuell wichtig sind. Dass der erste Newsletter mit „Bullshit“ startet, ist kein Zufall. Sie finden: Journalisten müssen (endlich) die richtigen Fragen stellen, wenn es ums Klima geht. Außerdem liefern Sontheimer und Mau Basics rund ums Klima – damit sie die Leser selbst kritisch einordnen können. Lesenswert, nicht nur jetzt zur Weltklimakonferenz.

LEXIKON

LMAO

LOL kennt man, aber LMAO? Es ist quasi die Steigerung. LOL steht für „Laughing out loud“. LMAO für „Laughing my ass off“. Wortwörtlich ins Deutsche übersetzt bedeutet diese Abkürzung aus dem Internetjargon etwas grob „sich den Arsch ablachen“, frei würde man es wohl mit „Ich lach mich tot!“ umschreiben. Während „LOL“ auch in der gesprochenen Sprache verwendet wird, ist „LMAO“ noch nicht gängig. Ist auch schwerer auszusprechen. Wie dieses Akronym – so nennt man Abkürzungen oder Kurzwörter, die aus den Anfangsbuchstaben mehrerer Wörter bestehen – entstand, ist unbekannt.

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FOTOS: ERIKA, APA/BARBARA GINDL, ONBOARDING, UNSPLASH Daryna Shevchenko, CEO des Kyiv Independent, Seite 25

„Patriotisch zu sein heißt, Missstände aufzudecken“

Der Kyiv Independent ist das wichtigste unabhängige und kritische Medium der Ukraine. Wie arbeitet man als Journalistin zwischen Krieg, Zensur und russischer Propaganda? Herausgeberin Daryna Shevchenko weiß es

INTERVIEW:

BARBARA TÓTH

Daryna Shevchenko hat nur zwei Stunden geschlafen. Der Bus, der sie von Krakau nach Wien hätte bringen sollen, ist irgendwo im tschechischen Niemandsland hängengeblieben. Die Busgesellschaft bot als Entschädigung Essensgutscheine an, aber es gab weit und breit kein Geschäft oder Lokal, wo man sie hätte einlösen können. Aber egal. Wer seit neun Monaten eine Redaktion zwischen Fliegeralarm und Stromausfällen managt, nimmt das gelassen. Shevchenko war in Wien bei einer internationalen Konferenz zur Pressefreiheit im österreichischen Außenministerium zu Gast. In der Mittagspause nahm sie sich Zeit für ein Gespräch. Espresso? Nein, von denen hatte sie schon zu viele an diesem Freitag. Lieber einen schwarzen Tee.

Falter: Frau Shevchenko, ist Ihre Arbeit viel schwerer geworden als vor einem Jahr?

Daryna Shevchenko: Meine Antwort überrascht Sie jetzt vielleicht. Ich komme aus dem Journalismus, aber beim Kyiv Independent bin ich Herausgeberin und CEO, also vor allem Medienmanagerin. Ich bin somit vor allem dafür zuständig, dass sich die Zeitung rechnet. Meine Arbeit ist komplizierter, aber weniger fordernd geworden.

Warum?

Shevchenko: Mit der Krise ist es einfacher geworden, die Leserschaft zu erreichen. Schlechte Gefühle sind immer stark. Es ist leichter, ein starke Verbindung herzustellen, die dazu führt, dass man tatsächlich mit Geld unterstützt wird und nicht nur mit Worten. Zugleich gibt es neue Herausforderungen. Es gibt kein Lehrbuch für Manager, in dem steht, wie man ein Team führt, wenn die Mitarbeiter bedroht sind, physisch und psychisch, weil sie sich um ihre Familien kümmern und zugleich ohne Pause durcharbeiten müssen. Viele unserer Redakteure hatten keinen einzigen freien Tag seit einem Jahr, oder sie hatten vielleicht zwei Tage insgesamt frei. Wir sind schrecklich unterbesetzt. Wir hatten vorgehabt, rasch zu wachsen, aber nicht derart schnell.

Wie sieht das konkret aus?

Shevchenko: Bei der Gründung, im Herbst 2021, waren wir ungefähr 20 Leute, die Geschäftsführung und die Redaktion zusammengenommen. Jetzt sind wir 35. Davon sieben Personen in der Unternehmensführung, alle anderen gehören zur Redaktion. Es sind zu wenige. Es ist sehr schwer, Redakteure zu finden, die in der Ukraine geboren sind, fließend Englisch sprechen, sich in der Ukraine auskennen und die fachliche Kompetenz haben. Es ist nahezu unmöglich, neue Mitarbeiter zu finden. Mittlerweile arbeiten alle, die diese Fähigkeiten mitbringen, bei uns. Die meisten, etwa 20, leben nach wie vor in Kiew, der Rest lebt im Ausland. Wir haben auch ein nordamerika-

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Fortsetzung nächste Seite
Daryna Shevchenko, 33, ist Journalistin sowie Gründungsmitglied und CEO des Kyiv Independent. Davor arbeitete sie bei der Kyiv Post, baute ein Journalistenausbildungsprogramm auf und beriet Medien bei der Gründung investigativer Formate. twitter: @DarynaShev FOTO: BARBARA TÓTH

nisches Team, das in der Nacht übernimmt, so können wir rund um die Uhr und sieben Tage die Woche berichten.

Sofern die Energieversorgung funktioniert?

Shevchenko: Es ist mühsam. Bis Oktober war es in Ordnung, dann begannen die russischen Angriffe. Immer montags zielen sie auf die Energieversorgung. Jetzt ist es ziemlich schlimm. Die meiste Zeit über haben wir keinen Strom. Wir sind ständig in Bewegung, um Internet zu haben. Wir haben vielleicht vier Stunden Internet am Tag im Büro, die restliche Zeit arbeiten wir von Lokalen und von zuhause aus. Wir organisieren uns über Slack, aber versuchen, so viel wie möglich persönlich in Kontakt zu bleiben.

Ist die Pressefreiheit in der Ukraine eingeschränkt?

Shevchenko: Es ist schwieriger geworden, an Information zu kommen. Alle Datenbanken sind geschlossen, weil das Kriegsrecht in Kraft ist. Für unsere Datenjournalisten ist es dadurch schwerer geworden, zum Beispiel Geldflüsse nachzuverfolgen. Der Kyiv Independent arbeitet ja stark investigativ mit Fokus auf Korruptionsaufdeckung. Wir greifen daher auf althergebrachte Methoden zurück, suchen uns Quellen. Niemand hatte eine Pause. Die ukrainischen Journalisten arbeiten nach wie vor.

Gibt es Zensur?

Shevchenko: Nein, aber es gibt viel Druck aus der Gesellschaft und von der Regierung. Etwa den Krieg nicht zu hinterfragen. So auf die Art: Die Regierung weiß schon, was sie tut. Aber ich denke nicht, dass das jemand ernst nimmt. Meine Kollegen berichten über Unrecht und Machtmissbrauch.

Eine Ihrer großen Geschichten handelte von Machtmissbrauch und Skandalen in der ukrainischen Fremdenlegion. Wie schnell hört man dann: Ihr seid Verräter, keine guten Patrioten?

Shevchenko: Das trifft nicht nur uns. Viele Journalisten, die die Behörden kritisieren, bekommen das zu hören. „Macht das nicht noch einmal.“ „Musstet ihr darüber berichten? Das schadet dem Image der Ukraine“, oder so. Aber wir sind Journalisten. Unsere Aufgabe ist es, jene an der Macht zur Rechenschaft zu ziehen. Patriotisch zu sein bedeutet für uns, genau das zu tun. Darum haben wir in der Ukraine auch so eine starke Zivilgesellschaft. Die Geschichte über die Fremdenlegion war besonders wichtig für uns, weil wir ursprünglich für sie geworben haben. Wir haben Hinweise bekommen, dass dort einiges schiefläuft, und haben begonnen zu recherchieren.

Hat sich die Situation verbessert?

Shevchenko: Nicht, dass ich wüsste. Leider. Aber es geht nicht nur um Krieg und Strategie, das normale Leben in der Ukraine geht ja trotzdem weiter, und es gibt so viele Missstände, über die wir berichten. Schulbeginn, Gesundheitsreformen. Die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen, bezieht sich auf all das.

Nach der Invasion Russlands wurden alle Fernsehsender der Ukraine gleichgeschaltet, es gibt nur mehr eine Nachrichtensendung, Präsident Wolodymyr Selenskyj wendet sich jeden Abend ans Volk. Wie fühlt sich das an?

Shevchenko: Ich finde, zu Beginn war das eher eine gute als eine schlechte Idee, weil es für die Menschen in den ersten Wochen der Invasion schrecklich gewesen ist. Sie haben nicht gewusst, wohin sie sich wenden sollen. Für das Gefühl von Stabilität und Einigkeit ist das wichtig gewesen. Ich denke nicht, dass das noch notwendig ist. Es ist Zeit, das gut sein zu lassen.

Wird darüber im Land diskutiert?

Shevchenko: Ja, es gibt eine Debatte in der Medienwelt darüber. Aber da gibt es noch eine andere Seite der Geschichte: Die meisten ukrainischen Nachrichtenstationen gehören Oligarchen. Insofern waren sie nicht das beste Beispiel für unabhängigen Journalismus.

»Selenskyj hat die Medien gehasst. Er hat Journalisten bevormundet, sie angeschrien und versucht, sie in der Öffentlichkeit in Verlegenheit zu bringen

Wie sehen Sie den Blick der internationalen Medien auf die Ukraine?

Shevchenko: Sehr kritisch. Wirklich vieles ist aus dem Kontext gerissen. Das ist der große Vorteil, den wir haben. Wir kennen die Akteure und Quellen seit Jahrzehnten, ihre Verbindungen und Abhängigkeiten.

Haben Sie ein Beispiel für fehlenden Kontext?

Shevchenko: Ja, die Berichte über das angeblich von Nazis durchsetzte Asow-Bataillon. Das Asow-Bataillon ist eine Kampfeinheit der ukrainischen Armee, mitunter eine der besten. Ich nehme an, es gibt überall auf der Welt in Armeen leider Rechtsextreme. Eine italienische Journalistin ist ganz überrascht gewesen, als ich ihr gesagt habe, dass das eine offizielle Kampftruppe der ukrainischen Armee ist. Sie hat gedacht, die wären eine paramilitärische Gang.

Ist das auf russische Propaganda zurückzuführen?

Shevchenko: Natürlich. Die greifen Fehler westlicher Journalisten auf, teilen sie weiter und blasen sie auf.

Wie stark ist Russlands Propaganda in der Ukraine?

richtigen Wörter in Bezug auf die Ukraine verwendet, weil da so viele Fehler gemacht werden.

Ist das Narrativ, die Ukraine und Russland müssen weg von den Waffen und zurück zu Verhandlungen, auch ein solches russisches Narrativ?

Shevchenko: Gäbe es eine Diskussion in Österreich darüber, welcher Teil des Staatsgebietes zurückgeht an einen Aggressor, der Zivilisten gefoltert, Frauen und Kinder vergewaltigt hat? Natürlich nicht. Eine Debatte darüber ist auch unmöglich, weil Selenskyj sie politisch nicht überleben würde. Er muss liefern.

Und danach? Selenskyj ist kein Freund der freien Presse.

Shevchenko: Wir kennen ihn ja nicht erst seit dem 24. Februar 2022. Es war schrecklich mit ihm. Meine Chefredakteurin Olga Rudenko hat ihn in der New York Times als sehr dünnhäutig beschrieben. Er hat die Medien gehasst. Er hat Journalisten bevormundet, sie angeschrien und versucht, sie in der Öffentlichkeit in Verlegenheit zu bringen. Er weiß, dass er Journalisten nicht braucht. Er hat die Wahl dank Social Media gewonnen.

Machen Sie sich Sorgen, dass sich autoritäre Strukturen verfestigen und bleiben?

Shevchenko: Wir hatten unsere Auf und Abs mit Präsidenten und Machtwechseln. Das soll aber nicht heißen, dass Selenskyj aus dem Schneider sein sollte. Er wird sich für alles verantworten müssen – für das, was er gemacht hat, und für das, was er machen wird. Das zeichnet die ukrainische Demokratie, Zivilgesellschaft und die freie Presse aus. Wir haben hart um sie gekämpft, sie ist jetzt alt genug. Wir haben in sie investiert, um sie für immer zu verankern. Sie wissen ja: Die freie Presse war in der Ukraine nie eine Selbstverständlichkeit.

Der Kyiv Independent wurde vor einem Jahr von ehemaligen Kyiv-Post-Redakteuren und -Redakteurinnen gegründet und ist die wichtigste englischsprachige unabhängige Nachrichtenplattform in der Ukraine. Er finanziert sich über internationale Förderungen, Crowdfunding und bis zum Krieg auch durch Inserate

Shevchenko: Sie setzen dafür nicht viele Ressourcen ein, sie konzentrieren sich darauf, von außen zu manipulieren. Mit plumpen Fake News, mit klassischer Propaganda, die ein Körnchen Wahrheit enthält, sie aber verdreht. Etwa wenn sie behaupten, dass die Ukraine ein Gesetz verabschiedet hat, wonach jeder, der humanitäre Hilfe von Russland annimmt, ins Gefängnis kommt. Und es gibt tatsächlich ein Gesetz zu humanitärer Hilfe des Feindes, aber das mit dem Gefängnis steht nicht drin. Am wirkungsmächtigsten ist die russische Propagandamethode der falschen Narrative.

Wie beispielsweise?

Shevchenko: Sie ist weit verbreitet und von westlichen Intellektuellen verinnerlicht, ich höre sie oft auf Konferenzen. Etwa wenn Russlands Ex-Regierungschef Michail Gorbatschow als Kämpfer für Frieden in der Welt gehuldigt wird. Stimmt schon, aber Gorbatschow hat auch die Annexion der Krim befürwortet. Oder wenn die New York Times titelt „Russia lost territory in Southern Ukraine“. Wann hat Russland je Gebiete in der Ukraine gehabt? Oder wenn etwas als Referendum bezeichnet wird, das keines ist. Oder auch, wenn nach wie vor ukrainische Städte wie Odessa in der russischen Schreibweise angeführt werden.

Wir vom Kyiv Independent haben ein eigenes Glossar zusammengestellt, wie man die

Sie sind 33. Wie hat Ihre Generation gelernt, wie freie Presse und investigativer Journalismus funktionieren?

Shevchenko: Als ich vor zwölf Jahren angefangen habe, hat es vielleicht fünf unabhängige Medien gegeben, zwei davon waren Radiostationen. Die Kyiv Post hatte diesen westlich geprägten Zugang. Sie war 26 Jahre am Markt, bis es zum Bruch mit dem Eigentümer kam, weil er dem Druck der Regierung nachgab. Die Kernmannschaft kündigte und baute den Kyiv Independent auf. Viele meiner Kollegen waren in den USA zur Ausbildung, auf Praktika, ich nicht. Ich habe dann ein nationales Journalistenaustauschprogramm gegründet, um kritischen Journalismus auch in die Regionen zu bringen. Wir haben tausend Journalisten ausgebildet, sie sind heute das Rückgrat der freien Presse im Land. Ohne internationale Förderer und Crowdfunding wäre das nicht möglich gewesen.

Wie nachhaltig ist das?

Shevchenko: Förderung durch Sponsoren ist zwar großartig, um zu starten, aber es ist nicht nachhaltig. Der Krieg ist vorbei, das nächste historische Ereignis passiert, sie ziehen weiter. Deshalb ist es so wichtig, dass wir inzwischen finanziell unabhängig sind. Und wenn Sie mich jetzt nach einer Presseförderung der Regierung fragen: Die gibt es natürlich nicht. F

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Fortsetzung von Seite 25 FOTO: BARBARA TÓTH Transkription und Übersetzung: Maria Motter

NACHSPIEL DIE KULTURKRITIK DER WOCHE

IM BURGTHEATER WURDE DER DEUTSCHSPRACHIGE POETRY-SLAMMEISTER 2022 GEKÜRT. SCHÖN WAR’S!

Kultur in der Krise? Von wegen. Schauspiel gibt es heute keines, und doch ist die Hütte ausverkauft. Das Publikum ist an diesem Samstag auch jünger und hübscher als bei einem Konzert der Toten Hosen, die das Burgtheater einst auch zweckentfremdet haben. Worte stehen trotzdem drei kurzweilige Stunden lang im Zentrum: In ihrer 26. Ausgabe finden die deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaften erstmals in Wien statt, und das große Einzelfinale steigt – wenn schon, denn schon – in besonderem Rahmen.

Yasmo und Henrik Szanto, zwei lokale Größen, führen charmant, unterhaltsam und respektvoll durch den Abend, Bundespräsident Alexander Van der Bellen – er hat den Ehrenschutz des Finales inne – grüßt eingangs per Videobotschaft und erklärt launig und selbstironisch die Regeln. Sie sind eh ganz einfach:

selbstgeschriebene Texte, keine Verkleidung, keine Hilfsmittel wie Musikinstrumente, kein Schnickschnack, maximal sechs Minuten Redezeit, und: lieb sein. Elf zufällig aus dem Publikum ausgewählte Menschen vergeben Punkte (Höchstwertung: 10,0); am Ende treten die besten drei gegeneinander an. Der poetischste Text des Abends, eine kunstvolle Liebeserklärung an den toten Großvater, bleibt zwar unbelohnt. Die Nutzung der Bühne als Therapieort setzt sich letztlich – bei allem Respekt vor der Ausbreitung persönlicher Traumata – auch nicht durch. Am Ende gewinnt, mit gleich mehrmals 10,0-Jurypunkten, der eindrucksvollste Beitrag: eine spielerisch-autobiografische und mitreißend vorgetragene Ballade über die Schwierigkeiten, heutzutage ein Poet zu sein – und das schiere Glück von Kunst an sich. Florian Wintels ist ein würdiger Sieger des Slam 22; vom Publikum gefeiert und von der Konkurrenz geherzt.

Gerhard Stöger war schon auf vielen Rapkonzerten. Jetzt hat er auch seinen ersten Poetry-Slam erlebt

FEUILL ETON

Emanzipatorischen Zwecken dient Identitätspolitik meines Erachtens

nicht mehr wirklich.

„Nur die Wahrheit führt zur Freiheit“, Seite 36

Früher American Country Girl, jetzt Songwriting-Superstar: Taylor Swift bricht alle Rekorde. Zehn Songs aus ihrer Feder belegen die besten Plätze in den US-Charts. Ihr Album „Midnights“ legt Spotify lahm. Top Ten Taylor!

Um Einfluss auf die Midterm-Wahlen in den USA zu nehmen, hat Russland seine Trolle und Bots reaktiviert. Deren Ziel: konservative Wähler aufhetzen und finanzielle Hilfen für die Ukraine schlechtmachen. Gar nicht drollig.

Die LowRise-Jeans feiern ein Comeback. Die aus der Hose blitzenden Tattoos in Form von Arschgeweihen und Ansätze von Po-Ritzen sind wieder da. Das passende Accessoire zu Buffalo-Plateauschuhen.

FALTER 45/22 27 FOTOS: AFP/VALERIE MACON, UNSPLASH, ARCHIV
GUT
JENSEITS
BÖSE

Vom Hofnarr zum König

Der Wiener Poet André Heller fälschte vermutlich ein Werk des Künstlers Jean-Michel Basquiat. Der Schwindel platzt mitten in den geplanten, streng geheimen Verkauf von Hellers Gesamtkunstwerk „Luna Luna“

Verschlafen und mit nacktem Oberkörper, so öffnete der Künstler Jean-Michel Basquiat die Tür zu seinem New Yorker Atelier. André Heller und der damalige Mitarbeiter Georg Resetschnig mussten oft lange warten, ehe sie empfangen wurden. „Dann ging Basquiat aber durchaus enthusiastisch an die Arbeit“, erinnert sich Resetschnig.

Die Treffen fanden anlässlich des Projekts „Luna Luna“ statt, eines 1987 unter Hellers Regie von Künstlern gestalteten Vergnügungsparks in Hamburg. Heller keilte die kreativen Köpfe seiner Zeit –von Keith Haring bis Manfred Deix. Sie alle gestalteten Kunstwerke für diesen Wurstelprater der Avantgarde.

Heller lernte in New York auch den Straßenpoeten Jean-Michel Basquiat kennen. Basquiat fertigte für ihn comichafte Skizzen an, die später für „Luna Luna“ auf ein Riesenrad übertragen wurden. Nach seinem frühen Tod 1988 landeten einige dieser Miniaturen auf dem Bilderrahmen, den Heller als einen „Altar“ seines Kollegen ausgab und 2018 um 800.000 Euro verkaufte.

Der vom Falter aufgedeckte RahmenSkandal (siehe Kasten Seite 31) kommt zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Im Hintergrund laufen nämlich die Vorbereitungen für einen geheimen Deal. „Luna Luna“ soll verkauft und reaktiviert werden. Für Hellers Nachruhm eine große Nummer.

Dem Falter liegen Informationen vor, dass der Themenpark noch im November in den USA verkauft werden soll. 1990 hatte Heller das Gesamtkunstwerk an die Stephen and Mary Birch Foundation veräußert, ein Geschäft, das einen langen Rechtsstreit nach sich zog. Die Birch-Stiftung zahlte die Hälfte der Summe, zögerte dann aber, die restlichen drei Millionen Dollar zu überweisen. Die Amerikaner beanstandeten, dass die Urheberrechte nicht geklärt seien.

Erst rund zwei Jahrzehnte später bekam Heller Recht und die in Container verpackten Werke wanderten von Wien in die USA. Nun will eine Gruppe von Interessenten die Karusselle und Geisterbahnen renovieren und wieder in Betrieb nehmen.

Bei der Recherche stieß der Falter auch auf Dieter Buchhart, jenen Kunsthistoriker, den Heller genarrt hat. Heller erzählte Buchhart, dass Basquiat den „Voodoo-Altar“ anfertigte, der später an einen Sammler verkauft wurde – auch aufgrund von Buchharts enthusiastischem Katalogtext.

Bisher gab sich Buchhart als neutraler Wissenschaftler und Kurator aus, doch er verfolgt offenbar auch geschäftliche Interessen. Im Jahr 2021 gründete der Wiener nämlich gemeinsam mit Heller und zwei weiteren Partnern in Santa Monica, Kalifornien, das Unternehmen Lunatopia. „Die Firma soll ,Luna Luna‘ neu inszenieren“, sagt Buchhart dem Falter. „Ich habe aber meine Mitarbeit im März 2022 beendet.“ Heller log also keinen Fremden, sondern

einen späteren Geschäftspartner an. Derzeit ist eine New Yorker PR-Agentur mit der Präsentation beauftragt. Vorab besuchte ein Kamerateam Heller in Marrakesch, wo er die Hälfte des Jahres wohnt, um die Sensation filmisch zu begleiten. Auch der kanadische Rapstar Drake soll dem Käuferkonsortium angehören.

ré war elf Jahre alt, erlebte die Familie eine Überraschung: Im Testament standen keine Millionenbeträge, sondern Schulden.

Der Falter deckte auf, dass dieser Rahmen von André Heller als Werk von Jean-Michel Basquiat ausgegeben und um 800.000 Euro verkauft wurde

Heller bestätigte den bevorstehenden Deal in einem Gespräch mit dem Falter Ende Oktober. Er sei als Berater in das Projekt involviert. Ob der danach bekannt gewordene Rahmen-Skandal einen Einfluss auf den Vertragsabschluss hat, konnte nicht geklärt werden. Weder aus dem Büro Heller noch von der New Yorker PR-Managerin Sarah Goulet kamen Antworten auf unsere Anfragen.

„Luna Luna 2022“ rückt Heller als eine Art Überkünstler ins Zentrum. Zeit seines Lebens hatte er gegen das Vorurteil zu kämpfen, eher ein Vermittler und Unternehmer als ein origineller Kreativer zu sein. Der Fälschungsverdacht könnte die späte Rehabilitierung verhageln – der ein buntes Künstlerleben vorausgeht.

André Heller stammt aus betuchten Verhältnissen. Vater Stephan Heller war Erbe eines Süßwarenkonzerns. Er kam aus einer jüdischen Familie und entwickelte sich zum radikalen Katholiken und Monarchisten, der den Ständestaat als Bollwerk gegen die Nazis verteidigte. Seine Kontakte zu Mussolini ermöglichten ihm 1938 die Flucht, die schließlich nach London führte, wo Heller militärische Aufgaben für die französische Exilregierung übernahm. Seine 19 Jahre jüngere „arische“ Frau Elisabeth Wenig blieb während des Krieges in Österreich.

Als Francis Charles Georges Jean André Heller-Huart 1947 auf die Welt kam, musste alles rasch gehen. Der Vater wollte eine Reise nicht verschieben, daher wurde eine vorzeitige Geburt eingeleitet. Franzi, wie Heller von Freunden genannt wird, fand als Kind Zuflucht bei der Großmutter – und in der Fantasie.

Wer Heller in seiner Wohnung in der Wiener Innenstadt besucht, bekommt einen starken Händedruck, eine Führung durch die beeindruckende Kunstsammlung und eine Einladung nach Marrakesch. Auf dem Programm stehen meist auch Geschichten aus der Kindheit.

Zur wahren Schule wurde das Café Hawelka in der Wiener Innenstadt, das Heller mit 14 zum ersten Mal betrat – mit einem Gehstock aus Silber. Hier versammelten sich vom Leben gezeichnete Exilanten und brillante Jungkünstler: der Dichter H.C. Artmann oder die aus London heimgekehrte Essaystin Hilde Spiel, die bei dem Teenager an die träumenden Knaben der Zeit um 1900 dachte.

Auch heute erinnert sich der alte Knabe gern an die Zeit, als mit Schmäh philosophiert wurde. So rückt er die Fälschung des Basquiat-Rahmens in die Nähe jener practical jokes, wie sie der Schauspieler Helmut Qualtinger ausheckte.

Qualtinger alarmierte etwa 1951 die Wiener Presse und trat am Westbahnhof als verkleideter Eskimodichter Kobuk vor die Kameras. Diese Satiren entstanden aber an der Peripherie des Kulturbetriebs, der von Klassikerpflege und Antimoderne beherrscht war. Artmann oder auch die Wiener Aktionisten, die einmal sogar die Villa Heller versauten, attackierten den reaktionären Mainstream. 2022 kann Heller den Joker Bürgerschreck freilich nicht mehr ausspielen. Er ist ein vermögender Kulturunternehmer, der Gärten und Immobilien besitzt –früher Hofnarr, heute König.

Ein produktiver Geltungsdrang führte den Künstler bereits früh auf die Bühne. Der neu gegründete Popsender Ö3 engagierte ihn 1967 als Moderator. Provokant und allürenhaft wie ein Star, stieg der 20-Jährige zum Jugendidol auf. Die Rolle als Interviewer erschien ihm rasch unbefriedigend. Wenn wenige Jahre ältere Musiker wie Brian Jones von den Rolling Stones ins Studio kamen, dachte sich der Journalist vermutlich: Eigentlich sollte ich befragt werden. Her mit dem Mikro!

Ich war vollkommen darauf programmiert, dass das Wunderbare selbstverständlich ist

Heller erzählt von den tropischen Reisen ins Schönbrunner Palmenhaus und von der Faszination, die das Zaubertheater des Biedermeier-Dichters Ferdinand Raimund auf ihn ausübte. „Ich war vollkommen darauf programmiert, dass das Wunderbare selbstverständlich ist“, meint Heller in Christian Seilers Biografie „Feuerkopf“.

Zuhause wurde hochdeutsch und französisch gesprochen, vor der von Adolf Loos eingerichteten Hietzinger Villa wartete der Chauffeur. Der rebellische Sohn flog von einer Schule, dann von der nächsten. Als der Vater 1958 überraschend starb, And-

Im Jahr 1970 erschien sein erstes Album „Nr. 1“, mit dem Heller die in ihn gesetzten Erwartungen als Enfant terrible enttäuschte. Statt Gitarrenlärm gab es Schlager und in der Folge an französische Vorbilder angelehnte Chansons. So begann eine erfolgreiche Liedermacherkarriere. Im Rampenlicht kann er leise und zärtlich sein, die melodiöse Stimme wechselt zwischen Sprechen und Singen. Der begabte Erzähler weiß Pausen und Pointen zu setzen.

Den Ruf des Verwerters wurde Heller allerdings nie ganz los. Seine Gedichte lesen sich wie aufgewärmter Surrealismus. Die Chansons klangen nach Jacques Brel, den Wiener Dialekt holte er sich vom Dichter H.C. Artmann. In Österreich reichte der Schatten von Celebrities mitunter, um selbst zu glänzen. Bildbände dokumentieren den Besuch Andy Warhols in Wien oder den Ausflug von Popsänger David Bowie zu

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FOTO: FAKSIMILE KATALOG W&K-WIENERROITHER & KOHLBACHER, WIEN 2016 Fortsetzung Seite 30
PORTRÄT: MATTHIAS DUSINI
FEUILLETON FALTER 45/22 29 FOTO: ERNST KAINERSTORFER/PICTUREDESK.COM
Impresario und Künstler in Personalunion: André Heller vor seiner Traumstation, 1987 in Hamburg

Oben: „Luna Luna“ bei Nacht (links im Bild das Riesenrad von Jean-Michel Basquiat). Links: André Heller vor dem Salvador-DalíPavillon

Fortsetzung von Seite 28

den Art-Brut-Künstlern in Gugging – begleitet von André Heller.

Wo endet die Verneigung, wo beginnt die Piraterie? Der schleißige Umgang mit dieser Frage holt Heller in der Rahmen-Affäre ein. Die einen nennen es Inspiration, die anderen geistigen Diebstahl. In Hellers künstlerischen Aneignungen schwingt stets auch etwas Überheblichkeit mit, nach dem Motto: Das kann ich auch.

Vom verhinderten Dichter zum Radiomoderator. Vom Chansonnier zum Mitgründer des Zirkus Roncalli. Heller hatte bereits mit 30 ein eindrucksvolles Patchwork-Œuvre geschaffen. Die Bezeichnung Impresario war der Hilfsausdruck. Bevor Eventmanager oder Kurator zu Berufsbildern wurden, machte der Wiener daraus ein Geschäftsmodell. Er spürt Talente auf

und verwendet sein Netzwerk, um Projekte umzusetzen.

So auch bei „Luna Luna“, das Heller einmal als das Gelungenste bezeichnete, was er je gemacht hat. „Luna Luna“ wurde 1987 auf der Moorweide eröffnet, einem Park in Hamburg, und hat eine kuriose Entstehungsgeschichte.

Der deutsche Heinrich Bauer Verlag feierte das 40-jährige Jubiläum des Magazins Neue Revue. In der Hochzeit der Printmedien ließ sich mit Bildern nackter Mädchen viel Geld verdienen, und so stellte der Verleger Heinz Heinrich Bauer ein Budget von rund zwölf Millionen D-Mark (rund sechs Millionen Euro) zur Verfügung, ein angesichts des Projekts gleichwohl lächerlich geringer Betrag. Doch Heller verstand es zu improvisie-

ren. Auf seiner Wunschliste standen Stars wie der Popmaler Roy Lichtenstein. Jedem Teilnehmer bot er nur 30.000 D-Mark (15.000 Euro) an, eine Summe, die damals gerade einmal eine Lichtenstein-Grafik kostete. Dennoch sagten alle zu. Der Kurator erreichte sein Ziel, indem er die Künstler zu einer sentimentalen „Reise in die Kindheit“ einlud.

So entstand eine wilde Mischung aus Globalem und Lokalem. Der New Yorker Street-Artist Keith Haring steuerte seine Strichmännchen bei, Österreichs Zeichner Manfred Deix dekorierte den „Palast der Winde“, in dem Kunstfurzer auftraten.

Die Teilnahme von Andy Warhol scheiterte am Einspruch der Kollegen, die ihn für zu kommerziell hielten. Heller selbst verwirklichte sich mit der Ballonskulptur „Traumstation“. Die Zeitungen schwärmten, die Hamburger standen im Regen Schlange.

Als das Spektakel nach drei Monaten zu Ende war, stellte sich die Frage: Wohin damit? Die Stadt Wien meldete Interesse an. Der damalige Finanzstadtrat Hans Mayr (SPÖ) prüfte im Auftrag von Bürgermeister Helmut Zilk die Möglichkeit eines Ankaufs. Das Wien Museum sollte den Wanderzirkus übernehmen, doch das Geschäft platzte in letzter Sekunde.

„Ich war gerade in Japan, da bekam ich die Nachricht, dass die Krone einen Artikel darüber plant, was für ein Skandal der Ankauf sei“, erinnert sich Heller. Auch der grüne Abgeordnete Herbert Fux wetterte gegen den „Schas mit Quasteln“. Und gegen die Reizfigur Heller.

In den 90er-Jahren bekam der Kulturmanager Großaufträge wie die Gestaltung der Swarovski-Erlebniswelt in Tirol. In der Kunstszene formierte sich Widerstand

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FOTOS: MICHAEL PROBST/DPA/PICTUREDESK.COM; WERNER BAUM/DPA/PICTUREDESK.COM

gegen Hellers Traumgebilde. Der Wiener Schriftsteller Antonio Fian verglich ihn 1989 sogar mit Adolf Hitler: Beide seien gescheiterte Künstler, die die Massen verführten. Etwas übertrieben, befindet Fian heute, aber am Urteil über den Dichter hält er fest: „Lauter falsche Bilder.“

Dessen Vorliebe für Exotisches begeisterte zwar das Publikum, wirkte in der politisch wachen Gegenwart jedoch aus der Zeit gefallen. Shows wie „Body & Soul“ (1988) oder „Afrika! Afrika!“ (2005) zelebrierten schwarze Körper als begehrenswerte Tanzbären. Obwohl als Verneigung vor afrikanischer und afroamerikanischer Kultur gedacht, hielten manche Kritiker Hellers Aneignungen für klischeebehafteten Ethnokitsch.

Dessen Begabung für Sponsoring wiederum war linken Kritikern zuwider. Angesichts aktueller Kunstmarktexzesse wirken die damaligen Diskussionen rührend. Museen haben sich in Entertainmentparks verwandelt, und die Kunst verlor ihren elitären Nimbus. Während Großausstellungen wie die Documenta sich oft hinter erklärenden Kommentaren verstecken, zelebrierte Heller sinnliche Unmittelbarkeit.

Sollte der vor 30 Jahren zerlegte Lunapark wieder fahrtüchtig gemacht werden, dann passt er perfekt in den zeitgenössischen Kommerz. Als Geschäftsmann kennt Heller alle Kniffe. Wie der Tagesanzeiger 2017 herausfand, landeten seine Honorare und Verkaufserlöse zeitweise bei steuerlich attraktiven Firmen in der Schweiz.

Über den Preis für „Luna Luna“ kann nur spekuliert werden. Kunstexperte Otto Hans Ressler, der in Wien ein Auktionshaus betreibt, wagt eine oberflächliche Schätzung. Aufgrund des „Luna Luna“-Katalogs stellte er eine Liste zusammen, deren Einzelposten stark differieren. Roy Lichtensteins Beitrag wird mit 20 Millionen Euro ausgewiesen, der „Palast der Winde“ von Manfred Deix mit 120.000 Euro.

Insgesamt kam Ressler auf einen Schätzwert von 45 Millionen Euro. Dabei ging der Experte allerdings davon aus, dass die Werke von den Künstlern selbst ausgeführt wurden oder zumindest die Entwurfszeichnungen zur Verfügung stehen. Im Fall von

Der Falter löste durch seinen Bericht über André Hellers mutmaßliche Kunstfälschung eine Vielzahl von Reaktionen aus

Basquiat treffen diese Kriterien nicht zu. Die Zeichnungen wurden von Heller verkauft beziehungsweise auf den berüchtigten Rahmen gepickt.

Unabhängig davon, ob Hellers Schwindel rechtliche Konsequenzen hat, ist der moralische Schaden groß. Der Mann mit den vielen Eigenschaften gehört zu den wichtigen politischen Rednern des Landes. Im eigens angeschafften Daunenmantel fuhr er im Winter 1984 in die Hainburger Au, um mit Umweltschützern gegen die Rodung der Wälder und den Bau eines Kraftwerks zu demonstrieren.

Bei den Veranstaltungen der Friedensbewegung trat er als Mahner auf. Was Heller sagt, findet Gehör – auf der Straße und

in der Hofburg beim Bundespräsidenten. Politisch links stehend war der Künstler vor allem in den Augen seiner konservativen Gegner. Er engagiert sich zwar mit einer in Österreich seltenen großbürgerlichen Liberalität für Menschenrechte. Die Selbststilisierung als Snob erweckt allerdings den Eindruck, als würde er über den Dingen schweben.

Zuletzt verstummte die Kritik. Junge Musiker entdeckten Heller als einen Ahnherr des Austropop wieder. Kulturjournalisten reisten nach Marokko und ließen sich vom Magier bezirzen. Zum 75. Geburtstag im März 2022 verneigte sich der ORF vor dem „Universalgenie“. Das Denkmal wankt. F

Der Fall Heller: Von der Süddeutschen

In der letztwöchigen Titelgeschichte ging es um einen Kunstskandal. André Heller hat einen „Voodoo-Altar“ fabriziert, den er als Werk von Jean-Michel Basquiat ausgab. Zuerst bot Heller das Objekt 2017 über die Wiener Galerie Wienerroither & Kohlbacher auf der New Yorker Tefaf gemeinsam mit einer Basquiat-Zeichnung um sechs Millionen Dollar an. Schließlich verkaufte er das Objekt um 800.000 Euro. Vom Falter mit den Tatsachen konfrontiert, kaufte Heller den „Rahmen“ zurück, wohl um eine Anzeige wegen Betrugs zu vermeiden.

Zahlreiche österreichische Medien berichteten, vom Boulevard bis zu den Feuilletons. Auch große ausländische Zeitungen wie die Süddeutsche oder die NZZ griffen das Thema auf. Die englischsprachige Netzzeitung Artnews machte den „kindischen Streich“ in der Kunstwelt bekannt. Mit großem Interesse verfolgten Südtiroler Medien die Story, weil Heller dort einen künstlerisch gestalteten Garten plant. Die Gegner des Projekts sehen sich in ihren Vorbehalten gegenüber dem Universalkünstler bestärkt. Die Beteiligten selbst reagierten

unterschiedlich. Heller wies im Kurier weite Teile des Falter-Berichts pauschal als unwahr zurück. Der verhohnepipelte Kunsthistoriker Dieter Buchhart schaltete eine New Yorker PR-Agentur ein. Er will richtiggestellt wissen, dass er nur einen Essay und keine Expertise zum Heller-Rahmen geschrieben hat.

Auch die Galeristen Lui Wienerroither und Ebi Kohlbacher schrieben eine Erwiderung. Zuerst empörten sie sich darüber, dass sie von Heller hinters Licht geführt worden seien. Dann stellten sie den ursprünglichen Preis von drei Millionen Dollar infrage, den sie Interessenten auf der Kunstmesse Tefaf genannt haben sollen. Im Katalog ist ausdrücklich von einem „selbstständigen Kunstwerk“ die Rede, was die Kunsthändler nun anders darstellen. Wienerroither und Kohlbacher streiten ab, dass der Rahmen als Basquiat angeboten wurde, obwohl er im allgemeinen Tefaf-Katalog als solcher geführt wurde. Warum haben sie ihre Zweifel nicht früher geäußert? Der Kunstskandal könnte eine Fortsetzung bekommen. MD

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bis zum empörten Kunsthistoriker

„Heroic Purgatory“ (1970): Die Figuren stehen nicht mehr im Zentrum der Bildkomposition

„Eros, Anarchie, Anti-Cinema“: Bis 23. 11. im Österreichischen Filmmuseum (OmenglU)

Der Bilderstürmer

Kiju Yoshida ist ein radikaler Neuerer des japanischen Kinos. Eine Retrospektive lädt zur Wiederentdeckung des Regisseurs ein

HOMMAGE: GERHARD MIDDING

Im Gegensatz zur landläufigen Meinung besitzt die Farbe Weiß keine Selbstverständlichkeit im Kino. Vielmehr rührt ihr Einsatz an ein Tabu. Es scheint zwar Klarheit zu versprechen, doch das Weiß lässt sich schwer kontrollieren, es droht, Konturen und Hintergründe verschwimmen zu lassen. Das Leben und seine Gewissheiten lösen sich auf.

Kein anderer Regisseur hat das Weiß mit dem gleichen Wagemut eingesetzt wie Kiju Yoshida, dessen Werke derzeit im Österreichischen Filmmuseum gezeigt werden. Er geht verschwenderisch mit ihm um, taucht seine Bilder in gleißende Helligkeit. Sie legt sich wie ein Schleier über die Szenerien und Gefühle, der die Wirklichkeit nicht verbirgt, sondern eine andere Wahrheit sichtbar werden lässt.

Yoshida, geboren 1933 in Fukui, ist ein Bilderstürmer, der in der Filmgeschichte Seinesgleichen sucht. Unter den Protagonisten der Neuen Welle, die sich im japanischen Studiosystem im Jahr 1960 Bahn bricht, ist er der entschlossenste Stilist. Bei der stolzen, traditionsbewussten Produktionsfirma Shochiku gehen seinerzeit weder Nagisa Oshima noch Masahiro Shinoda – beide Kollegen Yoshidas – so weit in ihren formalen Suchbewegungen.

Das Schlagwort des „Anti-Kinos“, das ihm gern zugeordnet wird, führt indes nicht weit. Nein, bei diesem Regisseur gelangt das Medium in den Vollbesitz seiner Kräfte. Es ist durchdrungen von den eigenen Möglichkeiten, zu denen eben auch die Verweigerung des Geläufigen, der Konventionen zählt. Schon seine ersten Filme gehen eine Wette mit der Moderne ein, in fiebrigem Schwarzweiß und Cinemascope.

Sie hebeln radikal die bürgerlichen Gewissheiten aus, welche die Melodramen aus dem Hause Shochiku bis dahin beschworen.

In seinem Regiedebüt „Good for Nothing“ (1960) richtet sich die jugendliche Rebellion gegen gesellschaftlich vorgeschriebene Biografien; sie äußert sich indes auch in der Verleugnung der eigenen Gefühle. Das melancholische Einverständnis mit dem häuslichen Leben, das in den Filmen eines Yasujiro Ozu herrscht, ersetzt Yoshida durch eine schroffe Analyse der Korruption persönlicher Beziehungen.

Die Zeit ist rissig, die Choreografie der Darstellerinnen und Darsteller sowie der Kamerabewegungen brüsk; die Perspektiven überschlagen sich. Stets meint man, im Hintergrund den Herzschlag der Großstadt zu hören. Darin liegt auch eine ideologische Spannung. Die Studentenproteste gegen die Verlängerung des Sicherheitsvertrages mit den USA anno 1960 spielen beim Regisseur eine eher unterschwellige Rolle. Vielmehr diagnostiziert er eine Amerikanisierung der Geschäftswelt, des Nachtlebens und der urbanen Szenerie.

Die Wahl seiner Themen verrät durchaus einen Einfluss Hollywoods: Die grimmige Mediensatire „Blood Is Dry“ (1960) greift die Grundkonstellation von Frank Capras „Hier ist John Doe“ auf; das Resozialisierungsdrama „18 Who Cause a Storm“ (1963) erinnert an „Teufelskerle“ mit Mickey Rooney (wiewohl der Lehrmeister bei Yoshida ebenso viel dazulernen muss wie seine Schützlinge); und die Vertrautheit, die sich zwischen dem Erpresser und seinem Opfer in „Woman of the Lake“ (1966) entwickelt, weckt Assoziationen zu „Schweigegeld für Liebesbriefe“ von Max Ophüls. Diese möglichen Vorbilder unterzieht er freilich einer Revision, die am französischen Existenzialismus geschult ist.

Sein frühes Meisterwerk „Akitsu Springs“ (1963), in dem er ein melodramatisches Panorama der Nachkriegszeit entfaltet, steht gleichermaßen im Zeichen von Suche, Entdeckung und Reife. Im darauffol-

»Yoshidas Inszenierung erstreitet sich eine stilistische Freiheit, die den filmischen Raum radikal neu vermisst

genden Jahrzehnt erfindet er sein Kino mindestens zweimal neu. Yoshidas wichtigste Komplizin ist die Schauspielerin Mariko Okado, die ihre Karriere als MainstreamStar aufgibt, um ihm zu folgen, als er mit der Filmgesellschaft Shochiku bricht. Gemeinsam nehmen sie brisante Themen wie Inzest oder künstliche Befruchtung in Angriff und stellen unerbittliche Fragen nach weiblicher Selbstbestimmung in der japanischen Gesellschaft.

Yoshidas Inszenierung erstreitet sich eine stilistische Freiheit, die den filmischen Raum radikal neu vermisst. Die Figuren sind oft nur im Anschnitt zu sehen, die Architektur macht ihnen den Platz streitig, dominiert sie, zersplittert ihre Existenz. Es gibt keinen Alltag mehr in den Bildern, ihm wird jede Selbstverständlichkeit verwehrt. Zurück bleibt ein existenzielles Geworfensein

In seiner Trilogie über politische Extreme, die 1969 mit „Eros + Massacre“ beginnt und mit „Heroic Purgatory“ und „Coup d’Etat“ ihre Fortsetzung findet, spitzt sich Yoshidas ebenso weitläufige wie klaustrophobe Rauminszenierung noch einmal zu; weiterhin in Schwarzweiß, aber neuerdings im klassischen Bildformat.

Die komplexen Geometrien der Gefühle werden nun historisch verortet. Yoshida knüpft vielschichtige, thematische wie szenische Verbindungen zwischen Geschichte und Gegenwart. Diese elegischen, zugleich kämpferischen Studien über Anarchie und Freiheit zeigen ein Japan, das die eigenen Widersprüche nicht aushält.

Danach kommt er dem japanischen Kino abhanden, etliche Projekte scheitern oder können erst nach Jahrzehnten realisiert werden; fünf Jahre lebt Yoshida in Mexiko und schreibt ein anspielungsreiches Buch darüber. Auch sein brillanter, ebenso persönlicher wie wachsamer Essay über Yasujiro Ozu harrt der Übersetzung. F

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FOTO: VIENNALE

„Das Ich ist höchstens der Hausmeister“

Claudia Müllers eleganter Dokumentarfilm über Elfriede Jelinek besticht als Hommage ebenso wie als zeithistorische Montage

FILMKRITIK: KLAUS NÜCHTERN

Wenn der Verlag Elfriede Jelineks demnächst erscheinenden Prosatext „Angabe der Person“ – es ist der erste seit 15 Jahren – als „Lebensbilanz“ ankündigt, werden nur Ahnungslose damit rechnen, dass die Autorin ihr Privatleben preisgibt. Zwar hat sie sich in ihrem Werk stets auch auf die eigene Herkunft bezogen und die Kindheit, zerrissen zwischen dem Katholizismus der Großmutter, dem Musikdrill der übermächtigen Mutter und dem Sozialismus des jüdischen Vaters, als „unerschöpfliche Hassbatterie“ genutzt.

Aber eben bloß als Material, das demselben „fernen Blick“ ausgesetzt wird, mit dem Jelinek generell auf die Gesellschaft blickt, um die Macht- und Geschlechterverhältnisse zur Kenntlichkeit zu entstellen. Nichts ist ihr verdächtiger als die Berufung auf die Authentizität des selbst Erlebten und Erlittenen. Das Ich sei nicht Herr im eigenen Haus, sondern „höchstens der Hausmeister, der die Böden des Bodenlosen aufwischt“, heißt es in einem ihrer Texte.

Schon der Titel von Claudia Müllers Dokumentarfilm „Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“ bringt den Ansatz der österreichischen Autorin auf den Punkt: Es ist der kontrollierte Kontrollverlust. Eine souveräne, verlässliche Erzählerin oder zur Identifikation einladende Figuren wird man in den Texten Jelineks nicht finden; alles ist hier Sprachmaske und Rollenprosa. Aber gerade indem sich die Autorin den Assoziationen, Assonanzen, semantischen Ambivalenzen und kruden Kalauern überlässt, wird etwas zutage gefördert, das sonst im Verborgenen bliebe: Nicht die Autorin, die Sprache selbst spricht es aus.

Die Regisseurin, die davor Filme über Jenny Holzer, Valie Export oder Helmut Lang gedreht hat, wird der Protagonistin ihrer jüngsten Arbeit auf ebenso exemplarische wie elegante Weise gerecht. Neben Archivmaterial, das auch Familienfotos und Interviews mit Jelinek enthält, ist es vor allem die Ton-Bild-Montage, die den Duktus der Doku bestimmt: Ruhige Kamerafahrten werden mit Texten aus dem Off kombiniert, durch die Bank großartig gelesen

von Sandra Hüller, Maren Kroymann, Stefanie Reinsperger, Ilse Ritter, Sophie Rois und Martin Wuttke. Bei aller barocken Sprachgewalt der Jelinek’schen Prosa gewinnt der Film dadurch eine sanfte Suggestivität, die einen dem Gegenstand absolut entsprechenden Zug ins Unheimliche aufweist: Die dräuende Präsenz der steirischen Bergwelt und die historistische Architektur des Burgtheaters werden einander irritierend ähnlich.

Als öffentliche Person war die bei ihren Auftritten stets untadelig gestylte Autorin nicht nur eine Stilikone, sondern auch eine Ikone der Zeitgeschichte. So wie auch „die Dohnal“ verkörperte „die Jelinek“ eine politische Haltung, die beileibe nicht nur Männer provozierte. Mit geradezu biblischem Furor arbeitete sie sich an Todsünden wie „Lust“ (1989), „Gier“ (2000) und „Neid“ (2008) ab, kratzte unermüdlich und verbissen am dünnen Firnis der Zivilisiertheit einer sich kultursinnig und sportnarrisch gerierenden Nation, unter dem nichts als Niedertracht und Barbarei sichtbar wurden.

Zur Persona non grata wurde Jelinek 1985 durch ihr Stück „Burgtheater“. Dass dieses an die Nazi-Vergangenheit der geradezu religiös verehrten Schauspielerin Paula Wessely erinnerte, die sich für den üblen

Elfriede Jelinek: Angabe der Person. Rowohlt. 192 S., € 25,50. Erscheint am 15. 11.

„Was soll an mir schon echt sein?“

Literatur als Zeugnis eines authentischen Ich war Elfriede Jelinek immer schon suspekt

„Elfriede Jelinek –Die Sprache von der Leine lassen“.

Ab 10. 11. im Kino

Nazi-Propagandafilm „Heimkehr“ (1941) hergegeben hatte, konnten ihr viele nicht verzeihen.

Die „notorische Nestbeschmutzerin“ sollte ihren Ruf nicht mehr loswerden. Als ihr 2004 der Literaturnobelpreis verliehen wurde, konnte man in Funk und Fernsehen die Stimmen der „Menschen von der Straße“ vernehmen, die sich über die Entscheidung echauffierten, ohne je eine Zeile der Ausgezeichneten gelesen zu haben. Jelinek, die, von einer Angststörung geplagt, sich außerstande sah, den Preis in Stockholm persönlich entgegenzunehmen, zog sich endgültig aus der Öffentlichkeit zurück und hat seitdem keine Interviews mehr gegeben. Es ist selbst für Zeitzeugen, die seinerzeit „dabei waren“, überraschend, wie scharf und schmerzvoll Grandioses und Gemeines ins Gedächtnis gerufen wird: Ereignisse, die man schon halb vergessen hatte oder gern vergessen hätte. Einar Schleefs kongenial wuchtige und wahrlich sportliche Uraufführung des „Sportstücks“ (1998); die geradezu gruseligen Auftritte des christliche Werte beschwörenden Kurt Waldheim; die schneidende, manipulative Kälte Jörg Haiders. Die Deutsch- und Geschichtelehrer dieses Landes mögen ihre Klassen scharenweise in die Kinos treiben! F

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FOTO: POLYFILM Wiener Liedkunst IM HEURIGEN HENGL-HASELBRUNNER FREITAG 22:00h auf Dein
Wiener Stadtfernsehen im Kabelnetz von Magenta, A1 TV, Kabelplus, SimpliTV, R9-Satellit und auf W24.at

Buch der Stunde Ohren auf Pop für den Herbst

Nick Cave über Menschenliebe, Musik und mehr

Der australische Musiker Nick Cave, Jg. 1957, hat etwas Manisches. Er ist der beste Songwriter seiner Generation; neben regelmäßig neuen Platten produziert er auch Soundtracks, schreibt Bücher und gibt seinen Fans über die Website „Red Hand Files“ mit Antworten auf persönliche Fragen empathisch Lebenshilfe. Er dreht Filme, eignet sich neue Kunstformen an (zuletzt die des Keramik-Handwerks), spielt alleine an seinem Klavier das beste

Nick Cave, Seán O’Hagan: Glaube, Hoffnung und Gemetzel.

A. d. Engl. von Christian Lux. Kiepenheuer & Witsch, 336 S., € 27,50

aller Lockdown-Konzerte, verwandelt Konzerte in erhebende Predigten, die selbst anonyme große Hallen in intime kleine Clubs verwandeln, und, und, und.

Nur Interviews gibt der Rastlose schon lange keine mehr. Weil es ihn langweile und ermüde, wie er sagt. Nun liegt ein ganzes Gesprächsbuch vor, in vielen Stunden mit dem nordirischen Autor und Journalisten Seán O’Hagan während der Pandemie entstanden. Die beiden kennen einander schon lang und offenbar ziemlich gut; ihr Austausch ist geprägt von Offenheit und Intensität.

Die Passagen übers Musikmachen sind dabei fast die uninteressanten, obwohl auch sie Bemerkenswertes enthalten. Etwa die esoterisch anmutende, in Caves Worten aber durchaus schlüssige Erklärung, das Album „Ghosteen“ (2019) sei ein Raum für den Geist seines im Teenageralter tragisch verstorbenen Sohnes.

Cave erzählt, warum er auch in ärgsten Junkie-Tagen stets eine Bibel zur Hand hatte; er spricht rührend über seine 93-jährig verstorbene Mutter, seine einstige Freundin, die Musikerin Anita Lane (1960–2021), und seine Frau Susie, für die er endgültig clean wurde. Er beschreibt seine Wandlung vom Wüterich zum Menschenfreund, zeichnet Gemetzel mit Bandkollegen nach, schimpft über Social Media („Twitter ist im Grunde nur eine Fabrik, die Arschlöcher hervorbringt“) und preist, poetisch und realistisch zugleich, die lebensverändernde Kraft von Kunst, insbesondere Musik. Teils leicht ausfransend und redundant, meist aber stark, pointiert und uneitel selbstreflexiv. GERHARD STÖGER

Neue Platten

Pop

Thomas Andreas Beck: Ernst Ein Mann im Porträt, von der grauen Bartspitze bis zur angeschnittenen Stirn; der Blick nachdenklich, die Schwarz-WeißÄsthetik vor allem von düsteren Tönen geprägt: Dieses Albumcover illustriert den Inhalt treffend. Im Trio mit Thomas Pronai (git, dr) und Georg Allacher (p, git) fasst Thomas Andreas Beck Themen unserer Zeit in ebenso eindringlichen wie erschütternden Austro-Liedermacherpop wie Persönliches; schroffe Härte verbindet er mit behutsamer Zartheit.

(MMF) GS

Jazz

Eve Risser Red Dessert Orchestra: Eurythmia Das zwölfköpfige Ensemble der französischen Komponistin und Pianistin Eve Risser ist eine Art transkontinentales Fusion-Projekt, das afrikanische Perkussivität und Klangfarben mit einem meist getragenen Bläsersatz, Minimal-Elementen und gelegentlich solierenden Einzelstimmen kombiniert. Am überzeugendsten gelingt das auf dem über einem ostinaten suggestiven Groove entwickelten Stück „Gämse“ (ja, genau die). Insgesamt: gefällig, aber unterkomplex. (Clean Feed) KN

Neue Bücher Popmusik für Groß und Klein

Die Band Pulp machte in den 1990ern mit die aufregendste Musik auf dem Planeten – hochemotional, schlau, außenseiterhaft, eminent eingängig und tanzbar. In „Good Pop, Bad Pop“ erzählt Frontman Jarvis Cocker die Vorgeschichte – seine ersten 25 Jahre bis zu jenem Fenstersturz, der ihm neben fürchterlichen Verletzungen einen neuen Fokus bescherte. Es geht um die bescheidenen Anfänge eines nerdigen Popfanatikers, der selbst Popstar werden will.

Diese Geschichte wurde so ähnlich schon oft erzählt, doch selten derart charmant. Cocker hat eine ungewöhnliche Rahmenhandlung gewählt: Er wühlt sich durch die Inhalte eines alten Dachbodens, auf dem er Erinnerungsstücke gelagert hat, lässt die Dinge erzählen. So entsteht ein faszinierendes Mosaik über frühe Obsessionen und Einflüsse, das auch die Wurzeln der Kreativität erforscht. Fortsetzung erwünscht! SF

Jarvis Cocker: Good Pop, Bad Pop. Die Dinge meines Lebens.

A. d. Englischen v. Harriet Fricke & Ingo Herzke. Kiepenheuer & Witsch, 400 S., € 28,80

Klassik

Pandolfis Consort: Vivaldi Antonio Vivaldi ist vor allem für seine „Vier Jahreszeiten“ bekannt. Neben den berühmten Konzerten komponierte der geweihte Priester auch geistliche Musik für weibliche Solostimmen. Die Motetten entstanden für die Mädchen in den venezianischen Waisenhäusern, wo Vivaldi als Musiklehrer tätig war. Das Originalklangensemble Pandolfis Consort interpretiert die Arien mit Aleksandra Zamojska, deren glockenreiner Sopran ein wahres Koloraturfeuerwerk entfacht. (Gramola) MDA

Kinder mögen Musik. Und damit ist keinesfalls zwingend jene penetrante Geräuschkulisse gemeint, die oft unter „Kindermusik“ läuft. Matthäus Bär weiß das, mit seinen Kinderliedern begegnet der Wiener den Kleinen frech und lustig, unterfordert sie aber keine Sekunde. Nun lädt er seine Fans mit einem Kinderbuch ein, in die „erwachsene“ Popmusik hineinzuschnuppern.

Von Jacqueline Kaulfersch mit farbprächtigen Porträts hübsch illustriert, stellt Bär 26 prägende Musikerinnen und Musiker vor, von „A“ wie Agnetha (Abba) bis „Z“ wie Ziggy Stardust alias David Bowie. Die Auswahl ist gelungen, die erklärenden Kurztexte sind kindgerecht einfach und doch informativ, die Reime zu jeder Person angemessen verblödelt und ziemlich lustig: „Er wird doch wohl nicht heiser bleiben? Tom singt wie 30 Eisenreiben“, heißt es etwa über Tom Waits. GS

Matthäus Bär: Elvis, Kate & Ziggy. Kleines Alphabet der Popmusik.

Illustr. von J. Kaulfersch. Matthey & Melchior, 64 S., € 14,90

Es ist Frühling in Paris. Hoppla, stimmt nicht. Dann ist etwas Komisches passiert. Die französische Popband Phoenix veröffentlicht mit „Alpha Zulu“ (Glassnote) erstmals in fast 25 Jahren ein Album nicht im Lenz. Zweite Premiere: Mit Ezra Koenig (Vampire Weekend) ist in einem Song eine Gaststimme zu hören. Müssen wir uns Sorgen machen?

Iwo, die 2020 im Musée des Arts décoratifs im Louvre ertüftelte Musik hat alles, was Phoenix ausmacht. Es sind kleinteilige Stücke, bei denen jedes Rädchen magisch ins andere greift. Stilistisch entpuppt sich „Alpha Zulu“ als bunter Abend mit Electro-Pop, Indierock aus der „Wolfgang Amadeus Phoenix“-Ära und mantrahaften Balladen. Die Texte schwanken zwischen Melancholie und rätselhaften Assoziationen („There’s a purple cloud in the consommé“), die Musik zaubert ein Lächeln auf die Lippen. Très beau.

Das kanadische Duo Junior Boys ist ähnlich lang aktiv, und Jeremy Greenspan und Matt Didemus könnten durchaus entfernte Verwandte sein. Ihr neues Album „Waiting Game“ (City Slang) klingt wie das AmbientEcho, das nach einem Phoenix-Song im Raum bleibt. War die Musik der Junior Boys immer schon zurückhaltend – höflicher Bedroom-Synthiepop, falls es dieses Genre gibt –, haben sie aus den neuen Songs jeglichen Dekor rausgeschmissen: Beats, überschüssigen Text, bisweilen auch Melodien. Mitunter sind nur ein, zwei Keyboard-Akkorde und ein Wabern zu hören, aber es ist genau das richtige Wabern. Freundlicher Geisterpop.

Die texanische Rockband Spoon steigt in die Fußstapfen von Massive Attack und Primal Scream. Studiotüftler Adrian Sherwood fertigte eine Dub-Version ihres Albums „Lucifer on the Sofa“ an. „Lucifer on the Moon“ (Matador) filtert die Gitarren weitgehend raus, groovt dafür amtlich und lädt zum Kopfnicken ein.

SEBASTIAN FASTHUBER

34 FALTER 45/22 BÜCHER : PLATTEN FOTO: SHERVIN LAINEZ
Quirlige Musik, assoziative Texte und ein Quäntchen Melancholie: Phoenix
Herr Ober, da ist eine violette Wolke in meiner Consommé!
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Politische Lieder sind schwierige Dinger, allzu oft stör’n erhobene Zeigefinger“, lautet eine popkulturelle Bauernregel. Gleichzeitig ist der passende Soundtrack natürlich ein wichtiges Mittel, die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen – um eingangs gleich den alten Polit-Popstar Karl Marx zu bemühen.

Songs, die mehr als nur unterhalten wollen, tappen tatsächlich oft in Fallen. Der Inhalt ist dann wichtiger als die Form, anstatt Lieder setzt es verknappte Referate mit Musikbegleitung. Vermeintliche Klarheit verkommt zu platter Parole, kluge Reflexion im Gegenzug zur voraussetzungsreichen Seminararbeit.

Der konkrete Anlass verpasst Protestliedern einen Zeitstempel und schreibt ihnen so ein Ablaufdatum ein. Oder natürlich das klassische Dilemma: Wer die Botschaft empfängt, stimmt ohnedies mit dem Sender überein, das sogenannte preaching to the converted also. Wobei Letzteres nicht unbedingt schlecht sein muss: Auch Überzeugte wollen Bestätigung, und bisweilen wollen sie ihre Bestätigung sogar tanzen.

„Keine Macht für Niemand“, das im Oktober 1972 erschienene zweite Album der Berliner Umstürzler-Rockband Ton Steine Scherben, ist voller Parolen und in einzelnen Texten sogar anlassgebunden tagesaktuell. Und doch hat die Platte bis heute nichts von ihrer Strahlkraft verloren.

Statt einer überteuerten DeluxeBox voll unnötigem Schnickschnack liegt zum runden Geburtstag nun ein liebevoll gestalteter „Songcomic“ vor, der die Platte Stück für Stück visuell aufbereitet. Erschienen im Mainzer Ventil-Verlag, der neuerdings verstärkt auch popkulturelle Graphic Novels produziert, zuletzt etwa zu Tocotronic und Fehlfarben.

Stilistisch facettenreich, liefern diverse Zeichnerinnen und Zeichner in „Keine Macht für Niemand“ teils nahe an den Songtexten bleibende, teils aber auch freie Interpretationen der zwölf Lieder. So nutzt Bianca Schaalburg „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ etwa, um eigene Erinnerungen an die Straßenschlacht am 1. Mai 1987 in Berlin einzubringen.

„Man hat das Gefühl, die Fronten waren damals klarer und die Kämpfe einfacher“, schreibt Reinhard Kleist in der Vorbemerkung zu dem von ihm illustrierten Lied „Menschenjäger“ über die 70er-Jahre. „Das ist aber wohl ein naives Trugbild gewesen. Wir sind heute desillusionierter geworden. Die Träume sind aus.“

Die hier so vielfältig ins Bild gesetzten Lieder wurden weit über das Jahr 1972 hinaus zum Soundtrack von Hausbesetzungen und Straßenschlachten, von basisdemokratischen Sitzkreisen und anarchistischen Aktionen. Vor allem aber zählt „Keine Macht für Niemand“ bis heute zu den mitreißendsten, überzeugendsten und stärksten Popplatten deutscher Zunge. Rio Reiser – 1996 verstorbener Sänger, Texter und Posterboy des Aufbegehrens – fasste hier einen

Planet Stockhausen: Der exzentrische Komponist als Comic-Superheld

OHREN AUF, AUGEN AUF: SEBASTIAN FASTHUBER

Was zum Teufel haben wir da gerade gehört? Der deutsche Autor, Hörspiel-Macher und Graphic-Novel-Spezialist Thomas von Steinaecker ist in den 1980ern in Oberviechtach aufgewachsen, einem bayrischen Dorf nahe der Grenze zur damaligen Tschechoslowakei. Ein Ort, an dem einander Fuchs und Hase gute Nacht sagten. Entfernung zum nächsten McDonald’s: 78 Kilometer. Er verbrachte seine Kindheit im Wesentlichen mit Lesen, Ministrieren und Musikhören.

Eines Tages konfrontierte sein Vater ihn und seinen Bruder in den großen Ferien mit Klängen, wie sie aus dem Radio garantiert nicht drangen. „Ich habe jetzt hier mal ein bisschen was anderes für euch“, sprach er und legte eine Platte mit den Stücken „Gesang der Jünglinge“ und „Kontakte“ von Karlheinz Stockhausen (1928–2007) auf. Zunächst bogen sich die Buben vor Lachen über diese merkwürdige Musik – ja, war das überhaupt Musik?

Rebellischer Pop von zeitloser Strahlkraft

„Keine Macht für Niemand“ wird 50. Eine Graphic Novel erinnert an das große Album von Ton Steine Scherben

Moment des gesellschaftlichen Aufbruchs und destillierte daraus in der Zeit verhaftete und doch zeitlos große Lieder. Seine Band lieferte die Musik dazu; recht konventionell rockig zwar, aber voll Dynamik und Wucht, zugleich auch an den richtigen Stellen zurückhaltend und leise.

Unter all den Parolen, die Ton Steine Scherben geliefert haben, ist „Keine Macht für Niemand“, der Titel von Platte und Buch, die bekannteste – so verwirrend die doppelte Verneinung auch sein mag. Aber klar, gemeint war die anarchistische Utopie eines herrschaftsfreien Miteinanders, ein jeder nach seinen Bedürfnissen, eine jede nach ihren Fähigkeiten.

Das martialisch anmutende „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ wurde bereits erwähnt, der zugehörige Text schmeckt längst bitter: „Wir brauchen keinen starken Mann, denn wir sind selber stark genug“, heißt es da, oder: „Aus dem Weg Kapitalisten, die letzte Schlacht gewinnen wir. Schmeißt die

Knarre weg Polizisten, die rote Front und die schwarze Front sind wir.“ „Allein machen sie dich ein“, noch so ein Slogan-Songtitel, wirkt in Zeiten von Selbstoptimierung und Ellbogengesellschaft ebenfalls anders als in der aus linker Sicht hoffnungsfrohen Zeit nach 1968. Das Lied proklamiert solidarisches Miteinander, unterlegt von kämpferischer Musik. „Und du weißt, das wird passieren, wenn wir uns organisieren“, verspricht die Band am Ende radikalen Wandel.

Der Hamburger Diskurspunk und Theatermacher Schorsch Kamerun – als Sänger der Goldenen Zitronen selbst Mitautor eines dicken Kapitels im Buch des deutschen Polit-Pop – hat das Lied heuer als eindringliche Ballade neu interpretiert, enthalten auf dem Debüt seiner Zweitband Raison. Die Ästhetik dieser Version legt nahe, dass das mit Organisation und Umbruch anno 2022 nichts wird. Was bleibt, ist die Sehnsucht danach. F

Doch dann legte der zwölfjährige Thomas die Platte noch einmal auf. Und noch einmal. Auf Einkaufsfahrten nach München wurden weitere Werke angeschafft und in der Folge zuhause studiert. Beim Stockhausen-Hören konnte er sich als Teenager wie ein Astronaut fühlen. „Die Platten waren wie Tickets zu einem fremden Planeten“, schreibt Steinaecker in „Stockhausen. Der Mann, der vom Sirius kam“.

Der voluminöse Band ist nur Teil eins einer großen Bilderzählung. Gemeinsam mit dem Ilustrator David von Bassewitz hat Steinaecker in jahrelanger Arbeit eine mehrbändige Graphic Novel über Stockhausen konzipiert, die keine konventionelle Biografie auftischt. Sie zeigt zwar ausschnitthaft auch Stationen aus dem Leben des Komponisten, ist im Grunde aber eine Feier der Strahlkraft seiner abstrakten Musik und exzentrischen Arbeitsmethoden.

Grandios sind Bassewitz’ Visualisierungen der Kompositionen als Wirbel aus Bildern, Zahlen und Worten. Zugleich erzählt das Buch die Geschichte einer Freundschaft.

Steinaecker näherte sich seinem Superhelden einst als Fan, woraus in dessen letzten Lebensjahren eine enge Beziehung erwuchs. F

Thomas von Steinaecker, David von Bassewitz: Stockhausen. Der Mann, der vom Sirius kam. Carlsen, 400 S., € 45,30

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Ton Steine Scherben um Rio Reiser auf dem Cover des neuen Songcomics. Keine Macht für Niemand. Ein Ton Steine Scherben Songcomic. Hg. von Gunther Buskies und Jonas Engelmann. Ventil, 128 S., € 26,50
ABBILDUNG: REINHARD KLEIST/VENTIL VERLAG PAROLENCHECK: GERHARD STÖGER

„Nur die Wahrheit führt zur Freiheit“

Der Historiker, Politologe und Theoretiker Achille Mbembe gehört zu den wichtigsten Stimmen des zeitgenössischen Afrika. Ein Gespräch über globale Klimapolitik, Entkolonisierung, Restitution und ein neues planetarisches Bewusstsein

Selbstbewusst schreibt der Historiker und Politikwissenschaftler Achille Mbembe gegen europäische Gewissheiten an. Er kritisiert die Klischees über Afrika, die seiner Einschätzung nach in kolonialistischer Schuld und Verleugnung wurzeln. Der aus Kamerun stammende und in Südafrika lehrende Theoretiker entwickelt seine Ideen auf der Grundlage französischer Philosophen wie Michel Foucault.

In der franko- und anglophonen Welt hoch angesehen, stößt der Gelehrte in Deutschland auf weniger Gegenliebe. Mbembe sollte 2020 bei der Ruhrtriennale einen Vortrag halten. Dagegen protestierten mehrere Politiker und Publizisten, da sie dessen Haltung zu Israel als antisemitisch einstuften. Er lehne Antisemitismus aus tiefer Überzeugung ab, konterte Mbembe empört.

Der Verein Afrieurotext, der in der Lassallestraße 20/3 eine Buchhandlung und in Jaunde, Kamerun, eine Berufsschule für Frauen betreibt, lud Mbembe zu einem Vortrag nach Wien ein. Der Falter sprach mit ihm über Raubkunst, Entwicklungshilfe und den Klimawandel.

Falter: Herr Mbembe, wir würden Ihnen eingangs gern eine Frage stellen, die uns Journalisten im Alltag beschäftigt. Sie verwenden das im Deutschen verpönte Wort „nègre“. Warum?

Achille Mbembe: Ich weiß nicht, wie es im Deutschen ist, aber im Französischen hat das Wort „nègre“ mehrere Bedeutungen. Zum einen bezieht es sich auf schwarze Menschen, die in der westlichen Imagination eine spezielle Rolle spielten: Vom 15. bis zum 17. Jahrhundert wurde dem „nègre“ der Status des Menschseins verweigert. In diesem Sinn ist das ein aggressiver Begriff, der die Objektivierung menschlicher Wesen zum Ausdruck bringt. Anfang des 20. Jahrhunderts gab die Négritude-Bewegung „nègre“ eine neue Bedeutung. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat dann eine junge Gruppe von Dichtern und Autoren wie Aimé Césaire oder Léopold Sédar Senghor dem Wort zu neuer Anerkennung verholfen, indem sie die „Négritude“ auf afrikanische Zivilisationen bezogen haben. Die von der Geschichtsschreibung ignorierten Kulturen brachten großartige Kunstwerke hervor. So bekam der Begriff eine aufrührerische Qualität, mit der es sich zu spielen lohnt. Daher verwende ich ihn in meinen Texten.

Eine Ihrer Thesen lautet, dass der moderne Kapitalismus und der liberale Staat nur möglich waren, weil es die Sklaverei gab. Wie hängt das eine mit dem anderen zusammen?

Mbembe: Das ist eine historische Wahrheit. Die erste neuzeitliche Globalisierung fand im Kontext des Sklavenhandels statt. Sie beginnt mit der sogenannten Entdeckung, in Wahrheit der Eroberung der beiden Amerikas nach Christoph Columbus. Sie geht weiter mit der Einführung eines Plantagensystems in den USA. Es beruhte

INTERVIEW:

MATTHIAS

DUSINI, LINA PAULITSCH

FOTOS:

HERIBERT CORN

auf der Ausbeutung von Arbeit: dem Roden von Wäldern und der Trockenlegung von Sümpfen. Die Arbeitssklaven wurden aus Afrika importiert, die Produkte Zucker und Baumwolle nach Europa exportiert. Das Handelsdreieck Afrika, Amerika, Europa war die Basis der ersten Globalisierung, die im 16. Jahrhundert begann und bis zur Abschaffung der Sklaverei im 19. Jahrhundert andauerte.

Sie schreiben auch über den christlichen Glauben, den Sie als emanzipatorische Illusion bezeichnen. Ist das Christentum nicht auch ein Import aus dem Westen? Mbembe: Die christliche Kirche entwickelte sich in Nordafrika, bevor sie sich in Europa ausbreitete. Wir haben also eine lange Tradition, zu der auch bedeutende Theologen wie der algerische Kirchenvater Augustinus gehören. Daher kann man nicht sagen, dass das Christentum von außerhalb kam. Mit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches und dem Vormarsch des Islam seit dem 7. Jahrhundert ist die Kirche aus Afrika – mit Ausnahme von Äthiopien – weitgehend verschwunden. Eine zweite Phase der Christianisierung hat dann mit den Portugiesen im 15. Jahrhundert begonnen. Die portugiesischen Könige schickten Missionare in den Kongo. Es entwickelte sich ein Mix aus afrikanischer und christlicher Kultur, der in Bildern und Texten überliefert ist. Die dritte Phase geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Es gibt also eine komplexe Geschichte des Austauschs und der Adaption christlicher Kultur.

Worin zeigt sich das?

Mbembe: Wenn Sie heute zum Beispiel nach Kamerun fahren und einen Gottesdienst besuchen, hören sie christliche Hymnen in lokalen Sprachen. Die Ornamente in den Kirchen sind afrikanisiert. Der Kontinent hat also diese Fähigkeit, Dinge, die von außen kommen, in etwas Eigenes zu verwandeln. Die Fähigkeit zur Adaptierung, zur Kreolisierung, wie das auch genannt wird.

Deutschland und Frankreich haben der Rückgabe bereits zugestimmt. Sollte Österreich folgen?

Mbembe: Auch Österreich kann sich an einer mittlerweile globalen Bewegung beteiligen. Es geht inzwischen nicht mehr nur um staatliche Museen in Frankreich, Deutschland oder Belgien, sondern auch um private Institutionen in Großbritannien und den USA. Österreich kann von dem veränderten Verhältnis zu afrikanischen Gesellschaften nur profitieren.

Kritiker hierzulande sagen, dass Österreich bzw. das Kaiserreich nie ein richtiges Kolonialreich war. Zählt dieses Argument?

Mbembe: Diese Frage müssen die Zuständigen selbst beantworten. Ich weiß nur, dass man keine Kolonialmacht gewesen sein muss, um in seinen Museen Objekte zu haben, die von anderen geschaffen wurden. Darum geht es: Um Kunstwerke in westlichen Museen, die auf Wegen hierher gelangten, die wir recherchieren müssen. Auch menschliche Überreste stehen zur Debatte, die von Ethnologen hierher gebracht wurden. Jetzt ist die Zeit gekommen, darüber zu sprechen. Nur die Wahrheit führt zur Freiheit.

Restitution ist ein Aspekt dessen, was Sie Entkolonisierung nennen. Was können westliche Staaten dazu beitragen, die koloniale Vergangenheit zu überwinden? Mbembe: Entkolonisierung ist ein gewaltiges Projekt. Vor allem geht es darum, allgemein verbindlich festzustellen, was in der Vergangenheit passiert ist. Die Konflikte, die wir heute erleben, wurzeln in Unwissenheit oder der Weigerung, zu wissen. Wir müssen verstehen und anerkennen, was geschehen ist. Modellhaft sieht man das in Ländern wie Südafrika. Nach dem Ende der Apartheid gab es die Bereitschaft zu verstehen, dass nicht nur die Unterdrückten, sondern auch die Unterdrücker zerstört wurden. Erst das gegenseitige Verständnis hat einen neuen Start möglich gemacht. Dann gibt es die Möglichkeit einer Reparatur, nicht nur von Afrika, sondern des ganzen Planeten. Wir stehen vor riesigen Herausforderungen, etwa durch die Klimakrise, die wir nur gemeinsam bewältigen können.

Achille Mbembe, geboren 1957, ist ein kamerunischer Historiker und politischer Philosoph. Mbembe lehrt nach Stationen an US-Universitäten heute an der University of the Witwatersrand in Johannesburg, Südafrika. Zu seinen wichtigsten Publikationen gehören „Kritik der schwarzen Vernunft“ (2014) und „Politik der Feindschaft“ (2017), auf Deutsch erschienen im Suhrkamp Verlag. Mbembe ist auch ein großer Fußballfan. Er hält zu Kamerun und Arsenal London Fortsetzung Seite 38

Gegenwärtig wird die Frage diskutiert, ob westliche Museen Kunstwerke nach Afrika zurückgeben sollen. Auch das Weltmuseum Wien besitzt Benin-Bronzen, die Ende des 19. Jahrhunderts in Nigeria geraubt wurden. Soll der österreichische Staat die Objekte restituieren?

Mbembe: Ich würde zunächst einmal sagen, dass es prinzipiell einen ernsthaften Dialog darüber geben sollte, inwiefern wir die kulturellen Schätze teilen können, die aus Afrika stammen und heute in westlichen Museen lagern. Dieser Dialog muss das Thema Restitution ansprechen, aber auch die Frage, wie solche Leistungen des menschlichen Geistes zirkulieren können. Restitution geht für mich Hand in Hand mit der Verbesserung der Beziehungen zwischen Europa und Afrika. Die Schönheit dieser Schöpfungen soll von allen geteilt werden.

Welche Rolle spielt die Klimakrise in Ihrem Denken?

Mbembe: Afrika hat einen minimalen Anteil an der Zerstörung der Biosphäre, vielleicht drei oder vier Prozent der Erderwärmung geht auf unsere Kappe. Die Hauptverantwortlichen sind die USA, Europa und China. Das erzeugt eine fundamentale Ungerechtigkeit bei der Verteilung der Lasten, die notwendig sind, um die beschädigte Erde zu reparieren. Ich spreche bewusst nicht von Reparationen, sondern von Reparaturen. Mein neues Buch heißt „Earthly Community“. Darin geht es um die Notwendigkeit, den Planeten gemeinsam zu bewahren.

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»Afrika ist 30 Millionen Quadratkilometer groß. Am Ende des Jahrhunderts werden hier zwei Milliarden Menschen leben. Wir brauchen keine Hilfe, sondern Bedingungen, die es den Leuten erlauben, für sich zu sorgen ACHILLE

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Achille Mbembe gilt in Europa als der bekannteste Theoretiker des afrikanischen Kontinents
MBEMBE

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Restitution gehört zu dieser Forderung nach Gerechtigkeit. So könnte sich eine neue Ökologie der Beziehungen entwickeln.

Was hat die Ökologie mit der kolonialen Vergangenheit zu tun?

Mbembe: Kolonialismus war nicht nur Gewalt gegen die Menschen und deren Körper, sondern auch gegen deren Umwelt und Seinsweisen. Baumwolle wurde etwa eingeführt und zu einem zentralen landwirtschaftlichen Produkt gemacht, das ging auf Kosten von Nahrungsmitteln, die für die Menschen wichtig waren. Wenn sie heute nach Senegal oder Mali gehen, finden sie riesige Flächen, die durch den Anbau von Baumwolle ausgelaugt wurden. Auch durch den Anbau von Erdnüssen kam es zu Erosionen, die Böden geben nicht mehr viel her.

Denken Sie allein daran, was den Wäldern angetan wurde, dann sehen Sie, wie stark der Kolonialismus die Natur bedroht hat.

Was kann der Westen dagegen unternehmen?

Mbembe: Es gibt eine Verpflichtung zur Wahrheit. Die größte Schwierigkeit des Westens in seiner Beziehung zum NichtWesten ist die Anerkennung von Wahrheit. Das ist der Kern einer Politik gegenüber den Menschen in den ehemaligen Kolonien. Verantwortung zu übernehmen ist der erste Schritt zur Gerechtigkeit.

Die Wahrheit ist ein großer Kontinent. Könnten Sie bitte etwas konkreter sein?

Mbembe: Auch die Objekte im Weltmuseum Wien gehören dazu. Sie kommen ja nicht von alleine hierher. Sie haben nicht gesagt, okay, uns gefällt es nicht mehr in Afrika, lasst uns nach Europa ziehen. Gewöhnlich wissen wir, was passiert ist. Sie wurden den Leuten weggenommen.

Wer übernimmt den Job Wahrheit?

Mbembe: Historiker, Aktivisten, Politiker. In Südafrika wurde etwa eine Truth-andReconciliation-Kommission eingerichtet. Menschen wurden gefoltert und umgebracht, oft nicht einmal begraben. Die Wahrheit beginnt mit der Aufarbeitung dieser Verbrechen. Mein Eindruck ist aber, dass der Westen ein echtes Problem mit der Wahrheit hat. Die Bewohnbarkeit des Planeten ist die zentrale Frage des 21. Jahrhunderts. Wenn er die erhalten will, müssen wir da ansetzen.

Das Problem kommt vielleicht daher, dass immer, wenn im 20. Jahrhundert jemand von der Wahrheit gesprochen hat, eine Katastrophe die Folge war. Wir denken dabei an vermeintliche Wahrheiten der politischen Ideologien.

Mbembe: Ich denke eher an Phänomene wie Fake News, die eine Krise der Vernunft zum Ausdruck bringen. Die ökologischen Aufgaben, vor denen wir stehen, sind nur gemeinschaftlich zu lösen.

Was sind die praktischen Konsequenzen? Soll der Westen Afrika bei ökologischen Krisen helfen?

Mbembe: Was meinen Sie mit helfen?

Wir denken an finanzielle und ökonomische Hilfe.

Mbembe: Wir brauchen keine Hilfe!

Warum nicht?

Mbembe: Afrika ist 30 Millionen Quadratkilometer groß. Am Ende des Jahrhunderts

werden hier zwei Milliarden Menschen leben. Wir brauchen keine Hilfe, sondern Bedingungen, die es den Leuten erlauben, für sich zu sorgen. Dazu gehört ein politisches System, das die Freiheit gewährt, individuelle Verantwortung zu übernehmen. Es muss eine Existenzgrundlage garantieren. Wir brauchen Handelsabkommen, die einen fairen Handel etwa mit unseren Rohstoffen ermöglichen. Warum wir keine Hilfe brauchen, lässt sich auch anhand von Zahlen belegen. Die Geldsummen, die von der Diaspora in die Heimatländer überwiesen werden, sind bei weitem höher als die ausländischen Unterstützungen. Umgekehrt fließt ein Betrag in europäische oder karibische Steuerparadiese ab, der höher ist als die ausländischen Investitionen.

Sie meinen also, dass das ganze Konzept der Entwicklungshilfe falsch ist?

Mbembe: Ja. Seit 60 Jahren wird es probiert, ohne dass nennenswerte Fortschritte gemacht worden wären.

Wie sollen wir die Klimakrise bewältigen?

chen einen großen Teil meiner intellektuellen Erziehung aus. Ich habe Leute wie Franz Rosenzweig, Martin Buber oder Hermann Cohen studiert, diese lange deutschjüdische Tradition, die bei französischen Philosophen wie Emmanuel Levinas oder Jacques Derrida weiterlebt. Als ich zum ersten Mal nach New York gezogen bin, habe ich viel über die Solidarität zwischen Afroamerikanern und Juden während der Bürgerrechtsbewegung gelernt. Lassen Sie es mich einfacher sagen: Wenn mir jemand Antisemitismus vorwirft, ist das ein Zeichen von Ignoranz.

Stimmt es, dass Sie den Holocaust in die Geschichte des Kolonialismus eingeordnet haben?

Mbembe: Die, die das behaupten, haben meine Texte nicht gelesen. Wie soll ich zu etwas Stellung nehmen, das ich nicht geschrieben habe?

»Kolonialismus war nicht nur Gewalt gegen die Menschen und deren Körper, sondern auch gegen deren Umwelt und Seinsweisen ACHILLE MBEMBE

Mbembe: Nicht durch Hilfe. Wir brauchen eine Zusammenarbeit auf wissenschaftlichem Gebiet. Konkret geht es auch um Ressourcen wie das Kongo-Becken, nach dem Amazonas-Gebiet der größte Speicher und Produzent von Sauerstoff weltweit. Das sollte ein Projekt für internationale Zusammenarbeit sein, aber so, dass die Menschen auf eigenen Beinen stehen können. Abhängigkeitsverhältnisse verhindern menschenwürdige Lebensumstände.

Präsident Emmanuel Macron hat Sie eingeladen, darüber nachzudenken, wie die Beziehungen zwischen Frankreich und Afrika transformiert werden könnten. Wie sieht diese Arbeit konkret aus?

Mbembe: Ich habe fast ein Jahr damit verbracht, einen Bericht über ein Projekt zu schreiben. In zwölf afrikanischen Ländern sollen Menschen interviewt und Workshops organisiert werden, an denen 5000 Personen teilnehmen und ihre Ideen einbringen. Ich habe 13 Empfehlungen geschrieben, die ich Macron vorgelegt habe. Danach waren wir damit beschäftigt, einige dieser Empfehlungen umzusetzen. Wir gründen die Innovation and Democracy Foundation, die einen neuen Zyklus der Demokratisierung anschieben soll. Wir arbeiten auch an der Einrichtung des sogenannten Competition Mind, eines großen Programms für die Mobilität von Studenten und Forschern innerhalb des Kontinents und zwischen Afrika und Frankreich.

Ihnen wurde von Kritikern aus Deutschland vorgeworfen, den Holocaust zu relativieren und den Staat Israel zu delegitimieren. Verstehen Sie die Emotionen, die einige Ihrer Texte, in denen es um Juden und den Holocaust geht, auslösen?

Mbembe: Diese Kritiker sollten meine Texte genauer lesen.

Sie schreiben über den Beginn des europäischen Kapitalismus, der möglich wurde durch „andere“ – Schwarze, die von Weißen ausgebeutet wurden. In Europa selbst gab es auch „andere“, die im kapitalistischen System stigmatisiert wurden: Juden. Warum wird diese Minderheit bei Ihrer historischen Analyse des Kapitalismus nirgends erwähnt?

Mbembe: Mein Thema ist Afrika. Ich lese aber sehr viele jüdische Denker. Sie ma-

Sie werden des öfteren als Theoretiker des Postkolonialismus bezeichnet. Stimmt es, dass Sie dieses Label eigentlich ablehnen?

Mbembe: Ja, das stimmt. Auch wenn ich ein Buch geschrieben habe, das „Postkolonie“ heißt, bin ich noch lange kein postkolonialer Theoretiker. Meine Kollegen Edward Said, Gayatri Spivak oder Homi K. Bhabha sind das, aber ich gehöre sicher nicht dazu.

Was sind Sie dann?

Mbembe: Wissen Sie, ich habe in aller Welt gewohnt. Ich bin in Kamerun geboren und habe in Frankreich studiert. Dann habe ich in den USA gearbeitet und bin zurück, aber nicht in meine Heimat, sondern nach Senegal und Südafrika. Ich habe mein Leben damit verbracht, in Bewegung zu sein, wenn man so will, und als ein solcher quere ich permanent Grenzen, physisch und intellektuell. Unser Leben ist wie ein Fluss. Es fließt in eine Richtung, so lange, bis andere nachkommen.

Eine weitere Zuschreibung, gegen die Sie sich wehren, ist die Identitätspolitik, also eine Politik, die die Bedürfnisse einer bestimmten Gruppe ins Zentrum stellt. Was haben Sie gegen Identitätspolitik?

Mbembe: Identitätspolitik war etwa in den 1960er-Jahren notwendig. Afroamerikaner waren damals keine vollwertigen Bürger. Um eine Stimme zu haben, gründeten sie eigene Schulen und eigene Zeitungen. Aber in der philosophischen Tradition, der ich angehöre, war Identität immer ein Schritt zu etwas Größerem. Wenn Sie etwa Frantz Fanon oder Léopold Sédar Senghor lesen, ist Schwarzsein kein Selbstzweck. Es ist ein Schritt hin zur allgemeinen Menschheit. Doch heutzutage wollen die Menschen Grenzen. Sie wollen sich zurückziehen und unter sich leben. Emanzipatorischen Zwecken dient Identitätspolitik meines Erachtens nicht mehr wirklich.

Also sind Sie ein Neo-Universalist?

Mbembe: Ich bin für ein planetares Bewusstsein, das alles umfasst – alle Lebewesen und Dinge. Der Universalismus war lange Zeit allein eine menschliche Eigenschaft, die voller Abgrenzungen war. Wenn wir die aktuellen Herausforderungen ernst nehmen, die Klimakrise und die Bewohnbarkeit des Planeten, dann brauchen wir ein neues planetarisches Bewusstsein. Wenn Sie mir also ein Label geben wollen, dann das. Und nicht Postkolonialismus. F

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FOTO: HERIBERT CORN

Welt im Zitat Fehlleistungsschau

Kurzzeitkicker

ÖFB-Legionär Sabitzer war bei den Bayern in Minute 72 im Einsatz.

Aus dem ORF Teletext

Wieder im Dienst

Der ehemalige Ex-Parteichef Mario Eustacchio (FPÖ) und sein Team kommen durch Finanzskandal nicht zur Ruhe.

Aus derstandard.at

Gegen alles

TT: Was bleibt von Ihrer Zeit als Parteichef und Bundeskanzler?

Kurz: Inhaltlich war es der Kampf gegen Migration, Steuerentlastungen, höhere Pensionen, die Flexibilisierung der Arbeitszeit und die Zusammenlegung der Sozialversicherungen.

Aus der Tiroler Tageszeitung

Mit Nachwuchs

Die Gruppe habe „überwältigende und äußerst verstörende Beweise, dass sie Opfer einer fruchtbaren kriminellen Aktivität und schwerer Verletzungen der Privatsphäre wurden“.

Aus orf.at

Neue Arbeitskleidung

Soldat in SS-Uniform in Küche versetzt.

Aus OE24

Kränklich

Die FPÖ fuhr mit Walter Rosenkrank in Wien ein denkbar schwaches Ergebnis ein.

Aus dem Profil

Kinderpapst

Das Zweite Vatikanische Konzil wurde von Papst Johannes XXIII. (1958–1963) einberufen und von Papst Paul VI. (1897–1978) zu Ende geführt.

Aus religion.orf.at

Parteitag unter Beschuss

Xi Jinping droht Taiwan mit Militäreinsatz am KP-Parteitag in Peking.

Aus dem Standard

Alles ist relativ

Alexander Van der Bellen hat sich im Bezirk Leibnitz zwar Platz eins gesichert, aber mit 42,85 Prozent dennoch keine relative Mehrheit der Stimmen erhalten.

Aus dem Volksblatt

Betten-Werbung

Wie US-Medien schreiben, kam es am Wochenende bei einem Bettbewerb in Cleveland zu einem Eklat: Beim Abwiegen wurden Gewichte in Fischen gefunden.

Aus orf.at

Frühes Vorschulalter

Besonders oft von Vergiftungen betroffen: „Rasenmäherkinder“, wie sie Greilhuber nennt – also jene Kleinen im Vorschulalter, die überall herumkrabbeln und es lieben, sich alles Mögliche in den Mund zu stecken.

Tex Rubinowitz Die falbe Seite

Aus dem Falter.morgen

Für gedruckte Zitate erhalten Einsender ein Geschenk aus dem Falter Verlag (an wiz@falter.at)

Meldungen Kultur kurz

Neue Leitung Kunstraum NÖ

Frederike Sperling wird die neue künstlerische Leiterin des Kunstraums Niederösterreich. Sie folgt damit Katharina Brandl nach. Die in Wien lebende Kuratorin und Autorin, 32, studierte in London und Amsterdam Curating und Kunstgeschichte. Sie arbeitete kuratorisch und publizistisch etwa für den Kunstraum TBA21 in Wien oder das Kunstinstituut Melly in Rotterdam. Sperling setzte sich gegen 50 Mitbewerber aus dem In- und Ausland durch. Ihre Bestellung erfolgt auf zwei Jahre.

Mimi Parker (1967–2022)

1993 gründete Mimi Parker gemeinsam mit ihrem Mann Alan Sparhawk die US-amerikanische Band Low. Wegen ihres langsamen und minimalistischen Stils wird die Gruppe dem Subgenre Slowcore zugerechnet. In den vergangenen Jahren feierten Low große Erfolge in den Charts. Erst im Mai begeisterte das Trio im Wiener Wuk. Im Alter von 55 Jahren ist die Schlagzeugerin und Sängerin Parker nun an den Folgen einer Krebserkrankung verstorben.

Aaron Carter (1987–2022)

Sein Tod sei nicht unerwartet gekommen, urteilen Bekannte von Aaron Carter. Seit vielen Jahren kämpfte Carter mit Drogen und psychischen Problemen. Der jüngere Bruder von Backstreet Boy Nick Carter wurde noch vor der Pubertät zum Weltstar. Ende der 1990er-Jahre hatte er mit „Crush on You“ und „Aaron’s Party“ bedeutende Hits. Er ging auf Tour mit den Backstreet Boys, wurde ein Star beim Kindersender Nickelodeon und spielte als Support von Britney

Spears. Als Erwachsener stellte sich der Erfolg nicht mehr ein, Schlagzeilen über Missbrauch in der Familie und gerichtliche Streitfälle machten die Runde. Carter wurde mit nur 34 Jahren tot in seiner Badewanne in Los Angeles aufgefunden.

Salzburger Stier für Malarina

Die serbisch-österreichische Kabarettistin Marina Lacković alias Malarina erhält den Salzburger Stier 2023 für Österreich. Erst seit 2019 ist Malarina als Kabarettistin aktiv, ihr erstes Soloprogramm „Serben ster-

Nüchtern betrachtet

Klaus Nüchtern berichtet aus seinem Leben. Die Kolumnen als Buch: faltershop. at/nuechtern

Regendusche, Fegefeuer und Zahnputzbecher

Weil im Haus eine Hauptleitung verstopft ist, dürfen wir in unserer Wohnung kein Wasser verwenden. Nicht im Bad, nicht in der Küche, nicht im Klo. Kommt sonst beim Nachbarn raus. Ich hoffe, dass der Schaden bald behoben wird, denn ich habe keine Lust, ins Hotel zu gehen. Nicht in der Stadt, in der ich wohne. Haben wir nur früher mal gemacht, damit unsere Tochter und ihre Freunde feiern und unser Klo vollkotzen können (spülen durften sie damals ja). Aber das Kind ist jetzt erwachsen und hat ein eigenes Klo. In den vergangenen Wochen und Monaten war ich öfter im Hotel als in den Jahren davor. Ich habe einen (falschen) Feueralarm erlebt und mich mit einem Induktionsherd herumgeschlagen. Ich lehne Induktionsherde ab. Gut hingegen finde ich Regenduschen. Einem 20-m²Zimmer mit Regendusche würde ich den Vorzug geben gegenüber einem 23,5-m²-Hotelzimmer ohne.

Ich bin kein kapriziöser Reisender, es geht auch ohne Regendusche, wobei die gar nicht so chichi ist, wie viele annehmen, sondern sogar Wasser sparen hilft. Im Sommer habe ich in einem Nachhaltigkeitshotel gewohnt, in dem selbst die Schlüsselkarten aus Holz waren. Es gab Regendusche, aber keine Badewanne. Das ist stimmig, denn ein Nachhaltigkeitshotelzimmer mit Holzschlüsselkarte zu buchen, um dort rücksichts- und reuelos Vollbäder zu nehmen, wäre eine Form von nassem Herostratentum, die sicher mit der ein oder anderen Woche Fegefeuer geahndet würde.

ben langsam“ verhandelt Alltagsgeschichten aus serbisch-österreichischer Perspektive. Sie begeistere „mit einem listigen wie pointenreichen Mix aus angewandter Völkerkunde, politischer Satire und komödiantischer Aufarbeitung des von Stolz und Vorurteilen geprägten Verhältnisses zwischen Österreich und Serbien“, heißt es in der Begründung für die Preisverleihung. Der Salzburger Stier wird seit 1982 an Kabarettisten im deutschsprachigen Raum verliehen. Für Deutschland geht der Preis an Mathias Tretter, für die Schweiz an Dominic Deville.

Was ich definitiv in meinem Hotelzimmer vorzufinden wünsche, sind Zahnputzbecher sowie keine diebstahlsicheren Kleiderbügel. Einem Hotelgast eine dreistellige Euro-Summe für die Nacht abzuknöpfen und ihn zugleich des Kleiderbügeldiebstahls zu verdächtigen, ist eine Frechheit! Was kommt als Nächstes? Diebstahlsichere Bademäntel? Zahnputzbecher (engl.: toothbrush mugs) aber haben vorhanden zu sein, weil man ihr Fehlen nicht schriftlich einklagen, geschweige denn mündlich artikulieren möchte. Ein so kindisches Wort sollte in Erwachsenensprache eigentlich gar nicht existieren! Es steht aber im Duden, gefolgt von „Zahnputzglas“, was nicht dasselbe ist. Der böse Onlineversandhändler bietet Zahnputzgläser sowie Zahnputzbecher aus Keramik, Bambus und erdölfreiem Biopolymer an. Geht also. Mein Nachhaltigkeitshotel hätte Bambus bieten können!

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FOTO: ORF/HUBERT MICAN
Malarina gewinnt den renommierten Kabarettpreis Salzburger Stier 2023

STADTRAND URBANISMUS-KOLUMNE

DAS BEZAUBERNDE

STROMBAD KRITZENDORF IST ABGEBRANNT.

WOHIN IM SOMMER 23?

Gegen Sommerende wurde es zum Running Gag: dass das Restaurant Die Fischerin in Kritzendorf ein Feeling wie am vietnamesischen Mekong versprühe. So hatte es ein Restaurantkritiker im Standard beschrieben und damit die exzessiven Moskitos, die Häuser auf Stelzen, das asiatisch-österreichische Fusion-Essen gemeint. Und natürlich ein bisschen übertrieben.

Macht nix, das Strombad-Essen des „Es gibt Reis“-Ablegers aus der Josefstadt war köstlich, und die übervolle Alte Donau konnte mit dem Understatement des Strombads Kritzendorf nicht mithalten: kein beheiztes Becken, keine Rutsche, dafür eine natürliche Gegenstromanlage und am Heimweg romantische Begegnungen mit Glühwürmchenschwärmen. Der frühere

Katharina Kropshofer will zurück nach Krido

Geheimtipp wurde spätestens vergangenen Sommer zum Trend: Immer mehr Junge zog es ins Strombad. Und jetzt ist das historische Vereinsgebäude und ein Bauhof der Bäderverwaltung abgebrannt, weil die Batterie eines E-Lkw beim Laden Feuer gefangen hatte. Ewig schad um die Häuser der ältesten Donausiedlung Niederösterreichs, teils erbaut von Adolf Loos oder Heinz Rollig. Nicht nur für schwimmende Sommerfrischler, sondern für die Baukultur.

Das Ufer galt als „Riviera an der Donau“, weil sich hier zwischen den Kriegen bis zu 12.000 Menschen tummelten. Künstler, Arbeiter, Kaufmänner hatten hier Häuschen, der Bürgermeister gab sie nach dem Krieg den Enteigneten zurück. Der Verein Donausiedlung sammelt nun Spenden.

Der frühe Lauf hat Vorzüge in einer Welt, die mit Vollzeitjob, Studium, Kindern und hunderten anderen Verpflichtungen ausgefüllt ist Der frühe Vogel ist außer Atem, Seite 44

STADT LEBEN

VERZICHT

TREND DER WOCHE

No Nuts November Einen Monat lang nicht ejakulieren, also „no nuts“, wie es in englischer Jugendsprache heißt. Die Online-Challenge fürs männliche Geschlecht startete in den 2010erJahren – und ist heuer vielleicht präsenter denn je. Von einem Unbekannten als Satireprojekt gedacht, sprangen bald Rechte und Verschwörungstheoretiker auf den keuschen Hype auf. Neben zahlreichen Regeln (feuchte Träume sind erlaubt) verbreitet manch User den Irrglauben, der Verzicht auf Samenerguss hätte gesundheitliche Vorteile. Das ist unbelegt, es ist nur eine Übung in Disziplin.

LÜCKE

ARCHITEKTURKRITIK

Althangrund Ein Eingang, den man von der Straße nicht sieht. Eine viel zu große Halle, in der man sich nicht zurechtfindet, kafkaeske Gänge hinter anonymen Türen. Umständlich lange Wege, Stiegen an den falschen Stellen. Das ehemalige Gebäude der Wirtschaftsuni ist ein Musterbeispiel architektonischer Fehler, eines der dysfunktionalsten Gebäude Wiens. Bis das Monstrum nahe Spittelau abgerissen wird, dürfen Künstler und Initiativen den kuriosen Bau nutzen – etwa beim Herbstfest des Vereins „Althangrund für alle“, am Samstag in der alten Mensa. Bitte nicht verlaufen!

MANGEL

FRAGE DER WOCHE

Helfen mir Vitamin-D-Tabletten? 80 bis 90 Prozent des Vitamins D (notwendig für Knochenbildung) nehmen Menschen von der Sonne über die Haut auf. Dass das in dunklen Wintermonaten schlechter läuft, liegt nahe. Bleiben Nahrungsergänzungsmittel: Allein 2019 machten deutsche Apotheken mehr als 100 Millionen Euro Umsatz mit Vitamin-A- und -D-Ersatzprodukten. Das kann aber auch nach hinten losgehen: Überdosiert kann Vitamin D die Niere und den Herzrhythmus stören. Ob Sie wirklich unter einem Mangel leiden und was Sie tun sollen? Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.

40 FALTER 45/22 FOTOS: ISTOCK, WESTSPACE, PIXABAY

Hinten warten Jugendliche auf ihre Identitätsfeststellungen. Vorne ein Stein, den sie vermutlich geschmissen haben

Der Stein des Anstoßes

In Linz schmissen zu Halloween dutzende migrantische Jugendliche Böller und Steine. Es gibt zwei Leichtverletzte, Politik und Polizei verkünden die Sicherheitskrise. Und man wird das Gefühl nicht los, dass manche nur auf so einen Vorfall gewartet haben

Vedran kletzelt an den Wimmerln im Gesicht, der Mittelscheitel darüber hat nicht mehr ganz Salonschärfe. Der Bursche wetzt unruhig auf dem Sofa und verrührt seine Obstsauermilch von FruFru. „Inzwischen frage ich mich schon“, meint Vedran dann: „Was hat das jetzt alles gebracht?“

Man mag es kaum glauben, dass dieser ungelenke 16-Jährige (den wir Vedran nennen) seit einer Woche inmitten einer bundesweiten Politikdebatte steht.

Doch Vedran war einer jener jungen Menschen, die zu Halloween die Linzer Innenstadt in Aufruhr versetzten. Deretwegen Chronikredakteure die Slogans „Straßenschlacht von Linz“ und „Halloween-Ausschreitungen“ schufen. Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) „die Härte des Gesetzes

voll ausschöpfen" wollte, Landeshauptmann Thomas Stelzer (ÖVP) per sofort mehr Rechte für Polizisten fordert. Und dessen Stellvertreter Manfred Haimbuchner (FPÖ) die Europäische Menschenrechtskonvention loszuwerden gedenkt.

„Es hat sich keiner was dabei gedacht“, sagt Vedran mit ungespielter Naivität. „Wir wollten einfach nur Spaß haben.“ Auch ohne Schilderungen des treuherzigen Täters wirkt die Linzer „Terror-Bande“ (Tageszeitung Österreich) mit dem Abstand einer Woche irgendwie weniger angsteinflößend. Denn was war dort genau passiert?

Einige Jugendliche hatten sich gegen 21 Uhr am zentralen Nahverkehrsknoten Taubenmarkt getroffen, um abzuhängen und zur Feier von Halloween richtig laute Böller an-

zuzünden. Weil sie sich filmten und es online teilten, kamen über den Abend immer mehr erlebnissuchende Heranwachsende herangeströmt. Zwischenzeitlich bis zu 200.

Dagegen rückten 170 Polizisten an, formten Sperrketten und Kessel. Die Jungen wurden rabiat, schmissen Böller und Steine auf Beamte und Autos, trafen Oberleitungen, die Straßenbahn setzte kurz nach 23 Uhr aus. Um 3 Uhr war der Einsatz abgeschlossen, mit zwei leicht verletzten Polizisten und einem bislang überschaubaren Sachschaden.

Das Schauspiel von Linz ist jetzt nicht feine, englische Art, aber auch kein beispiel-

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FOTO: FOTOKERSCHI.AT
ERGRÜNDUNG: LUKAS MATZINGER

loser Gewaltausbruch in Österreichs Kriminalgeschichte. Nur zwei Tage zuvor und fünf Kilometer südlich hatten beispielsweise 40 Fußball-Hooligans von LASK Linz mit Sturmhauben einen Gastgarten überfallen, die feiernden Blau-Weiß-Linz-Fans mit Stühlen und Aschenbechern beworfen. Das Mobiliar ist zerstört, es gab zwei Schwerverletzte.

Doch es waren die anderen Umstände, die den Halloween-Abend in eine österreichweite Sicherheitskrise überführten. Wenn sich jugendliche Unruhestifter in der Innenstadt sammeln, schlägt das schnell auf die öffentliche Ordnung. Dass sie einander filmen, zeigt weniger Dreistigkeit als Einfältigkeit. Nicht zuletzt waren gleich mehrere aktuelle Reizwörter im Spiel: TikTok zum Beispiel, Netflix, aber das wichtigste Reizwort: Ausländer.

129 Menschen hat die Linzer Polizei in jener Nacht wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ angezeigt (bis zu 500 Euro Geldstrafe), und der „schweren gemeinschaftlichen Gewalt“ verdächtigt (bis zu zwei Jahre Haft). Nämlich 34 Österreicher mit Migrationshintergrund, 28 Syrer, 14 Afghanen, zwölf Österreicher ohne Migrationshintergrund, je vier Kosovaren, Bosnier, Serben, Rumänen und Nordmazedonier, und 21 von anderswo, Thailand bis Zentralafrika. Die meisten davon zwischen 14 und 19 Jahre alt.

Das kann doch kein Zufall sein? Gibt es eine jugendliche „Migranten-Subkultur“ und ein „Comeback der Gangsterkultur“, vor denen der oberösterreichische Landespolizeipsychologe Barnabas Stutz nun warnt? Auch andere Städte, von Wien bis Klagenfurt, meldeten ähnliche Zwischenfälle. Was verraten diese Nacht und die öffentliche Reaktion über die Minderheiten und die Mehrheit im Land? Fragen wir einmal Vedran. Er wisse auf die Schnelle gar nicht, ob er Österreicher oder Türke sei, sagt Vedran. Jedenfalls weiß er, dass er nicht viel mit Österreichern zu tun hat. „Vielleicht 15 Prozent“ seiner Freunde seien „echte“. Vedrans Großeltern kommen aus Trabzon an der Schwarzmeerküste, er besucht sie fast jeden Sommer. Seine Eltern sind kurz vor seiner Geburt nach Linz-Urfahr gezogen,

Innenminister Karner hat für jedes Problem eine Lösung: Abschieben

er wurde Bauarbeiter, sie Putzfrau, daheim spricht man Türkisch und schaut die Nachrichten der alten Heimat.

In der Schule war Vedran „faul“, in der Dritten brauchte er einen Nachzipf. Die Kaufmannslehre beim Spar hat er nach vier Monaten im Sommer gekündigt. Dort hätten ihn alle angeschrien und ihm immer die Schuld gegeben. Jeden Abend schreibe er nun Bewerbungen für eine andere Lehre.

Viele „Täter von Linz“ haben symmetrische Biografien. Sie leben in ähnlichen Wohnsiedlungen wie Vedran, gingen in ähnliche Neue Mittelschulen wie er, hören dieselben Brennpunktrapper der deutschen Gruppe HoodBlaq. Seit 2015 sind einige neue Bekannte dazugekommen. Der Quereinstieg in andere Milieus ist schwierig, man sozialisiert einander.

»Auf TikTok vereinbarte Schlägereien sind ein seltenes Phänomen. Aber sie gehen gut in der Berichterstattung

MARTIN BREGENZER

Zu Halloween lassen es Vedran und seine Freunde gerne knallen – irgendwie müssen Traditionen ja beginnen. Böller gibt’s am Bazar im tschechischen Vyšší Brod, schon am 31. Oktober 2021 war der südliche Stadtteil Ebelsberg laut Notrufprotokoll von 18 bis 23 Uhr unter Dauerfeuer. Heuer hat Vedran mit Freunden im Vorort Haid geschossen, bis er auf dem sozialen Netzwerk Snapchat die Action am Taubenmarkt sah. Schnell hin, zu dem kleinen Platz am Ende der zentralen Landstraße, „ein, zwei Böller“ habe er dort schon entfacht.

Am Anfang habe wirklich niemand auf Menschen gezielt, aber angesichts des Polizeiaufgebots hätte die Meute sich immer weiter aufgewiegelt. Drei oder viermal hätten ihn dann verschiedene Beamte kontrolliert. Die wahren Ausmaße jener Nacht habe er aber erst Zuhause beim Studium seiner TikTok-Feeds verstanden.

Das führt zum zweiten Reizwort: TikTok. Laut der Boulevardzeitung Heute war die Eskalation „von langer Hand“ über das chinesischstämmige soziale Netzwerk geplant. Stichhaltige Belege dafür gibt es nicht, zwei Linzer Halbstarke hatten in ihren Videos für Halloween unkonkret „Krieg“ oder wenigstens Bürgerkrieg herbeifantasiert. Das wäre nicht nötig gewesen, die meisten Mitläufer dürften erst durch die Berichterstattung johlender Anwesender zum Taubenmarkt gefunden haben.

Vedran zum Beispiel plant überhaupt nicht viel, er lebt in den Tag hinein und wieder hinaus, mit verbindlichen Terminen tut er sich schwer. Schon deshalb lieben Teenager wie er Snapchat und TikTok: Beide Netzwerke sind nicht auf Konservation aus, geben gefühlt oder tatsächlich in Echtzeit ein paar Sekunden im Leben eines anderen wieder. Mit Kurzvideos aller Art gewannen die Apps all jene, denen Youtube zu langatmig geworden war.

Dieser dauernde Sog kostet den Zuseher viel Tagesfreizeit, ermöglicht aber solche halböffentlichen Spontantreffen. In der jüngsten Umfrage des Jugendkulturinstituts nannten sich schon 70 Prozent der Elf- bis 17-Jährigen in Österreich TikTok-Nutzer. Die App ist schon deshalb so spannend, weil sich Österreichs Jugend dort quasi unter sich wähnt.

In Vedrans Bekanntenkreis etwa zählen sie auf ihren Profilen Geldscheine, verstecken sich hinter Sturmmasken, möglichst hart sollte der Auftritt sein. Der vorgeführte Lebensstil passt oft nicht ganz zum Haushaltseinkommen: Der arbeitssuchende Vedran hat gerade ein iPhone 14 bestellt, er will es über zwei Jahre abbezahlen. Er lerne schon jetzt für den Führerschein, ein Nissan GTR wäre der Traum, ein BMW M5 tät’s auch.

Überprofilierung ist ein Problem von Social Media: Um der eigenen Peer Group zu gefallen, radikalisieren sich Benutzer in Inhalt und Sprache, bis sie außerhalb kaum mehr jemand versteht. Davor sind weder Impfgegner auf Facebook noch Linksaktivisten auf Twitter oder die Draufgänger von TikTok gefeit. Der Algorithmus sichert das Schmoren im eigenen Saft und dreht langsam die Temperatur rauf. In Vedrans Milieu sind Identitätsfragen gefragt, die Freunde hausieren online mit Religion, Herkunft, Fußballverein. Sein eigener Benutzername weist auf die Koransure, das Böllerschießen in der Innenstadt störe ihn übrigens weniger, als dass manche dazu „Allahu Akbar“ gerufen hätten:. „Die ziehen den Islam in den Dreck.“

Die Halloweennacht debattieren die Vedrans dieser Stadt gerade in einer kaum zu dechiffrierenden Mischung aus Abkür-

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FOTOS: APA/FOTOKERSCHI.AT/KERSCHBAUMMAYR, APA/BERND VON JUTRCZENKA
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zungsdeutsch, Englisch, Türkisch und Arabisch. Ob nun Linz, Wien oder Salzburg in jener Nacht am heftigsten „gelebt“, also sich aufgeführt habe. Wer widerspricht, den laden sie bereitwillig in ihre Viertel ein, und ohnehin gilt: „Das war aufwährmung für Silvester.“

Das Meiste dürfte Prahlerei sein, „auf TikTok vereinbarte Schlägereien sind ein seltenes Problem“, sagt Martin Bregenzer, Referent für Medienkompetenz bei der EUInitiative klicksafe. Aber sobald ein wahrhaftiger Vorfall mit der mysteriösen App zu tun habe, „geht das in der Medienberichterstattung sehr gut.“ Bregenzer spricht von „Juvenoia“, der Angst vor der Jugend, wonach jede Generation die folgende als verdorben und gefährlich empfindet.

TikTok hat Linz jedenfalls eher nicht zur No-Go-Area werden lassen. Anzeigen wegen Gewalt- und Eigentumsdelikten gehen in der Stadt seit Jahren zurück. Weniger „juvenoide“ Linzer erinnern an harte 1990er-Jahre, Kämpfe zwischen Punks und Skinheads, oder die 2000er-Jahre, Messerstechereien und Drogenbanden. Der Skandal der Gegenwart war, als vor einem Jahr ein 16-Jähriger einen Funkwagen der Polizei mit Benzin übergoss und anzündete.

Der junge Vedran findet Linz überhaupt nicht gefährlich, weniger Schlägereien, wenig Diebstahl, „die Stadt bockt nicht mehr“. Es gebe noch zwei Jugendbanden: Auwiesen und Ebelsberg, verfeindete Randgegenden. Aber selbst die treten vor allem in On-

line-Pöbeleien in Aktion. Eine einziges Mal habe er von den Ebelsbergern Schläge bekommen, weil ihnen ein falsches Gerücht über ihn und eine Zwölfjährige zu Ohren gekommen sei.

Aber wie führt nun das alles, die Fakten der Tat, die Stadt, in der sie spielte, das Milieu der Verdächtigen und ihre freien Kommunikationsräume, zu einem schlüssigen Motiv? Was reitet einen Linzer Jugendlichen, mit Böllern gegen die Staatsgewalt anzukämpfen? An dieser Stelle kommt das dritte aktuelle Reizwort ins Spiel: Netflix.

Denn einige wenige der Burschen hatten sich in TikTok-Videos („Linz ist Athena geworden") und in ihren ersten Einvernahmen auf „Athena“ berufen. So heißt ein am 23. September erschienener, wirklich nicht guter Netflixfilm.

Nach dem ungeklärten Tod ihres 13-Jährigen Bruders revoltieren drei algerischstämmige Vorortbewohner: Mit Molotow-Cocktails und Feuerwerk bekämpfen sie die Polizei in ihrer fiktiven Hochhaussiedlung „Athena“. (Übersehene Pointe: Kein Polizist war für den Tod des jungen Idir verantwortlich, sondern verkleidete Neonazis.)

Es braucht ziemlich viel kindliche Vorstellungskraft, um sich in den Linzer Bezirken Pöstlingberg und Pichling wie in Pariser Banlieues zu fühlen. Aber mitgenommen habe ihn dieser Film schon: „Das überzeugt uns einfach. Es ist eine komische Denkweise, aber ich frage mich dann, warum machen wir so etwas nicht in Linz?“

129 Menschen bekamen Anzeigen, kaum einer älter als 21

Zwei Polizisten wurden bei dem Einsatz leicht verletzt

Sperrketten und Polizeikessel beendeten das Halloween-Treiben

Mit der Polizei hatte Vedran bisher kaum schlechte Erfahrungen, sagt er, keine unnötigen Kontrollen, keine negative Sonderbehandlung. Eine konkrete Motivation für seinen Halloweenabend ist dem Burschen beim besten Willen nicht zu entlocken. Vielleicht ist es ja das Momentum des Aufbegehrens, der Selbstermächtigung, das diesen Film trägt.

Nüchtern betrachtet hat der Bursche nicht viel vorzuweisen: Die Karriere hat noch nicht begonnen, Ausbildung und Sprache versprechen nicht das Höchste. Untertags spielt Vedran Playstation, beim FIFATurnier im Jugendzentrum gibt es 50 Euro Preisgeld. Er schaue viel Netflix, geht viermal die Woche ins Happy-Fit-Studio und freitags in die Moschee. Er sei zu schüchtern, um Mädchen anzuschreiben. Seine Mutter zeige ihm oft Fotos seiner Cousinen, mit einer möchte sie ihn verheiraten. Vedran will das sicher nicht.

Vermeintliche Gangs könnten Selbstwert geben, Böller in der Hand so etwas wie Macht. Davonlaufen sei in solchen Situationen schwieriger als mitzulaufen, sagt Vedran in einem klarsichtigen Moment. Jetzt haben sie ihr Mini-Mini-Athena gehabt, und er fragt sich, was das alles gebracht hat. Wenn es nun noch einmal passierte am Taubenmarkt, Vedran würde nicht mehr hinfahren, glaubt er. Es sei alles aus den Fugen geraten.

Der Film Athena, erschienen am 23. September auf Netflix, war für manche Inspiration

Am Taubenmarkt stand übrigens ab 1716 der Linzer Pranger, wo Delinquenten als öffentliche Gerichtsbarkeit geschmäht und getötet wurden. Vielleicht ist es ja auch dieser Geist, den „das alles gebracht hat“. Denn Innenminister Karner hat für jedes Problem eine Lösung: Abschieben. Als erste Reaktion verkündete er, den Tätern ihren Asylstatus abzuerkennen. Das hat mit der Realität grundsätzlich wenig gemeinsam: 35 der 129 Angezeigten sind in Österreich asylberechtigt, auch für sie endet das beim rechtskräftigen Urteil wegen eines „besonders schweren Verbrechens“. Also etwa wegen Mordes, Vergewaltigung, bewaffneten Raubes. Nicht wegen Böllerschießens. Doch das Image des harten Innenministers gehört gepflegt. Als Zeichen an die Aufrührer und als Treiber des Volksempfindens. Am Freitagabend spazieren sechs Burschen von 15 bis 18 Jahren unverwandt durch Linz, ein Tschetschene, ein Iraker, ein „halber Albaner“ darunter. Vier Polizeiwägen umstellen den Taubenplatz , zwölf wartende Polizisten knöpfen sich die Gruppe vor.

Einen nach dem anderen Burschen werden sie mit den Händen an die Wand stellen, die Beine auseinanderdrücken und jeden Zentimeter auf verdächtige Gegenstände absuchen. „Gut so“, sagt der Linzer, der vom Würstelstand aus zuschaut. F

Es diskutieren: Ferdinand Aigner (Bgm. St.Georgen, ÖVP), Maria Moser (Diakonie)

Susanne Winkler (FSW), Lukas Gahleitner-Gertz (Asylkoordination), Nina Brnada (FALTER)

Donnerstag, 10. November, 19 und 23 Uhr auf W24

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im DIE SENDUNG MIT RAIMUND LÖW Rad i o FALTER T V
Die Schande: Flüchtlinge in Zelten

FOTOS: HERIBERT CORN

In Herrgottsfrüh so schnell wie möglich die Treppen rauflaufen

Der frühe Vogel ist außer Atem

Zu Dutzenden rennen sie um 6.30 Uhr früh die Mumok-Stufen rauf und runter. Wer sind die Early Birds und was wollen sie?

LAUFTEXT:

DANIELA KRENN

Wenn 81 Menschen mit beiden Beinen abwechselnd auf den Boden trippeln, klingt es, als würden golfballgroße Hagelkörner auf den Asphalt platzen. High Knees heißt diese Bewegung in der Sportsprache, 15 Minuten lang ergibt das ein forderndes Aufwärmtraining. Early Birds nennen sich die 77 Schüler und die vier Trainer, die den Innenhof des Museumsquartiers heute donnern lassen. Denn diese Vöglein kamen früh, es ist 6.30 Uhr an einem Mittwoch. Für Wolfgang, der heute zum ersten Mal mittänzelt, reiche das eigentlich schon, sagt er. Er vermutet, dass er der Einzige über 30 Jahren sei, das sei ein Handicap. Doch dann geht es erst los.

Mit einem Schrei starten die ersten Läufer die Challenge am Mittwoch: so schnell wie möglich die Stufen neben dem schwarzen Bunker Mumok hinauflaufen und danach auf allen vieren runterkrabbeln. Dann wieder rauf. Und runter diesmal rückwärts in die Hocke. Oben warten die Trainer, „Hop, hop, hop!“, klatschen sie johlend mit den Rotgesichtigen ab. Der Treppenlauf gehört zu den sogenannten High-Intensity-Übungen, sie treiben den Puls in die Höhe, das treibt den Stoffwechsel an.

Seit März 2020 rennen und trippeln Early Birds im Museumsquartier und am Donaukanal. Es begann recht unspektakulär, als Dominik Kraihamer, 32, selbst Leistungssportler (früher Autorennen, heute Laufen) und beruflich Vertriebsleiter, während des ersten Covid-Lockdowns eine Whatsapp-Laufgruppe mit Freunden gründete. Aus Langeweile und um rauszukommen, erzählen seine Mitgründer Julia Perz und Fabian Netahlo, die heute das Training leiten. Per Zufall und gemeinsame WGs stießen die beiden damals zusammen mit Laura Gottardi und Markus Aumer dazu.

Die Early Birds treffen sich jeden Morgen zum Laufen, Radfahren oder Yoga, alle Termine findet man auf early-birds.at 6.30

Uhr ist die Startzeit für die meisten Trainings 77

Leute trainierten Mittwochmorgen im MQ – neuer Rekord 5

Trainer plus Helfer geben kostenlose Trainingseinheiten

Jede Woche schlossen sich immer mehr Bekannte und deren Bekannte an. Eine private Laufgruppe geriet aus den Fugen.

Die Wiener Bewegung fand sich vielleicht nicht ganz so spirituell wie im Film „Forrest Gump“, aber offenbar teilten viele das Bedürfnis, in der Pandemie positive Gemeinschaftserlebnisse zu finden. Trotz Schulsportfeeling inklusive Aufstellung im Kreis und Partnerübungen fühlt sich die Stunde heute eher nach gut gelauntem Ausflug mit Freunden auf die Skihütte als nach der quälenden Zirkelrunde mit Frau Gangl und der 7b an. Dass heute 77 Frühaufsteher ins MQ gekommen sind, ist für die „Early Birds“-Gründer Tagesrekord. Und eine Bestätigung, dass sie den Zeitgeist getroffen haben. In ihren zwei Whatsapp-Gruppen lesen über 1000 Leute mit, die abwechselnd zu den Trainings kommen. Auch in Salzburg und Innsbruck treffen sich schon Early Birds, viele finden auch über Instagram zu den kostenlosen Trainings. Trotz des administrativen Aufwands machen die fünf Gründer noch alles ehrenamtlich. Mittlerweile melden sich aber Sponsoren, die sie mit Sportkleidung ausrüsten. Ob sich mit ihrem Lockdown-Hobby Geld verdienen ließe, können die fünf noch nicht abschätzen. „Das werden wir uns jetzt anfangen zu überlegen,“ sagt Julia Perz.

„Corona hat den Sport verändert“, meint Robert Gugutzer, Sportsoziologe an der Universität Frankfurt. Die Early Birds sind ein perfektes Anschauungsbeispiel. Viele Menschen kündigten damals ihre Mitgliedschaft im Fitnessstudio und zogen dafür Laufschuhe an. Weil Gruppensportarten nicht mehr erlaubt und Schwimmhallen geschlossen waren, machten die Leute Yoga über Zoom. Aber ein Mindestmaß an Miteinander hatten die Menschen nicht nur im Berufs- oder im Familienleben, sondern auch massiv im Sport vermisst. Und das möglicherweise nicht nur aus rein sportli-

chen Motiven, sondern auch, um das mögliche nächste Date zu treffen. „Das passiert schon, dass wir ein Foto von zwei unserer Early Birds dann auf Instagram sehen, die sich hier beim Training kennengelernt haben“, sagt Perz.

Die Umfrage eines der größten österreichischen Sportverbände, Askö, was die Menschen zum Sport motiviere, hatte bereits vor 20 Jahren einen klaren Sieger: das Soziale. Erst danach kamen die Beweggründe persönliche Fitness und Lust auf Wettkampf, sagt Michael Maurer, Askö-Generalsekretär.

Was aber zählt, um Leute zum gemeinsamen Training zu bekommen, sind Strukturen und Zeit. Der frühe Lauf hat Vorzüge in einer Welt, die mit Vollzeitjob, Studium und Nebenjob, Kindern und hunderten anderen Verpflichtungen gut ausgefüllt ist. Sie wollten etwas geschafft haben, bevor der Tag losgehe, ist die einhellige Motivation im Museumsquartier. „Abends kommt dann noch die eine Mail rein und dann komm ich viel schwerer vom Laptop weg. In der Früh kann nichts stören“, sagt Perz.

Was bedeuten Graswurzel-Bewegungen wie die Early Birds also für die großen Sportvereine? „Wer keine Mitglieder verlieren will, muss sich an die Lebensentwürfe der Leute anpassen“, sagt Michael Maurer vom Askö. „Wenn ein Verein im Burgenland, wo viele Pendler wohnen, Dienstag um 17 Uhr ein Training anbietet, ist klar, dass niemand kommt.“ Ebenso klar, dass sich die Early Birds vor dem Zulauf junger Interessierter kaum retten können. Zum Abschied stellen sich wieder alle 77 im Kreis auf und machen noch einmal Liegestütze. Dann gibt es für alle Teilnehmer den klassischen Corona-Faust- statt Handschlag von den Trainern. Und dann ist es geschafft, für Wolfgang und die Jüngeren. Ab ins Büro, in die Uni oder noch eine halbe Stunde ins Bett. Ist ja auch gerade erst halb acht. F

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Gründer Dominik Kraihamer, Julia Perz und Fabian Netahlo vor ihrem Trainingsort im Museumsquartier

Ins gemachte Nest

Britische Forscher schenken dem Naturhistorischen Museum Wien 19.000 präparierte Vögel. Eine Geschichte der Sammellust

RUNDGANG: KATHARINA KROPSHOFER

Als wäre es die Vorbereitung auf ein royales Bankett, rückt Swen Renner seine Schützlinge zurecht, platziert noch schnell eine beige Ente in der Mitte. Minuten zuvor hat er sie aus den Laden geholt, in denen sie seit 200 Jahren ruhen. Der Leiter der Vogelsammlung des Naturhistorischen Museums steht in seinem Reich der hundert Kästen, zu dem kein gewöhnlicher Gast Zutritt bekommt.

Renner muss Platz schaffen, bald schon kommen 19.000 neue Vogelbälge an, ein Geschenk des britischen Harrison Institute. Ein paar erste Vorboten sind schon länger hier, Überreste eines alten Tauschhandels: Seidenschwänze, Gimpel, Eisvögel – alle schön fürs Foto drapiert. Im Februar werden dann 180 Kisten in einem Container stehen, Wiener Forscher werden die Neulinge zwischen den vorhandenen 130.000 Objekten einordnen und vor allem auf eines achten: ob unter den Neuen nicht vielleicht eine Überraschung schlummert, eine noch unbekannte Art etwa.

Bälge, das sind Präparate aus Vogelhaut samt Gefieder, Schnabel, Beinen, zugenäht und ausgestopft. Meist mit Baumwolle, auch wenn Mitarbeiter schon Moos oder Zeitungspapier im Tierinneren fanden. Je nachdem, was Naturalisten bei ihren Sammelreisen gerade zur Verfügung hatten.

Im 18. und 19. Jahrhundert reisten Gesandte von Monarchen und reichen Naturliebhabern um die Welt, Abenteurer wie Alexander von Humboldt sandten Kisten voller Tiere, Pflanzen, Steine aus Amerika zurück in die Alte Welt. Den Unterbau des Naturhistorischen Museums Wien legte Kaiser Franz I. Stephan von Lothringen. 1750 kaufte der Gemahl Maria Theresias die damals größte Naturaliensammlung der Welt mit 30.000 Objekten dem Florentiner Gelehrten Johann Ritter von Baillou ab.

Auch ein Grund, wieso zur Wiener Vogelsammlung heute Spezialitäten wie das Lord-Howe-Purpurhuhn zählen. Das starb schon 1834 aus, liegt nur noch in Wien und Liverpool im Schrank. Der Kaiser hatte es in London ersteigert, aus dem Nachlass des Seefahrers James Cook.

Heute tragen die Naturforscher weder Perücke noch Frack, sondern Funktionskleidung wie Swen Renner. Wenn die heiß ersehnte Sammlung erst einmal angekommen ist, in der Stickstoffkammer war, um Schädlinge loszuwerden, geht sein Team jedes Exemplar einzeln durch, digitalisiert die Infos und überprüft, ob auf dem Karteikärtchen auch der richtige Artname steht. Fünf bis zehn Minuten rechnet Renner pro Balg, also fünf, vielleicht auch 20 Jahre Arbeit, je nachdem, wie viele Schätze er findet.

Schon immer haben Museen und Institutionen Objekte ausgetauscht. Einen bestimmten Specht für einen seltenen Geier – kein Problem. Doch 19.000 Objekte einfach so geschenkt bekommen? Das sei nicht selbstverständlich, sagt Museumsdirektorin Katrin Vohland stolz. Für Paul Bates, den Leiter des Harrison Institute, war es eine einfache Entscheidung. Die Hingabe der Wiener zur Forschung habe ihn überzeugt.

Schaubälge wie diese Finken (oben) sind schön für Vitrinen. Wer wissenschaftlich arbeiten will, braucht andere Bälge (unten). Der Leiter der Vogelsammlung am NHM, Swen Renner, erwartet bald 19.000 neue Exemplare und wird sie in die Bestände einordnen

Der Arzt James Harrison gründete sein Institut 1930. Reich wurde die Familie mit einer Schifffahrtsgesellschaft, so kam sie auch zu ihrer gewaltigen Sammlung. Das Museum dazu steht in einem kleinen Cottage in Kent und ist nun zu klein geworden. Für kleine Institute sei es ohnehin schwer, an Fördergelder zu kommen, der Brexit habe es erschwert. 20.000 Fossilien kommen nun nach London, die Vögel nach Wien und erweitern dort die Sammlung um ein Gebiet: die Arabische Halbinsel.

Vögel faszinieren: fliegende Verwandte der Dinosaurier, die ganz anders leben als Säugetiere auf dem Boden. Ihre unglaubliche Vielfalt: der Vogelstrauß, 2,7 Meter groß, wenige Gramm schwere Kolibris. „Vögel sind auch ziemlich wichtig“, sagt Direktorin Vohland. Sie zeigen, wie es um Ökosysteme steht. Rund 12.000 Vogelarten gibt es, jede vierte gilt als bedroht. Für ihren Schutz reicht es nicht, lebende Vögel zu beobachten. „Vielleicht ist es komisch, beim Anblick toter Vögel über Naturschutz zu sprechen“, sagt Paul Bates, „aber man glaubt nicht, was für ein Wissen sich hier verbirgt.“

Taxonomie nennt sich die Kunst, eine Art von der anderen zu unterscheiden, sie nach Verwandtschaft zu ordnen. Erst wenn sich ein Tier in Gefieder, Anatomie, Gesang und DNA unterscheidet, kann es wirklich als eine neue Art gelten. Dann hat sich ein Lebewesen maßgeblich an eine neue Umgebung angepasst. Ob und wie schnell das passiert, dafür vergleichen Forscher rezente Tiere mit den historischen hier im Museum. Ein kleiner Anhänger am Fuß verrät, wer sie wann und wo gefangen hat. Forscher konnten so schon herausfinden, dass die Flügellänge vieler nordamerikanischer Arten durch den Klimawandel kürzer geworden ist. Schließlich fliegen sie bei wärmeren Temperaturen nicht mehr so weit in ihre Winterquartiere. Und Amseln in Städten haben schon innerhalb weniger Generationen andere DNA als jene auf dem Land, auch in Wien. Mikroevolution.

Eine neue Vogelart zu bestimmen ist seltenes Forscherglück. Aber nicht unmöglich. Erst vergangene Woche fanden Wissenschaftler neue Nektarvögel. Auch Renner gelang das zweimal, ein Blick in die Schubladen gab Sicherheit. Erfahrung und Intuition, so erblickt man eine Variation im Gefieder. „Ich kenne meine Pappenheimer.“

Und jetzt die große Hoffnung, dass ihn auch die neue Sammlung zum Entdecker macht. 884 Arten zählt die Excelliste im Moment, Besonderheiten wie der Neo-Typus eines Buchfinks sollen dabei sein, so etwas wie ein Prototyp einer Art, anhand dessen neu Gefangene verglichen werden.

Die Lieblinge der Forscher sind aber nicht farbenfrohe Paradiesvögel oder mächtige Adler, sondern vor allem die Massen an braunen und grünen Winzlingen, die scheinbar alle gleich aussehen. Dort ist auch noch am meisten zu holen. Drei bis vier Menschen, die jahrelang tote Vögel untersuchen, um so die Artenliste auf den neuesten Stand zu bringen – das mag nach langweiliger Sisyphusarbeit klingen. In Wahrheit hält der Ornithologe Swen Renner schon bald den Schlüssel zu einer gewaltigen Schatzkammer in der Hand. F

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FOTOS: CHRISTOPHER MAVRIC

Wien, wo es isst Kulinarischer Grätzel-Rundgang

Holzer im Grätzel: Wiedens Herz

Kaffeegreissler

4., Wiedner Hauptstr. 40, Tel. 01/967 11 72, Mo–Fr 8–18, Sa 9–13 Uhr, www.schoenbergers.at

Winzerkönigin

4., Wiedner Hauptstr. 40–42, Tel. 0677/64 03 93 00, Di–Fr 15–23, Sa 10–23 Uhr, www.winzerkoenigin.wien

Zur Goldenen Kugel

4., Wiedner Hauptstr. 42, Tel. 01/588 03-0, Mo–Fr 9–18, Sa 9–13 Uhr, www.goldenekugel.at

Gragger & Cie Wieden

4., Wiedner Hauptstr. 50, Tel. 0670/550 21 14, Mo–Fr

7.30–18, Sa 7.30–14 Uhr, www.gragger.at

Tancredi

4., Rubensg. 2, Tel. 01/941 00 48, Mo–Fr 11.30–14.30, Mo–Sa 18–24 Uhr, www.tancredi.at

Gasthaus Wolf

4., Große Neug. 20, Tel. 01/581 15 44, Mo–Fr 17–22 Uhr, www.gasthauswolf.at

Alma Gastrotheque

4., Große Neug. 31, Tel. 01/997 44 46, Mo–Fr 17–23 Uhr, www.alma-gastrotheque.at

Délices du Midi

4., Margaretenstr. 47, Tel. 01/585 13 16, Di 16–19, Mi–Fr 11–19, Sa 10–18 Uhr, www.delices-du-midi.at

Feinedinge

4., Margaretenstr. 35, Tel. 0660/578 16 17, Mo–Sa 10–18 Uhr, www.feinedinge.at

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Wiener Küche gibt’s bei Wolfgang Wöhrnschimmel & Dani Huber im Gasthaus Wolf Die Winzerkönigin im Bezirk heißt Margit Köffler und hat auch Pasta im Angebot Eszter Bösze, Sandra Haischberger und Romi Sallaberger machen feine Dinge Christine Martin setzt im Délices du Midi auf französische Weine und Spezialitäten FOTOS: HERIBERT CORN GRAFIK: ARGE KARTO

Florian Holzer begibt sich auf die Suche nach kulinarischen Mikrokosmen in Wiener Grätzeln

Die Wieden, der vierte Wiener Gemeindebezirk, ist zwar wirklich nicht besonders groß, diese 1,8 Quadratkilometer gestalten sich je nach Lage aber äußerst unterschiedlich. Und in seinem „Herz“ ist die Wieden besonders „wiedenerisch“.

Wir beginnen die Tour an der Ecke Waaggasse/Wiedner Hauptstraße, stellen fest, dass das Wieden Bräu, eine der ersten Wiener GasthausBrauereien und immer wieder auch Quelle interessanter Brauwerke, gerade abgebrannt ist und einer Renovierung harrt.

Wenig Neues auch bei Chang, was uns direkt zu Patrick Schönbergers Kaffeegreissler führt, der sich hier in den vergangenen neun Jahren nicht nur prächtig etabliert hat, sondern neben der hübschen Kaffee-Bar samt Shop in der ehemaligen Naber-Filiale aus den frühen 1960er-Jahren auch eine Niederlassung gleich daneben aufgemacht hat.

Der neue Laden ist den Kaffeemaschinen vorbehalten, im bisherigen gibt’s Espresso aus zwei verschiedenen Mühlen, jede Menge italienische und auch ein paar österreichische Röstungen, ein umfassendes Sortiment an so genannten „Cialde“, einer nachhaltigen Tab-Alternative, und vor allem die Möglichkeit, „sosapeso caffè“ zu spenden. Also einen Espresso quasi auf Vorrat zu spendieren, den sich jemand abholen kann, der die 2,40 Euro gerade nicht flüssig hat. Eine wunderbare, neapolitanische Erfindung.

Die Königin lebt!

Die Winzerkönigin daneben ist zwar nicht neu, wurde aber vor einiger Zeit nach einem eher erfolglosen Zwischenspiel neu übernommen und fungiert nun als Weinbar und Vinothek mit wirklich ernstzunehmendem Angebot, auch auf Beratung und Service achten Margit Köffler und Bernhard Zierlinger sehr. Zehn Weine gibt’s glasweise, die großartige Pasta von Martelli und italienische Gemüsekonserven kann man ebenfalls erwerben.

Den richtigen Topf dafür, jegliche Art von Messer, die Bialetti, um den Kaffee vom Kaffeegreissler zuzubereiten, oder was auch immer Küchenmechanische vonnöten ist: die Goldene Kugel hat’s. Weil die Goldene Kugel ja quasi alles hat. Gefühlsmäßig zwar weniger als unter den früheren Betreibern, da gab’s ja alles und noch mehr, jetzt halt nur mehr alles. Auch okay.

Vor ziemlich genau einem Jahr machte der oberösterreichische BioHolzofenbäcker Gragger hier seine sechste Filiale auf, in der auch – damals noch einem durch die Pandemie geschürten Bedürfnis geschuldet – lässige Fermentiergemüse eingelegt und verkauft wurden.

Das wurde leider wieder fallen gelassen, dafür gibt’s gerade neu ganz interessante Veggie-Brotaufstriche

aus der Steiermark und – noch besser – Ajvar und andere lässige Balkan-Saucen der Marke Bio Balkan, hergestellt im Rahmen eines sinnstiftenden Sozialprojektes.

Schon Fisch, schon Fleisch

Das heurige Weihnachts-Pop-up des burgenländischen Gourmet-Restaurants Taubenkobel wird in einer ehemaligen Autowerkstätte stattfinden, neben Edel-Menü mit Vorreservierung gibt’s dem Vernehmen nach auch wieder eine Bar mit Snacks und ohne Zugangsbeschränkung. Werden wir uns anschauen.

Respekt verdient hat Peter Neuraths großartiges Tancredi, vor 20 Jahren als interessantes Konzept-Lokal mit mediterran interpretierter Wiener Küche gestartet und eigentlich nach wie vor spannend: etwas italienischer als zu Beginn, etwas mehr Fisch. Ist aber verständlich, denn das Thema der Wiener Küche ist hier seit 2011 schließlich fest in der Hand des Gasthauses Wolf.

Initiator und Innereien-Guru Jürgen Wolf zog sich vor ein paar Jahren zurück und verfolgt interessante Pop-up-Projekte im Weinviertel, Küchenchefin Dani Huber und Restaurantleiter Wolfgang „Wimpl“ Wöhrnschimmel blieben dem Konzept aber treu: Soulfood, bei dem einem das Herz aufgeht (mit Kalb gefüllte Paprika! Knuspriger Schweinebauch mit Stöcklkraut! Kalbszunge mit Granatapfel!). Alltägliches, aber halt besser als sonst gekocht, und natürlich nach wie vor Innereien, auch die ärgeren.

Rüber in Richtung Margaretenstraße, wo wir am Weg Alma Gastrotheque mitnehmen, hier gerne und oft erwähnt, weil tolle Gemüseküche, großartiges Naturwein-Sortiment, sehr viel Selbstgemachtes.

Preppen mit Stil

Fixpunkt in dem Grätzel ist auch Christine Martins nachgerade schlaraffischer Laden Délices du Midi: französische Weine, Crémants und Champagner zu erträglichen Preisen und lauter Sachen, die man vor dem nächsten Lockdown besser schon im Regal hätte: Pineau de Charente, Eau de Vie und natürlich all die argen Gläser und Dosen voll mit Coq au Vin, Confit de Canard, Bouillabaisse und noch mehr. Preppen, aber mit Stil.

Und apropos Stil: Bei Feinedinge wird von Sandra Haischberger und ihrem Team nicht nur ganz unglaublich schöne Porzellan-Keramik mit einzigartiger Pigmentierung hergestellt. Sie entwickelte vor ein paar Jahren auch eine Serie namens „raw“, für die Kaolin-Reste und beim Trocknen beschädigte Stücke wieder zu Lehm eingeweicht und neu verarbeitet werden. Nachhaltig, von stets unberechenbarer Farbe und auf jeden Fall irrsinnig schön.

Basics Grundkurs Kochen (501)

Einfach Erdäpfel mit Zeug?

Hab ich noch nie bereut!

M an kann darüber streiten, ob der Erdapfel zum Gemüse zählt. Ein Blick auf den Nährwertgehalt bringt ihn sogar eher in die Nähe von Weißbrot, und das ist bekanntlich böse. Aber eines muss man der Knolle lassen: Kaum eine Pflanze kann vielfältiger verkocht werden!

Mit Topfen und Schnittlauch in Schlutzkrapfen gestopft, als Suppe oder geröstet mit Petersilie, zu Schupfnudeln geformt mit Mohn und Apfelmus oder als Ganzes im Ofen und aufgeschlitzt mit Sauerrahm gefüllt. Pommes gehen sowieso immer. Nur edel sind die Gerichte halt nicht. Beim Schlutzkrapfenver zehr tropft die braune Butter vom Kinn, fettige Pommesfinger darf man nicht an der Hose abwischen, sonst schimpft die Mama.

Zum Glück gibt es unseren KochGuru Yottam Ottolenghi, der auch aus den banalsten Dingen schaufenstertaugliche Gerichte zaubert. Sein neuestes Buch heißt „Extra Good Things“, darin zahlreiche Gerichte für „Erdäpfel mit Zeugs drauf“, zum Beispiel eines, in dem Ofen-Kartof-

feln mit Tahini-Joghurt und rauchigen Nüssen garniert werden.

Dafür ein Kilo Kartoffelstifte mit 2 TL Reismehl sowie 2 EL Olivenöl zuerst 15 Min. bei 180, dann 15 Min. bei 200 Grad backen. Nun dreierlei Toppings vorbereiten: erstens, gehackte Koriander-Kräuterstiele mit Apfelessig mischen; zweitens, griechisches Joghurt mit etwas Wasser, Tahin, Knoblauch und Zitronensaft verrühren; und

Ofenpommes können auch edel sein, etwa mit süß-rauchigem Nuss-Topping

drittens, 30 g Pinienkerne sowie 30 g Mandelstifte kurz in Olivenöl erhitzen, vom Herd nehmen, 1 TL Schwarzkümmelsamen, 1 TL Chiliflocken, ½ TL Paprikapulver und 1 TL Zucker dazugeben. Serviert wird’s in Schichten: Pommes-Joghurt-NussmischungKräutermix. KK

Weitere 50 Rezepte dieser Rubrik als Heft: „Grundkurs Kochen“, € 4,90 im Handel sowie auf Falter.at/rezepte

Prost! Lexikon der Getränke. Diese Woche: Wermut

Dauerbrenner Wermut – der beliebteste Weinaperitif Wiens

Wermut hier, Wermut da –derzeit fehlt der Likörwein auf keiner Cocktailkarte der Stadt. Manchmal steht da auch Vermouth, wie er auf Französisch oder Englisch heißt, ist aber im Prinzip das Gleiche. Bereits 2021 riefen Gastromagazine das Comeback des Würzweins aus, jetzt ist er immer noch da. Ob nur pur mit Eis oder als Longdrink-Bestandteil wie im klassischen Negroni: Der Wermut ist gekommen, um zu bleiben. Zu Recht.

Vielleicht liegt es daran, dass der Wermut mit weniger als 22 Prozent Alkoholanteil keine hochprozentige Spirituose, sondern ein mit Kräutern aromatisierter Wein ist. Höchstwahrscheinlich aber an seiner Wandelfähigkeit. Die wahren Heros im Wermut sind die Botanicals, verschiedene Kräutermischungen, die dem Getränk die eigentliche Geschmacksnote geben. Neben dem Wermutkraut (selbstverständlich) ist fast al-

Negroni enthält Gin, Campari und Wermut –alles, was der perfekte Drink braucht

les erlaubt: von Zitronenschalen bis Enzianwurzel oder Salbei. Oft werden mehr als 30 verschiedene Botanicals vermischt, um einzigartige Geschmäcker zu kreieren.

Bereits die alten Ägypter kannten einen mit Kräutern aromatisierten Wein, und im antiken Griechenland wurde ein solcher als Heilmittel eingesetzt. Als Erfinder gilt aber der Turiner Antonio Carpano, vermutlich weil er das Getränk ab 1786 erstmals in größeren Mengen verkaufte.

Was Sie viel eher wissen und nie wieder vergessen sollten, ist, wie man den perfekten Negroni zubereitet.

Dafür braucht es nur drei Zutaten: Dry Gin, Campari und Vermouth rouge. Alle Zutaten werden im Verhältnis 1:1:1 in einem Glas mit Eiswürfeln verrührt, am besten mit einem Barlöffel für 30 Sekunden. Jetzt die Eiswürfel abseihen und den Mix mit einem frischen Eiswürfel und Orangenzeste servieren. DK

Rezensierte Getränke wurden der Redaktion fallweise kostenlos zur Verfügung gestellt

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FOTOS: ARCHIV, HERSTELLER

Mehr davon: Vorstadtgasthaus

Klar ist es für Gastronomen in den inneren Bezirken leichter. Aber viele schöne Gasthäuser befinden sich halt in der Vorstadt. Und wurden von neuen Betreibern modern und großartig positioniert:

Gasthaus Stern Christian Werner übernahm 2008 das Gasthaus PistauerPöplitsch und machte seither alles richtig: Dezent renoviert, spannende Speisekarte mit Nose-to-tailSchwerpunkt, Fokus auf vergessene Gerichte.

11., Braunhuberg. 6, Tel. 01/749 33 70, Mi–Sa 11–23, So 11–16 Uhr, www.gasthausstern.at

Hollerei Ein ganz frühes Beispiel für eine Neu-Justierung: Mitte der 80erJahre ließ Christian Wrenkh ein altes Gasthaus subtil modernisieren und kochte vegetarisch. Das Konzept blieb seither gleich.

15., Hollerg. 9, Tel. 01/892 33 56, Mo–Sa 11–23 Uhr, www.hollerei.at

Gasthaus Stafler Vor 13 Jahren wurde Familie Stafler von Stammgästen zu Betreibern des Weinhauses Wunsch. Sie renovierten und kochen hier seitdem eine mediterrane Wiener Küche.

12., Ehrenfelsg. 4, Tel. 01/815 62 35, Di–Sa 11.30–15, 17–23 Uhr, www.stafler.at

Weinhaus Arlt Eine der ältesten Gastwirtschaften im Bezirk, seit der Schließung mit ungewisser Zukunft. 2019 übernahmen Barbara und Jürgen Kerzendorfer das Lokal mit der roten Lamperie und dem irrwitzigen Gemälde über der Schank. Seither wird bio gekocht.

17., Kainzg. 17, Tel. 01/480 64 89, Do–Sa 11–23, So 11–22 Uhr, www.weinhaus-arlt.bio

Der Brandstetter Eines der letzten Weinhäuser Wiens, auch hier übernahmen ehemalige Stammgäste und gewannen die Herzen der Grätzelbewohner, indem sie die Einrichtung kaum anrührten, dafür das Essen viel besser machten.

17., Hernalser Hauptstr. 134, Tel. 01/486 46

25, Mo–Fr 11–23.30, Sa 17–23.30, So, Fei 11–22 Uhr, www.derbrandstetter.at

Herbeck Die 1904 gegründeten Herbeck-Stuben wurden 2015 von den neuen Betreibern wachgeküsst, von Kitsch befreit, die Küche ist modern und traditionell zugleich. Das gefällt auch den Währingern.

18., Scheibenbergstr. 11, Tel. 01/470 37 57, Di–Sa 11.30–15, 17.30–22.30 Uhr, www.herbeck.wien

Wieder mit Plafond

Vier Hipster modernisierten ein altes Traditionsgasthaus. Das gefällt nicht allen

LOKALKRITIK: FLORIAN HOLZER

Sonja Fasching führte das Restaurant Mader im Nibelungenviertel 23 Jahre lang. Ein Gasthaus, in dem Umbauten der 1970er- und 80er-Jahre ihre Spuren in Form von Strapazfliesen, dunkelbrauner Massiveiche, Raufasertapete und natürlich der tiefergelegten Decke hinterlassen hatten.

Aber es gab zuverlässige Wiener Küche um wenig Geld und in enormen Portionsgrößen. Was den Mader zur Anlaufstelle sowohl von Pensionisten als auch von Sportlern aus der Stadthalle machte.

Im Sommer ging Frau Fasching in Pension, das Lokal wurde von Daniel Botros, Moritz Baier und Marco Pauer übernommen. Die betreiben seit Jahren in Neubau und Mariahilf die shabby-schicken Lokale Liebling in der Schadekgasse 12 und Burggasse 24 und hatten schon im Juni vorigen Jahres das kultige Café Kriemhild gleich neben dem Mader übernommen. Ergänzt um Andrew Rinkhy, der in der Zieglergasse die bezaubernde Tapas-Bar Rinkhy führt.

Die Ansprüche der vier sind hehr: Einkauf bei regionalen Bio-Produzenten, keine Plastikverpackungen, auch auf Teflon-beschichtete Pfannen

wird verzichtet. Und das alte Gasthaus wurde entrümpelt, Zwischendecke raus, Raufaser raus, Eichenbalken raus, „wir haben nur entfernt, was nicht hergehört“, sagt Rinkhy. Zum Vorschein kamen alte schöne Tapeten und an wenigen Stellen sogar noch die alten Zementfliesen. Geblieben sind die absurden Stoffbezüge und ein Großteil des Personals, darunter auch der Herr Christian, ein Bild von einem Kellner.

Klingt doch lässig. Nur leben wir halt in den 2020ern, in denen sich alle über alles aufregen müssen. Besonders im Standard-Forum, dem Zentralorgan für Gentrifizierungsalarm

4000 weitere Lokale finden Sie im Lokalführer „Wien, wie es isst“. www.falter.at

Traditionsgasthaus Mader im 15. Bezirk jetzt mit Hipster-Charme

FOTO: HERIBERT CORN

und Bobo-Verachtung. Weshalb Menschen, die nie dort waren, den neuen Mader als „Getue-Tschummsn für den besserverdienenden Bobo“ und als „so hässlich, dass ich dort nicht einmal gratis essen würde“ beurteilten. Und den Betreibern raten: „Bitte gehts wieder zruck, iwan Giatl. Und bleibts dort.“

Und jetzt kommt das Schlimmste, das wissen die Geiferer noch gar nicht: Der neue Koch ist jung. Und Deutscher! Und der legt hier eine extrem charmante, sensible, wienerischosteuropäische Küche jenseits aller Klischee-Trends vor: Bulz, das ist ein mit Frischkäse gefülltes Polenta-Laberl auf gebratenen Kräuterseitlingen, super (€ 8,90), eine großartige, völlig unschicke ungarische Karfiolsuppe (€ 6,50) oder in Bierteig knusprig gebratener Wiener Bio-Wels mit Sauce tartare und Erdäpfelpüree (€ 15,–). Viel Vegetarisches und Veganes, gute Weine gibt’s auch.

Für manche sicher ein Grund, sich eine Büffelhornmütze aufzusetzen und das Kapitol zu stürmen.

Resümee:

Restaurant Mader 15., Markgraf-RüdigerStr. 12, Tel. 01/982 33 50, Mo–Sa 11.30–22, So 11.30–17 Uhr, www.restaurantmader.com

Auch wenn man alles richtig macht, macht man’s nicht allen recht. Was angesichts guter, moderner Küche im alten Gasthaus aber egal ist.

48 FALTER 45/22 ESSEN • TRINKEN
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Freestyle durchs Geschäft

Einkaufslisten behindern die Kreativität, sind aber gut für die Finanzen und die Welt

GERICHTSBERICHT:

WERNER MEISINGER

Vor kurzem erschien im Hirmer Verlag ein Buch der Künstlerin Laura Nitsche. Darin wird ein Bilderzyklus zum Thema Einkaufsliste gezeigt. Texte sind auch enthalten, einer von mir. Nitsche hatte mich um einen Gastbeitrag gebeten. Ehrenvoll sowas, also tippte ich, was es mit Einkaufslisten auf sich hat und warum sie ausnahmslos, restlos und völlig abzulehnen sind. Einschränkung der Kreativität, Ablenkung vom Saisonalen, Selbstbeschränkung und so weiter.

Es gibt ja Menschen, die sich stur an Vorgegebenes halten, sich sozusagen ins Gefängnis ihrer Ordnungsliebe sperren. Die fühlen sich vielleicht auch im Kerker der Traditionen wohl, wählen ÖVP, weil auch schon ihr Großvater ÖVP gewählt hat, obwohl die ÖVP von 1956 ziemlich anders war als es die von heute ist. Bei den Wählern der US-Republikaner ist das auch so, mit weitreichenderen Folgen.

Free Floating Shopping

Deshalb gehe ich nur dann mit Einkaufsliste einkaufen, wenn ich etwas Spezielles brauche. Senkkopfholzschrauben mit 40 mm Länge und 5 mm Durchmesser zum Beispiel. So etwas kann ich mir nicht merken.

Statt lange zu sinnieren, was ich kochen könnte, dabei vielleicht auf Kürbiscurry komme, eine Kürbiscurry-Einkaufsliste schreibe und dann die Zutaten für Kürbiscurry zusammensuche, lasse ich mich ohne Plan durch den Markt oder Supermarkt treiben und lege in den Korb, was mir sympathisch ist. Butternusskürbis, Süßkartoffeln, Erbsenschoten, Koriander, Bio-Hendlbrust. Da wird dann auch ein Kürbiscurry draus,

weil das Huhn die Katze kriegt. Wenn sich zuhause herausstellt, dass die Kokosmilch aus ist, gehe ich eben nochmals einkaufen. Das erscheint mir würdiger, als nach dem Diktat einer Einkaufsliste durch den Supermarkt zu irren.

Letztens war ich nach dieser Art des „free floating shoppings“ bei Spar. Dort kostet die volle Tragtasche aktuell 50 Euro. Bio-Hühnerbrust für die Katze: 13,85, BioButter: 3,19, Kräuter pro Tasse: 1,99. Nicht, dass ich beim Lebensmitteleinkauf auf die Preise achten müsste, aber die Nummern, die derzeit bei den besseren Lebensmittelhändlern und Marktständen aufgerufen werden (9,80 pro Kilo für die gewöhnlichste Pflanze Schwarzkohl!), sind erstaunlich.

Kurz habe ich darüber nachgedacht, was die steigenden Schwarzkohlpreise mit dem Krieg, der Seuche oder den kaputten Lieferketten zu tun haben könnten. Da bin ich auf nichts gekommen. Und dann habe ich

ein bisschen länger darüber nachgedacht, ob Einkaufslisten nicht doch eine gewisse Nützlichkeit haben könnten. Als Mittel der Disziplinierung, damit man nur das kauft, was man braucht. In Mengen, die man auch verarbeiten kann.

Weh der Gemüseverschwendung!

Ich bin bezüglich der Mengen und dem, was man braucht, eher disziplinlos. Kommen mir schöne Auberginen, Karfiole und Karotten in die Quere, will ich das alles haben. Auberginengemüse mit Tomatensauce, gebackener Karfiol à la Eyal Shani, in Wermut-Butter glacierte Karotten mit KräuterCouscous – all das fällt mir bei solchem Anblick ein. Aber in einem Haushalt, in dem die Katze kein Gemüse isst, ist solche Vielfalt schwer wegzukriegen.

Da müssen die Reste zu einer Gemüsecreme mit Kreuzkümmel und Koriander verarbeitet werden, wobei so viel Aufstrich entsteht, dass er in einem Haushalt mit nonvegetarischer Katze nicht wegzukriegen ist. Der Rest kommt in Gläser, aber niemand in meiner Verwandtschaft will mehr diesen guten Gemüseaufstrich. Das Floating Shopping birgt also auch Gefahren. Für die Finanzen und das Weltklima. Es sollte weniger tiefgekühlt werden. Noch viel weniger sollte man Lebensmittel vergeuden.

Werfen Sie auch zuerst einen Blick ins Rezept für die Einkaufsliste? Das hat Vorteile!

Köstlicher Mohnstrudel mit Quitten – eignet sich perfekt als Haupt- und Nachspeise

Ebenda Über diese Seite

Hier behandeln Nina Kaltenbrunner, Werner Meisinger und Katharina Seiser jede Woche das Thema Kochen aus unterschiedlicher Perspektive

Die gute Nachricht: Laura Nitsches Buch mit meinem schlüssigen Befund muss deshalb nicht eingestampft werden. Erstens ist – wie schon Gellius sagte und Khol missbräuchlich verwendete – die Wahrheit eine Tochter der Zeit. Und zweitens gibt es nicht nur eine Wahrheit. Man kann sich die Wahrheit aussuchen, die einem gefällt. Donald Trump ist der regierende Weltmeister in dieser Disziplin. Bio-Mohn ist noch preisgünstig. 200 g nur € 1,99. Man sollte Mohnstrudel backen. Passt in die Zeit.

Quitten-Mohnstrudel 1/8 l Wasser mit 4 EL Zucker, 3 Gewürznelken, 1 Sternanis und einem kleinen Stück Zimtrinde 5 Minuten köcheln. 1 Quitte schälen, in Spalten schneiden und entkernt ins Zuckerwasser legen, ein paar Minuten köcheln und auskühlen lassen.

Für den Teig 60 g Butter schmelzen. 400 g Mehl mit 80 g Kristallzucker, 2 Eiern, 1 Eidotter, einer Prise Salz, 150 g lauwarmer Milch und einem zerbröselten Germ in der Küchenmaschine bei minimaler Geschwindigkeit 15 Min. rühren. Mit einem Tuch bedecken und an einem warmen Ort aufgehen lassen.

Für die Fülle 300 g Mohn und 4 EL Staubzucker in 0,2 l Milch zu einem dicken Brei kochen. Geriebene Zitronenschale dazu und die Masse auskühlen lassen. Optional: in Rum eingelegte Rosinen oder Korinthen.

Teig auf einer mit Mehl bestreuten Fläche 3−5 mm dick ausrollen und in 4 Stücke schneiden. Mohnfülle und Quittenspalten darauf, einrollen und auf ein mit Butter und Mehl beschichtetes Blech setzen. Strudel mit einer Gabel einstechen, mit geschmolzener Butter bestreichen und bei 180 °C zu goldbrauner Farbe backen

ESSEN • TRINKEN FALTER 45/22 49
FOTOS: HERIBERT CORN

PETERS TIERGARTEN

AUFGEBLATTELT

The falling leaves drift by the window / The autumn leaves of red and gold.“ So botanisch beginnt ein Jazz-Standard, der von Nat King Cole 1955 auf Platz 1 der Hitparade gehoben und von vielen Sängern gecovert wurde. Damals gab es auch noch keine Laubbläser (nein, das ist kein Teil eines Orchesters), mit denen jetzt jeden Herbst ein erbitterter Kampf gegen die am Boden liegenden Laubblätter geführt wird.

Alle mögen das üppige Grün in der Landschaft, aber offenbar hassen dieselben Menschen die Gesamtheit der Blattorgane von Laubbäumen und Sträuchern aka Laub, sobald es abgefallen ist. Rund 30.000 Blätter hat ein Baum in Mitteleuropa im Durchschnitt. Die Stadt Wien rechnet uns daher vor, dass alleine das Laub der ca. 100.000 Alleebäume etwa 1000 Tonnen ausmacht, und weist darauf hin, dass dieses von der Magistratsabteilung für Abfallwirtschaft – kurz MA 48 – aus Sicherheitsgründen aufgesammelt werden muss. Aber auch sommergrüne Laubbäume werfen aus Sicherheitsgründen im

Herbst ihre Blätter ab (schön gesprochen: Abszission), weil die winterlichen Fröste das Wasser an der Oberfläche binden und sie vertrocknen würden.

Ist Laub also Abfall? Im Gegenteil. Schmetterlinge, Wildbienen und Spinnen überwintern vorzugsweise in hohlen Stängeln von Pflanzen, Igel, Kröten, Siebenschläfer oder Wildhamster suchen Schutz vor der Kälte unter wärmeisolierenden Laubhaufen. Die auf der oberen Erdschicht liegenden Blätter verhindern ein Durchfrieren des Bodens. Dadurch können die dort überwinternden Insekten, Hundertfüßler und Regenwürmer überleben.

Das unterscheidet auch nordamerikanische von europäischen Wäldern. In den USA und Kanada gab es seit der Wisconsinan-Eiszeit vor etwa 20.000

ZEICHNUNG: GEORG FEIERFEIL

Jahren keine im Boden lebenden Regenwürmer. Dadurch bilden sich dort ab Herbst mächtige, isolierende Laubdecken aus, die im Frühjahr vom darin lebenden American red wiggler, bei uns als Kompostwurm bekannt, wieder abgebaut werden.

Mit den europäischen Siedlern kamen auch unsere unterirdisch lebenden Regenwürmer ins Land. Diese Wirbellosen verändern das dortige Ökosystem aber massiv. Über Jahrhunderte gespeicherte Nährstoffe im Boden werden durch sie jetzt viel zu schnell freigesetzt und die anders angepassten Bäume sind nicht in der Lage, den Großteil davon aufzunehmen und zu verwerten. Stickoxid oder Kohlendioxid werden damit direkt in die Atmosphäre abgegeben. Fazit: Globalisierung und Erdaufheizung hängen eng zusammen, es ist aber auch bei uns erlaubt, Blätter am Boden liegen zu lassen.

NATUR

8.000.000.000, Seite 51

HIMMEL HEIMAT HÖLLE

Neue farbenprächtige Vogelarten entdeckt. Auf abgelegenen indonesischen Inseln spürten Zoologen unter anderem den bislang unbekannten WakatobiNektarvogel auf – eine Art mit einer auffällig leuchtenden blau-gelben Brust. Die Familie der Nektarvögel dürfte damit deutlich vielfältiger sein als bisher angenommen.

Erstnachweis der Kochiura aulica in Österreich. Die Breitstreifenkugelspinnen-Art wurde im niederösterreichischen Teesdorf dokumentiert und auf der Plattform naturbeobachtung.at geteilt. Dort machen Freiwillige ihre Funde Forschern zugänglich. Im Burgenland wurde so auch der sehr seltene Streifen-Schneckenspringer entdeckt.

Kein neues Schutzgebiet für die Antarktis. Eine Region von fast vier Millionen Quadratkilometern hätte das Südpolarmeer für die Klima- und Biodiversitätskrise rüsten sollen. Auf der Konferenz der Antarktis-Kommission stimmten 25 Mitglieder dafür, nur China und Russland verhinderten den erforderlichen einstimmigen Beschluss.

50 FALTER 45/22 FOTOS:
NICOLA MARPLES,/DAVID KELLY TRINITY COLLEGE DUBLIN, NATURBEOBACHTUNG/ROSA WALLNÖFER, AFP/STRINGER
Immer wenn sich ein Dorf wieder einmal verdoppelt hat, werden die Leute weitergeschickt und holzen mehr Wald ab.
Peter Iwaniewicz nimmt sich kein Blatt vor den Mund

Wolfgang Lutz, 65, zählt zu den bedeutendsten Demografen der Welt. Der WittgensteinPreisträger ist Gründer und Direktor des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital, lehrt als Professor für Demografie an der Universität Wien und ist Direktor des Instituts für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften

8.000.000.000

Und wieder eine Milliarde Menschen mehr

Die Weltbevölkerung wächst in einem atemberaubenden Tempo. Wie kann das noch gutgehen?

Der Demograf Wolfgang Lutz über ein Patentrezept, das schon fast überall auf der Welt erfolgreich war

INTERVIEW: BENEDIKT NARODOSLAWSKY, FOTO: HERIBERT CORN

Am 15. November kommt laut dem UN-Report „World Population Prospects“ der 8.000.000.000. Mensch auf die Welt. Vor elf Jahren waren es noch sieben Milliarden. Welche Folgen das schnelle Bevölkerungswachstum für die Natur hat und wie man die Situation unter Kontrolle bringen kann, erklärt der renommierte Demograf Wolfgang Lutz.

Falter: Herr Lutz, wie viele Menschen gab es, als Sie geboren wurden?

Wolfgang Lutz: Etwa drei Milliarden. Das ist eine interessante Zahl, da Ökologen aufgrund verschiedener Annahmen berechnet haben, dass drei Milliarden so etwas wie eine ökologisch ideale Bevölkerungsgröße der Welt wäre. Die Weltbevölkerung würde bis zum Jahr 2200 auch wieder auf drei Milliarden schrumpfen, wenn gegen Ende dieses Jahrhunderts die ganze Welt solche Geburtenraten hätte, wie wir sie zurzeit in Europa haben – also ungefähr 1,5 Kinder pro Frau.

Wie viele Menschen werden es noch?

Lutz: Nach unseren neuesten Berechnungen um die zehn Milliarden. Die Zahl hat sich erhöht, weil die Kindersterblichkeit stärker als geglaubt zurückgegangen ist. Vor den zehn Milliarden wird sich die Kurve nach unseren Prognosen abflachen und dann zu sinken beginnen. Langfristig wird die Weltbevölkerung also wahrscheinlich wieder schrumpfen.

Fortsetzung nächste Seite

NATUR FALTER 45/22 51

Derzeit nimmt sie noch rasant zu, das Wachstum der vergangenen Jahrzehnte war beispiellos. Was ist da passiert?

Lutz: Wir nennen diesen Prozess den demografischen Übergang. Wir haben ihn in allen Gesellschaften gesehen: Zuerst sinkt die Sterberate – bei uns in Österreich und anderen europäischen Ländern ist das etwa ab 1870 geschehen. Das lag an den besseren Lebensbedingungen, aber vor allem an der präventiven Medizin – also den Hygienemaßnahmen. Die Eröffnung der Hochquellwasserleitung in Wien hat zum Beispiel die Cholera-Sterblichkeit über Nacht stark reduziert. Aber auch so triviale Dinge wie die Verwendung von Seife beim Waschen – all das ist erst Ende des 19. Jahrhunderts in Gebrauch gekommen. Wenn die Sterberaten sinken, aber gleichzeitig die Geburtenraten hoch bleiben, wächst die Bevölkerung. Wie sah es außerhalb Europas aus?

Lutz: Der demografische Übergang hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch in weiten Teilen der Welt wie in Lateinamerika und insbesondere in Asien abgespielt. Dort sind die Sterberaten sehr schnell gesunken, gleichzeitig blieben die Geburtenraten sehr hoch. Das Weltbevölkerungswachstum hat Ende der 1960er-Jahre seine Spitze erreicht, da gab es also die höchsten Wachstumsraten. Afrika ist der letzte Kontinent in diesem Prozess. Auch dort hat die Sterberate nach dem Zweiten Weltkrieg zu sinken begonnen, aber die soziale und wirtschaftliche Entwicklung hat sich verzögert und Aids hat die Situation noch verschärft. Jetzt beginnen in manchen afrikanischen Län-

dern auch die Geburtenraten stark zu sinken. Aber noch nicht überall.

Laut dem UN-Report geht mehr als die Hälfte des globalen Bevölkerungswachstums auf die Länder Demokratische Republik Kongo, Ägypten, Äthiopien, Indien, Nigeria, Pakistan, Tansania und die Philippinen zurück.

Lutz: Ja, das sind die Länder, die in diesem globalen Prozess des demografischen Übergangs die letzten sind. Aber auch, wenn das Timing unterschiedlich ist, ist der Prozess derselbe.

Was ist der stärkste Hebel, um dieses Bevölkerungswachstum in den Griff zu bekommen?

Lutz: Die Bildung der Frauen. Als in Europa die Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts alphabetisiert wurden, sind die Geburtenraten runtergegangen. Das Gleiche haben wir in Asien gesehen – von Südkorea über Thailand bis nach China. Wo immer Frauen Bildung bekommen – auch wenn sie minimal ist – und autonomer entscheiden können, wie viele Kinder sie wollen, haben sie in der Regel weniger Kinder. Am stärksten und schnellsten war der Geburtenrückgang in Ländern, die sowohl in die massive Bildung der Frauen als auch in die Verfügbarkeit von modernen Familienplanungsmitteln – also der Pille oder anderen Methoden – investiert haben. Den schnellsten Geburtenrückgang der Menschheitsgeschichte gab es auf Mauritius. Die Insel hatte ein massives Bevölkerungswachstum, aber sehr begrenzten Lebensraum. Noch

Der hohe Bodenverbrauch ist eines der größten Umweltprobleme in unserem Land. Wir brauchen unsere Äcker und Wiesen!

Stoppen wir endlich das Zubetonieren!

Online-Workshop

Donnerstag, 17. Nov. 2022, 17:30–19:30 Uhr

• Präsentation von Fakten & Lösungsansätzen der Hagelversicherung

• Austausch in Online-Gruppen mit konkreten Aktionen: Wie kann man sich für Grünräume & Klimaschutz einsetzen? Was tun, wenn Agrar durch Straßen & Industrie bedroht sind?

Manche Gegenden werden durch den Meeresspiegelanstieg oder durch die extreme Hitze und Trockenheit praktisch unbewohnbar werden

WOLFGANG LUTZ

in den 1960er-Jahren galt die Insel in den Lehrbüchern als Beispiel für diesen Teufelskreis aus Bevölkerungswachstum, Armut und Umweltzerstörung.

Wie ist Mauritius da rausgekommen?

Lutz: Mauritius ist 1968 unabhängig geworden, Wissenschaftler haben der Regierung gesagt: Alphabetisierung der Frauen und staatlich organisierte Familienplanung sind die Voraussetzung dafür, dass es bergauf geht. Und so war es. Mauritius hat alles implementiert, in weniger als zehn Jahren ist die Geburtenrate von über sechs auf unter drei Kinder pro Frau gefallen. Weil Frauen alphabetisiert waren und weniger Pflichten zu Hause hatten, konnten sie in der Textilindustrie arbeiten. Die exportorientierte Textilindustrie war der erste Modernisierungsschub, danach kam der Tourismus, für den man ebenso ausgebildete Leute braucht – vor allem im hochqualitativen Tourismussektor. Heute ist Mauritius der IT-Hub von Afrika. Das Land, das noch vor 50 Jahren das Armenhaus von Afrika war, wurde zu einem der reichsten und besten Länder des Kontinents. Ähnliches haben wir in Asien in Korea gesehen, in Singapur und Taiwan. Alle haben genau dasselbe Rezept befolgt. Die Länder, die erst viel später in die Bildung investiert haben, erleben das später. Warum hängt ausgerechnet die Bildung der Frau mit dem Geburtenrückgang zusammen?

Eine Welt zu retten Katharina Kropshofer hat im Falter. Natur-Newsletter fünf wichtige Entwicklungen auf der Welt zusammengefasst, die ihr mitten in der Klimakrise Hoffnung geben. Kostenlose Nachlese und Anmeldung unter: falter.at/natur

Lutz: In ganz traditionellen Gesellschaften gibt es überhaupt keinen quantitativen Kinderwunsch. Fragt man in Afrika in einem Dorf Analphabetinnen, wie viele Kinder sie wollen, ist die Standardantwort: „So viele, wie mir der liebe Gott gibt.“ Also nicht: „Ich will fünf, sechs oder sieben.“ So ähnlich war es bei uns Anfang des 19. Jahrhunderts auch. Analphabetinnen denken in der Regel nicht zielgerichtet rational, sondern sie haben eher eine fatalistische Einstellung, gerade was Geburten und Tod betrifft: „Gott gibt es, Gott nimmt es, ich kann nichts dagegen tun.“ Viele große Studien mit Tausenden von Interviews in verschiedenen afrikanischen Ländern zeigen: Wenn eine Frau zumindest ein paar Jahre in die Volksschule gegangen ist und lesen und schreiben gelernt hat, beginnt sie mehr an sich selbst zu denken. Sie will zunächst einmal die Geburtenintervalle verlängern, weil sehr viele Schwangerschaften hintereinander ein enormes Gesundheitsrisiko für die Frauen bergen – das liegt auch an den unhygienischen, schlechten Bedingungen, die in vielen Orten herrschen. Früher konnte sich eine Frau nicht durchsetzen, sie wurde einfach geschwängert und hat Kinder bekommen. Jetzt sagt sie: „Ich habe genug!“, und kann sich durchsetzen. Sie beginnt zu planen, in ihrem eigenen Interesse, aber natürlich auch im Interesse ihrer Kinder.

Was haben die Kinder davon?

Lutz: Wenn man selbst Bildung geschnuppert hat, weiß man, wie viele neue Möglichkeiten damit verbunden sind. Das will man natürlich auch seinen Kindern ermöglichen. Das nennen die Ökonomen den Übergang von der Quantität zur Qualität. Man will also lieber weniger Kinder haben, denen dafür aber ein besseres Leben ermöglichen. Dann kommen auch noch ökonomische Gründe dazu: Frauen, die selber eine bessere Ausbildung haben, haben bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und überlegen: Warum verdiene ich nicht mein eige-

52 FALTER 45/22 NATUR
ALT!!! Informationen & Online-Link: www.fairwandeln.at
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FOTO: HERIBERT CORN
FALTER .natur
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nes Einkommen, anstatt ein viertes Kind zu bekommen?

Und warum sind nicht Männer der Schlüssel zum Bevölkerungswachstum?

Lutz: Das sieht man oft in den traditionellen Verhältnissen: Wenn der Mann reicher wird, dann wünscht er sich eher noch mehr Kinder, weil er sich mehr Kinder leisten kann. So ähnlich wie man seinen Reichtum bei uns mit einem dicken Auto zeigt, zeigt man ihn dort mit der großen Zahl der Kinder, die man sich leisten kann. Aber aus der Perspektive der Frau sieht es ganz anders aus. Für die Frau sind die Kinder eine Last und ein Gesundheitsrisiko. Vor allem, wenn es eine sehr große Zahl ist.

Sie haben vorhin den Teufelskreis Bevölkerungswachstum, Armut und Umweltzerstörung angesprochen. Wie wirkt sich das Bevölkerungswachstum auf die Umwelt aus?

Lutz: Durch die weitere Expansion des Lebensraums. Wenn mehr Leute in den Dörfern leben, brauchen sie mehr und mehr landwirtschaftliche Flächen. Madagaskar ist ein ganz schlimmes Beispiel dafür. Dort gibt es ein enormes Bevölkerungswachstum und immer, wenn sich ein Dorf wieder einmal verdoppelt hat, werden die Leute weitergeschickt und holzen mehr Wald ab. Es gibt dadurch katastrophale Erosionsprobleme, der nächste Regen schwemmt dann die Erde weg, die Äcker werden weggespült.

Und wie verschärft das Bevölkerungswachstum die Klimakrise?

Lutz: Grob gesprochen spielen die drei Faktoren Bevölkerungsgröße, Wohlstand und Technologie eine Rolle. Wenn die Technologie und der Konsum pro Person gleich ist, dann haben doppelt so viele Personen doppelt so viele Emissionen. Verbessert sich die Technologie, braucht eine Person für den Konsum weniger Energie und die Emissionen nehmen ab. Aber ganz so einfach ist es natürlich nicht. Ein großer Haushalt mit fünf Personen verwendet nicht fünfmal so viele Kühlschränke wie ein Einzelhaushalt, es hängt also auch damit zusammen, wie die Menschen leben und wie ihr Konsumverhalten ist. Die Bevölkerung wächst in jenen Teilen der Welt, die relativ wenig konsumieren. Die Emissionen in Europa, wo die Bevölkerung tendenziell eher schrumpft oder gleich bleibt, sind zum Beispiel um ein Vielfaches höher als in Niger, wo die Bevölkerung wahnsinnig rasch wächst.

Aber die zwei bevölkerungsreichsten Länder China und Indien zählen heute zu den drei größten Klimaverschmutzern der Welt. Was passiert, wenn die Leute in Niger reicher werden und mehr konsumieren?

Lutz: Das Bevölkerungswachstum spielt schon eine Rolle, aber man muss sich gleichzeitig den Zeithorizont anschauen: Es ist klar, dass wir bei den TreibhausgasEmissionen innerhalb der nächsten 20 bis 30 Jahre auf null runterkommen müssen. Dann wird der Bevölkerungsfaktor bis Ende des Jahrhunderts weniger relevant sein, weil wir ja bis dahin unser Energiesystem komplett umgestellt haben müssen. Das Bevölkerungswachstum ist zwar nicht irrelevant, aber die Energiewende ist viel dominanter, wichtiger und dringender als der demografische Aspekt.

Wie wirkt sich die Klimakrise auf die Demografie aus?

Lutz: Manche Gegenden werden durch den Meeresspiegelanstieg oder durch die extreme Hitze und Trockenheit praktisch unbewohnbar werden. Das ist eine große Herausforderung für die Migration. Aber das hängt natürlich auch davon ab, wie viele Leute wo leben. Auch bei diesem Thema spielt wieder die Bildung ganz stark rein.

Inwiefern?

Lutz: Kuba ist ein gutes Beispiel. Es hat massiv in die Bildung investiert, die Lebenserwartung ist dort höher als in den USA, obwohl es durch den Kommunismus

8.000.000.000

Menschen wird es am 15. November 2022 auf der Welt geben

10,4

Milliarden Menschen werden es laut Prognose der UN im Jahr 2100 sein

72,8

Jahre beträgt die Lebenserwartung global – fast neun Jahre mehr als 1990

77,2

Jahre ist die von der UN prognostizierte globale Lebenserwartung für 2050

2,3

Kinder bekam eine Frau im globalen Durchschnitt im Jahr 2021

5

Kinder pro Frau waren es noch im Jahr 1950. 2050 werden es 2,1 Kinder sein

1,4

Milliarden Menschen leben in China. Fast ebenso viele in Indien

2023

wird Indien China als bevölkerungsreichstes Land der Welt ablösen

Alle Zahlen sind dem UN-Bericht „World Population Prospects 2022“ entnommen, der im Juli 2022 erschienen ist

ein bettelarmes Land ist. Kuba hat eine sehr niedrige Geburtenrate und niedrige Vulnerabilität bei Wirbelstürmen. In einer Studie haben wir verglichen, wie unterschiedlich derselbe Hurrikan Kuba, die Dominikanische Republik und Haiti trifft – die Inseln liegen ganz nah beieinander. In Kuba sind sie bestens vorbereitet und organisiert. Da gibt es vielleicht ein paar Verletzte. In der Dominikanischen Republik gibt es immer Tote, die ist reich und mittel gebildet. Und Haiti ist sowohl arm als auch ganz ungebildet. Da gibt es dann plötzlich tausende Tote. Derselbe Wirbelsturm führt also zu so unterschiedlichen Konsequenzen, weil eben die Gesellschaften unterschiedlich darauf vorbereitet sind. Ein anderes Beispiel ist Singapur, das ebenfalls massiv in die Bildung investiert hat. Es war noch 1970 ein #JOsalzburg

bettelarmes Loch, heute haben zwei Drittel der jungen Leute eine Hochschulbildung. Dort gibt es das heißeste, unangenehmste Klima, das man sich vorstellen kann. Aber dort ist praktisch alles klimatisiert. Die kalte Luft fließt aus den Gebäuden und sie kühlen einen, wenn man auf der Straße an ihnen vorbeigeht. Außerdem ist Singapur nur von Wasser umgeben, jetzt will man hohe Dämme bauen, die die ganze Insel umgeben. Singapur kann sich das leisten, weil es ein sehr reiches Land ist.

Welchen Rat würden Sie Politikern geben?

Lutz: In all meinen Studien kommt immer wieder heraus, dass die Bildung entscheidend ist – nicht nur für die Bevölkerungsentwicklung, die Geburtenrate und die Sterberate, sondern auch für die Migration, die Integration von Migranten, die Armutsbekämpfung und die Anpassung an die Umwelt. Gleichzeitig nehmen die internationalen Gelder für Bildung eher ab.

Gerade hat die Weltklimakonferenz begonnen, im Fokus steht dort auch der Green Climate Fund, mit dem reichere Länder ärmere Länder unterstützen. Sollte Bildung bei der Klimafinanzierung eine stärkere Rolle spielen?

Lutz: Ja. Beim Green Climate Fund geht fast alles in die Infrastruktur. Dabei ist noch gar nicht klar, ob eine Betonwand, die man heute hochzieht, in 20 Jahren noch ideal ist. Es wäre viel besser, die Menschen dazu zu befähigen, sich flexibel selbst anzupassen und selbst zu helfen. Wir sollten mehr Pädagogen finanzieren, nicht nur Ingenieure. F

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FOTO: WESLEY-TINGEY-BEF1IDFIZKA UNSPLASH

Phettbergs Predigtdienst Sargnägel

Hermes Phettberg führt seit 1991 durch das Kirchenjahr

Dieses Datum der sexuellen Wirklichkeit

Evangelium des 32. Sonntags im Jahreskreis, Lesejahr C: „Dass aber die Toten auferstehen, hat schon Mose in der Geschichte vom Dornbusch angedeutet, in der er den Herrn den Gott Abrahams, den Gott Isaaks und den Gott Jakobs nennt.“ (Lk 20,27–38)

Irgendwie ist in mir eine Sehnsucht nach Totalitarismus. Dass Papst Franziskus in Bahrain zu Gast ist, lässt mich dank eze und dem Computer triumphieren, denn Franziskus hat alle im Königreich umarmt und kämpft, dass dort niemand mehr hingerichtet wird! Die Monarchie Bahrain ist islamisch, doch mittendrauf steht eine Basilika zu Ehren der Muttergottes, die achteckige katholische Kathedrale „Unsere Liebe Frau von Arabien“. Papst und Monarch haben sich freundschaftlich koordiniert.

Meine eigentliche Sehnsucht aber wäre, dass Radio Maria den 31. Oktober als Großtat Martin Luthers erkennt. Denn am 31. Oktober 1517 nagelte der großartige Reformator Martin Luther seine 95 Thesen an die Eingangstür der Schlosskirche von Wittenberg bei Leipzig. Dieses bedeutende Datum der sexuellen Wirklichkeit nimmt das jämmerliche Radio Maria absolut nicht wahr. Der Patriarch Kyrill I. kämpft mit Wladimir Putin fürs Kriegführen.

Auf jeden Fall wohnte ich zwei Jahre im Stift Klosterneuburg und besuchte die Maturaschule Roland, vergebens. Meine sexuelle Gier und die Idee, dass sowohl die Gottesgebärin Maria als auch Josef, der Ziehvater Jesu, keusch gelebt haben, wird jetzt erst – in meinem 71. Lebensjahr, wo Selbstbefriedigung mir zu mühsam ist – durch von der Gemeinde Wien gestiftete Windelhosen zur Wirklichkeit.

Das Motto des heutigen Sonntagsevangeliums, „Die Auferstehung der Toten“, soll doch auch dieses komische Radio Maria an den großen Heiligen Martin Luther gemahnen. Martin Luther hatte sechs Kinder mit seiner Frau Katharina von Bora, drei Buben und drei Mädchen. Ich habe im Augarten die Füße des kleinen Nikolaus in seinem Strampler geschüttelt und war einen Augenblick im Paradies!

Kreuz und quer ging ich durch Wien und wäre zu allem bereit gewesen, doch es war niemand an meiner Physis interessiert. Wenn ich jetzt sterben werde, dann werde ich als 33-jähriger Unberührter Jesus umarmen.

Phettbergs Predigtdienst ist auch über www.falter.at zu abonnieren. Unter www.phettberg.at/gestion.htm ist wöchentlich neu zu lesen, wie Phettberg strömt

Fragen Sie Frau Andrea Informationsbureau

R.I.P.: Vom trügerischen Ruhen in Frieden

Liebe Frau Andrea, jetzt war das Internet ganz voll von Erschütterung über das Ableben von RedBull-Milliardär Mateschitz. Selbst Linke und Atheisten posteten zumindest „RIP“. Und jetzt sagt eine Freundin, man solle das unterlassen, wenn man die wahre Bedeutung des Kürzels nicht kenne. Jetzt bin ich verwirrt, Franz Thalhammer, Ampflwang, per E-Mail

Lieber Franz, das beliebte Kurzwort ist aus den Anfangsbuchstaben der lateinischen Grabsteininschrift „Requiescat in pace“ gebildet und bedeutet „er, sie ruhe in Frieden“. Die Formel wird traditionell R.I.P., neuerdings RIP geschrieben und lässt sich auch in anderen Sprachen akronymisch darstellen, so im Englischen (Rest in Peace) im Französischen (Repose en paix) und im Italienischen (Riposi in pace).

„requiescat“ die 3. Person Singular, Präsens, Aktiv, Subjunktiv (was in etwa dem Konjunktiv im Deutschen entspricht). Das zugrunde liegende Zeitwort „requiescare“ ist seinerseits zusammengesetzt und bedeutet wörtlich „wieder ruhen“, eigentlich „wieder still sein“. Insgesamt wäre also RIP mit „er, sie möge wieder still sein“ zu übersetzen.

Im christlichen Verständnis verbindet sich mit der Formel R.I.P. die Gebetsbitte, die Seele des/der Angesprochenen möge im Jenseits Frieden finden. Sie verbirgt den dahinter liegenden, weit wichtigeren Wunsch, dass nämlich der physische Körper des/der Verstorbenen friedlich, das heißt ungestört, ungeschändet im Grab liegenbleiben möge.

comandantina.com; dusl@falter.at, Twitter: @Comandantina

Schon im Spanischen versagt die Buchstabenkombination, dort hält D.E.P. (descanse en paz) die Stellung. Ein deutsches R.I.F. (Ruhe in Frieden) indes bliebe weitgehend unverstanden. Grammatikalisch gesehen ist

Soll doch die Seele, beim Tod vom Körper getrennt, am Jüngsten Tag wieder mit diesem vereint werden. Wer R.I.P. in Kenntnis dieser Zusammenhänge verwendet, geht von der Möglichkeit einer Grabstörung aus und verwendet die Abkürzung als magische Formel, ebendies möge unterbleiben. Moderne Friedhofsordnungen mit Grabauflösungen, Umbettungen und Zusammenlegungen widersetzen sich diesem Wunsch, sind sie doch ökonomischen Zwängen unterworfen. Ruhender Friede kostet.

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ILLUSTRATION: STEFANIE SARGNAGEL
Andrea Maria Dusl beantwortet seit 20 Jahren knifflige Fragen der Leserschaft

Auf diesen Berg fährt keine Gondel rauf

Am Wochenende war ich in der Schweiz auf einem Berg, dem Säntis, es war sehr schön. Es trafen sich dort Kolumnistinnen und Kolumnisten, ich bekam einen 15 Kilo schweren Preis, die Sonne schien, die Aussicht war grandios, mein ewiger Kolumnisten-Crush Axel Hacke hielt eine liebevolle Laudatio, und die Anna aus dem Bregenzerwald war auch da.

Das war eine Überraschung, aber auch irgendwie nicht: Der Säntis ist ja nicht so weit von Vorarlberg weg und die Anna kommt öfter, wenn ich lese, ich kenne sie schon: Sie ist eine kleine, quirlige Frau, immer gut gelaunt und stets superlässig angezogen. Diesmal mit einem langen, weiten Rock, einem gehäkelten Barrett, einem engen schwarzen, upgecycelten Trachtenjanker und Stiefeln mit ganz dicken Sohlen, wie sie alle jungen Frauen momentan gerne tragen. Und das ist nur insofern bemerkenswert, als die Anna 85 ist. Eine Fünfundachtzigjährige, die die Leute auslacht, die ihr in der Gondel einen Platz anbieten; na, danke, sie steht noch gut. Die Anna liest auch jede Woche den Falter, darunter war die Kolumne, in der ich mich so für meinen schlecht erzogenen Hund geniere. Jedenfalls, ich begrüße die Anna und wir freuen uns, dass wir uns wieder mal sehen, und dann steckt mir die Anna einen eingerollten Geldschein zu, für Hundetraining. Ich sagte, bist du verrückt, Anna, das nehme ich auf keinen Fall an, das geht nicht, nein, AUF GAR KEINEN FALL! Versucht einmal, einer 85-jährigen Bregenzerwälder Sturschädeligen etwas aus-

Doris Knecht kann das wirklich nicht annehmen

zureden. Nach ungefähr einer Dreiviertelstunde Verhandlung gab ich ermattet auf, die Anna hatte eine Freude. Es war wie mit meiner sturen Oma selig, und daheim habe ich einen gleichwertigen Betrag an die Caritas gespendet. Dann traf ich Freundinnen, wir redeten auch über korrupte Politikerinnen und Medienmenschen, und dann habe ich der Anna den Betrag zurücküberwiesen, weil ich mir plötzlich dachte: Auch so beginnt Korruption. Beinahe wäre ich in die Korruptionsgrauzone gerutscht, so schnell kann’s gehen. Also sorry, Anna, ich kann’s wirklich nicht annehmen, auch wenn’s so eine liebe Geste war. Der Hund kriegt trotzdem ein ordentliches Training, bezahlt von mir.

Auch gut diese Woche: Brandi Carliles neues Album „In These Silent Days“, das ich auf der Heimfahrt vom Berg rauf und runter gehört habe. Besonders fein daran: Es kommt gleich in zwei Versionen daher, einmal auf mainstreamigen Country-Rock produziert, einmal unplugged mit GänsehautBackgroundchor. Schön.

Beinahe wäre ich in die Korruptionsgrauzone gerutscht, so schnell kann’s gehen

WAFFLE-RAUSCH

Letzten Samstag gab’s zum ersten Mal das Experiment „Mahü extrem“. Mit dem 14-Jährigen und dem Zehnjährigen am SAMSTAG auf die Mariahilfer Straße gehen. Und schauen, was passiert. Zu Anfang war’s glimpflich, Bubblewaffles gab’s, gar nicht so schlecht. Fluffig. Mit Erdbeeren und Schokosauce. Der Durst wurde mit Oreo-Kekse-Tee mit Schlagobers gestillt. NICHT. Es war bissi brutal grausig. Habe einen Abstecher zum Bäcker gemacht und einen Liter Wasser nachgeschüttet. Gelitten. Nicht geweint.

Unter dem Zuckerschock dann Kauftour zu Blue Tomato, Urban Outfitters und Co, es wurden T-Shirts probiert mit japanischer Zeichenkunst drauf oder mit einem Foto eines Jugendzimmers aus den 90er-Jahren mit Nirvana-Poster, Fender-Strat-Gitarre und sowas wie einem Joka-Bett. Ich sagte ihnen den Werbespruch von damals auf („Ein Joka-Bett bekam der Max, für nachts und auch für untertags …“), und mir wurde gesagt, dass ich das niemals wieder tun solle.

Habe ihnen einen Museumsbesuch angedroht, Basquiat, aber sie hatten zu meinem Erstaunen gar nichts dagegen. Immerhin war der aus dem Club 27, also ist auch

Daheim habe ich mir dann alle Folgen von „Tage, die es nicht gab“ angeschaut, einer der besten ORF-Serien seit langem, mit komplexen, auch widersprüchlichen weiblichen Hauptfiguren. Was ich nicht verstanden habe: Warum schicken diese Frauen ihre Kinder auf eine Schule, in der sie selbst so gequält wurden? Und der Prozess des Roman-Veröffentlichens war, möchte ich sagen, ein bisschen krass easy dargestellt. Denn das ist, um metaphorisch beim Berg zu bleiben: einer, auf den keine Gondel fährt.

mit 27 zu Tode gekommen, wie Jim Morrison, Kurt Cobain, Janis Joplin und Amy Winehouse. Habe erfahren, dass es für die heutigen Teenager der Traum ist, in den 1990ern jung gewesen zu sein. Na bitte. Dann suchten wir noch nach Winterjacken in einem großen Geschäft. Beim Rausgehen sah man Security, einer sprintete zwei Teenagermädels nach, sie wurden also beim Ladendiebstahl erwischt. Meine Buben hat das relativ erschüttert, weil es so amtlich war. Zwar höflich. Aber ernst. Sie überlegten, was dann mit den Mädchen passierte und ob sie wohl ins Gefängnis kommen. Und wenn sie das Diebesgut zurückgeben, ob das nicht das Gleiche ist wie die Sache von André Heller, der den gefälschten BasquiatRahmen doch zurückgekauft hat. Wieso wird der eine nicht juristisch verfolgt und die anderen schon? Wir haben es uns später erklären lassen. Sobald wer Offizieller sie drauf aufmerksam macht, bevor sie von selber tätige Reue gezeigt haben, ist’s was anderes.

Der Rest des Tages verging mit Hypothesen darüber, was wir alles fälschen könnten, damit wir reich werden. Es gab dann noch einige wirklich üble Zeichnungen und einen jammervollen Besenstiel mit zwei Nägeln drin, zu mehr hatten wir keine Lust, due to lack of krimineller Energie. Ich besitze jetzt ein cringes „Fuck You“-T-Shirt. Guter Tag, trotz Mariahilfer Straße am Samstag.

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